Publizistik Pur - Carl von Ossietzky - E-Book

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Carl von Ossietzky

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Beschreibung

Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.

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Publizistik pur

Carl von Ossietzky

Inhalt:

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Publizistik pur

Das Erfurter Urteil

Ein Phantom

Das werdende Deutschland

Ausverkauf

Des Bürgers Wiederkehr

Der Aufmarsch der Reaktion

Die nationalistische Internationale

Das besiegte Deutschland

Die Sünde der Republik

Der gepfändete Kopf

Schutz der Republik – die große Mode

Die Pazifisten

Der General der Niederlagen

Das unbekannte M.d.R.

1525 – Florian Geyers Jahr

Das Ärgernis

Das heimliche Heer

51 Prozent

Die National-Päderasten

Der Verkehrsunfall

Der Minister und der Große Kurfürst

Die goldne Mitte

Krippenspiel im Reichstag

Die Nacht von Hankau

Noskes Schatten

Chronik (Sacco und Vanzetti)

Hindenburg und sein Ruhm

Die Ursache

Der Femeprozeß

Die Stillen im Lande

Deutschland ist ...

Zörgiebel ist schuld!

Kommunistengesetz?

Areopag

Zum Geburtstag der Verfassung

Genosse Z. konfisziert

Rotkoller

Der Film gegen Heinrich Mann

Die Blutlinie

"Erfolg" ohne Sukzeß

Der junge Fridericus

Zur Reichsgründungsfeier

Winterkönig

Egal legal

UFA verbietet die Konkurrenz

Nach der Sintflut?

"Kulturbolschewismus"

Zum Leipziger Parteitag

Der Weltbühnen-Prozeß

Kommt Hitler doch?

Gang eins

Ein runder Tisch wartet

Rechenschaft

Antisemiten

Otto Strassers "Deutscher Sozialismus"

Kamerad Lampel

Zehrer und Fried

Der Flaschenteufel

Kamarilla

Kavaliere und Rundköpfe

Deutschland wartet!

Richard Wagner

Publizistik pur, Carl von Ossietzky

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849624873

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie

Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in  Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen".  Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.

Publizistik pur

Aufsätze aus den Jahren 1913–1933

Das Erfurter Urteil

Fedja: Und Sie, der Sie an jedem Ersten mit einigen Groschen für Ihre Gemeinheit bezahlt werden, Sie ziehen sich Ihren Uniformrock an und tun sich nun groß über jene Leute, deren kleiner Finger mehr wert ist als Sie im Ganzen und die Sie nicht einmal ins Vorzimmer hineinlassen würden. Sie haben sich hinaufgeschustert und freuen sich nun. Der Richter: Ich lasse Sie abführen.

Tolstoi, "Der lebende Leichnam"

Drei Landwehrleute sollen auf fünf Jahre ins Zuchthaus wandern; ein paar andere erhalten bittere Gefängnisstrafen. So entschied das Kriegsgericht zu Erfurt. Grund: Alkoholausschreitungen. Schaden hat es außer der Aufregung nicht gegeben. Was kann man bei einem bürgerlichen Gericht nicht alles für fünf Jahre Zuchthaus haben! Hunderttausende stehlen, seine Zeit abreißen und nachher als Rentner leben; im Affekt einen Mord begehen, den milde Richter als Totschlag auslegen. Milde Richter! Die militärische Justitia hat nicht nur verbundene Augen, sondern auch verstopfte Ohren und ein gepanzertes Herz. Alkoholausschreitungen sind häßlich. Aber solange der Saufteufel noch eine Großmacht ist, wird nur eine geschwollene Moral einen Stein auf ein paar arme Kerle werfen, die sich in ihrer Weise einen vergnügten Tag gemacht haben.

Seit alten Zeiten zeichnen sich die militärischen Strafen durch besondere Grausamkeit aus. An der wilden Soldateska des Dreißigjährigen Krieges sühnte die beleidigte Gerechtigkeit die zahllosen Untaten mit Spießrutenlaufen, Rad und Galgen. Was wurde damals gehängt! Wie viele Knochen wurden von den Strafwerkzeugen gebrochen! Die Kriegsjustiz sandte mehr Krüppel ins Land als alle Schlachten. Man erzählt von einem alten Haudegen, der als Vorsitzender eines Kriegsgerichts die Sitzung abbrach, indem er das Buch zuklappte und dem Profossen zurief: "Es ist das beste, wir beginnen mit der Exekution!"

Heute kennt die Justiz weder Wippe noch Rad. Nur noch Paragraphen. Aber die eben angeführten Worte des Marschalls von Monluc, die in ihrer rauhen Aufrichtigkeit so bezeichnend sind, müßten heute über der Pforte jedes Kriegsgerichtes stehen. Sie sind symbolisch. Und das Bild des alten Kriegsmannes müßte in jedem Sitzungszimmer hängen; denn er hat es erkannt und in wahrhaft klassische Form gebracht, daß es bei der militärischen Justiz nicht auf den Paragraphenplunder, sondern einfach auf die Strafe ankommt. Diese Justiz will nicht prüfen und wägen, wie die bürgerliche – es soll. Sie will auch nicht vergelten. Sie überzahlt. Sie hat die Aufgabe, den "Untertanen" an das Prinzip der Autorität, der unbedingten Disziplin zu erinnern. Sie hat ihm die Grenzen seiner Freiheit zu zeigen. Das bürgerliche Leben bringt eine höchst gefährliche Gleichmacherei mit sich. Also muß daran erinnert werden, daß es noch Klassen gibt. Das ist die Aufgabe der Kriegsgerichte. Der Vorgesetzte wird gestreichelt, der Untergebene gepeitscht. Das unverfälschte Prinzip der Reaktion, nackter Klassenegoismus! Wir entrüsten uns, daß es in Rußland noch Kirchenstrafen gibt, Verbannungen ins Kloster usw. Sind wir besser daran? Wehe dem Bürger, der vergißt, daß er an einem Tage im Jahre unter die Zuständigkeit der militärischen Gerichtsbarkeit fällt! Wehe dem, der in die Fußangeln ihres Strafsystems gerät!

Ein seltsamer Zufall wollte es, daß das Erfurter Urteil in die Zeit fiel, da der Reichstag die größte je an ein Parlament gestellte Militärforderung endgültig zu bewilligen hatte. Nicht der schwärzeste Reaktionär wagte, das Urteil zu verteidigen. Nicht einmal der Kriegsminister. Sogar die Liberalen wurden energisch und verlangten ein Notgesetz. Gut gemeint! Aber von vornherein hätte man Kautelen erzwingen müssen; die völlige Neuschaffung des militärischen Rechts wäre mit die wichtigste gewesen. Die Regierung würde sich gesträubt haben – viel mehr noch als in der Frage des Gardeprivilegs. Nun, so hätte man ihre Vorlage ruhig in Scherben gehen lassen müssen.

Aber es wäre töricht, soviel Tatkraft von unseren "bürgerlichen" Politikern zu verlangen. Es hätte sich ja nur um die Gerechtigkeit gehandelt. Wer regt sich deswegen auf? Die Sozialisten und die paar verbohrten Demokraten. Die Herren, die bei jeder Gelegenheit "unser Geistesleben retten", mögen es sich gesagt sein lassen, daß wir das Erfurter Urteil für einen viel schlimmeren Schlag gegen die Kultur halten als das Verbot von zehn Festspielen.

Der Kriegsminister versicherte, daß die Richter nur ihre Pflicht täten. Das muß man ihnen eben zum Vorwurf machen. Das Gesetz ist grausam. Und nicht einen Fingerbreit weichen sie von seinen harten Paragraphen ab. Nicht einer schenkt der milderen Regung des Herzens Gehör. Nicht einer schreit auf: Das kann ich nicht! Mag es tausendmal Gesetz sein, dagegen bäumt sich mein Gewissen auf. Ich bekenne!

Die Worte, die eingangs dieser Zeilen aus Tolstois Drama zitiert sind, schreit ein zu Tode Gehetzter seinem Richter entgegen. Wir haben genug Opfer wimmern gehört. Ein Richter müßte, von seinen Gefühlen überwältigt, reden. Das wäre in unserer tatenarmen Zeit wie eine Erlösung. Wir sind davor sicher! Die Beamten arbeiten mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit der sie an jedem Ersten ihr Gehalt einstreichen. Und nach einem besonders harten Urteil gehen sie ruhig nach Hause, nicht ohne Mitgefühl für den armen Teufel, der das Unglück hatte, in die Klasse hineingeboren zu werden, die nun einmal die Objekte der Gesetzgebung liefern muß.

(Das freie Volk, 5. Juli 1913)

Ein Phantom

Aus der Nordmark kommt eine vergnügliche Kunde: Zwei junge dänische Sängerinnen, die bei einer befreundeten Familie zu Gast waren, hatten zugesagt, bei einer kleinen Privatfestlichkeit ein paar Proben ihrer Kunst zu geben. Leider sollte ihr Vortrag ein jähes Ende finden. In den lieblichen Sopran des Fräuleins Dinesen mischte sich der seriöse Baß des Gendarmen. Beide Damen wurden sofort dem Amtsvorsteher vorgeführt, der ihnen bedeutete, daß sie ausgewiesen wären und Deutschland sofort zu verlassen hätten. Sie durften sich nicht einmal umziehen; in ihren dekolletierten Gesellschaftskleidern mußten sie die Reise antreten. Die Damen haben das mit guter Laune ertragen; sie waren in dieser Affäre ja nicht die Blamierten.

Es ist erfreulich, daß die preußische Bureaukratie in dieser ernsten Zeit auch dem Humor zu seinem Rechte verhilft. Das Verbot gegen Amundsen war schon ernster; das roch nach Kulturschande. Dagegen ist dieser Fall ein Idyll, ein in der Nordmark nicht seltenes Idyll. Die zivilisierte Welt wird allerdings lachen; aber man kann alles mögliche beseitigen, nur nicht den Willen zur Blamage. Darin verblüfft die echt preußische Bureaukratie durch eine eherne Charakterstärke. Jenseits der Grenze, in Dänemark, wird man natürlich nicht so unbedingt vergnügt sein; in das Gelächter werden sich wohl ein paar derbe Flüche mischen. Irgendwelche völkerrechtlichen Folgen wird diese Nordmarkhumoreske freilich nicht haben. Dänemarks kluge demokratische Regierung wird eine etwaige Erregung beschwichtigen, wie sie es noch vor kurzem in der Frage des Landungsverbots getan hat. Ob aber nicht ein neuer Rest Verärgerung und Bitterkeit gegen den großen Nachbarn übrigbleiben wird? Hier liegt der ernste Teil des Spaßes: Wir können die Freundschaft oder auch nur die Neutralität des kleinen Landes vielleicht einmal bitter nötig haben.

Wenn etwas gegen unsere Machthaber spricht, so ist es ihre Unfähigkeit, Provinzen mit gemischter Bevölkerung vernünftig zu regieren. In vierzig Jahren hat man es fertiggebracht, aus den Grenzländern offene Wunden am deutschen Reichskörper zu machen. Elsaß-Lothringen wird schikaniert, die Ostmarken werden mißhandelt. Dabei wäre es überaus wichtig, die Polen dem deutschen Reiche freundlicher zu stimmen; denn wenn wir den alldeutschen Schlauköpfen glauben dürfen, so werden wir noch einmal mit dem Slawentum oder vielmehr mit seiner Vormacht Rußland eine Auseinandersetzung auf Tod und Leben haben. Zwischen Russen und Polen aber klafft ein tiefer Riß. Bei etwas geschickterer Behandlung des polnischen Volkes hätten wir seine Hilfe und Sympathie bei einem Zusammenstoß mit dem Zarismus. Unsere Alldeutschen betonen ferner, daß wir den Zusammenhang mit dem germanischen Norden nicht verlieren dürfen. Wie sieht es in der Praxis aus? Das kleine, rührige, kulturell hochstehende Dänemark, das so recht geeignet wäre, zwischen Deutschland und den beiden nordischen Reichen den Mittler zu spielen, wird systematisch vor den Kopf gestoßen. Die Dänen auf deutschem Boden werden mit antiquierten Polizeimaßregeln drangsaliert. Die Alldeutschen aber, die so gern mit dem stolzen Worte "Pangermanismus" hausieren gehen, klatschen dazu Beifall, während die nordischen Reiche spöttisch und verärgert beiseite stehen.

Warum dieses unerquickliche Schauspiel? Es ist bezeichnend, daß unsere Reaktionäre nach immer schärferen Polizeimaßregeln für die Grenzländer schreien und alle bisherigen Maßnahmen, mögen sie durch Anwendung und Wirkung auch noch so grotesk erscheinen, mit verzweifelter Zähigkeit verteidigen. Den Deutschen, die sich in ihrer Mehrheit ja nicht als Staatsbürger, sondern als Untertanen fühlen, soll eingeredet werden, daß ihr Land von einer Welt giftiger Feinde umringt sei, die selbst mitten im Frieden an unseren Grenzen in einer ständigen Hetz- und Minierarbeit begriffen sind. Fällt dieses Phantom einmal, so hat die Reaktion ausgespielt. Nur ein Volk, das in den Niederungen des Nationalismus watet, kann von einer Clique von Junkern und Großkapitalisten gegängelt werden.

Die Konservativen und Alldeutschen jammern über die fortschreitende Polonisierung der Ostmark. Aber dieselben Herrschaften schleppen polnische Arbeiter zu Tausenden als Lohndrücker in urdeutsche Landesteile. Zur rechten Zeit bringt die "Welt am Montag" einen Artikel über die Durchsetzung der mecklenburgischen Landbevölkerung mit slawischen Elementen. Von den eingeführten Polen verdrängt, wandern die eingesessenen Landarbeiter in Massen in die Städte. Überall auf dem Lande hört man polnisch sprechen. Auf manchen Gütern ist außer dem Inspektor kein einziger Deutscher. Die Geschäfte führen auf ihren Schildern den Vermerk, daß hier polnisch gesprochen wird. Die Regierung empfand das Gefährliche der Situation; sie erließ eine Verfügung, nach der ausländische Arbeiter mindestens alle zwei Jahre in die Heimat zurückzukehren hätten. Aber dagegen erhob sich die mecklenburgische Ritterschaft wie ein Mann. – Da haben wir das wahre Gesicht des konservativen "Deutschtums"; überall grinst uns die Lüge an; überall lesen wir die Einschränkung: "... wenn es nicht gegen unseren Profit geht!"

Der gute deutsche Bürger aber läßt sich weiter irreführen, und wenn er einmal zum Selbstdenken erwacht, flugs wird ins nationalistische Horn geblasen, und Michel ist wieder eingeschüchtert. Die Aufklärungsarbeit ist schwer. Es gilt, Berge von Mißtrauen und Verhetzung abzutragen, die die Reaktion in Jahrzehnten zusammengeschleppt hat, um dem betrogenen Volke den freien Ausblick zu rauben. Die Liberalen haben überall versagt.

Demokraten an die Front!

(Das freie Volk, 4. April 1914)

Das werdende Deutschland

Ein Wort an alle Schwachmütigen

Der große Krieg ist nicht die einzige Katastrophe, die im vergangenen Jahrtausend die mitteleuropäische Gesittung in ihren Grundbedingungen erschüttert hat. Wir denken an zwei Ereignisse, die an sich durchaus verschiedenartig, doch mit gleicher eruptiver Kraft auftraten und riesenhafte kulturelle Trümmerfelder hinterließen. Das waren der Schwarze Tod, die große Pest von 1348 und der Dreißigjährige Krieg.

Als das große Sterben längst vorüber war, da schrieb, rückblickend auf die grause Zeit, ein guter Chronikenschreiber: Da die Not vorüber gewesen, habe die Welt wieder angefangen, fröhlich zu sein.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg aber seufzte ein Künstler: Es sei gar traurig bestellt um das arme Deutschland; Gewerbe und Künste lägen danieder, und wer etwas könne, ziehe nach Flandern oder Welschland, denn in der Heimat müsse er verhungern.

Auf den Schwarzen Tod folgte das große Blühen der Renaissance, ein langer, heller Tag.

Auf den Krieg der dreißig Jahre aber Verfall, Zerrüttung, unendliche Nacht. Unheimlich zeitgemäß sind für uns die Worte des guten Chronisten und des armen Künstlers. Denn auch wir stehen am Ende einer Entwicklung. In unsern Händen liegt das neue Werden.

Was für ein Urteil wird dereinst der Geschichtsschreiber unserer Zeit über unsere Entscheidung fällen?

Das arme Deutschland! Das ärmste Land unter der Sonne. Jeder äußeren Macht beraubt, Armee und Wirtschaft in Auflösung, der Westen besetzt von übermütigen Siegern, der Osten Tummelplatz kleiner Nachbarn. Das ärmste Land. Und doch das reichste Land. Das reichste an Hoffnungen und günstigen Möglichkeiten. Erbarmungslos ist mit allem Antiquierten aufgeräumt. Geheime Energien sind plötzlich ans Licht getreten und nutzbar gemacht. Freie Bahn für alles Tüchtige, ein Wort, das in den Schranken der alten Gesellschaft nicht mehr war als ein ganz nettes Ornament, ist nun mehr als ein Wort, ist zum tieferen Sinne der Zeit überhaupt geworden.

So paradox es klingen mag, fast möchte man die Sieger bemitleiden. Sie werden wenig Freude erleben an ihrem Triumph. Ihre Wirtschaft ist kapitalistisch und imperialistisch, und doch strebt die Weltwirtschaft nach neuen Formen. Überall straffen sich Ideen zur Handlung. Wir haben noch nicht den Sozialismus, aber wir treten in ein Zeitalter des Nachkapitalismus ein. Krisen werden sich einstellen. Die Psyche der Völker wird von scheinbar verborgenen Mächten beeinflußt und beunruhigt werden. Enttäuschung und Depression, das werden die einzigen Früchte der siegreichen Völker sein.

Der frühere deutsche Vizekanzler sprach einmal das Wort aus von den Bleigewichten, die unsere besiegten Gegner noch jahrzehntelang mit sich schleppen würden. Das ist zwar ein Ausdruck jener Leichtfertigkeit, die unsere gestürzten Machthaber kennzeichnet, wird sich aber doch bewahrheiten. Wenn auch in einem ganz andern Sinne. Noch lange werden wir das Rasseln der Ketten hören, die den Siegern die Gelenke blutig drücken.

Aber augenscheinlich scheint in Deutschland nur das Chaos zu sein. Der deutsche Mensch, seit Anbeginn seiner Geschichte ein Unsteter, ein wenig Faust, ein wenig Ahasver, auch ein wenig ungläubiger Thomas, ist nun zum Berserker geworden – er pocht nicht mehr an die Pforten, er sprengt die Riegel. Der Geist des römischen Sklavenführers scheint über Nacht in ihn gefahren zu sein.

Deutschland hat bis zum Jahre 1848 nur eine einzige, alle Volksschichten erfassende Revolution gehabt: den Großen Bauernkrieg. Und diese Bewegung wird in einem gründlich theologischen Zeitalter so stark von messianischen Hoffnungen durchsetzt, daß für den rückschauenden Betrachter das Religiöse das Soziale verschleiert. Keinen Bastillensturm kennt die deutsche Geschichte; kein Cromwell, kein Mirabeau steht im deutschen Pantheon. Nur so ist es denkbar, daß man in ratloser Verblüffung die neuen Typen bestaunt, die in den letzten Monaten zur Erscheinung gekommen sind.

Handlung ist das Wesen der Revolution. Spontane Handlung, die unmittelbar zum Ziele führt, im Guten wie im Verhängnisvollen; aber immer herausgewachsen aus der Situation. Es ist kein Wunder, daß der Deutsche, gewöhnt an die zähe Materie des Obrigkeitsstaates mit seinem Mangel an Öffentlichkeit, die wilde Bewegung, die scheinbar ganz unversehens die Massen ergriffen hat, etwa mit ähnlichen Gefühlen betrachtet wie der biedere Prior von Parma die Malereien des Correggio, die er in ihrem krausen Durcheinander von Köpfen, Gliedern und Leibern sehr geistvoll mit einem Froschragout verglich. Und doch sind für den, dessen Denkorgane wirklich von dieser lebenden Zeit gespeist werden, die neuen Typen nichts so durchaus Erstaunliches: – er hat sie werden und wachsen sehen! Denn das revolutionäre Deutschland war da, schon lange vor dem Kriege, der nur den Impetus für den gewaltsamen Umsturz hergeben mußte. Alles, was seit Jahren gearbeitet wurde für eine bessere Fundamentierung der Gesellschaft – einerlei, ob es von politischen Parteien ausging oder von Vereinigungen mit rein kulturellen Zielen –, alles, was geschah, mußte sich gegen die Grundidee dieser Gesellschaft richten und mußte von ihr und von ihren Sachwaltern mit feindlichen Blicken betrachtet werden. Aber diese Arbeit, der doch im einzelnen so unterschiedliche Motive zugrunde lagen, hat eine ganz veränderte Atmosphäre geschaffen, in der Menschen sich bildeten, den andern im Äußerlichen gleich, aber in ihrer Geistesverfassung so grundverschieden wie das Werdende und das Absterbende, wie alte Zeit und neue Zeit.

Und dann kam der Augenblick, wo alle Ideen und Energien zusammenströmen und Aktion werden mußten. Ist es ein Wunder, daß sich da kein einheitliches Bild ergeben wollte, daß zunächst Chaos eintreten mußte? Wir erleben eine weltgeschichtliche Wende – matte Hirne, schwache Herzen mögen es verwünschen, Genossen dieser Epoche sein zu müssen –, aber wer nur ein wenig Gefühl und Augenmaß hat für das gewaltige heroische Schauspiel, das die sich immer wieder verjüngende und erneuernde Kraft der Menschheit darbietet, der wird nicht murrend und maulend abseits stehen können. Der wird sich auf den Boden des Tatsächlichen stellen, und das ist: daß eine Welt zusammengebrochen ist und neu errichtet werden muß. Zusammengebrochen ist nicht nur ein Staat, der sich unbesiegbar wähnte, zusammengebrochen ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, die von ihren Nutznießern für bombensicher gehalten wurde, zusammengebrochen ist vor allem der bürgerlich-kapitalistische Geist, der seit hundert Jahren die Köpfe beherrschte und auch große Teile der sozialistischen Arbeiterschaft weit mehr im Banne hatte, als sie es gern wahrhaben möchte. Nun aber gilt es, den neuen Geist zu schaffen, den Geist, der vielleicht für lange, lange Zeit der herrschende sein wird. Solch eine Verantwortung ruht auf uns Lebenden. Und doch gibt es genug Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, als sinkende Konjunkturen zu bejammern oder zu beklagen, daß sich die Revolution nicht abwickle wie eine Parade. Das "sanftlebende Fleisch zu Wittenberg" – das böse Hohnwort, das Thomas Münzer dem eifrigst bremsenden Luther an den schwarzen Talar heftete – ist wieder auferstanden und zum Symbol vieler, sehr vieler geworden. Es muß ausgesprochen werden gegenüber den allzu Besorgten, den Behutsamen, den wohlmeinend Gemütvollen, daß uns nichts mehr an die Tradition bindet, daß es zwecklos ist, Halbheiten durchzumogeln, daß endlich jene geistige Erneuerung durchgeführt werden muß, die der deutsche Michel jahrhundertelang versäumt hat. In der Gegenwart leben und ihren Problemen fest in die Augen sehen, das ist die einzige Tugend, die einzige revolutionäre Tugend, die wir brauchen können. Kein Kompromisseln; wir sehen ja mit Schaudern, wohin uns die Realpolitiker, die immer nur das kleine "Mögliche" im Auge hatten und die große Gesinnungslumperei im hohlen Schädel, mit ihrer ach so wunderbar praktischen Politik geführt haben. Nein, lieber dem irrenden Faust auf dem Blocksberge gleich, umbraust vom höllischen Chaos des Hexensabbats, taumelnd zwischen Reue und Verlangen; lieber dem irrenden Ritter gleich, zwischen Tod und Teufel allein in grauser Wildnis, als paktieren mit jener netten spießerlichen Adrettheit der Gedanken und Gefühle, jener pomadigen Korrektheit, jener platten und matten Zielbewußtheit, die immer nur das nächste sieht, aber niemals das Wesen erfaßt.

So sei der Mensch dieser Zeit, der Mensch, der das Haus baut, in dem die nächsten Generationen wohnen sollen.

Nun hat dieser Mensch bereits eine Überspannung erfahren; dem Revolutionär folgt als Affe der Revolutionshysteriker auf dem Fuße. Wir kennen ihn. Immer verrannt in leere Formeln, niemals Tiefe, immer Oberfläche, immer berauscht an Worten. Sein Revier ist die Straße; er braucht Öffentlichkeit, Publikum; er schwimmt in Sensationen; er muß sich in Szene setzen. Er harangiert vom Laternenpfahl aus ein paar Passanten, die eilig vorüberstreben, denn sie haben ein anderes zu denken, und er ist sich doch bewußt, in diesem Augenblick Weltgeschichte gemacht zu haben – denn er rechnet nur mit Ewigkeitsmaßen. Dabei ist er oft genug ein ehrlicher Kerl, den es entsetzen würde, könnte er sehen, was für Instinkte er erweckt.

Wir brauchen Diener am Geiste, nicht am Worte. Wir brauchen Menschen, die sich autonom fühlen und sich doch bewußt sind, Glieder einer großen Kette zu sein. Der Revolutionär ringt mit seinem Popanz.

Und neben diesem großen Kessel, in dem es brodelt und nach Form ringt, da wandelt noch immer einer, den man nicht übersehen darf, so nichtig er ist – – Herr Durchschnittsmensch. Er geht mit süßsaurem Lächeln einher und wundert sich im Grunde seines Herzens, daß er noch nicht umgebracht ist; aber er läßt es sich nicht merken. Das Ganze ist für ihn ein bedauerliches Intermezzo, das hoffentlich bald zu Ende sein wird, denn stille Ahnung sagt ihm, daß er der wahre Sieger ist. Denn sein Typ ist in der Tat unsterblich. Er hat alle Erschütterung der Weltgeschichte überlebt, ist immer Gaffender gewesen, niemals Erlebender, immer Zeuge, niemals Blutzeuge. Er hat während des Bastillensturms im Keller gehockt und kam erst hervor, als er sah, daß es ihm nicht an den Kragen ging. Er hat nacheinander König, Königin, Girondisten und Jakobiner zum Guillotinenplatz begleitet, öffentlich die Carmagnole gesungen und heimlich Getreide geschoben. Er hat sich bei Marats Tode im stillen Kämmerlein ins Fäustchen gelacht und hat Bonapartes Staatsstreich auf offenem Markte zugejubelt. Mit guter Gesundheit und gefüllten Taschen ist er übers Directoire ins Empire gekommen. Ob er noch lebt? Geht nur ins Wirtshaus, ihr werdet ihn die grause Zeit verfluchen und das ewig Gestrige preisen hören. Oder seht ihn in der Trambahn, wie er mit der Miene des Mannes, der die Welt nicht mehr versteht, die Zeitung in die Tasche schiebt. Ob er auch diesmal der Lachende bleibt? Das hängt davon ab, wer die Oberhand behält: der Revolutionär oder der Revolutionshysteriker. Der Typus, der am schärfsten den Sinn der Revolution erfaßt und neue Ordnung gestaltet oder derjenige, der die Bewegung durch Phantastereien diskreditiert und schließlich in der Gosse enden läßt. Heute ist Herr Durchschnittsmensch dem Revolutionshysteriker bitter gram; er sieht in ihm den bösen Feind. Wäre er nicht gar zu dumm – – er würde in ihm den besten Helfer begrüßen.

O traure, traure, Deutschland, Unglücklich Land! zu lange brach gelegen! Deine Nachbarinnen blühen um dich her voll Früchte, Wie goldbeladne Hügel um einen Morast, Wie junge kinderreiche Weiber Um ihre älteste Schwester, Die alte Jungfer blieb.

Lenz

Das arme Deutschland! Diesmal ist es nicht wie in versunkenen Jahrhunderten an seiner Bescheidenheit verkümmert, es ist zugrunde gegangen wie ein Parvenü, der zu hoch spekuliert und über Nacht Bettler wird. Es ist zugrunde gegangen an der Überspannung des Machtgedankens, an dem blinden Vertrauen, daß Gewalt und blankes Eisen allein maßgeblich seien und Recht und Wahrheit läppische Phrasen, bestenfalls gut genug, Dumme damit einzuseifen. Wir müssen den plumpen Glauben an die Macht niederringen. Wir müssen der Macht vertrauen lernen, die im Geiste wurzelt, der die Tochter der Gerechtigkeit ist. Was zusammengebrochen ist, war schlecht fundiert, war nicht Wahrheit, sondern Kulisse.

Wir hatten eine wunderbar entwickelte Technik, eine aller irdischen Gebundenheit spottende Wissenschaft.

Wissenschaft und Technik aber – es ist das nicht allein unsere Schuld, wir folgen einer schlimmen internationalen Tendenz – waren nicht in erster Linie da, zu helfen. Sie schufen Werkzeuge der Vernichtung, Werkzeuge gräßlichsten Mordes.

Wir müssen die Wissenschaft wieder menschlich machen. Wir Monisten auch, die wir die wissenschaftliche Weltanschauung auf unser Banner geschrieben haben, müssen dabei helfen. Auch wir haben in manchem gesündigt; haben allzusehr das kalte Fachwissen des Naturwissenschaftlers verwechselt mit dem großen Wissen vom Leben, haben oft vergessen, daß neben den Instrumenten des Forschers auch die suchende Seele ihr ewiges Recht hat. Wir könnten sehr viel Wärme in die Welt bringen.

Heute ist Deutschland so sehr gedemütigt, daß ein anderer, besserer Zustand beinahe wie eine Utopie erscheint. Deutschland, du darfst nicht mit Trauern in jüngste Vergangenheit blicken und einem Zustande schmerzlich nachwinken, der nichts war als gleißende und geschminkte Lüge. Stehst du auch heute im Reigen der Völker einsam und von allen verhöhnt, fast wie die Gattin Armins im Triumphzuge des römischen Siegers, glaube, daß du dich selbst erlösen kannst. Blicke nicht zurück. Die Gegenwart ist dein Kampffeld. Du brauchst nicht mit jämmerlich bußfertiger Miene einherzulaufen; nicht beten lehre dich die Not, sondern Denken und Handeln. Nicht trübe Gäste auf der dunklen Erde dürfen wir sein, sondern Goethes "Stirb und werde" wollen wir als freudiges Losungswort aufnehmen.

Die große Not schafft große Abwehr. Die leidende, die mißhandelte und geknebelte Germania ist noch immer die Mutter der besten Generation gewesen!

(Dezember 1918)

Ausverkauf

Nun gleiten wir alle sacht in den Winter unseres Mißvergnügens. Keinen fand diese Herbstsonnenwende zufrieden. Keiner sprach: "Die Wolken all, die unser Haus bedräut, sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben." Bleiern lastet es auf Siegern wie Besiegten. Bei den einen übertönt Festesjubel nur mühsam die Stimmen banger Sorge, und manche tönende Fanfare findet zages, hohles Echo. Und die andern, die das Spiel verloren? Richtungslos irren sie. Sie wissen ausgehungerte Völker hinter sich, ausgehungert an Leib und Seele. Stumpf und müde geworden. Stumpf und müde ist selbst die Raserei. Da ist keiner, der es fühlt: ... die Helle vor mir, Finsternis im Rücken. Die Ratlosigkeit ist das Zeichen dieser Nachkriegszeit. Kein Aufschwung, sondern Verdrossenheit.

Gestehen wir es uns ein: auch auf uns Pazifisten lastet diese Verdrossenheit. Wie heiß haben wir in vergangenen Jahren nicht die Stunde ersehnt, die den Kriegsgott stürzen sollte. Wie hat sich unsere Sehnsucht nicht diese große Wende vorgestellt! Die Krieger zerbrechen ihre Schwerter, zertrümmern die Kanonen, und nach Unzeiten trennenden Hasses verlieren die Grenzen der Länder ihre unheimliche Kraft; die Menschheit als heiligen und unerschütterlichen Begriff in sich tragend, so ziehen die Scharen der Soldaten in die Heimat zurück. Verhehlen wir es uns nicht, dieser Augenblick, die "weiße Sekunde", wie ihn Leonhard Frank so wunderbar nennt, ist nicht gekommen. Das Ende des Krieges bedeutete nicht Verbrüderung, sondern hart und eindeutig: Sieg der einen Koalition über die andere! Sieg mit allen Konsequenzen für Sieger wie Unterlegene! Die Völker, nach Entwaffnung, nach Ruhe verlangend, bleiben weiterhin angespannt, aufgeputscht, von neuem wird ihr natürliches Gefühl, das Vereinigung will und nicht Trennung, von nationalistischem Geschrei übertönt und irregeführt. Das Resultat ist ein jämmerliches. Die Chauvins aller Länder gehaben sich noch, als läge die Zukunft in ihrer Hand.

Aber ist dieses Bild nicht doch trügerisch? Ist da nicht viel, was nur Wort ist und Gebärde, nur Aufputz und nicht festes Material? Würde das, was Politiker von der sicheren Warte der Partei in die Welt hinauskrähen, wirklich der Stimmung der Völker entsprechen, dann könnte man die Arbeit für die Gesellschaft der Nationen einstellen und auf hundert Jahre vertagen.

Wir gebrauchen so gern das Wort von der "neuen Zeit". Für wenige ist es Überzeugung, Herzenssache, hat es echten revolutionären Inhalt. Für die meisten ist es Ornament. In Wahrheit aber haben wir die Schwelle der neuen Zeit noch längst nicht überschritten. Der 9. November bedeutete nicht den Grenzstein, sondern nur eine Etappe auf dem Wege dahin. Uns umweht noch nicht die Gottesluft der neuen Freiheit, wir leben noch inmitten von Zusammenbrüchen und Katastrophen.

Was sich rings um uns begibt, das ist der Ausverkauf des alten Zustandes der zwischenstaatlichen Anarchie. Man räumt auf, man verschleißt. Und immer wieder setzt es in Staunen, zu sehen, was für Gerümpel dabei zutage kommt und wie wichtig die Herren Verkäufer ihren Krimskrams nehmen. Erst jetzt wird die europäische Fäulnis aus der Zeit vor 1914 wirklich offenbar. Jetzt muß auch der Blödeste die Schwären und Gebresten des europäischen Leibes sehen. Jene Schwären und Gebresten, die man so nett "Territorialprobleme" nennt und die ein jeder Staat so ängstlich zu verbergen trachtete, obgleich der Geruch verriet, daß nun die Hüllen heruntergerissen sind. Das wäre an und für sich gewiß kein Schade. Gefährlich ist nur, daß man alle Konflikte noch immer mit den Mitteln der alten, durch die Ereignisse überholten und widerlegten Diplomatie zu lösen sucht. Daß noch immer die Einstellung eine durch und durch imperialistische ist. Daß noch immer der stolze Trödel der "nationalen Ehre" mit seinen Fahnen und Wappentieren den Ausschlag gibt, während die wahren Bedürfnisse der Menschheit Überbrückung der Grenzen und gegenseitige Hilfe verlangen, wenn wir nicht einer Weltkatastrophe zutreiben wollen. Aber die Lenker unserer Geschicke schwelgen auf Trümmern, verschleudern mit großer Geste Länder und bestimmen kaltlächelnd Grenzen in Gebieten, die ihnen in gleichem Maße vertraut sind wie etwa einem durchschnittlichen Europäer das Indianer-Territorium.

Darf es als Entschuldigung gelten, daß es bei den Besiegten nicht besser aussieht, daß man, anstatt mutig vorwärts zu schauen, nach verstaubter Tradition schielt und der nationalen Reinigung die nationalistische Klopffechterei vorzieht? Noch taumeln wir alle im Labyrinth des Krieges. Ein Jahr nach Abschluß des Waffenstillstandes noch darf der alte Clemenceau, ein Mann von untadeliger demokratischer Vergangenheit, sich über alle Gebote der Demokratie hinwegsetzen und versuchen, seine persönliche Denkungsart, eine seltsame Mischung von nationalistischer Überreiztheit und verschrobener Bismärckerei, einem großen, freiheitsliebenden Volke als nationale Gesinnung aufzupfropfen. Ein Jahr noch nach Abschluß des Waffenstillstandes treiben in Deutschland weite Volksschichten einen albernen Kultus mit dem wattierten Preisringer Ludendorff. Neue Zeit? Nein, noch taumelt alles im Labyrinth des Krieges. Damit ist aber unsere pazifistische Arbeit notwendiger denn jemals.

Es wird mit Recht viel davon gesprochen, daß die Rehabilitierung Deutschlands zur Zeit die Hauptsache sei. Nur über den Weg sind die Meinungen verschieden. Die einen heben hervor, daß nur ein unbedingtes Schuldbekenntnis uns die Sympathie der Welt wiedergewinnen könne, während die andern sich mit Eichenlaub bekränzen, teutonisch die Brust mit den diversen "Orangeorden" recken und nur das eine zu sagen haben: Nur nichts zugeben! Zähne zusammenbeißen und Haltung! Das imponiert. – Die dritte Kategorie setzt sich aus jenen zusammen, die alles gemütlich in einem Topf zusammenrühren und dann freundlich lächelnd verkünden, es hätten alle die gleiche Schuld und wir Deutschen hätten Zeit zu warten, bis die andern zur gleichen Erkenntnis gekommen wären. So gutherzig eine solche Auffassung ist, so wenig verspricht sie Erfolg. Zu sehr ist die Stimmung gegen uns und zu wenig unsere Lage dazu geeignet, es auf neue Geduldsproben ankommen zu lassen. Es ist vielmehr unsere höchste Pflicht, uns mit aller Kraft für die Durchdringung Deutschlands mit pazifistischem und demokratischem Geist einzusetzen. Wir müssen den Mut zu absolut neuen Methoden finden. Stärker noch als formale Schuldbekenntnisse, die von Skeptikern sehr leicht als Lippenbekenntnisse gewertet werden können, müßte eine solche Tat wahrhaft vorbildlich wirken und am allerersten geeignet sein, die Barrieren des Hasses und Mißtrauens um uns niederzulegen. Das ist der Weg zum Völkerbunde der Zukunft, der nicht aus dem Kalkül der Staatsmänner erwächst, sondern dem Rechtsempfinden der Völker. Dann erst wird die Stunde der Versöhnung anbrechen und der letzte Krieger sein Schwert unter Rosen begraben.

(Völker-Friede, November 1919)

Des Bürgers Wiederkehr

Allen guten Menschen, die als Dernier cri den stieren Verzweiflungsblick ob der Zeiten Verderbnis auserkoren haben, sei, soweit sie belehrbar sind, dringend das Studium jener Zeiten empfohlen, die großen Krisen folgten. Man kann es leider gar nicht oft genug wiederholen, daß eine Menschheit, die Jahre abgründigsten Schreckens hinter sich hat, nicht in freundlicher Unbefangenheit an ihre alte Arbeit zurückkehrt, wenn diese auch nur im Rentenverzehren bestand. Der eine ist müde geworden, das sogenannte "bessere Ich" ist schlafen gegangen, und was man da unter Menschen wandeln sieht, das ist nicht mehr als ein Bündel künstlich aufgepeitschter Nerven. Der andere, dumpfer Triebmensch, erhebt sich zum erstenmal aus dem Unbewußten, und sein neues Wachsen ist eine einzige Begierde. Treiben wir keine Spiegelfechterei: wir alle sind heute entweder solche Eingeschlafene oder Erwachte. Man hat uns durch die Hölle gepeitscht und wundert sich nun, daß die letzten kümmerlichen Reste des Religionsunterrichtes dabei vollkommen untern Wagen geraten sind. Daneben gibt es noch spaßhaft veranlagte Zeitgenossen, die krampfhaft bemüht sind, all die Exzesse dieser Epoche der armen deutschen Revolution in die allzu engen Schuhe zu schieben. Ach, du bedauernswerte Göttin, du hast mehr gesündigt, als es sich selbst für die unpolitische deutsche Dame, die du bist, trotz gelegentlichen russischen Akzents, gebührt. Aber das hast du nicht verdient! Du sollst schuld sein an militärischem Zusammenbruch, an Putschen, Arbeitsscheu, Sittenverwilderung, Schiebertum, Kirchenaustritten und Schönheitsabenden? Immerhin, vor einem Jahr, da tratst du noch etwas imponierender auf, aber schon damals war leider nicht zu verkennen, daß deine Kleider nicht lang genug waren, um die Kothurne zu verdecken, und deine Stimme war mehr schrill als tönend. Aber die Schuldige bist du nicht. Nein. Es besteht gar kein Zweifel: die deutsche Revolution ist ein schmächtiges Persönchen, und ihre Umrisse fordern zum Spott heraus. Sie hat nichts gemein mit der himmlischen Hetäre von 1830, wie sie Delacroix gemalt hat. Aber um sie Verführerin zu schelten, dazu gehört die ganze deutsche Temperamentlosigkeit und die Undankbarkeit. Wir wollen nicht aufzählen, was sie an Unterlassungssünden auf sich geladen hat, wir wollen hier erinnern an ihre einzige Tat – – sie hat den Krieg beendet.

Für jeden halbwegs Vernünftigen sollte es außer Zweifel stehen, daß der militärische Zusammenbruch auch gekommen wäre ohne meuternde Matrosen und ohne Emil Barths russische Knallpistolen. Schlimmer noch: der Krieg wäre auf deutschem Boden zu Ende geführt worden, die Rheinlande hätten Nordfrankreichs Schicksal geteilt, und der Friede wäre schlimmer geworden als der Versailler. Das Gezeter wider die Revolution könnte wirklich humoristisch aufgefaßt werden, würde sich dahinter nicht eine neue Denkweise verbergen. Neu in ihrer zeitlichen Form, uralt in ihrem Inhalt: die Sehnsucht nach dem spießerlichen Idyll, nach der aufregungslosen Mittelmäßigkeit. Die alte Bürgerlichkeit, um eine neue Note vermehrt, ist wieder da. Ist die geheime Herrscherin der Stunde. Bürgerlichkeit nicht als sozialer Begriff, aber als seelischer Zustand. Da findet sich alles: Abneigung gegen das Ungewöhnliche, Scheu vor dem Erlebnis, Autoritätsdusel, Servilität, Verlangen nach geruhiger Verdauung. Das ist nicht der Citoyen der großen Revolution, nicht der wortreiche, aber echt begeisterte Mann der Paulskirche, das ist jenes Lebewesen, das die

22 zahlungsfähige Moral erfunden hat, das nur schwelen kann und niemals glühen, das die Ehrfurcht vor der Leistung nicht kennt, sondern nur das Ducken, wenn eine kräftige Faust droht. Niemals schlägt das Herz höher vor geistiger Tat, aber vor möglichst massiver Entfaltung äußerer Macht, da biegt sich der Rücken. So sieht unser neuer Beherrscher aus, verehrte Freunde, der Tonangebende nach einem Jahr Republik. Er ist es wirklich, mögen auch andere noch das große Wort führen. Er duldet es; liebt es sogar, daß er es nicht selbst zu tun braucht. Denn er betritt die Öffentlichkeit nur herdenweise, nie als Individuum, es ist so, als ahne er irgendwie seine traurige Figur. Er sorgt dafür, daß die Religion hübsch in der Schule bleibt. Nicht aus Religiosität, sondern weil der Mensch etwas glauben muß. Er sorgt dafür, daß wir nicht die Einheitsschule erhalten, damit die Bildung das Privileg seiner Söhne bleibt, die den Typ an Wissen bereichern und – deshalb gefährlicher! – fortsetzen. Er jammert über die Sittenlosigkeit und ist von der Notwendigkeit der Prostitution durchdrungen. Er stöhnt über den Verfall der Wirtschaft und macht Geschäfte, die die Valuta verhunzen. Er bleibt gleichgültig, wenn er an die Kriegsjahre zurückdenkt, und vergießt Tränen bei dem Gedanken, daß Hindenburg in Zivil wandeln und sich von einem Frankfurter Juden ausfragen lassen muß. Die Presse fügt sich seinem Geschmack – er gibt der Republik, die er verwünscht, sichtbarlich das Gepräge. Mit wenig Hirn und viel Ellenbogen ist er dabei, auch die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ob es so bleiben muß? Das hängt ganz davon ab, ob endlich erkannt wird, daß dieser Bürger nicht der Repräsentant einer bestimmten Klasse, sondern einer bestimmten Denkart ist. Daß er nicht mit irgendeiner Wirtschaftsweise, wohl aber mit einer ganz bestimmten Erziehungsweise zusammenhängt. Das gibt ihm seine Macht. Deshalb ist er bodenständig und die einzige wirkliche Gefahr, die die deutsche Republik kennt. Wir müssen eilen, schon wächst er von Tag zu Tag. Schwächer wird die Flamme, die jäh aufloderte, und bald wird sie erloschen sein.

(Monistische Monatshefte, 1. Januar 1920)

Der Aufmarsch der Reaktion

Während die Linksparteien mit deutscher Gründlichkeit ihre Zwiste austragen, macht die Rechte klar zum Gefecht. Während in den großen Städten die republikanischen Parteien einen mehr oder weniger geistigen Kampf gegeneinander führen, sichern die Monarchisten sich das flache Land und die Provinz, und bald dürfte es ihnen gelungen sein, Städte und Industriereviere gründlich einzukesseln. Wenn in Berlin geschossen wird, dann tanzt die pommersche Vendée vor Freude. Die Republik ist schlecht, das ist heute das politische Credo unzähliger Deutscher. Die Maßlosigkeit der linksradikalen Opposition ist die beste Helferin der von rechts anrückenden Reaktion.

Das haben wir uns im November 1918 nicht träumen lassen, als wir, fern der Heimat, unsere verwitterten Feldmützen in die Luft warfen und die Republik leben ließen, daß so bald an ihr gerüttelt würde, daß so mancher, der sich damals vor Begeisterung die Kehle wund schrie, so bald zum unfreiwilligen Helfer derjenigen werden würde, die sie heute meucheln wollen. Was uns damals das Blut schneller durch die Adern jagte, das waren nicht Parteiprogramme und nicht spitzfindig ausgeklügelte soziale Glaubenssätze – kein Mensch fragte danach, was Radek von Kautsky trennte. Millionen aber einte das Gefühl: das Morden ist zu Ende, der Militarismus ist an sich selbst verreckt, wir sind von Stunde an freie Menschen im freien Vaterland! Die deutsche Revolution war nicht parteidogmatisch beschwert, sie war der elementare Notwehrakt eines entsetzlich leidenden Volkes.

Wir wissen, wie schnell dieses Gefühl der inneren Zusammengehörigkeit dahinschwand. Gewiß, Begeisterung kann nicht auf Eis gelegt werden. Aber wo sie stark und echt ist, bringt sie auch eine Parole hervor, die noch lange nachher zündende Kraft beweist und Auseinanderstrebende von neuem bindet. Daß die neue Ordnung eine solche Parole nicht gefunden hat, empfinden ihre Feinde leider stärker als ihre Freunde. Man kann den Gegnern der Republik die Anerkennung nicht versagen, daß sie gründlich und vielseitig sind. Die ehemaligen Stützen von Thron und Altar verstehen sich trefflich auf Maulwurfsarbeit. Die Tippelskirche verstehen es, wirksam gegen Korruption zu deklamieren. Es gibt nichts, was die deutschnationale Opposition nicht auszunützen verstände. Es ist da keine Frage zwischen Himmel und Erde, die nicht mit einem innerlich durchdrungenen "Die Republik ist schuld" beantwortet wird. Die militärische Niederlage, der schlimme Frieden, Teuerung, Sittenlosigkeit, Schiebertum ... die Republik ist schuld! Es ist kein bedenklicher Instinkt in der Volksseele, der nicht ins Maßlose gesteigert wird. Der dumme Dünkel ehemals bevorrechteter Kasten wird ebenso in Rechnung gestellt wie die primitive Sehnsucht bornierter Spießer nach militärischem und dynastischem Schaugepränge. Und diese Kleinarbeit ist konsequent. Die Sozialisten von einst, die sich auf die Massenpsychose verstanden, sind harmlose Stümper daneben. Es gibt keine öffentliche Institution, in die nicht die wüste monarchistisch-nationalistische Hetze hineingetragen wird. Schule, Kirche, sogar Theater sind die Tummelplätze der deutschen Mafia.

Es ist ziemlich hoffnungslos, solch randalierender Agitation entgegenzuhalten, daß ein Jahr neues System nicht alle Blütenträume zur Reife bringen konnte. Wir kennen die Schwierigkeiten von Übergangszeiten. Auch in Frankreich hat die Dritte Republik drei Jahrzehnte gebraucht, um sich endgültig durchzusetzen. Auch das französische Offizierskorps beherrschten royalistische Cliquen; die ehrlichen Republikaner waren in oft verzweifelter Minderzahl. Aber Klugheit und Festigkeit können den Übergang abkürzen und der neuen Staatsform ein sicheres Fundament schaffen. Keine törichte Gewalt, kein plumper Versuch, Argumente durch Zwang zu ersetzen. Aber erst recht keine faulen Kompromisse in der Hoffnung, sich das Wohlwollen der Abgesägten zu erschleichen.

Die Republik muß sauber sein. Ihre Unantastbarkeit muß ihre Gegner entwaffnen. Von den Führern eines arm gewordenen Volkes muß die härteste Selbstzucht verlangt werden. Sonst ist jeder politischen Unmoral Tür und Tor geöffnet.

Die Republik muß weise sein. Von dem scharfen Instrument des Ausnahmezustandes mache sie niemals ohne letzte Not Gebrauch. Jede Maßnahme, die irgendwie an die Methoden des alten Systems erinnert, läßt weite Kreise des Volkes an der Demokratie zweifeln, schafft Erbitterung und Gleichgültigkeit. Nichts Schlimmeres könnte der Republik widerfahren als eine Verdrossenheit gerade der Volksschichten, die sie zu ihrer Verteidigung braucht und die nach ihrer ganzen Denkungsart zu ihr gehören.

Kein größerer Gefallen kann der Reaktion erwiesen werden als die gegenwärtig betriebene Innenpolitik. Diese Politik der "starken Hand" entspricht ganz den Intentionen des Edlen von Oldenburg. Kein Mensch von gesunden Sinnen wird sich dagegen sträuben, daß Parlament und Verfassung gegen Eingriffe von außen geschützt werden müssen; aber die Verhaftung angeblicher "intellektueller Urheber" solcher traurigen Geschehnisse erinnert an die übelsten Gepflogenheiten von Anno Puttkammer. Wir stehen als Demokraten den Däumig und Goldschmidt scharf gegenüber, aber wir achten sie als ehrliche Gegner und wissen sie von dunklen Putschbrüdern ebensoweit entfernt wie den Herrn Reichswehrminister von staatsmännischer Einsicht.

Was hier ausgesprochen wird, sind Binsenwahrheiten. Nichtsdestoweniger scheint die stärkste Partei der Koalition, die sozialdemokratische, den Sinn dafür verloren zu haben. Jene Partei, die einst so stolz darauf war, auch von jedem Ansatz einer Kamarilla frei zu sein, läßt sich heute in seltsamen "Funktionärversammlungen" von Krügern und Heilmännern gängeln.

Schlecht beraten sind die Führer der Republik. "Caveant consules ...!" So rief man einst in gefährlichen Stunden. Heute muß es heißen: "Möge die Republik zusehen, daß die Konsuln keinen Schaden nehmen!"

(Berliner Volks-Zeitung, 31. Januar 1920)

Die nationalistische Internationale

So geht es nicht weiter!

Vorausgesetzt, daß das Kabinett Fehrenbach die ersten Stürme und Anstürme übersteht, werden in der ersten Hälfte des kommenden Monats in Spa Mitglieder der deutschen Regierung mit den "großen Männern" der Entente an einem Tisch sitzen. Schon heute wissen wir, daß aus dieser Konferenz nichts besonders Erfreuliches herauskommen wird, und dabei haben wir deutschen Demokraten und Pazifisten seit langem eine solche Aussprache sehnlichst herbeigewünscht. Der Zeitpunkt ist der denkbar ungünstigste. In Deutschland ein Wahlresultat, das das Mißtrauen des Auslandes bergehoch anwachsen ließ; skrupellos auf Augenblickswirkung gestellte Agitation entwirft Bilder kommenden Vergeltungskrieges. Die Soldateska spottet der schwachen bureaukratischen Fesseln und läßt sich nicht einmal herbei, der herzlich zahmen demokratischen Kontrolle wenigstens rein äußerlich die Reverenz zu erweisen. Allzu leicht macht es Deutschland den starken Männern drüben, die Opposition der Vernünftigen beiseite zu schieben. Die deutschen Dokumente sprechen! Eine einzige Ausgabe der "Täglichen Rundschau" gibt der Pariser und der Londoner Hetzpresse die willkommene Gelegenheit, hohnlachend einen John Maynard Keynes abzutun, den leidenschaftlichen Vorkämpfer einer wahrhaften europäischen Wiederherstellung. Jenen Keynes, dessen empörtes Gerechtigkeitsgefühl die Umrisse des Versailler Altmännerkollegiums mit dem Griffel eines Tacitus für ewige Zeiten festgehalten hat.

Es ist eine alte Geschichte: wer freimütig darauf hinweist, daß es im Lande Dinge gibt, die wenig geeignet sind, das Vertrauen der Nachbarn zu erwecken, der muß die Verdächtigung einstecken, er rechtfertige oder verherrliche sogar die dem Lande ungünstige Politik der andern. Muß es denn immer wiederholt werden, daß der Versailler Vertrag in der Sache ein Ausdruck des Gewaltglaubens, eine Enttäuschung nach Wilsons hochgemuten Verheißungen bedeutet, technisch aber ein flüchtiges und schlechtes Stück Arbeit ist?! Daran läßt sich nicht rütteln. Aber ebensowenig an der Tatsache, daß gewisse Strömungen bei uns geeignet sind, die Vernichtungstendenzen bei den Siegern, namentlich den Franzosen, aufs äußerste zu fördern und ihnen einen Schein von Berechtigung zu verleihen.

Wir erheben gegen die Entente den Vorwurf, daß sie uns gegenüber eine Politik plumper Drohungen und Erpressungen betreibt. Aber wir erheben auch gegen viele unserer Volksgenossen den Vorwurf, daß sie es der Entente allzu leicht machen, bei dieser bequemen Politik zu verharren. Die Entente soll und muß lernen, daß man das deutsche Problem nicht löst, indem man ein paar Regimenter Kolonialtruppen über die Demarkationslinien schickt, und daß eine weitsichtige Außenpolitik höhere Ziele haben muß als jenes, den Jubel der Jingopresse auszulösen. In Spa wird auch Marschall Foch anwesend sein. Und wird natürlich aus militärischen Gründen auf die Verewigung der Besetzung des Rheinlands dringen. Und wird ein Exposé mitbringen, in dem ausgeführt ist, wie unrecht es sei, durch wirtschaftliche Konzessionen Deutschland in die Lage zu versetzen, sich so weit emporzumästen, daß es bald wieder in einen Krieg eintreten könne.

Nochmals: Warum wird Herrn Foch und seinen Myrmidonen ihr Handwerk so sehr erleichtert? Warum kann Herr Barthou die Politik Millerands, die wir doch wirklich als eine solche der harten Hand empfinden, unter dem frenetischen Beifall der Boulevardblätter als "schlapp" bezeichnen? Die angelsächsischen und italienischen Staatsmänner haben ein besseres Organ für die Notwendigkeiten der Situation und wissen, daß es zur Zeit ärgere Sorgen gibt als militärische. Warum müssen sie aus dem Felde geschlagen werden, ausgerechnet mit Haufen bedruckten deutschen Zeitungspapiers? Das wäre ein Triumph deutscher Politik, wenn zu einer solchen Konferenz, die doch Wege in die Zukunft weisen soll, nicht mehr Herr Foch gebeten würde, weil man seiner nicht mehr zu bedürfen glaubt. – –

In der sozialistischen Welt wetteifern zur Zeit etliche Internationalen. Eine jede ein Stück Ohnmacht. Die "Deutsche Tageszeitung", hierin der verwandten Intelligenz des "Hammers" folgend, weiß hin und wieder Spannendes von einer "Judeninternationale" zu berichten. Doch gibt es gegenwärtig nur eine Internationale von Bedeutung, wenn sie auch nicht auf dem Papier steht: das ist die Internationale der Nationalisten! Mit gefletschten Zähnen, geifernd vor Wut, so stehen sich die Genossen wider Willen gegenüber; aber der gleiche geistige und sittliche Tiefstand eint sie und die Überzeugung, daß der brutalsten Macht diese Welt gehört. Setzt Herrn Ernst Reventlow an einen Tisch mit Herrn Léon Daudet von der "Action Française" und Herrn Bottomley vom "John Bull", und die Entente cordiale ist fertig. Wie das einander in die Hände arbeitet! Beginnt der eine zu poltern, ist der andere glücklich, ihn nun seinerseits überpoltern zu können. Die Völker aber sehen zu und bewundern die losgelassenen Indianerinstinkte ihrer Überpatrioten. Und doch stehen immer die Völker am Marterpfahl, wenn ihre Führer mit dem Tomahawk Politik machen.

Früher war Außenpolitik in Deutschland eine Geheimwissenschaft und wurde von den wenigen Auserlesenen in Seidenschuhen betrieben. Heute führt ein jeglicher seine Weisheit in Holzpantinen spazieren. Die alldeutschen Tobsuchtsausbrüche, in der Ära Kiderlen noch sporadisch, sind längst permanent geworden. Delirium als Prinzip – ein kostbares Rezept für auswärtige Politik!

Zugegeben, das alte Regime bedeutete keine Erziehung zur Verantwortlichkeit und hat auch dem Deutschen nicht gerade den Blick fürs Ganze auf den Weg gegeben. Aber wie sich jetzt unsere nationalistische Presse immer tiefer in Verhetzung und Verwilderung hineinarbeitet, das überbietet alle früheren Leistungen und wäre Gegenstand nicht politischer, sondern psychiatrischer Untersuchung, wenn dazu Zeit wäre, wenn nicht Deutschlands Lage so furchtbar wäre. In engstem Zusammenhang damit steht auch eine große innerpolitische Gefahr.

Wenn, was schon jetzt als ziemlich feststehend betrachtet werden kann, die Konferenz von Spa Deutschland keine Erleichterung bringen wird, sondern nur die alten Forderungen in neuer Umrahmung, dann werden unsere reaktionären Parteien eine neue chauvinistische Glutwelle übers Land gehen lassen. Das deutsche Elend, das in erster Linie sie verschuldet haben, wird ihnen gut genug sein als Anlaß zu neuen agitatorischen Gesten. Die Parteien der Kriegsverlängerer und Kriegsgewinnler, die Einpeitscher des Revanchegedankens und Begönnerer des Kapp-Putsches werden die Republik, werden die demokratischen und sozialistischen Parteien verantwortlich machen für die Schläge auf den Magen, die das deutsche Volk von der Entente erhält. Sie haben der Demokratie die Verantwortung für den von ihnen verlorenen Krieg aufgebürdet, sie werden auch vor dieser neuen Verleumdung nicht zurückschrecken. Die Entfesselung des Nationalismus ist bisher noch immer das probateste Mittel geistbankerotter Elemente gewesen, sich die Herrschaft zu sichern. Und die "Sieger" vom 6. Juni brauchen neuen Wein in die alten Lügenschläuche! Es ist ihnen in den vergangenen drei Wochen nicht gelungen, auch nur eine leidlich mittelmäßige Idee zu produzieren. An Stelle der großen Wirtschaftsretter und erstklassigen Fachmänner erscheinen alltägliche Bureaukraten preußischer Schulung. Sie hätten schon Fachmänner; leider sind diese bei der gereizten Stimmung der Arbeiterschaft nicht ministrabel. Eher würden die Arbeiter alle Räder stillstehen lassen, als die Verwaltung der Wirtschaft in Händen dieser offenbaren Vertrauensleute des rabiatesten Industrieherrentums zu dulden. Die Reaktionäre haben also sehr viel zu vertuschen. Wie man sie kennt, werden sie nicht zögern, in Deklamationen wider die "schlechte" Republik und die "korrupte" Demokratie wahre Orgien zu feiern und die Mittel- und Linksparteien zu Sündenböcken zu machen.

Ein weiteres Umsichgreifen des Chauvinismus aber bedeutet einfach die Katastrophe der Demokratie. Diese Gefahr muß erkannt werden. In England gibt es gute Liberale; die zugleich sehr solide Jingos sind. Deutschland kennt solche Art nicht. Hier ist der Chauvinismus die Eigenart und die leider auch sehr wetterfeste Maske der Reaktion. Als Herr Traub sich patriotardisch zu echauffieren begann, siedelte er zu Westarp über.

Es geht um die Existenz der Demokratie. Keinen Augenblick darf sie sich von einer an sich vielleicht verständlichen Massenstimmung hinreißen lassen. Mitten in der allgemeinen Entrüstung über die Ententepolitik muß sie mit unerbittlicher Schärfe auf jene hinweisen, die sie als wahre Urheber des Unglücks erkannt hat.

Völkerpolitik wird nicht mit Temperamentsausbrüchen gemacht. Eine nationale Pflicht nur hat der Deutsche heute: jede pomphafte Gebärde zu vermeiden und still zu arbeiten! Nationale Würde, das ist nicht vaterlandsparteiliche Schmierenpathetik, sondern Besinnung und Abrechnen mit sich selbst. Patriotismus, das sei Handlung und nicht Wort. Die Franzosen fürchten deutsche Revanche. Wären sie klug, würden sie das beseitigen, was Revanchegedanken nähren kann. So hell leuchtet es noch nicht in Frankreichs Politik, aber die Ahnung ist da. Die von Nitti begonnene und von Lloyd George diplomatisch unterstützte Politik der Verständigung wird sich durchsetzen. Wir Deutsche sollten den Klärungsprozeß nicht mit Tiraden aufhalten. Wir, die von Mißtrauen Zernierten, können viel zum Abbau der Kriegsstimmung und damit zur Entwaffnung der Welt beitragen, wenn wir offen zum Ausdruck bringen, daß nach den blutigen Erfahrungen von vier Kriegsjahren eine Rückkehr zu politischen Grundsätzen unmöglich ist, die nicht wenig mitschuldig waren an der Entfesselung des Krieges.

Viele Feinde hat das deutsche Volk in der Welt. Aber die schlimmsten trägt es in sich. Übermütig wie einst möchten sie auf dem Reichsgebäude die Junkerfahne aufpflanzen. Der Wind pfeift von rechts und peitscht die Flut. Wir wollen der Mache die Gesinnung entgegensetzen und uns zur Verantwortung erziehen vor Volk und Menschheit. Das ist der Damm, an dem die Woge des Völkerhasses zerschellen wird.

(Berliner Volks-Zeitung, 27. Juni 1920)

Das besiegte Deutschland

Spätere Geschlechter werden die Periode des Weltkrieges kein Heldenzeitalter Europas nennen, sondern eine Zeit tiefster Erniedrigung. Die Aufpeitschung des Nationalismus, die Entfesselung und Nutzbarmachung aller Instinkte, die man sonst als edel zu bezeichnen pflegt, haben seelische Epidemien hervorgerufen, die auf lange Zeit noch alle internationale Politik zu einem ebenso schwierigen wie gefährlichen Problem machen werden. Insofern ist auch der Versailler Frieden nichts künstlich Konstruiertes, sondern durchaus aus einer Zeit gewachsen, die Haß und Rache heiligte und alle Niedrigkeit für den Dienst des Vaterlandes mobilisierte. Und deshalb kann das traurige Friedensdokument nicht durch ein paar Federzüge beseitigt werden, ehe nicht ein wirksames Serum gegen die Krankheitserreger gefunden ist. Von unseren früheren Gegnern ist Frankreich am hartnäckigsten und sträubt sich am heftigsten gegen die von England und Italien befürwortete Politik der Vernunft. Ohne eine Besserung unseres Verhältnisses zu Frankreich aber ist keine Restitution europäischer Gesinnung und Gesittung denkbar. Daß unsere bisherige Politik Frankreich gegenüber versagt hat, einerlei, nach welcher Methode man arbeitete, ob Gongschlag oder Flötentöne, scheint uns der Beweis zu sein, daß mit rein politischen Mitteln hier nichts ausgerichtet werden kann. Es muß bei uns ein sittlicher Wille sich regen, der der Welt beweist, daß das Regime wirklich ein Regime ist und nicht eine Ohnmacht oder gar eine Draperie.

Heute aber ist es leider so, daß wir in diplomatischen Noten unser Elend ausstöhnen und unsere Presse lauttönend an das Gewissen der Welt rührt, Deutschland vor dem Hungertod zu bewahren, und daß in grellem Kontrast zu den amtlichen und halbamtlichen Leichenbittermienen dieses Deutschland, wie es da in wildem Tempo dahinlebt, ein Antlitz trägt, das wenig geeignet ist, Sympathien zu erwecken. Mit einem Wort: ehe wir unser öffentliches und privates Leben nicht sehr gründlich säubern, werden wir keine Aussicht haben, Anschluß zu finden an eine Welt, ohne die wir nicht leben können und die jetzt unser Treiben weit befremdeter betrachtet, als wir es in unseren kritischsten Stunden tun.

Denn uns fehlt der kritische Blick für uns selbst. Wenn einer Nation eine bitterlich harte Aufgabe zufällt, so ist es die, eine Niederlage mit Anstand zu tragen. Gelingt das, so sind schon die allerschlimmsten Folgen paralysiert, und die Bürgschaft neuen Aufstiegs ist gegeben. Wo aber ist bei uns Haltung zu finden? Beträchtliche Teile des deutschen Volkes wollen noch nicht einmal die Tatsache der Niederlage gelten lassen. Bestreiten den militärischen Zusammenbruch. Behaupten, es wäre ganz gut möglich gewesen, den Krieg weiterzuführen. Mit Erfolg weiterzuführen. Es ist aber weder ehrlich noch dem Vaterlande dienlich, eine unabweisbare Tatsache mit Phrasen wegoperieren zu wollen und diejenigen mit allen Mitteln zu bekämpfen, die unter der Macht dieser Tatsache die Konsequenzen gezogen haben. Gewiß ist es wenig erquicklich, immer wieder auf die Dolchstoßlegende zurückkommen zu müssen. Aber unsere Reaktion, der ärgste Hemmschuh einer vernünftigen Neugestaltung, lebt von zwei höchst anfechtbaren, dennoch auf primitive Gemüter höchst eindrucksvollen Behauptungen: 1. die deutschen Machthaber von 1914 seien am Ausbruche des Krieges absolut unschuldig, 2. der Krieg sei im Oktober 1918 nicht verloren gewesen, die Auflösung der Armee sei auf verhängnisvolle Einflüsse von seiten der Heimat zurückzuführen. Es ist bedauerlich, daß diese beiden Behauptungen bisher von den Linksparteien noch nicht in ihrer vollen Gefährlichkeit erfaßt wurden, daß es bei den Demokraten wie bei den Sozialisten eigentlich nur einzelne Persönlichkeiten sind, die mit ihrer ganzen Energie diese Spiegelfechtereien bekämpfen. Und doch braucht über die Bedeutung solcher Legenden kein Wort verloren zu werden: sie sollen das alte System rechtfertigen, sie sollen die Monarchie und ihre Ratgeber reinwaschen, für schuldlos erklären, am Krieg wie am Zusammenbruch. Damit aber wird der neuen Staatsform, die doch gerade eine Folge dieses Zusammenbruchs war, der Boden unter den Füßen fortgezogen.