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Dieser Band enthält, neben einer Biografie, seine wichtigsten Schriften aus den Jahren 1931 - 1933. Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.
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Seitenzahl: 775
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Schriften 1931 – 1933
Carl von Ossietzky
Inhalt:
Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie
Schriften 1931 – 1933
1931
Nach Ostland
Dietrich rettet
(Antworten) Dr. Hammer
Zur Reichsgründungsfeier
Professor Gumbel
(Antworten) Berta Kuczynski
Brutus schläft
D'Ormessons Vorschlag
Winterkönig
Die Farben von Panama
Alfons XIII.
Zum Falle Friedrich Wolf
Bülow III
Menschewiken
Am Katzentisch
Egal legal
Ufa verbietet die Konkurrenz
Berlin – Wien
Katholische Diktatur
Nach der Sintflut?
"Kulturbolschewismus"
Ein Kapitel Außenpolitik
(Antworten) Doktor Helene Stöcker
Der Verrat an Kürten
Ein Mädchen fliegt nach Afrika
"Der Beste seit Bismarck" / Unser Landesverrat
Antwort an Rose Schwarz
Abschied von Briand
Cuno und Curtius
Gegen die Todesstrafe
Zum Leipziger Parteitag
Brünings schwarze Woche
Uralzew und der Kredit
(Antworten) Emil Lind
Wir müssen durch!
Das gerettete Österreich/Der gerettete Brüning Leutnant Scheringer und die K.P.D.
(Antworten) Falscher Fuffziger
Breitscheid als Marxist
(Antworten) Falscher Fuffziger
Reitende Bettler
Es ist erreicht!
Stillhalten und mitsingen
Brüning und sein Ruhm
Volksentscheid
Bülow-Platz
(Antworten) Rundfunkhörer
Zu spät!
Am runden Tisch
Pilsudski-Regime
Armer Curtius!
Pogrom und Polizei
Völker ohne Signale
Dieser Winter ...
Rechts ist Trumpf!
50 zu 50
Die beiden Groener
Bülow und Schleicher
Braun und schwarz
Groener funkt dazwischen
Wer gegen wen?
(Antworten) Freund der Weltbühne
Ich Landesverräter ... Mein Standpunkt zu dem Weltbühnen-Urteil Publizist und Staatsraison
Der Weltbühnen-Prozeß
(Antworten) Das leipziger Urteil
Offener Brief an Reichswehrminister Groener
Kommt Hitler doch?
(Antworten) Strelitzer
Trotzki spricht aus Prinkipo
Tabula rasa
1932
Der Fall Franz Höllering
Eiserne Front
Um Hindenburg
Lytton Strachey
Das Hindenburg-Syndikat
Der Staatenlose
Gedanken eines Zivilisten
Was wäre, wenn ...
(Antworten) Reichswehrminister
Gang eins
Duesterbergs düstere Rolle
Wer hat gesiegt?
Gang zwei
Das Ende der Pressefreiheit
Alba im Schlafrock
Der Fall Remarque
Das Verbot der SA.
Dank vom Hause Hindenburg
Ein runder Tisch wartet
Die Einheitsfront der Arbeiterparteien
Rechenschaft
Der Kaiser ging ...
O.B. Server
Antisemiten
I.K.
Otto Straßers "deutscher Sozialismus"
Benito Ludovico
Kamerad Lampel
Wenn Annette Kolb
Der Jünger
Zehrer und Fried
Erklärung
Rückkehr
1933
Wintermärchen
Der Flaschenteufel
(Antworten) Carl v. Ossietzky
Bankrott der Autorität
Was ist Miliz?
Kamarilla
Stendhal
Kavaliere und Rundköpfe
(Antworten) Wilhelm Michel, Darmstadt
Deutschland wartet!
Richard Wagner
Herr Walter Bloem
Schriften 1931 - 1933, Carl von Ossietzky
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624934
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen". Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.
Ein Heer von Ministerialbeamten zieht nach Lauenburg in Pommern, wo erste Rast gemacht wird. Dann geht es übern Korridor nach Königsberg, dann weiter, bis nach Oberschlesien hinunter. Der Reichskanzler und ein paar Minister kommen als Weise aus dem Abendland, um dem bedrohten Osten Mut zuzusprechen, auch weiterhin die aus dem allgemeinen Reichselend gezogenen Millionen in den Kassen der Rechtsparteien gut anzulegen, soweit sie nicht notleidenden Großgrundbesitzern zugeflossen sind. Offiziell wird diese Reise als Studienfahrt bezeichnet. Was, in Gottes Namen, soll in diesen zehn Tagen studiert werden? Der Sachbestand deutscher Osten liegt dem Kabinett in Zahlen vor, die ja auch ihre Sprache reden, die persönliche Besichtigung der subventionierten Gebiete geht in napoleonischem Tempo vor sich. Denn daß Brüning oder Treviranus sich in grüner Joppe und Wachstuchmütze unters Volk mischen, um auf die Art des verkleideten Kalifen zu erfahren, wie ihm ums Herz ist und wie es von seiner Regierung denkt, das ist kaum anzunehmen.
Handelte es sich bei dieser Fahrt nach Ostland nur um eines der in bestimmten Zwischenräumen fälligen bureaukratischen Schaustücke, reiste man nur deshalb nach Königsberg, weil in Mainz auch welche gewesen sind, man könnte schnell darüber hinweggehen. Wir wissen, daß die sogenannte Rettung des Ostens durch Hineinstopfung von Riesensummen die besondere Idee des Reichspräsidenten ist, dem die adligen Grundherren von östlich der Oder ständig mit ihrem Gejammer in den Ohren liegen. Das Ostprogramm hält Herrn Schiele noch, der im übrigen selbst bei seinen eignen Leuten nicht mehr viel gilt. Kommissar für die Osthilfe ist Herr Treviranus, der andre Triarier, der jetzt über ein Scheckbuch verfügt, seitdem sich sein rheinisches Portefeuille durch französische Erfüllungspolitik erledigt hat; ein Wechsel, der seine Wichtigkeit nicht vermindert hat. Aber diese Kavalkade, bis zum 14. Januar mit Marschgeld und Verpflegung versehen, hat sich schließlich nicht in Trab gesetzt, um in Masuren die Republik populär zu machen. Diese Reise ist ganz und gar außenpolitisch, sie ist eine Demonstration gegen Warschau, ein Auftakt zur genfer Polendebatte, deren Ausgang noch in den Sternen geschrieben steht, deren praktischer Effekt jedoch schon jetzt irdisch greifbar ist: Null Komma Null. Ist der deutschen Minderheit in Polen mit solchen Manifestationen gedient? Niemand glaubt es, das Auswärtige Amt zu allerletzt. Dennoch beugt es sich dem Verlangen nach "außenpolitischer Aktivität", anstatt redlich zu erklären, daß dieses Schlagwort stets unsre ärgsten diplomatischen Niederlagen herbeigeführt hat. Herr Curtius verzichtet sogar auf den Vorsitz in Genf. Das ist nur folgerichtig, denn der deutsche Vertreter auf dem Präsidentenstuhl würde das ganze nationale Melodrama von dem geknechteten Deutschland zerstören, das nirgendwo Gehör findet und das jetzt zu ernstern Mitteln greifen muß, weil man mit ihm nicht als Gleicher unter Gleichen verkehren will.
Vor dem Völkerbund sollen nur deutsche Beschwerden gegen Polen verhandelt werden, aber unsre Öffentlichkeit ist inzwischen so gründlich präpariert worden, daß sie eine allgemeine Revisionsdebatte erwartet. Das vaterländische Demonstrantentum wird auf keinen Fall zufrieden sein; und wenn Herr Curtius auch ein paar Tage lang noch so sehr die Erinnerung an seinen bedeutenden Vorgänger zu verdrängen sucht, um den Schreihälsen wenigstens halbwegs Genüge zu leisten, er wird reif zum Schnitt zurückkehren, und die für den Völkerbund eingelernte Entrüstung wird ihm ebenso wenig nützen wie seine Preisgabe des Remarque-Films und des Kriegsschuld-Films. Vernunft steht augenblicklich nicht hoch im Kurs, sonst müßte doch bemerkt werden, daß es lichterloher Wahnsinn ist, Youngrevision und territoriale Revisionen zugleich aufs Tapet zu bringen. Es wird sich dabei nicht viel mehr ergeben als neuer Anlaß zum Protestieren, aber auch das gilt ja in Deutschland mit seinem hochentwickelten Berufspatriotentum als Erfolg. Von der genfer Niederlage werden noch viele vaterländisch gerichtete Männer nebst Familie leben.
Curtius wird es nicht leicht haben – ebenso wenig wie Graf Zaleski, der polnische Außenminister. Der polnische Hauptdelegierte wird keine wohlgeneigten Hörer finden. Denn Polen ist nicht mehr das verwöhnte Hätschelkind der Siegerstaaten. Das heutige Polen wird von einem Despoten regiert, dessen geistige Gesundheit wohl mit Recht angezweifelt werden darf. Dies Polen, dessen Oppositionelle von einer sadistischen Offiziersbande in Festungsgefängnissen malträtiert werden, rangiert in der Weltmeinung nicht mehr höher als Horthys Ungarn oder das Jugoslawien der Generalskamarilla. Brest-Litowsk steht zwar nicht zur Debatte, aber die Schatten dieser düstern Mauern werden über Zalęskis Plaidoyer fallen. Das könnte ein großer Vorteil für die deutsche Sache sein, wenn ... wenn eben Curtius nicht im Schatten Hitlers stünde.
Wenn nicht eben alle Welt wüßte, daß ohne den nationalsozialistischen Auftrieb in Deutschland der Außenminister kaum auf den Gedanken verfallen wäre, eine Auseinandersetzung zu eröffnen, die er unter normalern Verhältnissen als zwecklos oder gar gefährlich abgelehnt hätte. So werden die beiden Gladiatoren, der Deutsche und der Pole, jeder mit einem schweren Gewicht am Bein antreten. Der Eine vertritt ein Regime des offenen fascistischen Nationalismus, der Andre eines, das noch nicht ganz so weit ist. Bei dem Einen wird schon mit dem ganzen Martercomfort des Mussolinismus regiert, bei dem andern noch nicht. Bei dem Einen gibt es schon lange Pogrome, bei dem Andern steht das noch bevor. Zwei Mächte, die beide nicht nach Ambra duften, appellieren an das Gewissen der Welt. Die Kräfte in Deutschland, die Herrn Curtius zum Schwerttanz anstacheln, sind nicht grade geeignet, Sinn für Recht und Billigkeit zu erwecken.
So etwa dürfte in Genf kalkuliert werden: Wird in Deutschland nicht seit Jahren der Krieg gegen Polen geschürt? Die deutsche Politik nimmt Exzesse gegen Angehörige der deutschen Minderheit zum Anlaß, aber sie meint den Korridor, meint die Veränderung der Ostgrenzen. Warum revoltiert der deutsche Nationalismus denn nicht gegen Italien, das die Südtiroler noch viel ärger mißhandelt? Im Gegenteil. Italien ist seine Hoffnung; er hat sich sogar einen imaginären Block revisionsbereiter Staaten ausgedacht, mit Italien als Mittelpunkt. Und bringt nicht die Mehrzahl der deutschen Blätter die gleichen Beschwerden gegen Prag vor, wo die Deutschen lange mitregierten? Figuriert nicht der höfliche, immer verständigungsbereite Herr Benesch in der deutschen Presse ewig als das schwarze Biest, kriegt er nicht sogar schlechtere Zensuren ab als der finster umwölkte Pilsudski? Nein, hinter diesen deutschen Lamentationen steckt nur neuer Expansionismus, neuer Imperialismus, in diesen herzbewegenden Wehrufen nach Gerechtigkeit leiert nur der neue Militarismus ein sentimentales Volkslied ab, und nur solange, bis er tiefere Register greifen kann. So etwa werden die Zeugen des Duells Curtius-Zalçski denken. Außer den Kämpfern selbst wird niemand in Schweiß geraten.
Es geht den Deutschen in Polen nicht gut, doch weit besser als andern nationalen Minoritäten. Es geht der deutschen Minderheit grade so, wie es einem widerstrebenden Bevölkerungsteil in einem Staate geht, wo Militärdiktatur die konstitutionellen Garantien mit der Stiefelspitze behandelt. Es sind rohe Ausschreitungen gegen Deutsche bekannt geworden, aber wir haben bisher nicht erfahren, daß man gegen Vertreter des Deutschtums in Oberschlesien so vorgegangen wäre wie gegen polnische Politiker aus den sozialistischen und demokratischen Gruppen. Opposition ist in Polen gefährlich, einerlei aus welchen Gründen, und Pilsudskis Feinden polnischer Zunge steht keine Calonder-Kommission zur Seite, die ihre Klagen nach Genf trägt. Deutschlands Beschwerde gegen Polen wird als ein von Militärs und Nationalisten diktierter Akt gewertet werden, als Auftakt einer Revisionscampagne, die heute noch mit völkerrechtlicher Argumentation geführt wird, morgen schon in unverhüllte Kriegsdrohung übergehen kann. Auch in der Zeit, wo wir uns mit Polen besser standen als jetzt, hörte man in Deutschland nicht auf, vom Ritt nach Ostland zu faseln.
Es hat etwas Symbolisches, daß auf dem Neujahrsempfang der Reichsregierung, an Stelle des beurlaubten Kanzlers, Herr Groener das Wort nahm, um über die Unmöglichkeit des Youngplans und über die Beschwerden der deutschen Minderheiten zu sprechen. Daß Groener das Wort führte, ergab sich gewiß aus Gründen des Alters und der Amtszeit. Aber nennt uns ein Land in der Welt, wo bei so hochoffizieller Gelegenheit der Kriegsminister die nächsten Ziele der Außenpolitik entwickelt? Wir haben nicht eine einzige deutsche Stimme der Verwunderung darüber gehört. Wir leben schon im militärisch-fascistischen Regime, für dessen Herbeiführung die Herren Schacht und von Seeckt, zwei Geschaßte, die allzu gern wieder ran möchten, ihre komischen Tänze aufführen.
Herr Groener sieht in "der Sorge für das deutsche Volkstum jenseits unsrer Grenzen" eine der wichtigsten Aufgaben. Herr Kriegsminister – Caritas beginnt zu Haus! Unter der Regierung Brüning geht es dem deutschen Volkstum diesseits der Grenzen einstweilen bitter schlecht, und was Ausschreitungen gegen Deutsche anbelangt, so braucht man nicht grade nach Polen zu reisen. Erst vor ein paar Tagen sind in Berlin wieder zwei Deutsche von einem Nationalbanditen niedergeschossen worden, einem Angehörigen jener Partei, die mit aller Gewalt für regierungsfähig erklärt werden soll. Die Herren Minister sagen noch behutsam "Sorge für das deutsche Volkstum jenseits unsrer Grenzen", aber in der Gassenagitation heißt es anders. Da sagt man lieber gleich: Krieg und Annektion. Auch wir halten den Korridor nicht für eine weise und gerechte Lösung. Aber es sei doch die Frage gestattet, was sein würde, wenn Deutschland ihn plötzlich zurückerhielte. Es ist nicht einmal imstande, die Menschen innerhalb seiner heutigen Grenzen zu ernähren. Haben sich denn die Korridorkämpen niemals gefragt, was Deutschland mit dem neuen Volk auf neuem Raum anfangen sollte? Ein vergrößertes Territorium ist doch kein Heilmittel gegen Wirtschaftsnot. Ganz Europa leidet unter Störungen des kapitalistischen Systems, die nicht mehr funktionell sind, sondern schon organisch. Und diese Krankheit sollte mit Nationalismus behandelt werden können? Die Revision der Friedensverträge geht nur über ein sozialistisches Europa, es sei denn, daß der Kapitalismus, dieser alte Sünder, in seinen greisen Tagen plötzlich Vegetarier würde und sich zu planwirtschaftlicher Produktionsregelung und Zollunion bekehren ließe. Wir bringen dieser Lösung einige Skepsis entgegen, aber sie scheint uns realer zu sein als die vom deutschen Nationalismus und seinen willfährigen Trabanten in der Regierung erstrebte. Diese Fahrt nach Ostland ist gröbster außenpolitischer Dilettantismus. Alle Geister des Chauvinismus werden wieder aufgewühlt; das Rotfeuer der nationalistischen Radaupresse wirft einen kriegerischen Schein auf die sonst recht gleichgültigen Herren, die da nach Osten reisen.
Die Weltbühne, 6. Januar 1931
In einer Zeit besonderer Not kommt alles auf den Finanzminister an. Als Frankreich von der Inflation bedroht wurde, setzte Poincaré Autorität und Ruf zu ihrer Bändigung ein. Hans Luther hat sich Dreiundzwanzig im Finanzressort bewährt, und Schachts schnell verwirtschaftetes Ansehen stammt aus seiner prähistorischen Epoche als Währungskommissar, wo ihn die Banken noch nicht so gut leiden mochten. Österreichs Sozialdemokratie ist vor allem berühmt durch Breitner, den Säckelmeister der Stadt Wien. Lloyd George, der Schatzkanzler, ist durch den spätern Weltpolitiker nicht übertroffen worden. Herr Hermann Dietrich, der Erste Lord unsres Schatzamtes, bringt für seine schwere Aufgabe vor allem eine heftige süddeutsch gefärbte Beredsamkeit mit und jene temperamentvolle Beschränktheit, die im deutschen Bürgertum unglücklicherweise für bismärckisch gehalten wird. Wir sehen ihn noch, wie er als Matador des Wahlkampfes ans Rednerpult tritt, das starke Antlitz glühend, den Blick starr und angriffsbereit auf die Reihen der Hörer gerichtet, als formierten sich dort unübersehbare Batterien von Bordeauxflaschen. Doch mit dem ersten Wort löst sich die Starre, die Augen rollen wild, die Fäuste hämmern auf den Pultdeckel, durch den weiten Saal dröhnt, beifallumrast, die mannhafte Forderung: "Wir müsse unsre Finanze in Ordnung bringe", und mit rotierenden Augäpfeln verfolgt der Redner den Herrn, der grade durch den Mittelgang verschwindet, wie einen fliehenden Feind. In seiner engern Heimat hat Herr Dietrich den Vorteil, Zwischenrufer mit Namen anreden zu können. Wie soll ein Minister nicht volkstümlich sein, der ganz Baden persönlich kennt?
Herr Dietrich glänzte, so lange er gegen die Interessenhaufen poltern konnte, die trotzdem nicht kleiner geworden sind. Der eigentliche Finanzminister ist aber Herr Brüning selbst. Die Referenten des Finanzministeriums halten sich in wichtigen Dingen lieber gleich an den Kabinettschef. Wenn Herr Dietrich jetzt in einer Versammlung seiner Partei in Stuttgart erklärte, das Arkanum zur Überwindung der Wirtschaftsnot gefunden zu haben, so darf man deshalb aus guten Gründen an seiner Autorschaft zweifeln. Wahrscheinlich hat Kanzler Brüning den ungemütlichen Empfang jener Vorschläge vorausgesehen und erst mal den Ressortminister als enfant perdu ins Feuer geschickt, seiner Methode getreu, daß der Generalissimus im Graben selbst nichts verloren hat. Trotzdem dürfte der Finanzminister mit seiner robusten Konstitution die Kanonade besser überstehen als Herr Curtius die Attacken, die ihn nach seiner Rückkehr von Genf erwarten.
Dennoch wird man das Schlagwort "Lohngeld statt Stempelgeld" auch diesmal als Dietrichs eigne Mache betrachten können. Dieser alte Stabstrompeter der Vaterlandspartei versteht sich gut auf agitatorische Blechmusik. Wenn auch noch alles über das neue Rettungsprojekt bisher Gesagte im Nebel verschwimmt, so ist doch die Grundidee schon deutlich. Man will an bestimmte Industriezweige, die Arbeitereinstellungen vornehmen, Lohnzuschüsse geben; so soll die Arbeitslosigkeit vermindert werden. Da Herr Dietrich sich über die Durchführung dieses Vorschlags nicht bestimmt genug ausgedrückt hat, so ist er überall, auch in der Industrie selbst auf unwirsche Ablehnung gestoßen, und sein Staatssekretär, Herr Schäffer, soll sogar mit seinem Rücktritt gedroht haben. Wahrscheinlich handelt es sich nur darum, den Gebietern der Eisenindustrie, die an dem überhohen Niveau der Eisenpreise festhalten, eine Preissenkung abzukaufen, nachdem sich alle andern Überredungsmittel erschöpft haben. Doch darüber hinaus wird auch hier wieder ein neues Attentat auf die Arbeitslosenversicherung vorbereitet. Da ein Frontalangriff noch nicht angebracht erscheint, soll einstweilen eine neue Abknappung versucht werden, die zudem noch als große wirtschaftliche Rettungsaktion maskiert in die Debatte geworfen wird.
Dietrich hat keinen Zweifel gelassen, daß er die Institution der Arbeitslosenversicherung zum Teufel wünscht. In seiner stuttgarter Rede, wo so vieles vage blieb, wurden doch wenigstens seine Anschauungen darüber klar. Er meinte unter anderm: "daß durch die Arbeitslosenversicherung der Verantwortungssinn der Familienangehörigen gelockert sei und eine Unmenge Not auf diesem System beruhe." Welche Not durch dieses System herbeigeführt wird, hat der Redner verschwiegen. Wir müssen es also als gegeben annehmen, daß der Herr Reichsfinanzminister eine Institution, durch die Millionen vor dem Hungertod gerettet werden, für ein Übel hält, und was gar den Verantwortungssinn der Familienangehörigen angeht, so mag er sich lieber an die Bezieher von Aufsichtsratstantiemen wenden, bei denen ja auch manchmal ein gelockertes Familienleben vorkommen soll. Die Nazis treiben mit dem Worte "plutokratisch" einen groben Mißbrauch, weil es für die Ohren ihrer schwerindustriellen Auftraggeber doch unverbindlicher klingt als "kapitalistisch". Aber wenn es irgendwo zutrifft, dann auf Herrn Dietrich, den eine von Unternehmerseite rührende Denkschrift als "der Industrie nahestehend" bezeichnet hat. Man sieht daraus mit Genugtuung, daß er nicht nur ganz Baden persönlich kennt.
Die Industrie ist aber diesmal mit dem ihr nahestehenden Herrn gar nicht zufrieden. Sie findet die Vorschläge reichlich konfus. Der Reichsverband will festeres haben als ein paar ungekämmte Ministerworte. Mit Recht fragen sich Arbeitgeberverbände, die sich gegen staatliche Zuschüsse sonst nicht grundsätzlich feindlich verhalten, wer nun bekommen soll, und wann, und warum. Auf welche Gruppen soll der Segen fallen, und wer wird durch die Röhre pfeifen? Und mit gutem Grund wird die Frage aufgeworfen, ob ein solches System überhaupt kontrollierbar bleibt und nicht zur völligen Anarchie führt. Der Minister übersieht auch die besondere Art der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Was sollen Maßnahmen zur Produktionssteigerung, wo doch alle Welt unter dem Mangel an Absatzmöglichkeit leidet? Nicht Produktionssteigerung, sondern Produktionsregelung, das ist die Aufgabe. Für das bisherige wilde Drauflosfabrizieren ist kein Bedarf mehr vorhanden. Es sei denn, daß ein neuer Columbus einen neuen Kontinent mit einigen zwanzig Millionen von völlig unbekleideten Einwohnern entdeckte, auf die sich der Gewerbefleiß der industrialisierten Welt mit frischer Vehemenz stürzen könnte. Wo soll aber sonst eine Konjunktur herkommen?
Die Regierung Brüning wird von bürgerlichen Kräften getragen, die ständig über die angebliche Rentensucht der Arbeiterschaft zetern und die Arbeitslosenversicherung als subventionistisch ablehnen. So wäre die Regierung also so weit, daß sie keinen andern Ausweg mehr weiß als die Subventionierung von Unternehmergruppen, was doch auch nur eine Verlagerung der Subventionen von der Arbeitnehmer- auf die Arbeitgeberseite bedeuten würde. Auch innerhalb der Spannweite kapitalistischen Denkens müßte ein solches Unterfangen allzu primitiv erscheinen, als ein Augenblicksmittelchen ohne Verständnis für ökonomische Zirkulationsgesetze. Was Brüning durch seinen Finanzminister als Lösung verkünden läßt, ist im Grunde nicht mehr als die Übertragung des Systems der Ruhrgelder aus dem Politischen ins Wirtschaftliche.
Die Gewerkschaften haben vor einiger Zeit unter heroischer Resignation einen Plan zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt.
Auch die vierzigstündige Arbeitswoche ist nur eine Zwischenlösung, ein Behelf, aber weit diskutabler als alles, was die Regierung bisher produziert hat. Deshalb haben sich auch die Regierungsstellen recht frostig verhalten, und das Gewerkschaftsprojekt keiner eingehenden Würdigung wert befunden. Heute brennt es den Gewerkschaften unter den Nägeln, und es ist fraglich, ob sie noch lange eine Plattform vertreten wollen, die für die Arbeiterschaft neue Entsagung bedeutet. Die rote Opposition im Ruhrgebiet hat augenfällig gemacht, daß die überlieferte Disziplin der Arbeiter desperaten Stimmungen zu weichen beginnt. Lohnabbau durch ein Hindenburgdekret – wenn das Brauch werden soll, so dürfte sich die Radikalisierung der Lohnempfänger nicht mehr aufhalten lassen, und aus wilden unorganisierten Wirtschaftskämpfen wird revolutionäre Politik. Die Gewerkschaften können also nicht lange mehr Entgegenkommen zeigen, ohne die eigne Existenz zu gefährden. Die Pläne der Reichsregierung dürften wohl schließlich nicht so roh serviert werden, wie Dietrich andeutete, aber an der Tendenz der Rettungsaktion, ein staatlich ausgehaltenes Unternehmertum zu schaffen, wird kaum viel geändert werden. Herr Dietrich, der sich gern Liberaler nennt, entwirft den vergoldeten Grabstein der freien Wirtschaft.
Die Weltbühne, 13. Januar 1931
Dr. med. et phil. et jur. et med. dent. et med. vet.Hammer, qualifiziert zum preußischen Kreis- und Gerichtsarzt.
"Nicht Fanatismus sondern nüchterne Erwägungen sprechen für Beibehaltung der körperlichen Züchtigung", so beginnen Sie eine Erwiderung auf den Artikel von Bruno Frei "Der unauffällige Gummiknüppel" in Nr. 46. Unser Mitarbeiter hatte dort eine Broschüre von Ihnen – "Ärztliches zur körperlichen Züchtigung" – behandelt, worin eine sehr gediegene Theorie der Prügelstrafe enthalten ist, "ein konsequentes Ritual der Auspeitschung". Sie schreiben also gegen Bruno Frei: "Im Aufsatz von Bruno Frei kommt der Verfasser erst jetzt zu der durchaus richtigen Erkenntnis, daß die berliner prügelfreien Anstalten zufolge ihrer Ersatzmittel rauher sind als die offen die Prügelstrafe anwendenden Anstalten. Dabei kann sich der Verfasser nicht enthalten, mich, der ich seit Jahrzehnten diese selbe Erkenntnis habe und verbreite, einen Prügelfanatiker zu nennen und meine Empfehlungen als Auswüchse einer Psychopathenphantasie zu geißeln. Ich habe vor einem Vierteljahrhundert ein Lehrbuch für Mädchennacherziehungsanstalten geschrieben, das in zweihundert Anstalten Eingang fand und von der gesamten Presse einschließlich der sozialdemokratischen belobt wurde. Nichts habe ich empfohlen, was ich nicht aus eigner Anschauung kannte, und gewarnt habe ich dringendst vor allen Ausschweifungen, sowohl denen der Prügelanhänger wie denen der Prügelgegner. Leider habe ich in prügelgegnerischen Anstalten, die alle Arten Zöglinge aufnahmen und nicht eine Auswahl trafen, ausschließlich derart trostlose Zustände gesehen, daß ich sie nicht empfehlen konnte. So behandelte die frankfurter Psychopathenstation (Leiter Professor Sioli, Frankfurt am Main, Oberarzt Dr. Waßmuth) einen Knaben im halbwüchsigen Alter wegen Wandertriebs mit einjähriger Bettruhe, das heißt also mit Verlust eines ganzen Jahres und Anleitung zur ausschweifenden Selbstbefleckung. Die Anstalt empfahl sich als Musteranstalt zum Besuch von Kongreßteilnehmern. In andern Anstalten wurden Dauerbäder bis zum Entstehen von Pilzeiterungen in der Haut und Ohreneiterungen Wochen hindurch verabfolgt. In noch andern Anstalten entarteten die Zöglinge in so weitgehendem Maße gleichgeschlechtlich zufolge grundsätzlicher Nichtzüchtigung, daß ich eine eigne Tochter, wenn sie entgleisen sollte, diesen prügelfreien Anstalten keinesfalls anvertrauen würde. Ein neuer Leiter einer bis dahin prügelnden Knabenanstalt entließ etwa zehn vom Hundert der Zöglinge in eine Irrenanstalt und schränkte dadurch die körperliche Züchtigung stark ein beim Reste der Zöglinge, wohl gemerkt, beim übrig gebliebenen Reste. Andrerseits ist selbstverständlich die Prügelstrafe nicht die Hauptsache in der Erziehung, sondern gutes Beispiel, Liebe und Furcht müssen zusammenwirken und das gute Beispiel ist das beste dieser drei Mittel einer guten Erziehung. Allein mit Hilfe der Prügelstrafe kann man den Anstaltsaufenthalt, der an sich eine sehr große Gefahr darstellt, wesentlich kürzen, und solange die Rauhigkeiten der Prügelgegner härter sind als diejenigen der Prügelanhänger, muß ich als nüchtern abwägender Mensch zwar die Ausschreitungen der Prügelanhänger bekämpfen, nicht aber die Prügelstrafe als solche. Als ich begann, die zweite Auflage meines Lehrbuchs drucken zu lassen, wandte ich mich an das preußische Ministerium mit der Bitte, mir prügelfreie Musteranstalten für Mädchen zu nennen. Der Herr Minister verzichtete hierauf. Wenn mir von irgendwelcher Seite prügelfreie Anstalten genannt werden, die alle Zöglinge aufnehmen und milder sind als die prügelnden Anstalten, dann bin ich gern bereit, deren Verfahren zu prüfen, und wenn es sich als milder und in den Erfolgen gleichwertig dem Prügelverfahren herausstellt, zu empfehlen. Dasselbe gilt von all den Fällen, in denen ich das Schlagen als ärztliche Behandlung nicht unempfohlen lassen kann, solange es derart augenfällige Erfolge zeitigt, wie ich sie in einem Teile der Fälle von Bettnässen oder von Schmerzlüsternheit oder von Weißfluß oder andern Leiden beobachtet habe, Erfolge, die in ähnlicher Weise nur noch von einem andern Mittel zu beobachten waren, nämlich der Vorhautbeschneidung nach jüdischer Art. Grade daraus, daß ich auch diese Beschneidung mitempfohlen habe in geeigneten Fällen, mußte Bruno Frei annehmen, daß ich alles andre eher bin als ein Fanatiker. Ich habe nur die Erkenntnis der bewußten Heuchelei eines großen Teils der sogenannten Prügelgegner ein Vierteljahrhundert vor Erscheinen des Gummiknüppelaufsatzes und früher gehabt, und mich zu meinen Erfahrungen bekannt." Wenn ich ein besserer Mensch wäre, als ich bin, so hätte ich dem Herrn Einsender dringend abgeraten, auf der Veröffentlichung dieser Zuschrift zu bestehen. Ich fand es aber nützlich, daß sich hier einmal der Verfasser eines in zweihundert Anstalten gebrauchten Handbuches über Zwangserziehung selbst produziert. Man wird sich danach über die in diesen Anstalten beliebten Methoden nicht mehr wundern. Ich weiß nicht, ob Sie, verehrter Herr Doktor, jemals als praktischer Arzt gearbeitet haben, aber ich möchte doch Zweifel darüber ausdrücken, ob Sie auch Ihren Privatpatienten gegen körperliche Leiden Prügel verordnet haben. In Ihrer wissenschaftlichen Garderobe hängen fünf Doktorhüte. Bitte, wählen Sie zu Ihrer weitern Betätigung den, der mit der Behandlung von Mensch und Tier nichts zu tun hat. Es wird für alle Beteiligten am besten sein.
Die Weltbühne, 13. Januar 1931
Wir haben wieder einen Nationalfeiertag bekommen, von dem die Republik nichts weiß. Die Verfassungsfeiern wickeln sich Jahr für Jahr in dürrer Schematik ab, der 9. November ist für die Patrioten ein Tag der Schande. Jetzt haben die Offiziellen endlich etwas gefunden, das ihre Hemdbrüste wogen läßt: den 18. Januar, den Tag, an dem Bismarck als Verwirklicher der kleindeutschen Pläne für die preußische Dynastie von Deutschland Besitz ergriff. Ein strammer Borusse, der Fürstenanwalt Everling, beklagt in einem Zeitungsartikel, daß Preußen am Reiche zerbrochen sei. Nun, so schlimm wars nicht. Vielmehr hätten diejenigen, welche vorgeben, die großdeutsche Idee zu vertreten, Veranlassung, am 18. Januar auf Halbmast zu flaggen. Denn damals wurde das Werk von Sadowa vollendet, der preußische Raubstaat triumphierte über Deutschland, damals wurde die deutsche Nation für immer zerrissen. Im ersten Versailles, nicht im zweiten von 1919, sind einige jener Minoritätenfragen entstanden, derentwillen deutsche Nationalisten von Heute Europa am liebsten mit Krieg überziehen möchten.
Unmittelbar nach dem Zusammenbruch schrieb jener alldeutsche Pamphletist, der sich Junius alter nennt, eine Broschüre mit dem Titel: "Das deutsche Reich – eine historische Episode?" Zieht man das Fragezeichen ab, so hat der Mann ganz und gar recht: Bismarcks Reich ist wirklich nur eine historische Episode gewesen. Zurückgeblieben ist ein ins Elend geworfenes Volk, dem der schnell vorübergerauschte Glanz und Schall des Kaisertums den Verstand verwirrt hat, das nicht mehr weiß, was es will und dem nur ziemlich klar ist, daß es mit der demokratischen Republik nichts anfangen kann. Stünde die Vernunft höher im Preis, so müßte man wenigstens zugeben, daß die Republik von Weimar, so unzulänglich ihre Praxis auch gewesen sein mag, doch einen Willen zur Form aufweist, während Bismarcks Fürstenbund eine welthistorische Monstrosität war, ein staatsrechtliches Kuriosum, das sich nur durch Diktatur im Innern und durch eine geniale Außenpolitik helfen konnte. Die Epoche Bismarcks war die der Industrialisierung, des ökonomischen Aufschwungs. Statt der politischen Freiheit, für die der Bürger noch zwanzig Jahre vorher auf die Barrikade gegangen war, bekam er die geschäftliche Prosperität.
Vielleicht ist das der Grund, weshalb das Bürgertum heute so inbrünstig die Reichsgründung feiert. Denn das war sein Reich; wenn ihm auch der Staat eine Kröte nach der andern zu schlucken gab, so verdiente er doch sein gutes Geld dabei, so regierte er zwar nicht im Lande, wohl aber im Geschäft, in der Fabrik, in der Familie. Kein kulturelles Band verknüpft uns mehr mit 1870 oder 1880. In dieser Zeit des höchsten politischen Glanzes waren Geist und Künste in die faulsten und fettesten Niederungen versunken. Was diese Jahre überdauert hat und noch zu uns spricht, hielt wenig von Bismarck und seinem Reich. Anton von Werners naturgetreue Uniformlitzen, die abscheulichen Klapperverse hochgemuter Poeten, der bunte Trompeter von Säckingen auf der Barttasse – das sind so die Reliquien aus dieser glorreichen Zeit. Am Beginn des zweiten deutschen Kaiserreiches steht der furchtbar schneidende Protest von Nietzsches "Unzeitgemäßen Betrachtungen", an seinem Ende Heinrich Manns "Untertan".
Heute ist das Bürgertum wirtschaftlich ruiniert. Der selbstbewußte Besitzer von einst wankt verzweifelnd zwischen leerem Tresor und Gashahn. Das Geschäft ist überschuldet, und da, wo er zu herrschen gewohnt war, in der Familie, ist er quantité néligeable. Die Söhne verdienen – so weit sie verdienen – ohne sich um antiquierte Vorurteile zu kümmern; die Töchter bringen ihre Liebhaber mit nach Haus. So ist es wohl begreiflich, warum die Altern sich nach Zeitläuften zurücksehnen, wo sie noch etwas bedeuteten, wo sie Herren- und Besitzergefühlen nachgehen durften, Zucht und Sitte die Untergebenen, zu denen auch Frau und Kind zählten, in Unmündigkeit hielt. Warum aber die junge Generation, warum die Jahrgänge 1900 bis 1910 diesen Kult der Vergangenheit mitmachen, das mag der Teufel wissen. Kein junger Mensch von Heute wäre mehr imstande, sich mit dem alten Obrigkeitsstaat und mit seiner in die privatesten Dinge reichenden Autorität ohne den leidenschaftlichsten Widerstand abzufinden. Den patriotischen Verehrern der Kasernenpflicht sei es gesagt: – wenn heute Zwanzigjährige wie früher alten Drillunteroffizieren ausgeliefert werden sollten, sie würden am ersten Tage alles in Klump schlagen. Gegen schikanöse Finanzämter auf dem flachen Lande werden von aufgeregten Bauern Bombenanschläge unternommen – sagen wir ruhig: unter der schadenfrohen Genugtuung von mindestens 80 Prozent aller Deutschen. Vergleiche man das mit der politischen Kirchhofsruhe vor ein paar Jahrzehnten. Deutschland hat sich in höherm Maße republikanisiert, als die Freunde der Vergangenheit wissen, als den Republikanern selbst angenehm ist. Deren untilgbare Schuld lag in ihrer Zagheit, in ihrem Mangel an Führung im ersten republikanischen Jahrzehnt. Sie glaubten, die neue Zeit immer nur in vorsichtiger Dosierung verabfolgen zu können, sie zogen die Trennungsstriche nicht scharf genug und anstatt sich als die Bahnbrecher einer andern Ära, als die Stürzer des Bismarckschen Reichs zu rühmen, gaben sie vor, dessen Ablösung, dessen Vollendung zu sein. So stehen sie in traurigem Zwielicht da, nicht hierhin, nicht dorthin gehörig. Aus alten Legenden und neuem Unsinn bereitete sich Deutschland eine neue verrückte Mixtur. Bismarck war trotz alledem eine Jahrhundertgestalt, Wilhelm II. – nun, ein nicht unbegabter Jahrmarktkünstler – wer aber ist Adolf Hitler? Wie groß muß die geistige Versumpfung eines Volkes sein, das in diesem albernen Poltron einen Führer sieht, also eine Persönlichkeit, der nachzueifern wäre! Wie groß muß die psychologische Unfähigkeit dieses Volkes sein, sein mangelnder Instinkt für Echtheit und Falsifikate! Nun, Hitler wird niemals das Dritte Reich verkünden, Hitler wird untergehen, aber mit ihm jene erste republikanische Generation, die ihn mit ihren Fehlern und Unterlassungssünden, mit ihrem beduselten Optimismus gradezu gezüchtet hat.
Zu den vielen Unfaßbarkeiten des republikanischen Regimes gehört die offizielle Begehung eines nicht mehr als dynastischen Vorfalls, wie es die Reichsgründung gewesen ist. Am 18. Januar 1871 soll die deutsche Einheit vollendet worden sein? An diesem Tage ist sie durch die Begründung des kleindeutschen Kaisertums der Hohenzollern für immer gesprengt worden. Als Wilhelm Liebknecht 1870 die Kriegskredite ablehnte und später das Bismarcksche Reich bekämpfte, da war diese Haltung weniger aus sozialistischer Doktrin zu erklären, denn aus großdeutscher und schwarzrotgoldener Erinnerung, aus der Tradition eines kombattanten Achtundvierzigers. Wer heute beklagt, daß so viele Deutsche außerhalb des Reichs leben, der mag die gefräßige und engherzige Hauspolitik der Hohenzollern dafür schuldig sprechen. Niemals wieder wird es eine einheitliche deutsche Nation geben. Wenn einmal der große Schlußkampf zwischen Kapital und Arbeit ausgefochten wird, dann werden zwar die Grenzsteine wieder wanken, aber dann werden Klassen gegeneinanderstehen, und nicht mehr Nationen.
Sie mögen ihr Reich feiern, die Fragmente der ehemaligen Herrenkaste, die Militärs, die hohe Bureaukratie, die Besitzer von Geld, Land und Menschen. Die Republik hat damit nichts zu tun. Die Republik nennt diese amtliche Feierei Verrat an ihrem Geist, unverzeihliche Konzession an ihre monarchistischen und fascistischen Feinde. Denn die Republik ist geschaffen und gehalten worden von jenen, auf die das Kaiserreich seine Gendarmen und sein Sozialistengesetz hetzte. Solange die Reste dieser Epoche nicht getilgt sind, begeht der neue Staat ein Verbrechen an seiner Existenz, das anzubeten, was noch nicht verbrannt ist. Erst vor der Aschenurne des zweiten deutschen Kaiserreichs mögen alte Leute ihre Trauerzeremonien abhalten, junge Menschen in Pietät den Hut lüften. Noch läuft zu viel von dem Unwesen der Kaiserzeit lebendig herum, als daß es erlaubt wäre, sie als verehrungswürdige Vergangenheit zu behandeln. Streng genommen fällt diese ganze Festivität unter das Republikschutzgesetz, diese Republik müßte sich beim Vierten Strafsenat selbst denunzieren.
Die Weltbühne, 20. Januar 1931
Jetzt sind Sie, lieber Herr Doktor Gumbel, wieder Gegenstand roher und dummer Anwürfe geworden. Ihretwegen schnitten heidelberger Studenten die Reichsgründungsfeier, nachher gabs wilde Reden und Krawall auf der Straße. Das geht so seit mehr als zehn Jahren, seit jener denkwürdigen Versammlung in der Aula am Savignyplatz, wo eindringende Baltikumer Hellmut von Gerlach mit ihren Kommißstiefeln traten. Damals wichen Sie als Vorsitzender nicht von Ihrem Platze, Sie blieben ruhig stehen, die Glocke schwingend, noch als Ihnen das Blut von den Hieben der jungen Vaterlandsretter übers Gesicht rieselte. La séance continue.
Seitdem sind viele Jahre vergangen, und seitdem hat, wo Sie auch auftraten, immer irgend jemand gegen Sie protestiert. Ihre Gelehrtenlaufbahn ist von den Protesten von Kollegen und Studierenden begleitet. Alle Augenblicke wird in Heidelberg "gegen Gumbel protestiert". Was Sie fürchterliches tun, wird dabei nicht recht klar. Sie sind da, und dagegen verwahrt man sich – als Deutscher und Mensch.
Von Berlin gesehen, wirkt diese Protestiererei reichlich schwachsinnig. Seit manchen Jahren sind Sie als politischer Publizist recht still geworden. Man findet Sie weder bei uns mehr noch an andrer Stelle. So tischt man immer jenes fatale Wort auf, das Ihnen einmal in einer improvisierten Versammlungsrede entfahren ist, das Wort vom "Feld der Unehre". Welch gutes Gedächtnis bei einem sonst so vergeßlichen Volke. Was ist seit 1918 nicht von roten und weißen Tribünen gezetert worden, ohne daß es das weitere Fortkommen der Herren Redner behindert hätte. Und hat nicht ein heute sehr hochstehender Herr das Volksempfinden einmal aufs Ärgste verletzt, indem er den Krieg als Badekur bezeichnete, und hat nicht dieser selbe Herr zuerst das Wort vom Dolchstoß gebraucht, das Deutschland dann in zwei Lager zerreißen sollte? Andre haben böseres gesagt als Sie, es hat keiner Karriere etwas geschadet, hat keinen gehindert, Liebling der Nation und Wonne des Vaterlandes zu werden. Nur Ihnen, Herr Doktor Gumbel, schenkt man nichts.
Es ist auch nicht bekannt geworden, daß Sie jemals Ihren Lehrstuhl zu politischen Meinungsäußerungen mißbraucht hätten, wie es so manche Ihrer Kollegen tun. Sie haben einen Lehrauftrag für Mathematik inne, und diese Wissenschaft bietet auch nicht so günstige Gelegenheit dazu. Der Volkswirtschaftler, der Historiker oder Theologe hat es viel leichter, seinen privaten politischen Gallimatthias als wissenschaftliche Axiomatik aufgetakelt vorzutragen. Doch Sie als Sozialist, Republikaner und Friedensfreund, haben niemals eine Messerspitze Marx in algebraische Formeln gemengt, während es doch ein hervorragender Mediziner am Seziertisch fertiggebracht hat, einigermaßen hitlerische Rassentheorien zu entwickeln.
So reserviert Sie sich auch verhalten und so konsequent Sie auch dem Tageskampf fernbleiben mögen, Ihre Chronik der politischen Morde in der ersten deutschen Republik wird Ihnen weder vergessen noch verziehen. Diese undankbare und gefährliche Aufgabe, die finstersten Ecken des neuen Deutschlands abzuleuchten, haben Sie mit ebensoviel Scharfsinn wie Gewissenhaftigkeit erfüllt. Sie haben sich nicht herangedrängt, aber die Andern, die viel Robustern, die patentierten Republikretter, blieben aus. So mußten Sie, der fein organisierte Gelehrte, einspringen, und weil Sie viel Schlamm fortschaffen mußten, deshalb findet man heute Ihren Geruch nicht gut. Deshalb wird auch von gewissen Herrschaften links immer so von Ihnen gesprochen, als ob Sie etwas ganz Furchtbares ausgefressen hätten, worüber man in Ihrem eignen Interesse am besten nicht redet. Das kam noch neulich in einer Zuschrift eines heidelberger Studenten an eine berliner Demozeitung so nett heraus. Den jungen Mann empörten die Treibereien gegen Sie, aber zwischen den Zeilen war doch zu lesen, daß Ihre Anwesenheit in Heidelberg im Grunde schwer zu ertragen sei. So geht es Ihnen: wo man gegen Sie nicht laut protestiert, mißbilligt man Sie im Stillen – Republikaner, Sozialist, Friedensfreund, dreifach Gezeichneter.
Der badische Unterrichtsminister hat allerdings für die Manifestationen der Herren Studenten kein Verständnis gehabt, er hat deren Radauausschuß kurzerhand aufgelöst. Es ist erfreulich, daß zu den Fällen Valentin, Nicolai und Lessing nicht noch ein Fall Gumbel kommt. Das war eine kraftvolle ministerielle Geste, wie sie in Deutschland selten geworden ist. Aber Ihren heidelberger Alltag mag das auch nicht heiterer stimmen. Wenn auch die Proteste gegen Sie, wie gesagt, von Berlin gesehen, etwas schwachsinnig wirken, es muß viel Charakter dazu gehören, dieses Leben als Schandfleck einer kleinen Universitätsstadt zu ertragen. Im Grunde ist es nicht anders als damals bei dem Tumult in der charlottenburger Schulaula – Sie stehen auf Ihrem Platz, Sie tun Ihre Pflicht. La séance continue.
Die Weltbühne, 27. Januar 1931
Sie schreiben an den neuen Nobelpreisträger Sinclair Lewis: "Es ist so selten, daß die Bekanntschaft mit dem Schöpfer der Werke, die man liebt, keine Enttäuschung ist. Es war keine Enttäuschung, als ich Sie im Winter 1928 bei einer dinner party zu Sechsen in Washington schöner Sechzehnter Straße kennen lernen durfte. Und so war es jetzt eine freudige Sensation, Ihre helle, schnelle Stimme am berliner Radio zu hören. Kurz vor der letzten Welle wurden Sie gefragt, was Sie tun würden, wenn Ihr Land in den Krieg ginge: ›Right or wrong, my country, ich würde kämpfen‹, antworteten Sie, der Nobelpreisträger! Sinclair Lewis, Millionen von Hörern hatten auf Ihre Antwort gewartet, auf die Antwort eines Mannes, der die Psychologie des Krieges kennt, seine wahren Hintergründe, Millionen arm an Urteilskraft, ungeübt in der Kunst logischer Beweisführung. Welche Gelegenheit, diese willige Zuhörerschaft zu belehren, zum Beispiel in dem Sinne, daß Loyalty, die Sie selbst so hoch werten, etwas Großes sei, daß es aber eine höhere Loyalty gibt, als die zu seinem Lande, wenn sie befiehlt zu morden oder sich morden zu lassen. Sinclair Lewis, großer Psychologe, unbestechlicher Kritiker Ihrer Zeit, Ihres Landes, Ihrer Mitmenschen, der ihre Verlogenheit aufdeckt, geißelt, der Echtheit und innere Freiheit über alles stellt – gibt es wirklich eine von Menschen geschaffene Möglichkeit, die Ihre Objektivität in Ketten legt, die Ihr Unterscheidungsvermögen von right or wrong tötet, die Sie nicht nur stumm macht, sondern aktiv mitschuldig am größten Unrecht, am furchtbarsten Verbrechen?" Ich möchte dazu folgendes bemerken, da mir Ihre Auffassung, gnädige Frau, in einer Reihe von Unterhaltungen bekannt geworden ist. Verhehlen möchte ich nicht, daß mir diese Art, die Antwort von Sinclair Lewis zu beurteilen, anfechtbar erscheint. Ich finde es nämlich ganz gleichgültig, ob Lewis richtig oder unrichtig, mutig oder kompromißlerisch geantwortet hat. Der vom Rundfunk bestellte Interviewer hatte nicht das mindeste Recht, eine so heikle Frage an den Angehörigen eines andern Landes zu stellen, der zu Hause, wie allgemein bekannt ist, sich in einer recht angefochtenen Stellung befindet und der von der öffentlichen Meinung seines Landes ohnehin als politischer und literarischer Ketzer betrachtet wird. Der Nobelpreis hat darin keine Änderung geschaffen, im Gegenteil, Babbitt fühlt sich beleidigt, daß die Auszeichnung an einen so Unwürdigen gefallen ist, anstatt an einen seiner erklärten Lieblinge. Ich halte diese Frage des Interviewers für völlig taktlos. Denn hier zu Lande wachsen die Friedenspalmen ja auch nicht grade zum Himmel, und es ist reichlich unangenehm, wenn ein notabler Ausländer, der zu Haus von seinen Hundertprozentigen verfemt wird, hier als Gast eine so törichte Katechisierung ertragen muß. Ist denn der Herr Ausfrager ein Repräsentant der Friedensbewegung, daß er befugt wäre, so schrecklich dogmatisch die Gretchenfrage zu stellen, wie man es mit der Religion respektive mit dem Vaterlande halte? Nein, er ist ein xbeliebiger Journalist, der in diesen Dingen ganz und gar nicht festgelegt ist. Sinclair Lewis war im Recht, eine so unmögliche Frage so zu beantworten, daß ihm zu Haus daraus kein Strick gedreht werden kann. Das habe ich zu seiner Verteidigung zu sagen.
Die Weltbühne, 27. Januar 1931
Adolf Hitlers Sorgen sind nicht die unsrigen. Wenn Hitler sich festgelaufen hat, ist es nicht andrer Sache, ihm wieder auf die Strümpfe zu helfen. Dennoch ist die gegenwärtige Situation einer Sonderbetrachtung wert, denn zum ersten Mal seit langem arbeitet der Nationalsozialismus ohne Glück, genauer: er arbeitet überhaupt nicht.
Die Mehrzahl der nationalsozialistischen Kapitäne sind wildgewordene Skatbrüder, denen der republikanische Staat ihren Weg sehr erleichtert. In der fertigen Schablone des alten Klassenstaates mit der dynastischen Spitze darüber, hätte der Ehrgeiz der Kube, Stöhr etcetera nicht weiter als bis zum etatmäßigen Feldwebel gereicht. Der weimarer Staat, der zwar nicht die wirtschaftlichen, wohl aber die politischen Schranken niedergelegt hat, schafft dem Tüchtigen, dem Versammlungsmatador freie Bahn. Es gibt Mandate, Ämter, Pöstchen, und wer nichts abbekommt, wird noch immer Gläubige finden, die ihm abnehmen, der Führer im alten, echten germanischen Sinne zu sein, ohne Diplom und Bestallung, doch zu dem richtigen Platz von seinem Genius berufen. Die Nationalsozialisten haben am 14. September gezeigt, daß ein Rudel von Faselhänsen und Halbverrückten, hinter denen allerdings große Kapitalsmacht steht, ein paar Millionen deutscher Volksgenossen an ihr Phrasenbanner heften können. Den andern Beweis, was mit einem solchen Erfolge praktisch anzufangen ist, den haben sie bisher nicht erbracht.
Hitler hat viele Monate verloren, er hat eine Zeit untätig verbraucht, die ihm keine Ewigkeit wieder zurückbringen wird. Diesen 15. September mit dem Zittern der Besiegten und der amtlichen Ratlosigkeit wird ihm keine Macht der Welt mehr wiedergeben. Damals war die Stunde für den deutschen Duce da, legal oder illegal, wer fragte danach? Aber dieser deutsche Duce ist eine feige, verweichlichte Pyjamaexistenz, ein schnell feist gewordener Kleinbürgerrebell, der sichs wohlsein läßt und nur sehr langsam begreift, wenn ihn das Schicksal samt seinen Lorbeeren in beizenden Essig legt. Dieser Trommler haut nur in der Etappe aufs Kalbfell. Mag auch Joseph Michael Goebbels dreimal wöchentlich in den berliner Tanzpalästen seine Exhibitionen vollführen, das Haupt der Verschwörergemeinde glänzt durch Abwesenheit. Brutus schläft.
Wir schrieben an dieser Stelle in der Wahlnacht: "Hitler muß mitregieren oder putschen." Eine Bewegungspartei muß es bleiben, und sie bleibt es nicht dadurch, daß sie ihr kleines Kroppzeug sich im Rinnstein balgen läßt, während die großen Herren es sich auf dem Kanapee gemütlich machen. Wer so viel versprochen hat wie Hitler, muß viel halten oder wenigstens viel unternehmen. Statt dessen hat er die Parole: Legalität! ausgegeben – eine Parole, die nur von einer streng geschlossenen revolutionären Partei, geführt von eisernen, zielbewußten Menschen, ohne Schaden befolgt werden kann, nicht von einem bunten Haufen, von dem jeder Einzelne Belobung für seine Tapferkeit oder auch nur für seinen Stimmzettel erwartet. Die vielen Reichstags- und Landtagsmandate sind doch nur erste Sättigung für Bevorzugte. Wo bleiben die ungezählten Andern, die auf Amt und Titel, vor allem auf Geld warten? Wäre die Nationalsozialistische Partei eine richtige Arbeiterpartei, so dürfte sie sich diese Säumigkeit eher gestatten. Denn der deutsche Arbeiter, das wissen wir, behält auch in ärgster Not seine von Gott oder vom Teufel gesegnete Geduld. Aber das Gros der Nazis wird von dem schnell absinkenden Bürgertum gestellt, das keine Zeit mehr hat. Für ein paar bleiche Schwärmer der Bewegung mag das Dritte Reich die endliche Verwirklichung krauser Utopien sein, für die Masse der Anhängerschaft bedeutet es das Mittagessen im kommenden Monat, den lange fälligen neuen Anzug. Brutus muß sich beeilen. Nach den Demonstrationen gegen den Remarque-Film sind auch die von der andern Seite wieder munterer geworden. Von Kommunisten und Reichsbannerleuten sind in Berlin und an andern Orten zum erstenmal seit langer Zeit nationalsozialistische Veranstaltungen gesprengt worden. Die Nationalsozialisten sind in letzter Zeit wiederholt dort geschlagen worden, wo sie zu Haus sind: auf der Straße. Ihre Terrorherrschaft ist nicht mehr unangefochten. Und Brutus schläft.
Auch auf parlamentarischem Felde haben die Nationalsozialisten keinen Siegespreis errungen. Ihre Tätigkeit beschränkte sich im Plenum auf unqualifizierbare Brüllereien, in den Ausschüssen auf Sprengungen. Das deutsche Reichsparlament ist keine Auslese der Besten und Geistigsten; dennoch haben die Naziabgeordneten wiederholt erwiesen, daß sie tief unter dem Niveau des Durchschnittsdeputierten stehen, sie müssen demonstrieren, weil sie sonst nichts zu bieten haben. Ihre Kraftpose entspringt der Hilflosigkeit. Nicht einmal der Offensivplan gegen Preußen will fertig werden; Hitler kann sich mit Hugenberg und Seldte nicht über gemeinsames Vorgehen verständigen. Nachdem also der Nationalsozialismus gezeigt hat, daß seine schwersten Hemmungen in ihm selbst enthalten sind, zeigen sich auch auf den Ruinen der bürgerlichen Parteien wieder ein paar Hoffnungsfähnchen. Die Herren Kaas und Dingeldey haben Hitler, in verschiedener Tonstärke, Vorhaltungen gemacht, und schließlich hat der Reichskanzler selbst ein paar gute Worte für die Demokratie, ein paar strenge Worte gegen die Nationalsozialisten und gegen die ihnen verbündete Schwerindustrie gefunden.
In der Gegend, wo sich, nach einwandfreien Zeugenaussagen, früher die Demopartei befunden haben soll, wird einiger Triumph über die schwarzrotgoldene Renaissance des Reichskanzlers laut. Vor der Konsequenz der wirtschaftspolitischen Tatsachen ist es ziemlich gleichgültig, ob Herr Brüning eine ernsthafte Wandlung vollzogen oder nur eine taktische Schwenkung vorgenommen hat. Wenn er die Demokratie vor ihren Gegnern retten, wenn er der Anmaßung der Schwerindustrie sein Paroli entgegensetzen wollte, so hat er dazu im Wahlkampf die beste Gelegenheit gehabt, und die hat er versäumt. Der ganze Wahlkampf der bürgerlichen Parteien aber ging gegen eine demokratische Innenpolitik und gegen eine versöhnliche Außenpolitik stresemannscher Überlieferung. Mehr Macht dem Reichspräsidenten! Verfassungsänderung! Abbau der Sozialpolitik! Starke Außenpolitik! Aufrüstung! Kolonien! Korridor! Das waren so die hauptsächlichsten bürgerlichen Schlagworte des letzten Wahlkampfes. Der Reichskanzler hat es peinlichst vermieden, seine eigne Stellung dazu zu präzisieren, er hat zu allen Aufforderungen geschwiegen. Er hat zu den treviranischen Hetzreden geschwiegen, er ist nicht von dem damals noch bei Hindenburg in Gunst stehenden Kabinettsminister Schiele abgerückt, der sich dahin geäußert hatte, daß es am besten wäre, "das ganze System zum Teufel zu jagen". Unter den Augen des schweigenden Reichskanzlers vollzog sich der wüsteste Wahlkampf gegen die Republik; unter seinen Augen wurde die Demokratie geknebelt durch die Gossen geschleift. Wenn Herr Brüning sich heute schützend vor sie stellt, so bleibt nichts übrig, als zu sagen, daß das entweder reichlich spät geschieht oder daß er sie wirklich für mausetot hält und ihr wenigstens die Ehrensalve über dem Grabe nicht verwehrt. Unter diesem Reichskanzler ist der Schwerpunkt der Politik nach rechts gelegt worden. Er ist der Kanzler mit dem Artikel 48, der Zerstörer der bürgerlichen Mitte. Auch wenn der offene Fascismus nicht kommt, so wird doch eine Reaktion den Platz behaupten, die sich von ihm nur in Äußerm unterscheidet, und der Reichskanzler Brüning war ihr Wegbereiter.
Nichts kann uns dazu bewegen, den gegenwärtigen Streit zwischen Nazis und Zentrum anders zu beurteilen als den von ein paar Geschäftsleuten, die sich einstweilen nicht einigen können. Kurz vor der östlichen Tournee des Reichskanzlers war der Pakt so ziemlich fertig. Die Sache zerschlug sich, weil Hitler zu viel Ministersitze forderte. Ein Konflikt um den Anteil, nicht ums Prinzip. Dann klangen dem Reichskanzler die Pfiffe von Königsberg bis Gleiwitz unangenehm in den Ohren, die präparierten vaterländischen Reden blieben in der Kehle stecken. Statt dessen kam die Drohung mit großen Enthüllungen, was vom ›Völkischen Beobachter‹ sofort mit einer Gegendrohung pariert wurde. Keiner von beiden hat bis zur Stunde seine Enthüllungen aufgetischt. Sie könnten auch nicht mehr enthüllen, als daß sie zum Zusammengehen bereit waren. Was heute noch nicht klappen wollte, kann morgen gelingen. Da ist noch immer der redliche Seeckt, trotz der von Goebbels besorgten groben Abfuhr, nach wie vor bereit, sich seine Provision als Schadchen zu verdienen. Da sind noch immer die unsichern Kantonisten der Deutschen Volkspartei, die mit ihrem Bedürfnis, sich von der Regierungsverantwortung zu distanzieren, einmal ganz plötzlich ein unheilbares parlamentarisches Malheur anrichten und das Kartenhaus Brünings zum Einsturz bringen können. Und da ist schließlich der Reichspräsident selbst, der von der Clique Treviranus-Schleicher, die heute die Reichspolitik bestimmt, noch immer in einem günstigen Augenblick bewogen werden kann, wie der alte Attinghausen segnend die Hände zu heben: "Seid einig, einig, einig!" Nein, auf antifascistische Kräfte von oben her, ist kein Verlaß. Eine einzige Bundesgenossin nur hat die Arbeiterschaft, hat das verteidigungsgewillte Republikanertum überhaupt: das ist die Unfähigkeit Hitlers, einem Zufallssieg mit oder ohne Gewalt Form und Dauer zu verleihen.
Die Weltbühne, 3. Februar 1931
Der französische Publizist Graf Wladimir d'Ormesson veröffentlicht ein aufsehenerregendes Projekt zur bessern Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Wir dürfen annehmen, daß es sich bei diesem Schritt d'Ormessons nicht um sein Privatvergnügen handelt sondern um einen vom Quai d'Orsay mindestens gebilligten Akt. D'Ormesson, früher Leitartikler des ›Temps‹, hat als politischer Schriftsteller in der Locarnoperiode eine Rolle gespielt. Später, als andre Strömungen wieder zunahmen, schrieb er zur Fortführung der alten Linie sein bekanntes Buch "Vertrauen zu Deutschland?", das 1928 in Paris einen Preis für politische Literatur erhielt und auch deutsch erschienen ist.
Wladimir d'Ormesson, der in Frankreich viel für eine gemäßigtere Beurteilung Deutschlands getan hat, ist keiner von der Linken. Kein germanophiler Eingänger wie Fabre-Luce, auch kein Partisan der Liga für Menschenrechte, deren Pazifismus ja viel mehr aus antimilitaristischer und antiklerikaler Tradition rührt als aus klar durchdachten Prinzipien. So ist auch das Vertrauen zu Deutschland, um das d'Ormesson in seinem Buche wirbt, durch ein Fragezeichen eingeschränkt. Dieser Franzose ist ein vorsichtiger Mann, der nicht gleich mit allem und jedem fraternisiert, es muß hübsch langsam gehen, nur nicht zu viel auf einmal. D'Ormesson ist kein Kosmopolit, kein Radikaler, sondern ein Mann der großen Bourgeoisie; er glaubt felsenfest an die bestehende Weltordnung und ihre Wirtschaftsmächte, unterscheidet sich allerdings von andern seiner Schicht dadurch, daß er Krieg und Völkermorden nicht als einen wünschenswerten Zustand preist und Ausgleich schon unter den heutigen Verhältnissen für möglich hält. Kein kühner, aber ein nüchterner Kopf, den man nicht mit den paneuropäischen Zuckerbäckern vergleichen kann.
In seinem Buch appelliert er vornehmlich an die französischen Patrioten, sich doch mit den deutschen Patrioten zu vertragen. Er bleibt also allem Internationalismus sehr fern, und es fehlt ihm auch nicht an Gefühl für die schwierige Stellung der deutschen Patrioten. "Da ich selbst Konservativer bin, verstehe ich leicht die kritische Lage, in die die deutschen Konservativen seit der Einführung der Demokratie geraten sind. Ich lobe mir ihr energisches Bemühen, auch weiter an den Geschicken ihres Landes mitzuarbeiten ... Aber wenn die deutschen Konservativen auch darin recht haben, daß sie an ihrem Platz bleiben wollen, um die traditionelle Führerschicht der Nation nicht zu schwächen, so werden sie sich da doch nur halten können, wenn sie sich den Formen moderner Demokratie anpassen, Starrheit vermeiden und die Friedenspolitik mitmachen, die die Völker verlangen, weil sie leben wollen ... Das ›Vertrauen zu Deutschland‹ wird erst an dem Tage wirklich Sinn haben, an dem französische und deutsche Konservative verstehen, daß sie in ihren Anschauungen solidarisch sind und daß es der größte Fehler ist, den sie begehen können, wenn sie sich gegenseitig gegeneinander ausspielen." Und an andrer Stelle: "Dieses halsstarrige Deutschland (das von Tirpitz), mit dem keine Möglichkeit wirklicher Verständigung besteht, müssen wir beiseite lassen. Dagegen empfiehlt es sich, mit etwas weniger ›a priori‹ gefaßten Ansichten dem ›neonationalistischen‹ Deutschland gegenüberzutreten, dem Deutschland, das zugleich konservativ und – nachdem die Republik einmal besteht – republikanisch ist." Dieser Verständigungsfreund wendet sich also direkt an die herrschende Klasse, mit der er sich ganz solidarisch fühlt, an Hindenburg, Treviranus oder Dingeldey, an alle, die Republikaner sind, "nachdem die Republik einmal besteht". Niemals ist den Teutonen von einem Welschen die Friedenspfeife diplomatischer überreicht worden.
D'Ormesson richtet sich an das deutsche Bürgertum, er predigt ihm Klassensolidarität. Das deutsche Bürgertum ist ökonomisch zerfallen und geistig unterhöhlt; es ist hochgradig marode. Das französische Bürgertum ist wirtschaftlich und psychisch noch sehr intakt. Es gibt wenig, was die deutsche Bourgeoisie mit der französischen verbindet. Jeder Herr Meier ist überzeugt, daß jeder Herr Dupont ein sadistischer Schuft ist, der auf seinen Goldvorräten sitzt und Deutschland malträtiert.
Der Beweis muß überhaupt noch erbracht werden, daß die Nationalisten untereinander imstande sind, sich zu vertragen. Als 1922 der Vertrag Stinnes-Lubersac geschlossen wurde, sahen deutsche Nationalistenblätter zwar bereits die neue Morgenröte ausbrechen und riefen den Erfüllungspolitikern höhnisch zu: So, jetzt nehmen wir die Sache in die Hand, und es wird besser klappen! Aber kein halbes Jahr später war der Ruhrkampf da, und alle Kooperationen deutscher und französischer Schwerindustrie seitdem haben den Chauvinismus in der von ihr selbst ausgehaltenen Presse nicht gemindert. Das Geheimnis liegt eben darin, daß ein kleiner Krieg für den Kapitalismus doch ein fetteres Geschäft ist als ein langer Friede, und selbst der Kapitalismus des unterliegenden Landes bleibt inmitten ruinierter Massen und auf den Trümmern der niedergebrochenen schwächern Konkurrenz wenigstens als Sieger übers eigne Volk zurück. Das Abenteuer lohnt sich also.
Nun kann d'Ormesson nicht ohne Fug sagen, daß er keine Patentlösung zu verabfolgen gedenkt sondern nur ein Kompromiß für eine Übergangszeit, und daß seine Thesen nur einem akuten Notstand gelten. Sein Vorschlag geht dahin, die deutschen Zahlungen für die nächsten beiden Jahre um 50 Prozent herabzusetzen, natürlich nur unter der Bedingung, daß auch die Vereinigten Staaten für diese Zeit 50 Prozent ihrer Forderungen an die Alliierten annullieren. Für den deutschen Etat würde das eine Entlastung von zirka 850 Millionen bedeuten, also eine erhebliche Kürzung der sogenannten Tribute. Zugleich aber sollen Deutschland und Frankreich sich verpflichten, ihre Heeresausgaben für die beiden Jahre um ein Zwölftel zu reduzieren. D'Ormessons Idee besteht darin, die Abrüstungs- und die Reparationsdebatten zu verknüpfen. Die eine davon ruht am toten Punkt, die andre hat noch nichts Greifbares zutage gefördert. Auf alle Fälle gibt d'Ormesson einen ersten kräftigen Impuls. Die Franzosen sind im allgemeinen nicht abgeneigt, über eine Revision der Reparationen mit sich reden zu lassen, aber ihr politisches Mißtrauen gegen Deutschland besteht weiter. Diese Nervosität sucht d'Ormesson zu beschwichtigen. Er beweist damit, daß der französische Konservatismus den deutschen an Einsicht überragt. Der außenpolitische Horizont der deutschen Konservativen wird begrenzt von vagen Vorstellungen, wie Frankreich am besten um die Reparationen zu prellen ist oder wie man sich um die Abrüstungsbestimmungen drückt. Kampf gegen Tatsachen: das ist das Gegenwarts- und Zukunftsprogramm deutscher Halb- und Ganzreaktionäre.
Ein freundliches deutsches Echo auf d'Ormessons Pläne war demnach nicht zu erwarten. Hier lautet der Schlachtruf "Aufrüstung"; statt dessen wird Herabsetzung des Heeresetats vorgeschlagen, wenn auch in Relation zum französischen. Man schreit also, daß das eine Verewigung des Versailler Vertrags und eine neue freiwillige Anerkennung der militärischen Übermacht Frankreichs bedeute. Die "Neonationalisten", an deren Vernunft d'Ormesson zu rühren sucht, sind hartnäckiger, als er annimmt. Die äußerste wirtschaftliche Not des Volkes, das graue Elend der Staatsfinanzen bewegt sie nicht, sich mit einem Gedanken auseinanderzusetzen, der nicht einfach mit der flachen Hand fortzuwischen ist. Denn schließlich zweifelt kein vernünftiger Mensch auf der ganzen Welt mehr, daß das Deutsche Reich zwar seine Wehrmacht jetzt, nach Ende der schwarzen Ära, in den vertraglich gesetzten Grenzen hält, daß aber der hohe Stand der deutschen Industrie es im Ernstfall schnell ermöglichen würde, die Differenz einigermaßen auszugleichen. Im Zeitalter des Maschinenkrieges kommt es nicht mehr auf die Kopfzahl der Soldaten an sondern auf das gesamte technische Vermögen eines Landes.
Viel bedenklicher scheint uns zu sein, daß solche militärischen Übereinkünfte zwischen zwei Staaten sehr leicht unerwünschtes Nebenwerk beherbergen können. Eine deutsch-französische Abrüstungskonvention wäre eine Erlösung Europas von einem schrecklichen Albdruck. Würde damit allerdings ein Geheimvertrag gegen irgendwen, etwa gegen Rußland, verbunden werden, so wäre das ein verdoppeltes Unglück und nur ein etwas komplizierterer Weg in die Katastrophe hinein. Deshalb heißt es rechtzeitig aufpassen, damit nicht die Generalstäbe wieder etwas zusammenbrauen, wovon die Volksvertretungen nichts wissen, damit nicht unter der Maske des Friedens der Krieg desto intensiver vorbereitet wird. Aber ernsthaft diskutiert werden sollte dieser Vorschlag doch, der, weiß Gott, sich nicht grade durch Radikalität auszeichnet, und in seiner Begrenztheit so unendlich charakteristisch für die neue tragische Verdunkelung der deutsch-französischen Beziehungen ist. Manches daran erinnert an den letzten Versuch vor dem Weltkrieg, die deutsch-englische Spannung durch eine Verständigung über die Flottenbauprogramme zu mindern, an Haldanes berliner Mission. Damals ist die Friedensbotschaft von Tirpitz und seiner Journaille kaputt intrigiert worden. Wie wird es heute sein?
Die Weltbühne, 10. Februar 1931
Die nationalsozialistische Fraktion hat den Reichstag mit einer wilden Kriegserklärung verlassen. Da sie ohnehin auf antiparlamentarischem Boden steht, bedeutet dieser Schritt mehr als eine Obstruktion, nämlich ein Bekenntnis zu revolutionären Mitteln. Der Augenblick ist dazu nicht günstig. Hitler, dem Spiel der großen Politik nicht gewachsen, hat mit den Seinen die Flucht in die Hysterie vollzogen. Den bürgerlichen Parteien wird die Sache etwas unheimlich. Dingeldey rückt ab, das Landvolk rückt ab, sogar die Deutsche Allgemeine will nicht mehr mitmachen. Niemals hat es Anbiederung, niemals Fühlung wegen Regierungsbeteiligung gegeben. Ein Individuum namens Seeckt hat niemals gelebt. Alle sorgen mit einemmal für Abstand, und in den Brutanstalten des Dritten Reichs hält die preußische Polizei Razzien ab.
Infolgedessen haben auch liberale Blätter, die seit dem 14. September nichts unversucht gelassen haben, um der neuen Mode entsprechend möglichst aufgenordet zu erscheinen, wieder Courage bekommen und blasen hinter dem fliehenden Feind Viktoria. Wir raten zu größerer Vorsicht, denn noch ist der Feind nicht allzusehr geschlagen. Er kann plötzlich kehrt machen und blind draufloshauen, und es wäre doch schade um diese Helden, die sich vor einem Feind, den sie für tot halten, unnötig exponieren. Es darf auch nicht ganz in den Hintergrund geschoben werden, daß nicht nur die Nazis, sondern auch die Rechte des Parlaments selbst eine empfindliche Niederlage erlitten haben. Was man etwas schamhaft Reform der Geschäftsordnung nennt, bedeutet für den Reichstag einen erheblichen Verlust an Befugnissen. Das Interpellationsrecht ist gründlich zerhackt, die Immunität von Abgeordneten in unentschuldbarer Weise preisgegeben worden. Es darf der Regierung nicht mehr das Mißtrauen ausgedrückt, sondern nur das Vertrauen entzogen werden – ein nicht unbeträchtlicher Unterschied! Und schließlich müssen Anträge auf Ausgaben künftighin mit einem Deckungsvorschlag verbunden sein, eine Malice, die besonders bei sozialpolitischen Anträgen spürbar werden wird, denn die Heranziehung von einigen besonders fetten und überflüssigen Posten des Reichswehretats dürfte wohl nicht als geeignete Deckung aufgefaßt werden. Der Reichstag sinkt damit in die Bedeutungslosigkeit der alten Zeit zurück, er wird, wie früher, zur reinen Jasagemaschine. Die Regierungsbureaukratie wird in Zukunft ihre Erlasse beginnen: "Wir, Wilhelm von Gottes Gnaden ..."
Der Reichskanzler hat das Parlament mit der Drohung neuer Notverordnungen zu Paaren getrieben. Zwischen der Scylla des Artikels Achtundvierzig und der Charybdis Hitler blieb den armen Deputierten nichts übrig, als den Etat zu genehmigen und eine Kappung ihrer eignen Rechte zu erdulden. Es gehört viel Optimismus dazu, hier von einer Aktivierung des Parlaments zu reden. Nennt man einen aufgescheuchten Geflügelstall aktiv? Die Sozialdemokratie aber, unfähig zu eigner Initiative, fährt im Winde einer fremden; sie muß dabei froh sein, wenn ihr eben noch gestattet wird, die Ruderdienste auf der schwarzen Galeere des Herrn Brüning zu übernehmen, obgleich sie weiß, daß der Hafen, wohin es geht, der Arbeiterschaft und ihren Gewerkschaften klimatisch nicht grade zuträglich ist. Aber es hilft nichts, die Partei muß rudern.