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Dieser Band enthält, neben einer Biografie, seine wichtigsten Schriften aus den Jahren 1927 - 1928. Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.
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Seitenzahl: 890
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Schriften 1927-1928
Carl von Ossietzky
Inhalt:
Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie
Schriften 1927-1928
1927
Lob der Außenseiter
Idiotenführer durch die Regierungskrise
Die Nacht von Hankau
An Herrn Harry Domela
Bürgerblock-Ouvertüre
Demaskierungen
Opposition?
Sieg des Zentrums
Doehrings Höllensturz
Coolidge und Keudell
Bagatellen
Zwei feine Familien
Die Belange von Kuhschnappel
Der kranke Imperialismus
Billies Prozeß
Der Oberreichsanwalt
Viribus unitis
Noskes Schatten
Adria, Kanton und Kyrill
Die Mayerlinge
Politisches Aprilwetter
Begegnung mit einem bon juge
Szenenwechsel in China und anderswo
Sexual-Kochbücher
Die neue Entente
Stahlhelm ante portas
Zentrum und Stahlhelm
Republikschutz und andere Lustbarkeiten
Rache für Hankau
Peter Panters Pyrenäenbuch
Der Kieler Parteitag
Weber-Film
Zwischen London und Moskau
Bella und der Teufel
Feuer im Osten
Fürsorgezögling Hintze
Die Kriegspartei
Maß für Maß in Bremen
Stresemann und Poincaré
Fritz Thyssen als Fundamentalist
Nationalfeiertag
Der Militärattaché
Wiener Bastillensturm
Das Reichsgericht im Sommer
Die Rüstungspartei
Chronik
Frohe Feste, saure Wochen
Chronik
Das Buch vom Russenfilm
Steine ins Glashaus
Rothermeres Einfall in Mitteleuropa
Canarisfilm und Völkerbundstheater
Der erhobene Krummstab
Hindenburg und sein Ruhm
Hindenburg und Hölz
Die große Verwirrung
Keudells Niederlage
Die Schuldebatte
Deutschlands Zukunft im Postschließfach
Rettungen
Wahlkreis Europa
Stalin und Trotzki
Lawrence
Wiener Anschlußparade
Die Ursache
Russischer Friede
Großwardein
Die Republik der kleinen Leute
Der Femeprozeß
Frank Harris contra Mary Fitton
1928
Über Helden und Heldentum
Marinierte Millionen
Auftakte
Das Geschrei um Georges Blun
(Antworten) Justizverwaltung
Cachin und Trotzki
Weingärtner & Co.
Was hat Georges Blun geschrieben?
Das glückhaft Schiff von Kiel
Die Pfaffengasse
Kehraus
Lombard
Höhere Gewalten
Ein kritischer Klopffechter
Der letzte Liberale
Zehn Jahre rote Armee
Carmer und Lichnowsky
Antworten (Erwin Piscator)
Die Erniedrigten
(Zu Gorkis 60. Geburtstag)
(Antworten) Stadtbaurat a.D. Bruno Taut
Der Ponton-Prozeß
Bundschuh und Escarpins
Dostojewski ohne Gott
Kreml und Vatikan
Zwei politische Romane
Kandidat Zéro
Corriger la justice
Keudell, der Kommunistenretter
Der letzte Kaiser
Die Autonomisten
Lendemain
Gasangriff auf Hamburg
Die Stunde der Sozialdemokratie
Städte und Jahre
Wankende Despotien
Herbert Ihering gegen die Volksbühne
Die große republikanische Partei
Amundsen und Nobile
Das Debakel der Mitte
(Antworten) Chemnitzer Volksstimme
Fahne und Kreuz
Disraeli
"Die Bahn, die uns geführt Lassalle"
(Antworten) Rechtsanwalt Dr. Apfel
Freund Hein
(Antworten) Sänger
Wien, Wien, nur du allein ...
Raditsch und Förster
Die Stillen im Lande
Kompromiß Venetia
Verlorene Illusionen
Der Denunziant Coßmann
Klabund
Ja und Nein
Das Wunder Daumier
Die pariser Niederlage
(Antworten) Leipziger Volkszeitung
Volksentscheid
Aristides
Der rote General
Die Blauen und die Roten
Ernst Glaesers erster Roman
Erna Anthony
Heiterkeit auf allen Bänken
Eckener oder Der Triumph der Betriebsamkeit
König Hugenberg
Où va l'Allemagne? Questions et Réponses par un Allemand
Deutschland ist ...
The Revolt of German Women
Der Mann von der Grenze
Groeners beinahe legaler Putsch
(Antworten) Frl. Hauptmann, Sekretärin bei Herrn Bert Brecht
Ist Schacht geeignet?
Memoiren eines schwarzen Schafs
Trotzkis Tragödie
Americana
Die Historiker sind ernstlich böse
Flucht aus dem Bagno
Picadores
Der deutsch-polnische Krieg
Schriften 1927 - 1928, Carl von Ossietzky
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624910
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen". Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.
Vor Jahresfrist saßen ein paar Menschen in einem kleinen Klubzimmer zusammen und faßten den Beschluß, die im Parlament verfahrene Abfindungsfrage durch Volksentscheid zu lösen. Die große Presse erklärte die Leute sofort für verrückt. Ein paar Wochen später war die Fürsten-Enteignung Massenparole geworden. Ein paar Monate später war der Volksentscheid da, imponierend noch im Unterliegen. Heute haben die Hohenzollern ihr Geld, und Niemand spricht mehr davon. Typischer Verlauf einer Volksbewegung in Deutschland.
Niemals ist so viel wie jetzt von der Konsolidierung der Republik und der wachsenden Werbekraft des republikanischen Gedankens gesprochen worden. Dennoch geistert überall ein Unbehagen, peinigt die Zufriednen ein halb unbewußtes Mißtrauen. Dennoch bauscht das Gerücht jede Regierungskrise sofort zur Krise der Republik. Dennoch droht bei jeder innenpolitischen Komplikation sofort der Artikel 48, das Giftfläschchen in der innern Rocktasche der Verfassung.
Der liberale Demokratismus, in dessen Zeichen die sogenannte Stabilisierung sich vollzieht, erschöpft sich in der breiten Lobpreisung des Parlamentsstaates. Er sieht nichts Werdendes, verbeugt sich pietätvoll vor Vergangnem, ahnt nichts von einem Problem der Köpfe, geschweige denn von denen des Magens. Der böse Satz von Anatole France: "Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen", kennzeichnet für immer die hohle sittliche Attitüde einer Demokratie, die nur in ihren Institutionen und für ihre Institutionen lebt. Hier aber ist die Grundlage der fortschreitenden Einigung zwischen Reaktion und mittelparteilichem Bürgertum. Sie finden sich auf dem Verfassungspapier der Republik. Finden sich in der unbedingten Ablehnung der Tatsache, daß selbst diese Republik revolutionären Ursprungs ist, daß es ohne den 9. November niemals einen 11. August gegeben hätte. Die bürgerliche Demokratie tanzt vor Wonne, wenn ihr der frühere – und jetzige? – kronprinzliche Nachrichtenoffizier Kurt Anker großmütig testiert, es habe 1918 wirklich keine Revolution gegeben, und Alles sei hübsch von selber gekommen. Deshalb keine Schuld, keine Anklage. Am Besten: gar nicht mehr davon sprechen. Das ist die neue Friedensformel: die endgültige Verankerung der Weimarer Demokratie im Sumpfe des Juste milieu.
Die Anerkennung dieses Zustandes nennt man Realpolitik. Zweifel daran wird als Ketzerei, Phantasterei, Nörgelei abgetan. Die großen Realpolitiker vergessen nur, daß auch die Wirklichkeit ihre eignen Illusionen erzeugt. Sie nehmen den Dunstkreis selbst zugesprochner Bedeutsamkeit für die Ausdehnung der Welt. Dem Ritual des "Erreichbaren und Möglichen" rückhaltlos hingegeben, halten sie die Grenzen eignen Denkens und Wollens für die Grenzen des Möglichen überhaupt. Wir fragen: Was haben die großen Parlamentspolitiker, die unerhörten Strategen der Opportunität, eigentlich erreicht? Wo sind denn die überzeugenden Resultate des langjährigen changez-les-coalitions? Die Gleichgültigkeit der breiten Massen am politischen Betrieb ist unbeschreiblich. Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sind schärfer als jemals. Wehrmacht und Justiz frondieren. Die Hohenzollern haben ihre Millionen. Die Zensur ist wieder da. Das sind die Resultate.
Doch was wäre selbst das bißchen Konsolidierung, auf das immer so stolz gepocht wird, ohne die spornende und peitschende Kraft verhöhnter und gemiedner Außenseiter? Keine der später verwirklichten Ideen ist aus der Mitte der großen Parteien gekommen. Jeder nationalistische Aberwitz hat seine demokratischen und sozialistischen Satelliten gehabt. Es gab eine einheitliche Noske-Front, eine Cuno-Front, eine Geßler-Front. Es gab eine geschlossene Front gegen die Reparationen, gegen den Völkerbund, gegen die deutsch-französische Verständigung, gegen die schüchternsten Maßnahmen zum Schutze der Republik. Es gab Einheitsfronten gegen Alles, was heute als innen- und außenpolitischer Fortschritt und ragende Staatsmannsleistung gefeiert wird. Ohne ein paar beherzte Einzelgänger hätte es keine Aufdeckung der Femeschande gegeben. Keinen Sturz Seeckts. Keine hallende Kritik an Reichswehr und Justiz. Kein Locarno, Thoiry und Genf. Und selbst die excercierende und paradierende Selbstgefälligkeit des Reichsbanners, in vernünftigen Dosen ganz nützlich, wäre undenkbar ohne die stachelnde Laune einiger Unzünftiger, mit denen sich kein patentierter Republikaner, um Gotteswillen, auf eine Bank setzt. Alles mußte erkämpft werden: gegen die kompakte Majorität, gegen die Parteien, gegen das Parlament.
Heute ruhen die Stammgäste der guten Mitte wieder auf ihren Lorbeeren aus. Sie sehen das Erreichte an, finden es schön und dekretieren große Pause. Und wenn auch sonst weiter nichts stabilisiert ist, so doch der Kapitalismus. Auf Klagen von Unten antwortet der Harfenklang wohltemperierter Resignation: Dafür ist kein Geld da! Kein Geld für die Arbeitslosen, kein Geld für ein großes Wohnbau- und Siedlungs-Programm.
Die Außenseiter, ohne Sinn für das schöne Ebenmaß des "im Rahmen des Gegebenen Möglichen" und ohne Respekt vor der stillen Lyrik des parlamentarischen Handwerks, aber fragen: Zu diesem Effekt eine welthistorische Umwälzung? Deswegen soll einmal die rote Fahne über Deutschland geweht haben, damit ein paar Oberbürgermeister Minister spielen können, was schließlich auch unter Wilhelm sporadisch gestattet war? Enthält nicht der revolutionäre Ursprung der Republik auch eine revolutionäre Verpflichtung? Die Professionellen, die Wohlerzogenen und Bedächtigen haben das teils vergessen, teils bewußt unterschlagen. Den Männern der positiven Arbeit, der täglichen Kleinarbeit, der gutgeölten Routine, die schuldige Reverenz. Aber wenn es seit 1914 immer nach ihnen allein gegangen wäre, gäbe es heute kein Deutschland mehr.
Die Weltbühne, 4. Januar 1927
Zur Theorie der Krise
Das parlamentarische System ist in Deutschland allzu jungen Datums, um sich den glanzvollen Vorbildern in Frankreich und England wetteifernd zu nähern. Aber immerhin hat sich auch unsre Volksvertretung ein bescheidenes Spezialgebiet gesichert, auf dem Niemand sie überflügeln kann: Deutschland ist den alten Demokratien in der pfleglichen Behandlung der Regierungskrisen weit voraus. In der künstlerischen Dehnung und Streckung der Krisen zeigt sich eine frühe Meisterschaft des zur Mündigkeit erwachten deutschen Volkes, einig darin in allen seinen Stämmen. Hatten die frühern Krisen noch unter zeitlicher Einengung gelitten, wodurch bedauerlicherweise grade jene Eigentümlichkeiten nicht zur vollen Entfaltung kommen konnten, die unsern Reichstag so liebenswert gemacht haben, so hat man dies Mal von vornherein eine Krisendauer von mehreren Wochen festgesetzt. Sollte die Gefahr vorzeitiger Beendigung etwa in die Nähe rücken, so ist für so unliebsame Fälle ein totsicherer Apparat geschaffen, der Scholz genannt wird und vier, fünf Wochen garantiert. So werden wir allen Schwierigkeiten zum Trotz doch der permanenten Krise näherkommen, der absoluten Krise, der Krise an sich: dem hohen Ziel deutscher Staatskunst.
Typischer Verlauf eines Krisentages
Sofort nach feierlicher Kriseneröffnung begeben sich die Parteiführer zum Reichspräsidenten, der ihrem Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit lauscht. Positives wird nicht gesagt, da Keiner Spielverderber sein will. In der Wandelhalle des Reichstags erwacht ein fröhliches Leben. Alle frühern Minister und Staatssekretäre seit 1890 sind erschienen, und entwickeln, teils vor Interessenten, teils monologisierend, Ideen zur Steuerreform oder zur Innern Verwaltung. Zu den Gewesenen gesellen sich die möglicherweise Kommenden, die Ministrablen, worunter ganz besonders Diejenigen beachtet werden, die bereits in der Zeitung "genannt" wurden. Ein paar etwaige Reichswehrminister gehen mit soldatischer Straffheit durchs Restaurant; ein präsumptiver Külz deutet durch Nichtrasur Bereitwilligkeit an, mit dem Amt den Bart zu übernehmen (den Zopf sowieso).
Heftig disputierende Gruppen. Ein kleiner Radikaler aus Sachsen erklärt: zunächst müsse mal in der Bendler-Straße ausgefegt werden. Ein längrer Genosse, der nicht aus Sachsen ist, es aber von Rechts wegen sein müßte, plaidiert für große Geste gegenüber monarchistischen Offizieren und wird von ein paar Herren der Mitte ob seiner staatspolitischen Einsicht gelobt. Plötzlich ein Raunen: Zentrum in Sonderverhandlungen mit Volkspartei; Gerüchte fliegen hin und her über das Maximum des vom Zentrum zu Gewährenden. "Was sagen Sie zu der Kombination, Herr Kollege?" Schnapp, da liegt die Kombination schon mitten entzweigeschnitten. Scholz hat funktioniert.
Etwas sehr Wichtiges und Nichteingeweihten schwer Verständliches ist die Atmosphäre. Wenn zwei Fraktions-Chefs, deren Getreue sich sonst nur mit dem Stuhlbein zu traktieren pflegen, auf dem Korridor zusammenstehen, melden die Blätter: Wenn sie auch dies Mal noch keine greifbaren Resultate erzielen, so sind diese Unterhaltungen doch bedeutsam für die Schaffung einer geeigneten Atmosphäre. Die Kommunisten, die in den Vollsitzungen doch wahrhaftig nicht zu übersehen und zu überhören sind, laufen in den Krisenwochen unbeschäftigt herum. Sie wissen mit dem ganzen Trubel nichts Rechts anzufangen und betrachten Alles mit erstaunten Augen. Niemand bekümmert sich um sie; sie zählen gar nicht mit. Die Leute haben eben keine Atmosphäre.
Die Demokraten, die bislang überall gezüngelt haben, ohne sonderliche Beachtung zu finden, erklären sich bereit, dem Vaterland das Opfer zu bringen, nicht nur den Kanzler zu stellen, sondern auch alle bisher innegehabten Ministerien zu behalten; ein prominentes Fraktionsmitglied hält der Presse grade Vortrag darüber und bittet dringend, diese Selbstentäußerung der Partei hinreichend zu würdigen. Wieder nichts. Die rechte Mittelgruppe der linken Außenseiter des rechten Flügels der Deutschen Volkspartei hat grob jede weitre Erörterung abgelehnt. Freudestrahlend stürzt der notable Demokrat ins Fraktionszimmer: "Hurra, wir haben eine Maulschelle bekommen, man spricht wieder mal von uns!" und stürmt wieder hinaus zur Presse: "Meine Herren, schreiben Sie, ›Ein taktischer Erfolg der Demokraten!‹"
Ein überparteilicher Rechtsmann, bei der Volkspartei beliebt und beim Zentrum wohlgelitten, soeben aus Süd-Amerika zurückgekommen, auf dem sonnengebräunten Khaki-Anzug noch den Staub von Quito, konferiert mit Parteiführern. "Große Koalition gefällig?" Nein. Die Sozis zeigen wieder Mangel an Verantwortungsfreude. Dann Koalition der Mitte, mit Neutralität rechts und links. "Ganz nach Belieben, meine Herren!" Der Süd-Amerikaner macht, mit dem Sombrero unterm Arm, die Runde bei den Parteien. T.U. meldet: Das Kabinett gebildet! Neuer Knacks. Die Wirtschaftspartei fordert Beseitigung des zweiten Nachtrags zum Schankgesetz. Das Zentrum gibt nicht nach. Freundliche Zusprüche. Nix. Die Wirtschaftspartei steht wie ein rocher de beurre. Der Süd-Amerikaner geht wütend nach Haus und flüstert was von Artikel 48. Ein deutschnationaler Versuch, den Rechtsblock zu machen, läßt sich zunächst hoffnungsvoll an, scheitert aber an dem Verlangen der Bayrischen Volkspartei, die bayrische Weltsprache als obligatorisches Lehrfach in den höhern Schulen einzuführen.
Spät abends treffen sich die Fraktionsführer, freuen sich über die wohlgelungne Krise, drücken alle guten Wünsche aus, haschen sich freudig erhitzt mit den Händchen, machen Ringelreihe und tanzen eine Kukirolienne.
Die Weltbühne, 4. Januar 1927
Von chinesischen Soldaten zerniert, die die weißen Herrn des Erdballs vor den Steinwürfen des gelben Straßenvolkes schützten, sind die englischen Freiwilligen aus dem Konzessionsgebiet von Hankau abgezogen. Vielleicht hat inzwischen Tschiang Kai Shak, der Generalissimus Süd-Chinas, dem Repräsentanten der englischen Behörden die vom Dachfirst gerissene Fahne Britanniens mit höflicher Entschuldigung wieder zurückgegeben. Aber die Autorität Englands in China hat einen tötlichen Schlag erlitten. Mag auch die Diplomatie nochmals den Gang der Ereignisse verlangsamen: das chinesische Nationalbewußtsein hat seinen großen Ansporn.
Im Foreign Office spürte man schon lange das kommende Ungewitter. Man versuchte deshalb nach allzu umständlichen Erwägungen, mit Canton, das man bisher als ein Banditennest, mindestens als eine maskierte russische Vorposten-Stellung betrachtet hatte, in Verhandlungen zu kommen. London empfand wohl die grenzenlose Ohnmacht der sogenannten Zentralregierung in Peking. Aber vielleicht hatte Wupeifu, der trotz seiner zahlreichen Unglücksfälle noch immer brauchbarste Degen, seine Subsidien noch nicht bis zum letzten Rest verzehrt; vielleicht rechnete man auch noch mit irgendeinem andern Truppenvermieter, der bereit sein würde, gegen gutes Geld seine kostbare Ware für England (zu) riskieren. Jedenfalls zeigte die englische Außenpolitik dies Mal nicht die gewohnte Initiative, jene oft mit Glück bewährte Courage, ohne viel Geräusch mit eingefressenen Traditionen zu brechen. Chamberlain behandelt den Fall China dilatorisch; nicht als kühler Cunctator, sondern hoffend, daß die erfolgreichen Streiter der neuen Unabhängigkeitsideen sich schließlich untereinander verschlingen würden. Doch als die Fortschritte der Armee Tschiang Kai Shaks nicht mehr zu ignorieren waren, da bequemte sich auch England endlich dazu, Canton als eine Macht in dem verworrenen Riesenreich anzuerkennen und versuchte, sich mit dem verschrienen Bolschewistenhort auf Vertragsbasis zu finden. Zunächst wurde Herr Lampson, ein Diplomat, als Spezialberichterstatter nach Canton geschickt. Dessen Rapporte klangen ziemlich pessimistisch, waren aber nicht geeignet, den dies Mal seltsam schweren Geist des Außenamtes zu beflügeln. Dann wurde in der Form eines Memorandums erste amtliche Fühlung mit der süd-chinesischen Republik versucht. Aber dabei widerfuhr England das Pech, von Frankreich im Stich gelassen zu werden. Der Quai d'Orsay hatte zunächst seine Zustimmung gegeben. Doch schien das pariser Kabinett in der Frage geteilt zu sein. Wenigstens zog Briand die anfängliche Zusage plötzlich mit der ironischen Begründung zurück, daß Frankreichs Position in China nichts zu wünschen übrig lasse, daß jedoch die Machtverhältnisse dort noch völlig ungeklärt seien: es empfehle sich deshalb nicht, sich schon jetzt so autoritativ auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Cochin-China, Frankreichs Besitz, liegt dem revolutionären Infektionsherd, Süd-China, benachbart. Das dämmt das Vergnügen des Quai d'Orsay an neuen weltpolitischen Feuerwerken. Auch die andern Vertragsmächte zeigen plötzlich eine ungewohnte Zurückhaltung.
England steht in China allein. England steht allein gegen China.
Noch bis vor wenigen Monaten glich Chinas innrer Krieg einem unentwirrbaren Knäuel provinzialer Feindseligkeiten. Bandenchefs, von fremden Mächten gespickt, führten zur Plage des Landvolkes Truppenbewegungen aus, die durch Berichte europäisch aufgetakelter Pressequartiere von Unkundigen fälschlich für Kämpfe gehalten wurden. Ein Mal nur, als Feng, der Unterbefehlshaber Wus, mit einem verwegenen Coup den Herrn plötzlich aus der Macht jagte und die eiserne Pranke auf Peking legte, schien plötzlich eine Idee geboren zu sein. Doch Feng, nur von den Russen unterstützt, mußte dem erneuten Zusammenschluß aller reaktionären Generale weichen. Nur Einer von diesen Spekulanten des Schwertes kann sich behaupten und scheint unverwüstlich: ein böser, alter Stacheligel, der Grausamste und Listigste von Allen, Tschangtsolin, der Despot der Mandschurei, ein Mongolen-Khan aus dem Bilderbuch in die moderne Zeit gesetzt. Tschang und Wu besiegen gemeinsam Feng. Aber geeint nur im Haß, konträr in allen Interessen, nutzen sie den Erfolg nicht aus, bleiben sie vor der Hauptstadt liegen, und nur die Hinrichtung russophiler Publizisten lehrt Peking, daß vor seinen Toren wieder einmal ein paar andre Marschälle gesiegt haben. Der Bürgerkrieg scheint an seinem eignen Widersinn zu verenden und ein Land ohne Führerenergien im tiefsten Marasmus zurückzulassen. Da dröhnt tief aus dem Süden plötzlich ein Gongschlag und übertönt alle andern Militär-Potpourris. Die Armee der Kuomintang marschiert, das Volksheer von Canton. Wer nicht stumpfe Ohren hat, kennt diese Marschmusik: das ist die Reveille von Valmy, der Trommelwirbel einer aufgehenden Zeit. Canton trägt die Standarte Chinas.
In Kwantung, der Südprovinz, hat der große Sunyatsen das Arsenal der Befreiung organisiert. Als Doktor Sun im Jahre 1912 die welken Spätlinge der Mandschu-Dynastie entthronte und das asiatische Mittelreich zur Republik machte, da war er ausschließlich ein Exekutor liberal-demokratischer Ideen, die in das mittelalterlich-feudale China wie durch eine Hintertür unverhofft hereinbrachen. Doch das Fundament war zu schwach: in Peking wurde Sun bald durch den gerissnen Yüanshikai verdrängt, und die Zentralgewalt geriet nach dessen Tode in die Hände impotenter Patrizierklüngel, die nicht mehr waren als Spielbälle englischer, amerikanischer oder japanischer Diplomatie. Nach dem Süden zurückgegangen, erkannte Sun, daß alles nationale Freiheitsstreben wie Goldschaum versprüht, wenn es sich nicht auf soziale Tatsachen stützt. Um die ökonomische Diktatur durch die Fremden und ihre Grundlage: die Minderung der Souveränität durch Konzessionen und Vertragshäfen zu zerstören, dazu gehörten scharfkantigere Waffen als sie der liberale Demokratismus zu liefern vermag. Sun, der Asiat, überschaute die kapitalistische Welt und prüfte sie bis in ihre geheimsten Ängste hinein; er sah den Schatten über dem gedeckten Tisch – er sah das Proletariat. Gigantisches Unternehmen in einem Reiche, das ein Globus für sich ist und dessen Ackervolk sich noch großenteils in dem selben Zustand befindet wie vor mehr als sechshundert Jahren, als der Venezianer Marco Polo an den Hof Kublai Khans reiste, Begriffe des Sozialismus populär zu machen. In wenigen Jahren gelang es Sun, wenigstens in einigen großen Hafenstädten, wo der gelbe Mann stündlich erfährt, daß er in den Augen der Fremden nicht mehr bedeutet als ein Hund, die dumpfen Aufruhrgefühle einer mißachteten Rasse durch den Filter klassenkämpferischer Methodik in das spiegelblanke Becken moderner Massendisziplin zu leiten. Während im Norden Tschang und Wu ihre englischen oder japanischen Subsidien ziellos in die Luft schossen, kam aus den Häfen des Südens merkwürdige Kunde von Streik und Boykott, von demonstrierenden Industriearbeitern vor den Toren der Konzessionsviertel, von chinesischem Hauspersonal, das sich weigerte, für die Fremden gegen kargen Lohn und viel Fußtritte zu fronen. Aber Canton, obgleich Hongkong ungemütlich in den Nacken gesetzt, blieb doch in der Meinung der Welt das südliche Separatistennest: vielzüngige Rednerschule ohne Arm.
Der alte Doktor Sun ist tot. Die Schlachtmusik seines Canton klingt am Jangtsekiang, hallt über ganz China.
Es ist wie ein Salut vor dem schweren Ernst der Wahrheit, daß in der Londoner Presse dies Mal weniger als sonst von "Bolschewismus" und "russischen Quertreibereien" lautbar wird. Denn mag die Kuomintang auch mit diplomatischen und militärischen Instruktoren moskauer Färbung ausgestattet sein – England weiß, daß es kein sozialistisches Ungetüm ist, das ihn drohend anbleckt, sondern der gute, alte chinesische Drache, das königliche Tier von vierhundert Millionen, das ein paar pfiffige Commerzleute für ewige Zeiten in der Tretmühle des Börsenprofits nutzbar machen wollten. (Moskau hat nur eine Idee übermittelt, hat sich als Lokomotive vor eine altmodische Wagenkolonne gespannt. Aber das Ende wird doch sein wie der Anfang: China, China, China!) Die englische Politik ist immer geschmeidig gewesen. Sie hat es zuletzt bewiesen, als sie zu Gunsten der Dominions das Reichsgefüge lockerte. Sie wird vielleicht nicht den Fehler der Habsburger-Monarchie gegenüber Turin und Belgrad wiederholen, sich einfach hinter das Autoritätsprinzip zu verschanzen: sie wird Konzessionen machen, zurückweichen, um innerlich desto fester zu binden. Aber ist noch Zeit dazu? Die Vorfälle von Hankau können sich an jedem andern Platz wiederholen, der Fall Shanghais ist vielleicht nur noch eine Frage von Wochen, und damit wäre auch das englische Prestige im Fernen Osten dahin. Es ist wie ein Vorzeichen kommender Stürme, daß Japan, das erst in China sehr aktiv, oft aggressiv war, sich seit einiger Zeit eine außergewöhnliche Reserve auferlegt. Sogar die Beziehungen zu dem ihm ergebnen und vielfach verpflichteten Gebieter der Mandschurei werden ostentativ vernachlässigt.
Gerüchte wollen wissen, daß England, nachdem Suntschuangfang, der Militär-Gouverneur von Schantung, sich in seinem Interesse ruiniert hat, als letzte Karte den alten Tschangtsolin ausspielen wird. Dessen Ehrgeiz aber scheint nicht zu sein, Herr von All-China zu werden – Peking steht ihm seit Monaten offen, aber er zieht nicht ein –, hoffnungsvoller als ein solches Abenteuer dünkt ihn wohl, seine Mandschurei, wo die Bälle Rußlands und Japans hart karambolieren und die Tracen schicksaltragender Eisenbahnen am Pazific enden, zu einem selbständigen Staat zu machen, keinem Herrn mehr dienstbar. Erträumte Schluß-Apotheose eines alten Bravos, die jedoch den englischen Spekulationen schroff entgegensteht. Aber selbst wenn es dem Foreign Office gelingen sollte, einen neuen Preisfechter zu finden, die Entwicklung wird es nicht aufhalten können und nur neue Komplikationen schaffen. Schon heute lagern am Rand des Gelben Meeres Pulverfässer, neben deren Explosivkraft sich die in Europa selbst magazinierenden wie Christbaumschmuck ausnehmen. Es ist ein trüber Aspekt, und wenn es nicht geschmacklos wäre, Witze zu machen, könnte man fast nach dem Völkerbund rufen.
Während in Germanien und Mussolinien immer heißer der Platz an der Sonne begehrt wird, wackelt eine Kolonial-Feste nach der Andern. Der alte Imperialismus ist längst defensiv geworden. Der Appetit ist wohl noch da, nur haben sich die Herrschaften leider zwischen 1914 und 1918 gegenseitig die Schneidezähne eingeschlagen. Das Intermezzo von Hankau mag inzwischen durch offizielle Entschuldigungen erledigt sein, aber die Kunde von der Demütigung der englischen Macht wird geflügelt den Erdball umkreisen, und Millionen von Unterdrückten Glauben an die eigne Kraft verleihen. Als in der Nacht englische Soldaten von chinesischem Militär wie ein Haufen Landfahrer abgeschoben, zusehen mußten, wie Alt-Englands Hoheitszeichen vom Dach gerissen und besudelt wurde, da schwebte über diesem schweigenden, verbissnen Zug in den Lüften noch ein zweiter unendlich großer: die Geister Aller, die Europäerhabgier in fremden Zonen um Gold und Elfenbein, um Gummi und Zuckerrohr geschlachtet hat. Eine schreckliche Gespenster-Kavalkade: Rote vom Potomac, Schwarze vom Kongo, braune Kabylen, im Wüstensand verröchelt, Gelbe als Kanonenfutter des Kapitalismus in Gruben und Fabriken verbraucht. In dieser Nacht von Hankau hat Europa eine Schlacht verloren, nicht gegen eine andre Rasse, sondern, Gott sei Dank, gegen die Menschheit. Und mag auch solcher Nacht ein ungewisser Morgen folgen: das Herz kündet, daß Etwas doch anders geworden ist und es sich leichter atmen läßt. Eine Bastille ist weniger. Die Freiheit war wieder auf der Erde zu Gast.
Die Weltbühne, 11. Januar 1927
Lieber und verehrter Meister!
Erlauben Sie einem bescheidnen Bewundrer Ihres allzu kurzen Auftretens als Prinz Wilhelm Ihnen ein aufrichtiges Bedauern zum Ausdruck zu bringen, daß es der Polizei gelungen ist, Sie der Rache der düpierten thüringer Ehrenbürger auszuliefern. Ihre Leistung war gut und rund. Wenn unsre republikanischen Politiker ähnlichen Witz aufbrächten, stünde es besser um uns.
Es schmälert Ihre Meriten nicht, daß politische Absichten Ihnen völlig ferngelegen haben, und nur eine häßliche Bargeldlosigkeit Sie zu Ihrem kleinen Abenteuer in Thüringen veranlaßt hat. Junge Leute haben es heute schwer, und Sie haben nach manchem Graden und Krummen sich auch als Kohlenschipper versucht, der junge Herr dagegen, den Sie mit so viel Glück dargestellt haben, hat noch gar nichts versucht, eine rein hospitierende militärische Betätigung ausgenommen. Der Anstoß zu Ihrer gewiß nicht alltäglichen Rolle mag Ihnen wohl gekommen sein, als Sie ganz zufällig vor dem Spiegel unter hochgeschwungener Braue das blitzende Raubvogelauge der Hohenzollern entdeckten und die große, leicht gekrümmte Nase, die schon viele Rasseforscher zu profunden Untersuchungen über die Nürnberger Vergangenheit der Familie verleitet hat.
Sie haben sich sicherlich nicht viel Gedanken gemacht über die traditionelle prinzliche tenue, die angeblich selbst in Lumpen überzeugt. Und unter den bürgerlichen und militärischen Honoratioren Thüringens wärs auch verschwendet gewesen. Sie haben nur Eines mitgebracht, was den seriösen und logischen Köpfen fehlt: Sie haben die Leute, die Sie rupfen wollten, für genau so dumm genommen, wie sie in Wahrheit sind. Sie haben, vielleicht durch ein frühes Erlebnis, traumhaft sicher erfaßt, daß es die höchste Seligkeit dieser Leute ist, vor einer schnarrenden Offiziersstimme, vor einem harten Herrenauge die Hacken zusammenzuknallen. Jahrelang haben Die vor der verwaisten Hoftheater-Maschinerie auf das Aufsteigen des Gottes gewartet. Plötzlich knackte es in den Scharnieren, es kam Jemand aus der Versenkung, und Alles lag auf dem Bauch.
Doch mit Trauer lesen wir jetzt, verehrter Freund, daß Ihr Unterschlupf erst in der Herberge zur Heimat in Köln, dann bei der Fremdenlegion, nicht grade auf eine glänzende reale Ausbeute Ihres Unternehmens schließen läßt. Diese Weltfremdheit in finanziellen Dingen beweist schlagend, daß Sie kein echter Hohenzoller sind, und wären Ihre lieben Thüringer nicht hoffnungslos in Devotion ersoffen, an dieser stilwidrigen Bescheidenheit hätten sie die Wahrheit erraten müssen. Jetzt sind diese Krämerseelen auch noch undankbar und schreien nach Ihrem Blut. Wenn die Republik etwas mehr Humor hätte – denn Humor ist auch Geselligkeit –: sie würde Sie jetzt nicht dem Staatsanwalt überantworten, sondern Sie lebenslänglich im Prytaneion speisen und überhaupt als einen Mann behandeln, der sich ums Vaterland verdient gemacht hat. Sie haben da, wo der Verstand des Staates sanft schlief, als Liktor einer bessern Vernunft die Rutenbündel lustig tanzen lassen. Sie haben die Dummheit gezüchtigt. Sie haben unsern Herzen eine Freude bereitet. Wir danken Ihnen.
Die Weltbühne, 11. Januar 1927
Am Montag, dem 10. Januar beauftragt der Reichspräsident Herrn Doktor Curtius: "auf den Grundlagen der bisherigen Koalition, Gemeinschaftsarbeit mit der Deutschnationalen Volkspartei zu ermöglichen." Die Deutschnationalen antworten sogleich: sie sähen darin den einzigen Weg zur Lösung, doch ruhe die Entscheidung beim Zentrum. Am Dienstag unterhandelt Westarp zum ersten Mal mit Curtius, lehnt aber jede bindende Äußerung ab, so lange nicht das Zentrum prinzipielle Bereitwilligkeit ausgedrückt habe, mit den Deutschnationalen zu arbeiten. Am selben Nachmittag erscheint Herr von Guérard bei Curtius. Hierauf vierstündige Beratung des Vorstandes der Zentrumsfraktion, unter Hinzuziehung des Herrn Wirth als Experten für republikanische Belange. Ergebnis: "schwere außenpolitische und innenpolitische Bedenken" gegen die Absichten des Herrn Curtius; dennoch soll der Entscheidung der Gesamtfraktion nicht vorgegriffen werden. Am Mittwoch faßt die Fraktion nach stundenlanger Debatte einen Beschluß, aus dem sich ergibt, daß sie die "Bedenken" des Vorstandes teilt. Am Donnerstag verhandeln Stresemann und Curtius mit Stegerwald und Guérard, die wieder ihre "Bedenken" geltend machen. Curtius erklärt, nochmals mit den Deutschnationalen sprechen zu wollen. Am Freitag konferiert Westarp zum zweiten Mal mit Curtius, der die "Bedenken" des Zentrums bekannt gibt und Übermittlung der deutschnationalen Antwort anbietet. Da endlich entschließt sich die Zentrumsfraktion, an Curtius zu schreiben, daß sie von seinen Bemühungen keinen Erfolg mehr erwarte, und Herr Curtius gibt seinen Auftrag zurück.
Das ist, chronologisch geordnet und unter Weglassung aller ablenkenden und vertuschenden Decorativa, die Geschichte der Mission des schwarz-weiß-roten Heidenpredigers Curtius an den Gestaden des schwarz-rot-goldnen Zentrums. Und erstaunlich ist nur, daß die Oberpriester der Fraktion fünf ganze Tage brauchten, um zu einer Absage zu kommen, daß sie, anstatt den Versucher mit exorcistischen Formeln zu bannen, sich jedes Mal nach Empfang der unheiligen Botschaft ins Innre des Tempels zurückzogen, um mit ihrem republikanischen Glauben zu ringen.
Herr von Loebell ist ein Letzter jener alten preußischen Konservativen, deren Stärke in der Diplomatie lag, nicht wie bei den Epigonen, in der Demagogie. Der erfolgreiche Wahlmacher Hindenburgs ist zwar überzeugter Royalist, wenn auch mit der gefühlsmäßigen Einschränkung eines langjährigen wilhelminischen Ministers. Ein vielerfahrener Zyniker jedenfalls, der, um das deutsche Volk kennen zu lernen, es, abweichend von Gustav Freytags berühmtem Ratschlag, nicht bei der Arbeit, sondern beim Politisieren aufgesucht hat, und dem man deshalb nichts vormacht. Dieser wetterfeste Realist hat die Deutschnationalen kürzlich offen aufgefordert, doch mit dem langweilig werdenden oppositionellen Getue Schluß zu machen und frisch zu Locarnesen und Republikanern in die Regierung zu steigen, um sie dann an die Wand zu quetschen. Da die Deutschnationalen grade in jenen Tagen durch ihren Pressechef in "Le Journal" einen ersten schüchternen Versuch vornehmen ließen, sich den Franzosen als allianzfähig in Empfehlung zu bringen, sie jedoch andrerseits nicht wünschten, mit diesem Trip ins Pazifistische vor ihren Wählern Staat zu machen, so kam ihnen Herr von Loebell höchst ungelegen, und sie fertigten ihn mit einem überaus schroffen Desaveu ab, in dem noch ein Mal alle Poltergeister der Intransigenz bellikos rumorten, während der nach Paris beorderte Friedensengel schon zum ersten Kußmäulchen die Lippen europäisch spitzte.
Herr von Loebell wird sich nicht schrecken lassen. Er weiß, daß ein beachtlicher Teil der Partei, die Landbünde voran, die bisherige Resistenz nicht mehr lohnend findet. Er weiß auch, daß mindestens die Hälfte der Deutschen Volkspartei nach gehorsamer Stabilisierung des Stresemannschen Außenprogramms durch die Linke keine Lust mehr nach Fortsetzung einer Gesellschaft verspürt, die mehr Not als Neigung hat entstehen lassen. Die Leute haben ihre Schuldigkeit getan und mögen sich trollen. Mag dem demokratischen Stimmvieh die Wahlzelle zum Schlachthaus werden – die Volkspartei wünscht sich möglich(st) weit weg von der innerlich zerfallenden demokratischen Nachbarin, die heute Stresemann für sich reklamiert, ihn den Executor "ihrer" Politik nennt und immer von neuem Versuche unternimmt, sich mit Hilfe der Großen Koalition zu erhöhen, so wie ein geschickter Stelzenläufer, mit ein paar Tüchern vermummt, im Unklaren lassen kann, wie lang oder kurz er eigentlich ist. Die Volkspartei denkt nicht daran, den Demokraten die Stelzen zu liefern. Sie sieht mit Sorge dem nächsten Wahlkampfe entgegen, wird ihn ganz gewiß nicht mit der Devise "Für Locarno, für Genf und Republik!" beginnen, sondern eine Kameradschaft von gestern ruhig den Wellen preisgeben, um sich selbst aufs Trockne zu bringen. Die Deutsche Volkspartei ist, unbeschadet der paar liberalen Vollbärte, eine Rechtspartei. Die schweifende Phantasie ihres Führers hat sie zu einer Odyssee verleitet, die gelegentlich in die abenteuerlichsten Regionen linksrepublikanischer Exotik führte. Heute ist die Fahrt beendet.
Schon lange hätte zwischen Deutschnationaler und Deutscher Volkspartei, ohne die rüde Tonart der Rechtspresse, Alles glatt sein können. Hier sind Empfindlichkeiten zu überwinden. Hier beginnt auch die freiwillige Sendung des Herrn von Loebell, und man mag mit Recht seine geschickten Bellachini-Finger in folgendem Arrangement sehen: Als Herr Stresemann neulich in Hamburg war, folgte er einer Einladung des jungen Fürsten Bismarck nach Friedrichsruh, wo er am Frühstückstisch – völlig überraschend natürlich – den Grafen Westarp fand! Wunderbare mise-en-scène! Die Manen des Eisernen Kanzlers zürnend um Stresemann, der mit der Demokratie gebuhlt hat. Aus dem nächtlichen Sachsenwald dröhnt die Stimme des Alten: Seid einig, einig, einig! Wunderbare Berechnung der Wirkung auf das Gemüt des zweiten Tenors von Dresden, der sich als Außenpolitiker zwar immer mehr in Grossisten-Mentalität hineingelebt hat, aber als Innenpolitiker stets der kleine Detaillist seiner Anfänge geblieben ist, der überall, ob im Genfer Luxus-Hôtel, ob in der betörenden Vegetation Italiens, die deutsche Eiche rauschen, die deutsche Kaffeekanne klappern, das deutsche Pique-Aß auf den deutschen Stammtisch knallen hört. Da der junge Bismarck-Enkel bisher weder gezeigt hat, daß er ein besondres Vergnügen an intrikaten politischen Situationen empfindet, noch, daß er mit dem Spleen eines alten Engländers behaftet ist, der sich lauter Gäste einladet, die sich nicht leiden können, so dürfte die Regie schon auf einen schärfer kalkulierenden Kopf zurückzuführen sein: auf den alten, oft erprobten Hexenmeister aus Pommern, dem immerhin schon das Kunststückchen gelungen ist, aus einem ruhebedürftigen General einen ganz vifen Präsidenten gemacht zu haben.
Kaum war vor vier Wochen die Marx-Regierung gestürzt, als sofort das Gerücht umging, der Reichspräsident beabsichtige, ein rechtes Minderheitskabinett zu bestellen, das nur die Aufgabe habe, den Reichstag aufzulösen und die Wahlen zu machen. In solcher parlamentslosen Zeit läßt sich von geschickten Leuten schon einiges ausrichten. Die nächstliegende Lösung wäre ein andres Marx-Kabinett gewesen, und wenn auch ein paar neue Prothesen die alte Carcasse nicht reizvoller gemacht hätten, so wäre es doch wohl wieder für eine Weile gegangen. Statt dessen wird, nachdem wochenlang Diktaturpläne um Scholz und Westarp gespukt haben, Herr Doktor Curtius ausersehen, eine Rechtskoalition zu schaffen. Und Herr Curtius, der in der volksparteilichen Fraktion und im Reichsministerium stets eine Art Flügeladjutant Stresemanns gewesen ist, beginnt seine Arbeit sogleich sehr konsequent, indem er erklärt, es drehe sich jetzt nicht mehr um die Große Koalition und ähnliche erledigte Sachen, sondern nur um die Gewinnung der Deutschnationalen. Demgemäß verfährt er: die Sozialdemokratie wird nur "unterrichtet", und Erich Koch, der sonst überall dabei sein muß, schaltet sich diesmal, ärgerlich geworden, selber aus. Curtius aber geht so vor, als gäbe es überhaupt nur zwei Parteien: Deutschnationale und Zentrum. Man muß zugestehen, daß diese Taktik ihre psychologischen Wirkungen hat: das Zentrum wird sichtlich nervös und äußert gegenüber einem völlig undiskutabeln Vorschlag immer nur "Bedenken", verzettelt sich von Montag bis Freitag in vielstündigen Beratungen, um schließlich nur eine flau stilisierte Absage zu produzieren. Curtius hat erreicht, der Zentrumsfraktion vorübergehend zu suggerieren, daß zur Zeit eine andre Bindung als solche nach rechts gar nicht denkbar sei, und da die Unterhändler der Fraktion, die Herren von Guérard und Stegerwald, auch im Ernst niemals etwas Andres gewollt haben, so hat Herr Curtius bei Scheitern seiner persönlichen Mission doch für einen Größern, einen Luther, Jarres oder Stegerwald selbst, ein beträchtliches Stück Vorfeld erstritten.
Augenblicklich bemüht sich Herr Marx wieder. Und in der gesamten Rechtspresse wird wie auf Kommando die Losung ausgegeben: auch die Vollmachten von Marx seien limitiert; auch Marx habe nur den Auftrag, Anlehnung nach rechts zu suchen, und übrigens werde die Deutsche Volkspartei in diesen Tagen förmlich beschließen, keiner Regierung mehr beizutreten, die von der Toleranz der Sozialdemokraten abhänge. Das steht bei Hugenberg, und braucht deshalb nicht wahr zu sein. Aber Tatsache bleibt, daß sich durch solchen Alarm der Ring der für die Regierungsbildung in Betracht kommenden Parteien dauernd verengt, und alle Eventualitäten nach rechts weisen.
Es besteht kein Zweifel mehr: der Reichspräsident möchte auf alle Fälle den Bürgerblock kreieren; die Kreise um Loebell, die in entscheidenden Momenten stets seine politischen Einbläser bildeten, bemühen sich, die Barrieren zwischen den Rechtsgruppen zu beseitigen; Stresemann ist schon völlig gewonnen, und nur das Zentrum ziert sich noch. Vergessen werden darf auch nicht, daß hinter allen Bemühungen für die Rechtskoalition Einer treibend und befeuernd waltet, von dem man in letzter Zeit nicht viel gehört hat: Herr Otto Geßler, der auf Geheiß der Sozialdemokraten über die Klinge springen müßte, wenn doch wider Erwarten ein Kabinett der Mitte mit Stützung von links zurückkehren sollte. Nach einer Meldung von sonst ausgezeichnet informierter Seite steht der Austritt Herrn Geßlers aus der Demokratischen Partei unmittelbar bevor – als Protest gegen die an ihn gerichtete Beschwerde Erich Kochs über den Schimpfartikel des Generals Reinhardt in der ›Deutschen Allgemeinen Zeitung‹. Verläßt Geßler die Partei, die ohnehin nicht mehr die Absicht hat, ihn zu halten, und geht er zur Volkspartei, oder, wie auch vermutet wird, zur Wirtschaftspartei, trotzt er der Linken im Amt, so wird der Kampf um den Bürgerblock zugleich ein Kampf um Geßler. Die Bürgerkoalition rettet nicht nur Geßlers Ministerschaft, sondern sichert auch sein Werk, die Reichswehr, selbst vor den zagsten Reformen. So ist beiden Teilen geholfen, und leidtragend bleibt nur die Republik.
Das wäre also das Ende! ruft der Pessimist.
Nein!
Als Herr Silverberg im vergangnen Sommer an die Tür pochte, applaudierte das republikanische Lager. Als sich Herr von Loebell jüngst anmeldete, wurde er gleichfalls freundlich akklamiert. Napoleons berühmte Prophezeiung: "In hundert Jahren wird Europa entweder republikanisch sein oder kosakisch!" mag anderswo Geltung haben, auf Deutschland trifft sie in ihrer majestätischen Grundsätzlichkeit nicht zu. Hier, wo die synthetischen Talente überwiegen, ist man jetzt grade daran, aus diesen beiden Begriffen einen dritten zu mixen.
Die Weltbühne, 18. Januar 1927
Immer mehr wird der tägliche parlamentarische Situationsbericht für den politisch interessierten Staatsbürger zu einem äußerst komplizierten Lustwäldchen mit vielen fremdartig gekrümmten Wegen, zu abgelegnen Winkeln führend, die keines Fremden Auge je erspäht. Leider beschränken sich die Ortskundigen, die Diplomaticusse der großen Presse, darauf, nur die an der Peripherie produzierten dürren Partei-Bulletins zu übermitteln, anstatt Freund Zeitungsleser einmal wirklich durch das pikante Labyrinth zu leiten. Was in den Couloirs getuschelt wird, ist gewiß nicht die volle Wahrheit, aber verleiht mehr Ahnung von Tatsachen, als die stets calmierende Taktik fraktioneller Erklärungen. Es ist schon beachtlich, wie die Herren Abgeordneten unter sich Geheimnisse aus der Mission des Herrn Curtius erzählen. So soll die bekannte Anfrage der ›Germania‹ an Herrn Stresemann, ob er denn von einem Rechtsblock eine so hervorragende Förderung seiner Außenpolitik erwarte, auf eine Unterhaltung des Ministers mit Müller-Franken zurückzuführen sein, in der er sich über eine solche Möglichkeit äußerst skeptisch aussprach. Das Zentrumsblatt wollte nun Herrn Stresemann aufreizen, das auch öffentlich zu wiederholen. Aber der Effekt war ganz anders. Denn Stresemann verweigerte kategorisch jede öffentliche Äußerung, unter Zusicherung seiner Bereitwilligkeit, sich in einer Konferenz mit Zentrumsführern eingehend auszulassen. In dieser Unterredung mit den Herren von Guérard und Stegerwald aber sagte er das völlige Gegenteil dessen, was er dem sozialdemokratischen Vertreter auf den Weg gegeben hatte; er drückte vielmehr die feste Zuversicht aus, daß sich mit den Deutschnationalen ganz ausgezeichnet regieren ließe. Dies aber, versichern die Eingeweihten weiter, sei nur ein ganz besondrer Schachzug gewesen: Herr Stresemann sei unbedingt gegen eine Bindung nach rechts, aber das habe er nicht sagen dürfen mit Rücksicht auf den anwesenden Parteifreund Curtius, der ihn sofort bei den Deutschnationalen verpetzt hätte.
So tuschelt die vielzüngige Fama. Und mag es wahr sein oder nicht, es offenbart mehr als die steifleinenen Erläuterungen, die die Herren Fraktionsführer der Presse zu geben geruhen. Äußerlich scheint es in diesen Tagen, als gäbe es im Reichstag ein erbittertes Ringen der Überzeugungen. Näher gesehen, erscheint der Furor aufgeschminkt, das Auftrumpfen des Einen, das Zögern des Andern einstudierte Komödianterie. "Wir spielen Alle; wer es weiß, ist klug", sagt Arthur Schnitzlers Paracelsus. Freund Zeitungsleser ist nicht klug.
Herr Geßler hat die Demopartei versetzt, und dessen Blätter sagen ihm jetzt alle Schlechtigkeiten nach. Von wannen kommt den Köchen diese fröhliche Wissenschaft? Geßler in neuer Beleuchtung? In den Jahrgängen der ›Weltbühne‹ steht die Geschichte seiner republikanischen Sendung aufgezeichnet. In sozialistischen und demokratischen Blättern ist ungeheures Material gehäuft, und ergibt, leicht zusammensetzbar, Steinchen auf Steinchen, ein Mosaikbild von absurder moralischer Koloristik. Die Demoblätter zetern über Undank und Untreue. Es scheint uns, daß, an seinen sonstigen Leistungen gemessen, sein Verhalten gegen die Partei fast honorig zu nennen ist. Wenn die alten Mitkombattanten heute schreiben, Geßler habe den Artikel General Reinhardts nicht nur geduldet, sondern sogar veranlaßt, so möchten wir dem nicht widersprechen. Sie müssen ihn kennen, denn sie waren ja mit ihm verheiratet. Komisch, wie sie ihn jetzt als nachtschwarzen Intriganten schildern. Wer nicht durch die demokratischen Augengläser sah, wußte es seit Jahren: grade so darf der Reichswehrminister nicht aussehen! Aber die Demokraten haben ihn sich nicht nur gefallen lassen, sie sind mit ihm durch Dick und Dünn gegangen. Sie haben auf den Parteitagen Debatten über ihn verhindert und die paar ungläubigen Parteigenossen terrorisiert und hinausgedrängt. Ist es denn nicht mehr als ein Jahr her, daß ein gewisser Roenneburg im Reichstag den Minister mit den Resten seiner Reputation deckte und nachher stolz in der Wandelhalle promenierte, ein glückhaftes Lächeln um den wohlgebildeten Mund, daß grade ihm, dem schlichten Bürger Roenneburg aus Braunschweig, die Ehre zugefallen war, zur Glorifizierung des großen Mannes das nötige Blau vom Himmel herunterzuholen?
Vergeblich versichern die Haas und Koch heute, daß sie genau so militaristisch seien wie er. Nicht einmal jetzt können sie sich zu der verspäteten Geste des Hinauswurfs entschließen, sondern blamieren sich mit dummen nationalistischen Zitaten. Mit Hohnlachen wirft jener die Demokratenkappe fort. Die Partei hat für ihn weder Reiz noch Zweck mehr. Sie hat ihm Charakter und Prinzipien geopfert, sie ist, mit dieser Prominenz auf dem Aushängeschild, zu einer bloßen Fiktion geschwunden. Weil ein paar der gelesensten deutschen Blätter sich demokratisch nennen, deshalb glaubt man noch an die Existenz einer Demokratischen Partei. An ihrem Geßler ist die Partei verdorben. Es gibt eine Gerechtigkeit.
Wenn der deutsche Parlamentarismus etwas mehr Haltung hätte, so müßte diese Regierungskrise seit dem Eingreifen Hindenburgs eigentlich eine Präsidentenkrise sein. Wegen geringrer Dinge schickte das siegreiche Kartell im Mai 1924 Herrn Millerand in die Pension.
Es war alles leidlich geschickt vorbereitet. Zuerst das Geplänkel des Herrn Curtius an der rechten Zentrumsflanke. Die Partei, deren Führer innerlich längst zum Abmarsch zu Westarp vorbereitet waren, wird nervös. Immer wieder heißt es: Kommt die Sache nicht zustande, tragt ihr die Schuld! Und anstatt diese in den Augen jedes Republikaners höchst ehrenwerte Schuld auf sich zu nehmen, verzettelt man sich in langen Palavers, bei denen auch der geölte Pfaffe Brauns seinen unheilvollen Einfluß spielen läßt. Dabei besteht gar kein Zweifel, daß die Masse der Zentrumswählerschaft republikanisch ist, daß sie aber weder imstande ist, ihre Führer zu kontrollieren, noch sie durch andre zu ersetzen. Es besteht aber auch leider kein Zweifel, daß die Aufforderung des Herrn von Hindenburg, nun doch endlich in den Bürgerblock zu gehen, nicht den gleichen Eindruck gemacht hätte, wenn sie etwa von einem Präsidenten mit geringrer militärischer Vergangenheit ausgegangen wäre. Einem schlichten Zivilisten hätte man wahrscheinlich ganz prosaisch geantwortet: Sagen Sie mal, was geht Sie das eigentlich an! Und am gleichen Tage wäre die Affäre erledigt gewesen. Obgleich Hindenburgs Brief sorgfältig alle Schnarrtöne meidet und eine nicht ungeschickte onkelhafte Betulichkeit darüber hinwegtäuschen soll, daß es sich hier um einen höchst willkürlichen Eingriff handelt, so unterstreicht doch der hohe militärische Rang des Briefschreibers jedes einzelne Wort, und in den Ohren braver Zentrumsmänner echot der Anschnauzer des Herrn Generals Groener: "Wer wagt es zu streiken, wenn Hindenburg befiehlt!"
Und trotz dieser guten Vorbereitung, trotz der zunehmenden Ohnmachtsanfälle im Zentrum, hat man diesmal nicht das Gefühl, daß auf der Rechten eine kräftige und agile Hand dirigiert. Bei den Deutschnationalen scheint die Konfusion nicht geringer zu sein als in der Mitte. Wenn der Führer Westarp willens gewesen wäre, sich an der neuen Koalition zu beteiligen, hätte er nicht unmittelbar vor der Verbrüderungsaktion eine ultra-royalistische Rede gehalten, die gradezu imprägniert war mit allen Stoffen, die auf Stresemanns Partei abschreckend wirken. Aber diese Partei, von einer madigen Angst vor den Wahlen geschüttelt, will sich nicht abschrecken lassen. Sie ist eher bereit, die Axiome des Verfassungslebens Stück für Stück preiszugeben, als sich jetzt den Wählern zu stellen. Deshalb klammert sie sich an die Rechte, deren jüngre Elemente langsam anfangen, sich von der starren Doktrin der Parteimarschälle zu emanzipieren.
Es mag auffallen, daß man in diesen Zusammenhängen überhaupt nicht mehr von der Sozialdemokratie spricht. Welche strategischen Erwägungen die Partei veranlassen, sich so bescheiden im Hintergrund zu halten, vermögen wir nicht zu ergründen. Tatsächlich ist ihr wieder einmal ein unerhörtes Glück recht unverdient zugefallen; sie rückt in die Opposition und damit bei den augenblicklichen Verhältnissen auf den besten und zukunftsreichsten Platz. Sie hat nichts dazu getan, die Andern haben sie nur nicht gewollt. Sie braucht es nicht plakatieren zu lassen, daß sie im Dezember noch die Große Koalition angeboten hat – das an der Bettkante refüsierte Mädchen kann draußen noch immer erzählen, daß die Tugend gesiegt habe. Die Sozialdemokratie kann, was auch geschehen möge, bei halbwegs richtiger Erkenntnis der Chancen zur Oppositionspartei par excellence werden und damit zum Sammelplatz aller Unzufriedenen. Hat man die Grundsatzlosigkeit der Partei in den vergangnen Monaten nicht vergessen, so kann man doch nicht umhin, ein wenig an jener Gerechtigkeit zu zweifeln, die die Demokraten mit ihrem Geßler so hart getroffen hat.
Die Weltbühne, 25. Januar 1927
Hier stehe ich. Ich möchte fast sagen: ich kann nicht anders.Hergt
In der gesamten europäischen Politik herrscht zur Zeit ein offenkundiger Talentmangel. Auch in England, dem mit politischen Begabungen ehemals oft überreich gesegneten England, wachsen die Führergestalten heute nicht mehr wild. Aber in Deutschland steht es ganz besonders schlimm: hier wird nicht einmal mehr mäßiger Durchschnitt produziert. Der babylonische Wirrwarr um die Regierungsbildung läßt sich viel eher auf eine ziemlich gleich verteilte überfraktionelle Unzulänglichkeit zurückführen als auf besonders ränkevolle Manipulationen der Deutschnationalen und ihrer Helfer. Auch die Rechte, die noch leidlich geschickt begonnen hat, kompromittiert sich jetzt, indem sie ihre Differenzen zwischen Appetit nach Ämtern und eingefrorener royalistischer Überzeugung öffentlich austrägt. Trotzdem wirken Westarps naive Jonglierversuche fast hoheitsvoll neben den desperaten Anstrengungen republikanischer Zentrumsmänner, wenigstens halbwegs Figur zu machen. Wir nehmen Herrn Marx aus. Denn Herr Marx ist ein zuverlässiger richterlicher Beamter, der in jedem Geschirr seine Pflicht getan und jede Fuhre gezogen hat, wenn er nur ein energisches Hott hörte: eine Strafkammer, einen Volksblock, ein Ermächtigungsgesetz und eine Reihe verschieden gefärbter Partei-Konstellationen. Er wird auch zwischen deutschnationalen Deichseln so geduldig traben wie früher zwischen schwarz-rot-goldnen. Aber Herr Wirth, den die Rechtspresse noch immer fälschlich als eine Art von badischem Robespierre verschreit? Hier hätte er endlich einmal die zu seinem geistigen Wohlbefinden erforderliche Aufregung mit einigem Nutzen loswerden können, und grade hier "wahrt er Disziplin" und beteiligt sich zum Überfluß noch an der Verfertigung der sogenannten Richtlinien, die nicht einmal Herr Marx in den Vorverhandlungen mit den Deutschnationalen beachtet hat.
Die Sozialisten und Demokraten aber stehen nicht besser da als die Überläufer der republikanischen Mitte: Sie haben der andern Seite die Initiative überlassen und mit erstaunten Äuglein den Abmarsch verfolgt. Sie übersehn, daß es in der innern Politik gar keine zündendere Parole gibt als die gegen einen Bürgerblock. Das ist doch für jede linke Partei, die sich auf Propaganda versteht und nach populären Wirkungen lechzt, ein Gottesgeschenk! Als das Reichsoberhaupt mit einem verfassungswidrigen Eingriff die blauschwarze Allianz einfach dekretierte, da war für die beiden republikanischen Gruppen der Augenblick gekommen, Alarm zu schlagen, auf die Straße zu gehn – jawohl, auf die Straße zu gehn! – und dem unbedingten Kampfeswillen tönend Ausdruck zu geben. Und als Herr Marx ernstlich daran ging, den verfassungswidrigen Auftrag anzunehmen, da wäre es Aufgabe selbstbewußter republikanischer Gruppen gewesen, ihn, ihren einstigen Präsidentschaftskandidaten, öffentlich als Renegaten zu defamieren. So und nicht anders leitet man Opposition ein. Man muß wissen, was man will, und es in guter Laune sagen. Man kann sich in so glücklicher Situation Alles erlauben, was sonst nicht geht – sogar Geist.
Auch die Demoblätter schreiben jetzt in großen Buchstaben: Opposition! Und der ›Vorwärts‹ hebt drohend die schwielige Proletarierfaust, die schon so viele Kapitalistenhände geschüttelt hat. Doch zur Beruhigung etwa aufgescheuchter Gemüter versichert die Linkspresse gleich, die Republikaner würden nicht Opposition treiben wie die Andern: sie würden nicht hetzen, nicht verleumden, nicht schießen, sondern stets verantwortungsbewußt und von staatspolitischer Einsicht erfüllt bleiben. Danach weiß man, was kommen wird. Der Deputierte Ludwig Haas, zum Beispiel, einer der glücklichen Teilhaber der augenblicklich zur Disposition gestellten Republikanischen Union, erzählte erst vor ein paar Tagen den thüringischen Wählern: wenn die Sozialdemokraten nicht das Kabinett Marx gestürzt hätten, dann wäre das Alles nicht so dick gekommen und mit der Großen Koalition würde das ja künftig etwas schwierig werden, etcetera. Daß die guten Leute schon aus Eignem kein Temperament aufbringen können, wissen wir. Daß sie aber nicht einmal zu federn beginnen, wenn sie ein paar Stiefelspitzen im Sitzfleisch spüren, geht gegen alle physikalischen Erfahrungen und erklärt sich nur durch die hoffnungslose Abstumpfung dieser Körperpartie bei den Demo-Haasen. Noch jetzt wissen sie nichts Bessres als die erneute Empfehlung der Großen Koalition. Wir möchten nicht der Donquichotterie schuldig werden, dies Gespenst nochmals zu erschlagen. Doch das sei hier dennoch wiederholt: niemals ist eine jahrelang mit dem Hirnfett der besten republikanischen Leitartikler geschmierte Illusion kläglicher zerplatzt. Daß sich die Herren bei der Einschätzung der Deutschen Volkspartei gründlich verkalkuliert haben, ist hier oft und bis zur eignen Ermüdung vorgerechnet worden, daß sie aber nicht einmal bemerkt haben, was im vielfach befreundeten Zentrum vor sich ging, macht ihre Niederlage zur Katastrophe. Sie haben bewiesen, daß es ihnen nicht nur an der selbst zuerkannten Divinationsgabe gefehlt hat, sondern auch an ganz normaler Fähigkeit zu hören und zu sehen. Was sind das für Wettermacher, die von blauem Himmel faseln, während ihnen die Schlossen breit auf die Nase klatschen! Sie glaubten im Besitz aller realpolitischen Erkenntnisse gewesen zu sein, weil sie die Reichweite ihrer Tintenspritzer irrtümlicher Weise für die Grenzen der realen Welt gehalten haben; heute müssen sie ihre Artikel überschreiben: Abschied vom Zentrum – Abschied von der Weimarer Koalition! Es ist bitter.
Jetzt wollen die Gepantschten in die Opposition steigen. Gegen was und für welche Ideen? Sie haben nur die alten Walzen zum Aufdrehen, und was sie als Ziel hinstellen, ist das Selbe, was die Entwicklung soeben auf die Kehrichthaufen geworfen hat. Wer Opposition machen will, die das Volk aufrüttelt und die Gemüter packt, muß andres wollen und anders sein als Die, gegen die der Kampf sich richtet. Hier aber sehen sich die Gegner so verzweifelt ähnlich. Die Demokraten waren bis vor ein paar Tagen zu jedem ersinnbaren Bündnis bereit, und die Sozialdemokraten haben noch am 18. Dezember ihre Geneigtheit erklärt, mit Hinz und Kunz zusammenzugehn. Opposition? Nein, diese kuriosen Frondeure treibt nicht Grundsatz und Charakter. Die sitzen jetzt lamentierend draußen, weil man sie nicht mehr nötig hat, weil man ihnen einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen hat. Sie haben Alles getan, was man von ihnen verlangt hat und hätten das auch in Zukunft so gehalten. Jetzt flennen sie über Undank wie fristlos entlassene Domestiken, starren zur verschlossnen Beletage hinauf und träumen von den Latrinen, die sie nicht mehr fegen dürfen. Die armen Schlucker können einen Hund jammern. Warum gehn sie nicht zum Gewerbegericht?
Die Veröffentlichungen des ›Manchester Guardian‹ über das deutsch-russische Granatengeschäft haben nicht nur unser Außenamt erregt, dessen bevorzugtes Organ, die ›Deutsche Allgemeine Zeitung‹, soeben die Ausweisung des mißliebig gewordenen Herrn Voigt gefordert hat, sondern auch in Moskau ein paar Unerbittliche auf die Zinne gerufen. Da jedoch die russischen Außenpolitiker und ihr journalistischer Anhang ein außerordentlich entwickeltes Gefühl für Blamagen haben, hielten sie sich zurück und überließen den erprobten Kapitolgänsen des Exekutivkomitees, den nötigen Alarm zu schlagen. Das geschieht in der Wochenschrift dieses notablen Gremiums, wo zu lesen ist: "Die von der deutschen Sozialdemokratie auf offne Bestellung der internationalen Bourgeoisie veranstaltete Hauptprobe einer Kriegsprovokation ist ins Wasser gefallen. Die Massen hegen ein derartiges Vertrauen und eine derartige Sympathie für die Sowjetmacht, daß den Lockspitzeln die Hauptsache mißglückte: die Massen durch die Plötzlichkeit ihrer Erfindungen zu betäuben, sie durch die ›Sensation‹ ihrer ›Enthüllungen‹ stutzig zu machen; es mißlang ihnen, sich die Bestürzung der überraschten Massen zunutze zu machen, um sie vor die vollendete Tatsache aggressiver Handlungen zu stellen, die in ihrer weitern Entwicklung zu einer Kriegskatastrophe führen." Dazu wäre in aller Ruhe zu bemerken, daß diese Art von Argumentation peinlich überrascht. Dies entspricht nicht dem hohen intellektuellen Niveau moskauer Polemiken, die grade der Gegner achten gelernt hat. Der unbekannte Verfasser schwadroniert spottschlecht an der Sache vorbei, und völliges Schweigen wäre besser als diese Expektoration, aus deren klotziger Gesinnungstüchtigkeit auf einige Meilen das schlechte Gewissen duftet. Immerhin wird auch das hemmungslose Geschimpfe des Exekutivmannes aus der Sorge vor der prekären außenpolitischen Situation Rußlands erklärlich. Schließlich kann auch das durch Locarno und Genf festgelegte Deutsche Reich zu einem willenlosen Instrument der Westmächte werden. In Deutschland selbst ergibt sich kaum ein Grund zu solchen Befürchtungen; das müßten auch die russischen Beobachter wahrnehmen. Wo finden sich denn aggressive Tendenzen gegen Rußland? Ohne Übertreibung läßt sich sagen: der deutschen Arbeiterschaft ohne Unterschied der Richtung ist die Unantastbarkeit Rußlands heilige Sache; jede Regierung, die sich durch irgend eine londoner oder pariser Zumutung von ihrer neutralen Haltung abbringen ließe, würde über Nacht einem in Deutschland unerhörten spontan ausbrechenden Anti-Militarismus gegenüberstehen, wie ihn niemals eine Kriegsgefahr am Rhein zeitigen könnte. Moskau ist schlecht unterrichtet, wenn es die deutsche Sozialdemokratie zu einem Werkzeug westlicher Kriegsprovokateure stempeln möchte. Die Sozialdemokratie denkt gar nicht an Krieg, sondern ist ehern entschlossen, Das fortzusetzen, was sie seit sieben Jahren tut, nämlich: zu schlafen. Sonst würde sie längst geahnt haben, daß alle politische und militärische Vorbereitung in diesen Jahren nur den einen Sinn gehabt hat: den Krieg an der Weichsel, und zwar einen Krieg, der sich nicht gegen Rußland richtet. Auch das deutsche Bürgertum hegt lange keine feindlichen Gefühle mehr gegen Moskau, mindestens, seit dieses aufgehört hat, in Deutschland Weltrevolution zu machen. Im Gegenteil, die deutschen Nationalisten sympathisieren lebhaft mit dem völkerbundfeindlichen Kurs Tschitscherins, und die Rote Armee hat in gewissen rechten Bezirken wärmere Freunde als in den Reihen der Kommunistischen Partei.
Jetzt aber, wo die Partei der militaristischen Reaktion offen von der Regierung Besitz ergreift, schwindet für Rußland auch der letzte Anlaß zur Beklemmung. Gewiß werden die Deutschnationalen nicht gleich mit Schwertgeklirr und Wogenprall beginnen; sie werden sich zunächst keine Verstöße gegen die Locarno-Politik erlauben, im Gegenteil, um eine gute Presse in Frankreich äußerst besorgt sein und erst, wenn ihnen das nicht gelingt, die alten Künste wieder spielen lassen. Da durch den Umschwung auch die bescheidensten Möglichkeiten einer Reichswehrreform an den Schornstein zu schreiben sind, so steht nichts im Wege, daß auch die Wehrmacht wieder ihre eigne standesgemäße Politik eröffnet. Herr Otto Geßler selbst, das hat vor einer Woche der Parteifreund Bergsträßer in einem Zeitungsartikel ganz harmlos ausgeplaudert, ist Anhänger der Ost-Orientierung. Was man darunter zu verstehn hat, ist bekannt. Geßler ist nach seiner sozialen Überzeugung kein Leninist, seine östliche Orientierung bezieht sich mehr auf militärtechnische Angelegenheiten, und da dieser erstaunliche Russophile dies Mal in Begleitung deutschnationaler Kollegen erscheint, so bedeutet das für die gestrengen Herren in Moskau fast so viel wie eine Lebensversicherung. Damit wäre Alles wieder in Ordnung. Soweit die Kommunikation in letzter Zeit bedauerlicher Weise unterbrochen war, wird der Schaden bald repariert sein. In verklungenen imperialen Zeiten hat es bekanntlich vor einem deutschen Gericht einen Prozeß wegen Hochverrats gegen das russische Reich gegeben. Darüber lachte damals die ganze Welt. Heute sieht das nicht mehr so heiter aus. Vielleicht werden die Landesverratsanzeigen aus der Bendler-Straße künftig in Moskau gegengezeichnet werden.
Die Weltbühne, 1. Februar 1927
Die Eröffnungs-Vorstellung der Rechtsblock-Regierung hat den hinter ihr stehenden Parteien feuchte Finger gemacht. Das Ensemblespiel haperte; die Inszenierung war spottschlecht. Nicht einmal eine gemeinsame Erklärung der neuen Verbündeten war zustande gekommen, und ihre Redner polemisierten gegeneinander. Bei Herrn Marx langt es nicht zum Inspizienten, geschweige denn zum Regisseur. Dieser Wirrwarr im Rechtslager hätte von den Sprechern der Sozialisten viel amüsanter ausgebeutet werden können als von den Herren Hermann Müller und Erich Koch. Beider Bestimmung ist nicht die Offensive. Trennungsschmerz überschattete ihre kleinen Sticheleien, und das zum Streit entrollte Banner weht nicht keck in der Luft, sondern wurde als Sacktüchlein mit dicken Manneszähren benetzt. Je drückender die Verlegenheit der neuen Regierer, desto leichter hätte auf der andern Seite die gute Laune flattern müssen. Auch die Kommunisten sind längst den heitern Waffen der Obstruktion, den Kindertrompeten und blauen Brillen, entwachsen; auch auf der linkesten Linken sitzen heute ernste, beim Diätenempfang gereifte Männer.
Es wäre indessen verfehlt, die Unstimmigkeiten im frischgebacknen Kartell kurzweg auf innre Schwäche zurückzuführen. Schwenkungen sind im Parteileben alltäglich, das Kunststück ist nur, sie der geduldigen Wählerschaft plausibel zu machen. Umfallexperten gibt es auch im Reichstag mehr als genug – aber es fehlt an geschmeidigen Talenten, die es dem Wähler so sagen, daß er eine offenbare Grundsatzlosigkeit für einen hochkarätigen Charaktersieg hält. So verlief die Premiere über die Maßen kläglich. Die Herren litten unter der Diskrepanz von Konzept und Wirklichkeit: sie begannen zu extemporieren und verhedderten sich, und es bleibt der Eindruck von Schauspielern, die verkleidet und geschminkt plötzlich im grellen Rampenlicht ihre Privatsachen zu erzählen beginnen. An und für sich bedeutet das Regierungsprogramm mit den Reden der Herren Führer nicht mehr als eine buntscheckige Maskerade, wobei, heutigem Brauch entsprechend, die Blößen bedeutsamer sind als das Kostüm, nur daß diese nicht zu ästhetisch belustigender Betrachtung aufmuntern. Herr Marx trug Biedermeierschnitt mit unzeitgemäß enger Corsage; viel Draht und Fischbein, vernachlässigtes Unterfutter, doch äußerlich farbenfroh wie Palettendreck. Westarp: Locarno-Stilkleid in bleu mourant (in der vorigen Saison von Stresemann getragen). Scholz: aschgrauer Pierrot (Kennwort: Lendemain).
Karneval, in seiner steifen Dürftigkeit zum Lachen reizend. Nur darf darüber nicht vergessen werden, daß nach allen voraufgegangnen Koalitionen hier zum ersten Mal eine völlig organische und innerlich logische steht: Zentrum und Deutschnationale, religiöser und politischer Konservativismus haben sich endlich gefunden. Vieles trennt sie, geeint sind sie durch den unbedingten Willen zur Autorität. Deshalb ist es auch gar nicht so wichtig, was sie etwa im ersten Lampenfieber verkehrt machten; ihre Handlungen werden präziser sein als ihre Reden. Um die politische Gleichberechtigung der deutschen Katholiken zu erringen, mußte die katholische Partei, zwischen protestantisches Kaisertum und Republik gestellt, für die Republik optieren. Die Gleichberechtigung der Katholiken ist längst erreicht; heute handelt es sich darum, den weltlichen Staat wieder "christlich" zu machen, der Kirche eine gesicherte Vormachtstellung zu verschaffen. Deshalb wird das Bündnis mit der Jakobinermütze gekündigt, und automatisch geht der Anschluß an die Vertreter der monarchistischen und militaristischen Reaktion vor sich, die selbst dringend Sukkurs brauchen: denn sie haben zwar Geld, um Wahlen zu machen, aber keine Macht mehr über die Seelen. Die Grenzen des beiderseitigen Entgegenkommens sind ganz deutlich gezogen: die Deutschnationalen haben das kontraktlich vereinbarte Bekenntnis zur Weimarer Verfassung mühsam herausgewürgt; das Zentrum dagegen hat durch die Ablehnung des Radauantisemiten Graef als Justizminister ganz klar ausgedrückt, daß ihm nur Leute mit glatten parlamentarischen Manieren genehm sind, die die Aufrechterhaltung der Fiktion möglich machen, es handle sich hier nur um eine aus verzwickten parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen begreifliche Episode und nicht um eine durchaus konsequente Interessengemeinschaft. Rückversicherung bildet Preußen, wo an der Allianz mit den Sozialisten nichts geändert werden soll. Rücksicht auf Preußen war wohl auch der wirkliche Anlaß zu dem Sturmlauf gegen Graef: Hergt sollte ins Justizministerium abgeschoben werden, denn dieser alte konservative Kampfhahn als Reichsinnenminister hätte bei der ersten besten Gelegenheit mit Preußen Streit angefangen, um das Kabinett Braun zu stürzen und die Deutschnationalen auch hier ans Ruder zu bringen.
Der schwarz-blaue Bund ist Tatsache, ernstere Tatsache, als alle 80 frühern Koalitionen. Was zwischen den beiden großen Regierungsparteien noch steht, sind Gespenster abgestorbner Kämpfe aus den Tagen Erzbergers und Wirths. Ob diese Schatten noch Macht haben, wird sich bald zeigen. Die ersten Abstimmungen schon werden entscheiden, ob der Versuch nicht zu früh unternommen wurde. Überlebt der Block den ersten Monat, dann werden wir ihn so bald nicht wieder los.
Die sogenannte Opposition glaubt noch immer nur an eine momentane Geschmacksverirrung einiger Zentrumsführer und täuscht sich damit über die Sachlage. Deshalb ist auch Kamerad Hörsing schlecht beraten, wenn er die zunehmende Unzufriedenheit in seinem Lager mit einer gutartigen Beschwichtigung zu dämpfen sucht. Die Kameraden Marx und Köhler, meint Hörsing, seien nicht schlechtere Kameraden, nur weil sie nach der andern Seite gegangen seien; vielleicht sind sie morgen schon wieder da und löffeln wieder mit den alten Kameraden aus einem Kochgeschirr. Der Stubenälteste des Reichsbanners hat seine unleugbaren Qualitäten, wird jedoch jedes Mal unsicher, wenn er auf der Generalstabskarte der großen Politik Fähnchen steckt. Er mag sich für einen agilen Taktiker halten, vielleicht auch für einen überaus gerissnen Opportunisten, der sich schließlich doch über alle superklugen