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Dieser Band enthält, neben einer Biografie, seine wichtigsten Schriften aus den Jahren 1911 - 1921. Carl von Ossietzky (geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg; gestorben am 4. Mai 1938 in Berlin) war ein deutscher Journalist, Schriftsteller und Pazifist. Als Herausgeber der Zeitschrift Die Weltbühne wurde er im international aufsehenerregenden Weltbühne-Prozess 1931 wegen Spionage verurteilt, weil seine Zeitschrift auf die verbotene Aufrüstung der Reichswehr aufmerksam gemacht hatte. Ossietzky erhielt 1936 rückwirkend den Friedensnobelpreis für das Jahr 1935, dessen persönliche Entgegennahme ihm jedoch von der nationalsozialistischen Regierung untersagt wurde.
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Seitenzahl: 932
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Schriften 1911 – 1921
Carl von Ossietzky
Inhalt:
Carl von Ossietzky – Biografie und Bibliografie
Schriften 1911 – 1921
1911
Eulenbergs "Alles um Liebe" Zur Uraufführung im "Deutschen Schauspielhause" zu Hamburg
1912
Nationalliberale Götterdämmerung
Ein Steckbrief
1913
Der verhaßte Gewerbeinspektor
Sonnenwende
Wehe den Kleinen!
Panslavismus
Hagemanns hamburger Zeit
Der heilige Mars
Das Erfurter Urteil
Adjutantenritte
Ein getreuer Eckart
Der deutsche Wetterwinkel
1914
Der kranke Mann in Wien
Der Prozeß des Herrn Henrici
Ein Phantom
Auferstehung
Mexiko
Die Schüsse von Serajewo
Wo bleibt das Theater?
1915
Shaw und Wedekind
Lichtenberg
1917
Monismus u(nd) Pazifismus
Schriften zur Neuorientierung der auswärtigen Politik
1918
Ein Wort über Aktivismus
Drei Variationen über ein zeitgemäßes Thema
Wandlung der geistigen Atmosphäre
Der Anstand am Pranger
Herr Siemering, der Pazifist
Das werdende Deutschland Ein Wort an alle Schwachmütigen
Wolfgang Heine hält Gerichtstag
Für Alfred Fried
G. Höft Die weltliche Schule Pfadweiser-Verlag. Hamburg 1919.
Waldemar Domroese Moral ohne Gott Pfadweiser-Verlag, Hamburg 6.
Vorwort (zu "Der Anmarsch der neuen Reformation")
Der Anmarsch der neuen Reformation
Vorwort (zum Verhandlungsbericht des 8. deutschen Pazifistenkongresses), 1919
Vorwort (zu Wilhelm Lamszus: Das Irrenhaus)
Hans Zacharias Der junge Mensch und die Politik Pfadweiser-Verlag, Hamburg 6,1919.
Profitwirtschaft oder Versorgungswirtschaft Sozialisierungsfragen von Prof. Dr. Franz Staudinger, Furche-Verlag, Berlin. Mk. -.80.
An C.L. Siemering
Ausverkauf
Die Kasseler Generalversammlung (I)
"Charleville"
Erotische Wiedergeburt
Abschied
Die Kasseler Generalversammlung (II) (Schluß)
Ein Friedensministerium?
1920
Des Bürgers Wiederkehr
Unsere Pflicht
Der Adlerknopf
Der Aufmarsch der Reaktion
Demokratische Kulturpolitik
Otto Lehmann-Rußbüldt, Jung-Frühling Verlag Neues Vaterland, E. Berger & Co., Berlin W.
Pflicht zur Arbeit
Im Jahre II der Republik
Knüppeldick und Affenschmalz
Im Jahre II
Constantin Frantz
Die demokratische Parole
Nach der Sturmflut
Ein Kapitel Lichtschlag
Die Franzosen, die Judenfahne und der Schatten Loyolas
Drehscheibe und Hemmschuh Die Deutsche Volkspartei von gestern und morgen
Pazifisten-Tagung – Hans Paasche – Die Reichstagswahlen
Volk und Menschheit
Wir heißen euch hoffen!
Nationales Delirium Von Traubs Baume
Moskau und Potsdam
Die nationalistische Internationale So geht es nicht weiter!
Rede in der Fensternische
Der Völkerbundgedanke in Deutschland
Spa und die deutsche Psyche
Noskes Visitenkarte "Von Kiel bis Kapp"
Bessere Zeiten!
Vom deutschen Balkan
(Veit Valentin)
Gespensterballett
(Churchills Brief)
Rotrußland
"Orgesch"
Schöpferisches und schröpferisches Unternehmertum
Aufruhr im Kanton Hänisch
Gegen die Balkanisierung Deutschlands!
Revolutionsbilanz Heinrich Ströbels Werk
Demokratie und Völkerbund Eine neue Schrift Quiddes
Arbeiterschaft und Gewaltpolitik
Herr Professor Timerding
Das besiegte Deutschland
Die Geschichte vom Golem
Drei neue Folies-Caprice-Einakter
Der billige Weihnachtsbaum
Kräfte der Vergangenheit
Die schwache Republik Auch ein Jahresrückblick
Der Fall D'Annunzio Das Ende einer Komödie
1921
Die Jugend rührt sich!
Silvester im Schillertheater
Eine notwendige Mahnung An die schreibenden Militärs
Sonntags-Matinee im Staatstheater "Stimmen der Völker"
"Mit Ehrhardt durch Deutschland" Einer von der wilden, verwegenen Jagd
Persische Tänze Armen Ohanian
Jeanne d'Arc am Rhein Ein untaugliches Suggestionsmittel
Das Reich Zum 18. Januar 1921
Das französische Rätsel Das Kabinett Briand
Ich träume ...
Feuilletonpolitik
Neubabylon
Verbreitet Besonnenheit!
Hauskonzert des "Künstlerdanks"
Carl Rößlers "Pathetischer Hut" Kammerspiele
Die letzte Instanz
Der Militarismus in Amerika
Bernard Shaw in der "Tribüne" "Blanco Posnets Erweckung"
Nationaltrott Ich träume ...
Demokratie im Wahlkampf
Nadel liest vor...
"Gelächter" und "Heiterkeit" Der Jux in der Politik
Vortragsabend Friedrich Erhard
"Körperausdruckskunst?"
Preußenwahlen und "nationaler Gedanke" Zum Plakatfeldzug der Reaktion
Der Dialog ohne Ende
Keßlers Mexiko-Buch "Notizen über Mexiko"
"Erotische Wiedergeburt"
Nach der Schlacht
Das Hecker-Lied
Volksbühne: "Kapitän Braßbounds Bekehrung"
Unsere neuen Arbeitsthesen: 4. Weltfrieden
Katholizismus in Deutschland
Die Sünde der Republik
"Sturm- und Drang-Bühne"
Ordnung muß sein!
Vorlesung Börries v. Münchhausen
Die Wiener Internationale
Freude an der Komödie Das Theater in der Vorstadt
Matinee Olga Wojan
Eine Totenfeier für Gerrit Engelke
Im Schubert-Saal
Die Blitzableiter von Notre Dame
Kunst und Presse
Europas Totengräber
"Das Sexualproblem der gebildeten Frau"
Neues Volkstheater "Der Mann Fjodor"
Tartüff kontra Tartüff
Vorlesung Th. W. Elbertzhagen
Vortragsabende
"Die höhere Welt"
Bei den Märzgefallenen
Rose-Theater: Halbes "Strom"
"Unangebracht!"
Neues Volkstheater: "Verbrüderung"
Durch die Wilhelmstraße ...
Verpatzte Ostern Die Feiertage in Berlin
Der Bürgerkrieger
Doktor Faust und sein Pudel
Nicht müde werden!
Politische Situation
"Die beiden Sedemunds" Staatliches Schauspielhaus
Hinter den Kulissen des Fernsprechers
Der Cato von Miesbach
Franz Werfel liest!
Eine neue Schlaftänzerin
Deutsches Theater Georg Büchner: "Woyzek"
Appelschnut als Racheengel
Arbeiterkunst Ausstellung im Osten
Am toten Punkt Die internationale Lage
Israels Streitmacht
Vorlesung Max Herrmann
Tanzabend Alice Réjane
Kammerspiele Stramm: "Kräfte"
Instruktion
Reale Reparationspolitik
"Lady Godiva"
Vorlesung Otto Gysae
Vortragsabend Ferdinand Gregori
Luther in Worms
Ein Luther-Festspiel
Rose-Theater: "Im Café Noblesse"
Vortragsabend Olga Wojan
Ausverkauf der Illusionen
Rezitationsabend Günther Herrmann
Vaterland, Hiller und Kognak Der Januskopf des Vaterlandes
Heroen der Tat
Neu-Delphi
Draußen und Drinnen Die ewige Krisis
Bayern-Gastspiel in Berlin Oberst von Xylander in den Kammersälen
Die Künstlerfamilie Seidel
Die Kirche Luthers
Rose-Theater: "Nur nicht drängeln!"
Kammerspiele: "Mesallianz"
Tribüne: Harry Walden als "Teufel"
Alfred H. Fried †
Die Lehre der Geschichte
Die Genesis der deutschen Reaktion
Ludendorffs Schatten
Schloßpark-Theater Steglitz Eröffnungsvorstellung: "Timon"
Oberschlesien und München Was geht vor?
Volksbühne: "Der Bauer als Millionär"
Ein russischer Gesellschaftsabend
Deutschland und Österreich Ein Kapitel über Organisation
Deutschland und die französische Krise
Zur Schuldfrage
Wie gehetzt wird! Eine neue Revancheschrift
Kleiner Literaturkalender
Die drei Franzosen
Theater Folies-Caprice
Rundschau
Kokain
Friedrich und kein Ende
Sozialismus und Geist Eine Schrift Bertrand Russells
Volksbühne "Die lange Jule"
"Ohne Krieg zur Unabhängigkeit" Eine Aussprache über den Anschluß
Der Fall Angora Zu den Pariser Verhandlungen
Ludwig Thoma Eine Leichenrede
"Die Dinte wider das Blut"
Schmock in Wieringen
Der Erste
Zu Dantes 600. Todestag
Caillaux' Rechenschaftsbuch
Der Schüdderump
Von neuen Büchern
Volksbühne: "Der Kaiserjäger"
"Offiziere"
Am Rande der Zeit Eine ernsthafte Betrachtung
Briand und Wirth
John Bulls andere Insel
Exl-Bühne: "Die Kreuzelschreiber"
"Irenaeus"
Exl-Bühne: "Der G'wissenswurm"
Vom Haag bis Washington
Frankreichs Ostpolitik Die geplanten Truppentransporte
Europas Leidensweg
Die Würde des evangelischen Geistlichen
Harding und wir
Rußlands Totentanz Der Anmarsch der Hungerarmee
Pharisäer
Residenztheater "Traumulus"
"Der große Habicht"
Der Schatten der Paulskirche
Die Verfassungsfeier in der Oper Die Rede des Reichskanzlers Dr. Wirth
Dokumente brüderlichen Geistes Stimmen des jungen Frankreich
Der rote Bismarck
Auch die "Zukunft" wird Vergangenheit!
Ludendorff und Klante "Wer bezahlt die Lorbeerkränze?"
Deutsches Theater
Die Sphinx
Zwischen den Schlachten
Ludwig Thoma
Die Zinne der Partei – Der gepfändete Kopf – Pour le roi de Prusse!
Bayern vor der Entscheidung
Komödienhaus "Jonnys Busenfreund"
Komödienhaus Der mißbrauchte Pallenberg
Was kostet der Mensch?
"Die Spielereien einer Kaiserin" Lessing-Theater
Ein sozialistisches Kabinett in Thüringen? Die politische Lage nach den Wahlen
Franken und die bayerische Krise Die Wahrheit über die Separationsbestrebungen
Aus der Pöhner-Praxis Die "Nationalsozialistische Arbeiterpartei"
Von Kahr zu Lerchenfeld Stimmungswechsel – Der neue Mann – Die Stellung der Bayerischen Volkspartei – Die Isolierung der Deutschnationalen – Reaktionäre Geheimbündelei – Die Bauerninvasion – Überbleibsel des Kahr-Regimes
Krise in den "Münchener Neuesten Nachrichten"?
Nürnberg und München Das Oktoberfest
Toller, Tod und Teufel Volksbühne
Neues Theater am Zoo "Die ersten Sporen"
Kammerspiele: "Der Hühnerhof"
Karls Herbstpleite Horthy, der Sieger
Das Buch als Geschenk Ein Begleitwort
O Lamm Gottes, unschuldig ... Der italienische Christus-Film
Zitas "Erfolge"
Sie können nicht mehr mit!
Der östliche Gast – Links vom Zentrumsturm
Washington
Lustspielhaus: "Peter Brauer"
Erwachen in Frankreich? Die Linke geht in Front – Die Sammlung der wahren Republikaner
"Offiziere", ein Beleidigungsprozeß Ignaz Wrobel freigesprochen
"Die Szene wird zum Tribunal ..." Momentbilder aus dem "Reigen"-Prozeß
Dostojewsky
Reigen-Schluß Zu einem politischen Prozeß
Theater in der Königgrätzerstraße Wedekinds "Hidalla"
Narrenparadies
Lustspielhaus "Hahnenkampf"
Die große Verstimmung Frankreich und Italien
Molnár "Der Schwan" Theater am Kurfürstendamm
Die Filmerei
Hofmannsthal: "Der Schwierige" Kammerspiele
Auburtin: "Das Suppenhuhn" Kammerspiele: Lessing-Museum
Gustave Flaubert
Deutsches Theater
Strindberg: "Ein Traumspiel" Deutsches Theater
Der friedliche Triumph Irland und anderes
Matinee in der "Tribüne" "Marcella" von Werner Schendell
Die französische Invasion
Ganze Arbeit, bitte!
Jacobsohns Reinhardt-Buch
Das "verdächtige Individuum"
Führer und Schieber Noch ein Nachwort zum Jagow-Prozeß
Das Paradies
"Block" und Klotz Briand und die Kammer
Der rote Frack
Schriften 1911 - 1921, Carl von Ossietzky
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849624880
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Deutscher Publizist, geboren am 3. Oktober 1889 in Hamburg, verstorben am 4. Mai 1938 in Berlin. Sohn eines Stenographen und einer Geschäftsfrau. Verlässt 1904 ohne jeden Abschluss die Schule, später arbeitet er als Hilfsschreiber beim Hamburger Amtsgericht. Bereits 1911 schreibt er für die Zeitschrift "Das freie Volk". 1913 heiratet er die Engländerin Maud Lichfield-Wood. Während des Ersten Weltkriegs kämpft er an der Westfront. Nach dieser Erfahrung setzt er sich mehr und mehr für die Erhaltung des Friedens ein und wird u.a. Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft. Von 1922 bis 1924 ist er Leitender Redakteur der "Volks-Zeitung", danach schreibt er bis 1926 für "Das Tage-Buch" und den "Montag-Morgen". Mit Tucholsky arbeitet er ab 1927 für die "Weltbühne", wo er sogar Chefredakteur wird. Seine kritischen Berichte bringen ihm mehr und mehr Ärger mit der Obrigkeit. 1931 berichtet er über eine angebliche geheime Rüstung der Reichswehr. Er wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, wir aber bereits Weihnachten 1932 amnestiert. Am 28. Februar 1933 wird O. in der Nacht des Reichstagsbrands von der Gestapo festgenommen und gefoltert. Im April wird er ins KZ Sonnenburg deportiert, später dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1936 wird er mit einer schweren Tuberkulose ins Staatskrankenhaus der Polizei in Berlin gebracht. Rückwirkend erhält er dort den Friedensnobelpreis 1935, den er zwar annehmen darf, die Teilnahme an der Verleihung wird ihm jedoch untersagt. Er stirbt schließlich an den Folgen der KZ-Misshandlungen und der Tuberkulose.
Die Redaktion erhielt folgendes Schreiben:
Hamburg, den 21. Februar 1911.
Am 16. Februar ist in Hamburg Herbert Eulenbergs Komödie "Alles um Liebe" lärmend abgelehnt worden. Seit Menschendenken hat man das Hamburger Publikum nicht derart in Rage gesehen. Der größte Teil der Kritik hat sich den Entrüstungskundgebungen angeschlossen. Und da die auswärtige Kritik in das gleiche Horn tutet, ist der Dichter augenblicklich das Objekt einer wahren Hetzjagd geworden. Ich bitte die geehrte Redaktion um Aufnahme meiner Besprechung, die einen wesentlich anderen Standpunkt einnimmt. Vielleicht regt mein "Eingesandt" auch den Herrn Feuilleton-Redakteur an, dieses Thema zu behandeln. Soweit ich ihn aus seinen Artikeln kenne, dürfte er diese Dinge wohl ähnlich betrachten. Außerdem bringt er noch ein ganz anderes ästhetisches Rüstzeug mit als meine Wenigkeit, die hier lediglich einen Temperamentsausbruch liefert.
Mit vorzüglicher Hochachtung C... von O...
Wir drucken den Temperamentsausbruch im folgenden gern ab:
Hamburg hat wieder einmal seinen Skandal gehabt. Nicht vor einem Chronometerladen am Schopenstehl – wie vor einigen Jahren – sondern in seiner vornehmsten Kunststätte. Diesmal waren es keine "Halbstarken", die sich gegenseitig die gestohlenen Taschenuhren an den Kopf warfen; nein, ein gut bürgerliches Publikum fühlte das Bedürfnis, Radau zu machen und den Darstellern, die mit bewundernswertem Eifer an der Arbeit waren, eine Musterkollektion schönster Lokalausdrücke an den Kopf zu werfen. Das Parkett johlte und pfiff. Die Ränge tobten vor Wut. Und die alte Behauptung, daß die Galerie die meiste Einsicht zeige, muß feierlichst auf das Gebiet der Legende oder Theaterhumoreske verwiesen werden.
Und was war geschehen?
Man hatte riskiert, das Werk eines echten Dichters aufzuführen. Ein Werk, das gewiß nicht ohne Mängel ist. Ein Werk, vor dessen Schwächen selbst man in einer Zeit, wo die Plumpheiten Bernsteins und Batailles über die Bretter poltern, wo sich unter der Schutzmarke "Schwank" die frechste Unkultur spreizt, wo Fulda auf tragischem Kothurne herumstolziert, allen Grund hat den Hut abzunehmen.
Eulenberg hat genug Mißerfolge gehabt und ist ohne Zweifel verbittert. Manches harte Wort der Menschenverachtung, manche Szene, die die menschliche Unzulänglichkeit in drastischer Weise dartut, befindet sich in seinem Werk. Alles dreht sich um Liebe. Jahrelang lebt man wie im Äther und schwärmt in schönen Worten über himmlische und irdische Liebe. Aber man vergißt auch nicht, den alten Majordomus Emanuel von Treuchtlingen reichlich und täglich mit Rippenstößen zu bedenken. Man kann überhaupt sehr rabiat werden, wenn es sich um irdische Dinge – besonders um pekuniäre – handelt. Das Hohe und Edle spart man sich für die Liebe auf – im bürgerlichen Leben braucht man nicht einmal anständig zu sein. Und dieser verspottete Misanthrop Emanuel, dieses Stachelschwein, dieser Giftpilz zieht ihnen allen die Larve der Schwärmerei vom Antlitz und legt diesen Zwiespalt zwischen Reden und Handeln unbarmherzig bloß. Er legt schonungslos den Finger in die Wunde, um sich nach gelungener Operation diskret zurückzuziehen.
Der Duft der Romantik umgibt das Werk. Jener Duft, der uns den "Sommernachtstraum" und "Wie es euch gefällt" so wert macht. Die Buntheit der Geschehnisse, die Fülle kurioser Einfälle erwecken Erinnerungen an den Meister der deutschen Romantik, an den genial-konfusen "Ponce de Leon" Clemens Brentanos.
Das Publikum stand dem Werk anfangs wortlos und später aufgebracht gegenüber. Man hatte keinen Sinn für die Schönheit der Sprache, für die Komik der Tragik einzelner Situationen. Man vermißte eine leicht faßbare Handlung. Der brutale Stoffhunger triumphierte über die zarten Gebilde einer Dichterphantasie.
So ist das Publikum und auch der größte Teil der Kritik dem Werk eines Dichters, der künstlerisch auf einer längst vergangenen Zeit zu fußen scheint, der so gar keine Beziehungen zur Gegenwart zu haben scheint und doch mit beiden Armen in die Zukunft weist, nicht gerecht geworden. Die Minorität wurde niedergebrüllt. Es nützte nichts, daß in der ersten Parkettreihe Richard Dehmel sich freiwillig zum Organisator des Erfolges proklamierte, indem er mit dem Rücken gegen die Bühne demonstrativ applaudierte. Man gab an diesem Abend nichts auf Autoritäten.
So brutal auch die Formen der Ablehnung waren, blieb doch das Ganze ein Possenspiel, in dem das Publikum der blamierte Teil war. Doch eine ernste Seite hat die Angelegenheit. Eulenberg hat auf der Bühne ja fast nur Niederlagen erlebt. Werden die Theaterleiter nicht künftig Mühe und Kosten scheuen, die eine Aufführung bringt? Denn mit einer Aufführung läßt sich nur noch rechnen! Soll es dahin kommen, daß dem Dichter die Bühnen gänzlich verschlossen werden, daß er allmählich bühnenfremd und zum unfruchtbaren Experimentator wird? Will das wunderbare deutsche Volk, das in der Schule die Generationen verachten lernt, die seine Klassiker hungern ließen, einen großen Dichter verderben lassen? –
Doch einen Erfolg hat Eulenberg gehabt.
In der "Wiener freien Volksbühne" wurde im vergangenen Herbst sein "Natürlicher Vater" begeistert aufgenommen.
Vom Arbeiterpublikum!!
Das zahlungsfähige Hamburger Bourgeoispublikum sollte sich aufrichtig schämen.
Das freie Volk. 25. Februar 1911
Der Reichstagsabgeordnete Marx, der bekannte rheinische Zentrumsführer, hat sich vor kurzer Zeit einigermaßen energisch gegen den konservativen Blockbruder ausgesprochen und diskret die Möglichkeit einer Annäherung an die Nationalliberalen angedeutet. Von verschiedenen Seiten ist darauf hingewiesen worden, daß es sich wohl nur um einen Schreckschuß handeln könne; denn hervorragende Mitglieder der nationalliberalen Partei selbst seien zu einem Urteil über deren Zukunft gekommen, daß man ihr kaum noch die Bündnisfähigkeit zuerkennen könne.
In den "Grenzboten" untersucht der Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Damme die Zukunft der nationalliberalen Partei. Er, der zu den wenigen gehört, die den Charakter in der Partei verkörpern, kommt zu dem melancholischen Schlusse, daß sie infolge der Sonderbündelei der "Alten" wohl nicht mehr lange zusammenhalten werde. Er sieht die Ursache der Krisis in der Verschiedenheit der Stellung zur Sozialdemokratie und im Gegensatz zwischen Nord und Süd – Friedberg und Rebmann.
Gewiß liegt manches Zutreffende in diesen Ausführungen; aber sie erschöpfen die Situation nicht. Die Partei stirbt nicht an den erwähnten Gegensätzen. Die Konflikte bestehen schon lange, und trotzdem ist es bisher einigermaßen gegangen. Nein, die nationalliberale Partei geht an ihrer absoluten Inhaltlosigkeit, an ihrem vollkommenen Mangel an geistigem Gehalt zu Grunde. Die verschiedenartigsten Elemente haben sich bei ihr zusammengefunden. Einer steht dem anderen im Wege, und keiner hat deshalb Lust zur Tat.
Die Partei hat kein Programm. Darum sucht sie krampfhaft nach Parolen. Sie ist die Partei für Bildung und Besitz und wendet sich deshalb ausschließlich an das wohlhabende Bürgertum. Die Leutchen mögen ja Geld springen lassen; aber sie sind die letzten, die schöpferisch oder parteibildend wirken können. Im Grunde sind es ganz unpolitische Menschen, für die Ruhe die erste und letzte Bürgerpflicht ist, und die gegen alles, was nach Radikalismus auch nur riecht, eine instinktive Abneigung besitzen. Sie können naturgemäß weder Programm noch Grundsätze, nicht einmal eine Taktik haben. Die schlimmste Zeit für die Partei ist die Wahlzeit. Da müssen die Unglückswürmer von Kandidaten vor die Öffentlichkeit treten und erzählen, was sie alles zu bieten haben. Und sie haben nichts. Sie vertreten nur das nackte Geldsackinteresse, und dieses einzige Prinzip der prinzipienlosen Partei wird hinter einem Wall von Phrasen verschanzt – nur Phrasen!
Die nationalliberale Partei ist die klassische Partei der "nationalen" Phrase. Kulturkampftiraden ziehen nicht mehr. Aber die nationale Phrase wirkt immer noch in unseren Zeiten der häufigen äußeren Konflikte. Die nationalliberale Partei ist die patriotische Partei par excellence. Sie hat das "nationale Bewußtsein" in Erbpacht. Ihre Redner arbeiten mit den tollsten Kriegshetzereien. Dabei entspringen die alldeutschen Rodomontaden durchaus nicht einem überstarken Kraftbewußtsein, einem übertriebenen Nationalgefühl. Es sind nur traurige Verlegenheitsprodukte, bestimmt, die innere Leere zu maskieren. Man soll die Sache einer Partei verfechten, und man weiß nicht, was die Sache der Partei, wozu die Partei überhaupt da ist.
Seit den Tagen der Reichsfinanzreform war eine gemäßigte Opposition der harmlose Sport der Partei. Das hat sie aus den Nöten des Wahlkampfes mit einigermaßen heiler Haut gerettet. Und so hätte sie noch lange weiter vegetieren können, wenn die rabiate Scharfmachergruppe nicht gewesen wäre. Diesen Herrschaften paßt das lauwarme Verhalten der Partei nicht mehr. Sie fühlen sich in der Macht und pfeifen auf die Phrasen. Das darf aber der diplomatische Bassermann-Flügel nicht zugeben. Eine solche Demaskierung bedeutete das Ende. Die nackte Brutalität der Scharfmacher darf nicht vor allem Volk zum Parteiprinzip erhoben werden.
So rächen sich die alten Sünden an der Partei der Vertuschung.
Was wird aus ihr werden? Wird der eine Teil nach rechts, der andere Teil nach links fallen? Das naheliegende wäre allerdings die echt nationalliberale Lösung, daß unter der alten Schutzmarke weiter gewurstelt wird. Wahrscheinlicher ist aber doch eine Trennung. Und in dem Falle dürfte es zu einer Fusion des linken Flügels mit der Fortschrittlichen Volkspartei kommen. Das wäre nicht einmal unerfreulich. Wir bekämen zwar eine Bourgeoispartei in Reinkultur; aber es würde doch – und das ist die Hauptsache – eine verhältnismäßig starke bürgerliche Partei werden, die auch von der Regierung nicht ohne weiteres ignoriert werden dürfte. Diese Partei müßte den Kampf um die Macht aufnehmen. Dazu würden sie schon die nach rechts abgegangenen Elemente zwingen. Und vielleicht könnte sie uns dem parlamentarischen Regime eine Etappe näherbringen.
Aber das ist Zukunftsmusik. Für die Gegenwart steht nur fest, daß die nationalliberale Partei ausgespielt hat, ob sie dem Namen nach bestehen bleibt oder nicht. Niemand wird sie mehr ernst nehmen, niemand sie für bündnisfähig halten, niemand – außer den Koryphäen der Fortschrittlichen Volkspartei.
Das freie Volk, 31. August 1912
Graf Paul von Hoensbroech, der bekannte Kulturpolitiker, hat eine Broschüre erscheinen lassen, in der er sich – in Form eines offenen Briefes an den Vorstand des vierten hannoverschen Reichstagswahlkreises – mit der liberalen Politik auseinandersetzt. Wie Graf Hoensbroech liberaler Reichstagskandidat werden konnte, ist eines der vielen Rätsel, die die Fortschrittliche Volkspartei aufgibt. Er erscheint als ein mäßig konservativer Mann, der kein ausgeprägter Parteipolitiker ist, sondern seine Sonderziele hat; er ist beim Liberalismus gelandet, weil er für sie hier die tatkräftigste Unterstützung zu finden hoffte. Solche Männer, die in keine Parteischablone passen, haben oft einen scharfen Blick für das Wesen der Parteien. Da Graf Hoensbroech nicht "staatsmännisch" angekränkelt ist, sondern den Willen zur Tat hat, konnten ihm die Schwächen seiner Partei nicht verborgen bleiben; und er fühlte das Bedürfnis, sich mit ihr auseinanderzusetzen. So schrieb er in allerbester Absicht ein Büchlein, wie es kompromittierender für den Fortschritt noch kein Mensch geschrieben hat. – Ich sehe von einer Inhaltsangabe ab und lasse den Autor selbst reden:
Seite 25.
"Unsere Politik ist vielfach eine Politik der Wünsche und Velleitäten, der Reden und Phrasen; aber nicht eine Politik des harten Wollens und des konsequenten Tuns. Das Schreien nach Macht ist im Übermaße bei uns vorhanden; der Wille zur Macht fehlt. Wir haben viele geistreiche Köpfe, aber wenig harte Köpfe."
Über die Wahlrechtsfrage heißt es (Seite 27):
"Wir reden und schreiben darüber, aber wir handeln nicht. In Bremen und Lübeck, wo unsere Partei herrscht, verweigert sie das gleiche und allgemeine Wahlrecht, und in der wichtigen Frage der Drittelung beim preußischen Dreiklassenwahlrecht treten wir mit den Nationalliberalen für Gemeindedrittelung ein! Und wie schwächlich ist unsere Haltung dem schlechten Kommunalwahlrecht gegenüber! Was tut der in Berlin allgewaltige Freisinn dafür?! Aus unserm heißen Wahlkampfe wissen Sie, wie diese unsere ›Wahlrechtssünden‹ mir immer und immer in Versammlungen vorgehalten wurden, und wie ich nichts anderes tun konnte, als ihr Vorhandensein mit Bedauern einzugestehen."
Seite 28.
"Noch lange werden uns Flensburg und Niederbarnim vorgehalten werden, wo der Mandatshunger uns Brüderschaft schließen ließ mit den ärgsten Reaktionären."
Und weiter:
"Ganz halb und ganz versagend ist unser Verhalten in den großen Kulturfragen."
Seite 33.
"Welche ›Großtaten‹ vollführen wir nicht täglich und wie viele ›große‹ Männer gehören nicht zu uns? Und die Wirklichkeit? Von den ›Großtaten‹ habe ich schon gesprochen; von den großen Männern will ich schweigen, um nicht persönlich zu werden."
Was der Verfasser über den Bülow-Block, über die Stichwahltaktik schreibt, werden sich die Herren in der Zimmerstraße nicht hinter den Spiegel stecken. Er spricht es offen aus, daß der Fortschritt die eine Hälfte seiner Mandate von links, die andere von rechts erschachert. Graf Hoensbroech, durch das oberflächliche und phrasenhafte Gebahren seiner Partei verstimmt, wollte eine freimütige Kritik an ihr üben. Daß aus seiner Arbeit mehr geworden ist, nämlich ein Steckbrief der Fortschrittlichen Volkspartei, hat ganz gewiß nicht in seiner Absicht gelegen. An der Fortschrittlichen Volkspartei reformieren wollen, ist ein Versuch am untauglichen Objekt. "Wenn ein Affe in den Spiegel sieht, kann kein Apostel herausschauen" – so ähnlich sagt Lichtenberg irgendwo.
Wir Demokraten wollen uns dieses Sündenbrevier merken und es der Maleficantin vor Augen halten, wenn sie wieder einmal die Tugendstolze spielt.
Der Linksliberalismus. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 50 Pf. Das freie Volk, 30. November 1912
Die Gewerbeinspektion ist bei den Unternehmern nicht beliebt. Sie wagen es zwar nicht, gegen das Gesetz offen Front zu machen; sie suchen vielmehr in altbewährter Manier seine Diener zu diskreditieren. Den in den letzten Jahren bekanntgewordenen Fällen gesellt sich ein neuer zu. Die " Deutsche volkswirtschaftliche Korrespondenz" und die "Arbeitgeberzeitung" kämpfen mit allen Waffen der Schäbigkeit und der Verleumdung gegen den württembergischen Gewerbeinspektor Baurat Hardegg. Ein neuerer Artikel enthält folgende Sätze:
"Die Qualifikation dieses Herrn zum roten Gewerkschaftssekretär dringt immer wieder durch, so daß es nicht verwunderlich wäre, wenn er bei einer Vakanz eines schönen Tages als Bewerber auftreten würde, zumal das Gerücht geht, die Jacke als königlicher Gewerbeinspektor wäre ihm schon lange zu eng und sehne sich nach der Bluse und der Ballonmütze eines Volksbeglückers und Zukunftstaatsredners."
Was hat der Mann getan, der hier so feierlich zum Jakobiner erklärt wird?
Baurat Hardegg hat in einem Vortrage, den er in Stuttgart über Arbeiterschutz und Arbeiterrecht hielt, ketzerische Gedanken geäußert. Er hat nämlich erwähnt, wie einseitig die Justiz bei Verrufserklärungen vorgeht. Daß wegen dieses Deliktes zwar der Arbeitnehmer empfindlich bestraft wird, aber nie der Arbeitgeber.
Jeder gerecht denkende Mensch wird es begrüßen, daß hier ein erfahrener Mann frei und offen auf einen sozialen Krebsschaden, eine Quelle fortwährender Verbitterung hingewiesen hat. Für die Arbeitgeberpresse genügte aber diese Feststellung einer unangenehmen Wahrheit, um Baurat Hardegg in der widerlichsten Weise zu verunglimpfen. Das beliebte Verfahren wird angewandt: er wird zum "verkappten Sozi" gemacht! Sollten die Skribenten der Industriellen wirklich so wenig intelligent sein, selbst an die Wahrheit dieser Verdächtigung zu glauben? Aber in den Kreisen, für die sie schreiben, wirkt sie noch. Es ist ja die klassisch gewordene Formel der Verrufserklärung: Er ist Sozialdemokrat!! Das Arcanum ist gefunden. Jetzt ist jedes Mittel gegen den Kerl recht! Allerdings fassen die Scharfmacher den Begriff "Sozialdemokrat" weiter als andere Menschen. Wer nicht in allen Dingen das nackte Geldsackinteresse wahrnimmt, wird zum Sozialdemokraten oder doch zum stillen Gönner der verhaßten Partei gestempelt. Wie ein echter Antisemit jeden, der nicht an Ritualmorde glaubt, zum "Judengenossen" macht!
Es steckt also Methode in der unsinnigen Idee, einem höheren Regierungsbeamten aus so fadenscheinigen Gründen die Ballonmütze aufzustülpen. Und das ist das Gefährliche. Gegen das Gesetz geht man nicht an. Aber den Beamten will man eine präzise Anwendung verekeln. Das Gesetz soll nicht mehr sein als weiße Salbe. Und der Beamte hat sich demgemäß zu verhalten. Er hat des guten Scheins halber eine gewisse Unparteilichkeit zu wahren und sich im übrigen ganz als freiwilliger Sachwalter der Scharfmacherinteressen zu fühlen. Sobald er sein Amt ernst nimmt, ist der Krieg erklärt. Wer kann den Herren diesen Gedankengang verübeln? Wir haben in unsern Gesetzen und Verfassungen genug schöne Worte vom Schutze der Schwachen; wer hat ihre wohltätige Wirkung schon gefühlt? Gewiß hat Baurat Hardegg sein Amt nicht als Sinekure aufgefaßt; er mußte also mit den scharfmacherischen Machtgelüsten kollidieren. Hoffentlich werden bei seiner Regierung die Verleumdungen ungehört verhallen. Es wäre aufs Tiefste zu bedauern, wenn die Regierung vor den Großunternehmern einen Kotau machte und dem gewissenhaften Beamten einen Wink gäbe, sein Amt etwas laxer zu führen. Zweifelsohne befinden sich die Gewerbeinspektoren in einer prekären Lage. Man muß befürchten, daß manche von ihnen sich von so skrupellosen Attacken einschüchtern lassen, um wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schädigungen zu entgehen.
Es ist nötig, die Öffentlichkeit auf dieses Treiben aufmerksam zu machen. Die bürgerliche Presse ist nur zu sehr geneigt, Übergriffe der Industriedemagogie zu übersehen. Die Arbeitnehmer sind wahrhaftig nicht mit übermäßigem gesetzlichem Schutz bedacht; sie sollten recht sehr auf der Hut sein, daß man ihnen nicht noch das Wenige, was sie haben, illusorisch macht!
Das freie Volk. 18. Januar 1913
Das letzte Jahr hat lebhafte Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen Richtungen der evangelischen Kirche gebracht. Auch die Außenstehenden nahmen an diesen Streitigkeiten regen Anteil. Nicht der dogmatischen Momente wegen. Aber die staatsrechtliche Seite dieser Konflikte mußte interessieren, und die ehrlich demokratischen, freidenkerischen Elemente Deutschlands erhoben lauter und entschiedener als je ihren Ruf, endlich das Grundübel zu beseitigen, die Kirche vom Staate zu trennen. Daß diese Bewegung so gefährliche Formen für die Orthodoxie angenommen hat, ist in erster Linie der Ungeschicklichkeit der kirchlichen Behörden zuzuschreiben. Bis dahin lebten die Orthodoxen und die Liberalen zwar nicht einträchtig, aber doch höchstens in einem harmlosen Kleinkrieg nebeneinander. In der Öffentlichkeit waren sie manchmal nur schwer zu unterscheiden. Die Positiven hatten ihre Kirchenblättchen und Traktätchen, die Liberalen ihre "Christliche Welt". Dem Oberkirchenrate blieb es vorbehalten, die Fackel des Parteihaders in das protestantische Lager zu werfen. Die Fälle Jatho und Traub ließen keinen Zweifel darüber, daß sich in der evangelischen Kirche eine Art Katholizismus breit macht, auf den aus dem freidenkerischen Lager (von Horneffer und anderen) schon lange hingewiesen worden war. Das Streben, die Gesinnungen zu uniformieren, ist das alte Kennzeichen pfäffischer Herrschsucht. Wie der Oberkirchenrat vorgegangen ist, das ist sattsam bekannt. Namentlich Traubs Aburteilung trägt für alle Zeiten das Stigma schlimmster Tendenzjustiz. Traub ist aber nicht mundtot gemacht. Er hat mit der Broschüre "Staatschristentum oder Volkskirche", mit der Gründung des "Neuen Protestantenvereins" bewiesen, daß er den Dienern am Wort noch recht lange und viel Unbehagen bereiten wird. Er verwirft die Staatskirche und fordert freie Gemeinden. Der Drang nach Freiheit war der Ursprung des Protestantismus. Seine Grundlagen sind eben Freiheit der Gesinnung, Freiheit der Lehre, Religion als Herzenssache. Jede Gesinnungspolizei ist abzulehnen.
Ähnliche Gedanken kommen seit den Tagen Kalthoffs aus dem "Monistenneste" Bremen. Hier hat man zuerst in die Praxis umgesetzt, was bis dahin graue Theorie war. Hier hat Felden mit seinen glänzenden Ibsenpredigten die Enge althergebrachter Kultformen durchbrochen. Schließlich geschah nur, was in anderen protestantischen Ländern längst Brauch ist. Ich habe einmal von einem kleinen holländischen Dorfpfarrer reden hören, der seiner Predigt ein Thema von – Oscar Wilde zu gründe legte. Und zwar jenes tief sozial empfundene Märchen vom "Glücklichen Prinzen". Es hat sich gewiß stärker in das Gemüt der Hörer eingegraben als die fremde Weisheit toter Zeiten.
Der religiöse Radikalismus der Traub, Felden, Steudel und anderer hat aber in der Kirche selbst wenig Nachfolge gefunden. Allerdings bekämpfen die Liberalen den Dogmatismus; aber in der Kardinalfrage: der Trennung der Kirche vom Staat ist ihre Haltung schwankend oder gar ablehnend. "Kämpfen wir in der Kirche für die Freiheit der Kirche!", so lautet ihre typische Ausflucht. Viele, die vom Liberalismus eine Reformation erwartet hatten, wandten nun enttäuscht und verärgert der Kirche ganz den Rücken. Hinzu kommt, daß das theoretische Rüstzeug der liberalen Theologen durch die sogenannte "mythologische Bewegung" ganz bedenklich gelitten hat. Die liberale Theorie, die sich durchweg auf der von Harnack vorgezeichneten Linie bewegte, hat ja die meisten Dogmen und auch die Gottheit Christi so ziemlich preisgegeben. Der Mensch Jesus war der Mittelpunkt ihres Systems. Er war kein Gott, aber eine wunderbar ausgeglichene Persönlichkeit, ein Vollmensch. Mit diesem Jesus steht und fällt das liberale System. Denn was bleibt vom Christentum noch übrig, wenn die historische Grundlage der Jesusgestalt als unzureichend gekennzeichnet würde? Die Zweifel haben sich eingestellt. Viel kritisches Material ist gesammelt. Die Anklage ist formuliert. Die historische Echtheit der biblischen Jesusgestalt, wie sie die Liberalen so gutgläubig übernommen haben, ist mit Fug und Recht angefochten worden. Drews mit seinem epochemachenden Buche von der Christusmythe war der erste in Deutschland, der unsanft an der einzigen Säule des kirchlichen Liberalismus rüttelte. Der Engländer Robertson war ihm schon vorangegangen. Beide stellen die Geschichtlichkeit Jesu überhaupt in Abrede und leiten die Entstehung des Juden-Christentums aus alten messianischen Kulten her. Vieles ist an dieser jungen Wissenschaft natürlich noch hypothetisch. Ihre Bedeutung liegt eben darin, daß die mythologische Kritik, der die liberalen Theologen das alte Testament bedingungslos ausgeliefert hatten, nunmehr auch vor den Evangelien nicht mehr Halt macht. "Der Kampf gegen die Kirche ist zu allen Zeiten der Geistesgeschichte ein Anzeichen tieferen religiösen Lebens gewesen." ( Wilhelm Bölsche.)
In der Tat bildet sich eine neue unkirchliche, unchristliche Religiosität. Sie hat kein Dogma und ist in keine Formel zu bringen. Gemeinsam haben ihre Anhänger nur einen starken Diesseitsglauben und sozial-ethische Ideale. Was während der letzten zehn Jahre auf dem Gebiete der ethischen Kultur getan wurde, das wurde, wenn nicht von der Sozialdemokratie, von den Freireligiösen, den Monistenbündlern oder wie sie sich sonst nennen mögen, getan. Der Staat hat überall nur den Störenfried gespielt. Kulturelle Dinge tangieren ihn nicht. Dafür hat er seine schwarze Gendarmerie.
Die Verquickung staatlicher und kirchlicher Angelegenheiten ist ein Krebsschaden unseres Kulturlebens. Sie lastet wie ein Bleigewicht auf unserem Schulwesen. Die Trennung der Kirche vom Staat wird kommen. Jeder Einzelne hat das Mittel dazu in der Hand. Austritt aus der Landeskirche ist die wuchtige Waffe, deren Bedeutung erst in unseren Tagen wirklich erkannt worden ist. Der organisierte Kirchenaustritt kann aber auch im politischen Kampfe Verwendung finden. In Nr. 19 des Frankfurter " Freien Worts" ist darauf hingewiesen worden, daß man durch Massenaustritt aus der Landeskirche von der preußischen Regierung eventuell eine neue Wahlrechtsvorlage erzwingen könne. Das ist ein Vorschlag, der in unseren demokratischen Kreisen ganz besondere Beachtung zu finden verdiente.
Die Lage der evangelischen Orthodoxie ist prekär. Auch an die Pforte des Klerikalismus, den das Zentrum bei uns vertritt, ist in letzter Zeit recht unsanft gepocht worden. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, gehen wir einer großen Auseinandersetzung entgegen. Als zwei große Heere werden sich die Diesseits- und die Jenseitsgläubigen gegenüberstehen. Es wird ein schwerer Kampf werden. Riten, Mythen und Dogmen werden dabei in Scherben gehen. "Religion ist Privatsache", so heißt es, wenn es jemand wagt, im politischen Kampfe den "alten Glauben" anzutasten. Dann schwärmen auf einmal die berufsmäßigen Terroristen für Toleranz. Einen Kulturkampf mit allen Mitteln königlich-preußischer Polizeischäbigkeit wird gewiß kein Demokrat wünschen. Aber das Zentrum ist nur auf kulturellem, nicht auf politischem Gebiete mit Erfolg zu bekämpfen. Es lebt ja nur durch die Verfilzung von Religion und Politik. Ihm dient im politischen Kampfe der "Glaube" als schützender Schild. Die evangelische Orthodoxie macht es kaum besser. Wer aber einen Schild mit ins Gefecht nimmt, der darf nicht klagen, wenn er ramponiert wird.
Die freie, weltliche Schule muß die erste Etappe in dem großen Emanzipationskampfe sein. Die Rückschrittler aller Färbungen wissen genau, warum sie hier jeden Fußbreit nur nach einem verzweifelten Kampfe hergeben. Wenn die Seele der Jugend nicht mehr reaktionär infiziert wird, wenn keine Knechte mehr erzogen werden, dann ist ihr Schicksal besiegelt.
Es wird Zeit, daß Michel sich den Schlaf aus den Augen reibt. Es ist das Geheimnis des Erfolges der Mächte der Vergangenheit, daß sie rücksichtslos alle Chancen ausnützen und nicht so schlafmützig sind, wie sie gern erscheinen wollen.
In den Zeitungen läutet man, wie alljährlich, die Osterglocken und verkündet das Evangelium einer großen Harmonie. Wir wissen, was wir von diesen feierlichen Anwandlungen zu halten haben. Wachrütteln ist unsere Aufgabe und nicht beschwichtigen. Unser Ostergruß heißt das deutsche Volk, aus seinem Winterschlaf erwachen und mit freiem, weitem Blicke endlich die Leitung seines Geschicks selbst in die Hand nehmen. Versteht es unser Volk, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, so darf es die schönste Sonnenwende feiern. Vor ihm liegt ein fröhlicher Lenz!
Das freie Volk, 22. März 1913
Wer bisher noch an ein moralisches Prestige der Großmächte glaubte, ist durch den Verlauf des Balkankrieges gewiß für immer von seiner Illusion befreit worden. Wahrhaftig, die Mächte haben allen Kredit verloren! Wo blieb ihr vielgerühmtes intellektuelles Übergewicht? In Zukunft wird man nicht einmal mehr der Republik San Marino imponieren können. Welch eine Kette von Überraschungen, Verlegenheiten, Ungeschicklichkeiten ist nicht seit einem halben Jahre an dem staunenden Europa vorübergeschleift worden! Es drängt sich wirklich die Frage auf, ob die "großen" Diplomaten eigentlich Scheuklappen tragen. Können sie nicht natürliche Entwicklungen voraussehen? Die Armen! Immer, wenn sie ihre Aufgabe theoretisch gelöst haben, kommt eine "neue Wendung", und händeringend stehen sie vor einer "neugeschaffenen Situation". Man glaube nicht, daß nur auf dem Balkan Blut geflossen ist. Blut ist auch in den auswärtigen Ämtern der "Mächte" geschwitzt worden. Aber die offizielle und offiziöse Sprache ist die gleiche geblieben. Der gleiche höfliche Notenwechsel; die gleiche Kasuistik in den Pressekundgebungen! Nur, wenn die feinen, dialektisch geschulten Köpfe gar nicht mehr weiter wußten, dann wurden sie wie gewöhnliche Sterbliche auch. Nämlich grob. Und das maßlos. Wo blieb die kultivierte Überlegenheit der Herren? Sie pochten ganz einfach auf ihre militärische Machtstellung. Sie drohten Gewalt an. Nicht besser als ein rüder Patron am Schenktisch. Rußland hat der Türkei gedroht – und sich blamiert! Österreich hat mit Mühe und Not einen "moralischen" Sieg über Montenegro errungen.
Die Kleinen müssen geduckt werden. Das scheint in der Tat die Quintessenz modern europäischer Diplomatenweisheit zu sein. Wer schwach war, mußte es bitter fühlen. Am meisten die armen Türken. Aber auch die Balkanverbündeten, wenn ihr Vorrücken für einige Zeit stockte und Gerüchte über eine verminderte Aktionsfähigkeit ihrer Truppen auftauchten. Sogleich trat das System der Bevormundung in Kraft. In den Kabinetten lagen fix und fertig Vorschläge (lies: Bedingungen), die den Verbündeten aufgezwungen werden sollten.
So sehr wir den schlechten Brauch verdammen, der die Großmächte bestimmend in die wichtigsten Angelegenheiten der kleinen Völker eingreifen läßt, so können wir uns doch einer rein menschlichen Schadenfreude nicht erwehren, wenn wir die Entwicklung der Dinge vor Skutari betrachten. Zweifellos hat Österreich den Fürsten von Montenegro zur Ohnmacht verurteilt. Es liegt viel Tragikomik in dem Schicksale dieses Mannes. Eigentlich hat er nicht mehr getan, als seine anderen Berufsgenossen auf dem Balkan auch. Warum sollte er sich nicht gleichfalls an der großen türkischen Amputation beteiligen? Wo alles stahl, konnte Nikita allein doch nicht zurückbleiben. Aber er ist schwach. Er hat nicht die durchschlagenden Argumente Kruppscher Kanonen. Seine kleine Kriegsmacht verrottet vor dem Felsennest Skutari langsam am Typhus. Vergebens träumen seine Hammel, die an den gestrüppreichen Abhängen der schwarzen Berge grasen, von den fetten Weidegründen Albaniens. Montenegro wird jämmerlich abgespeist werden. Nichts bekommt es als einen häufig von Überschwemmungen heimgesuchten Landstrich. Mag Nikita noch so laut seine Stimme erheben, er wird sich zufrieden geben müssen trotz seiner vornehmen Verwandtschaft. Seinetwegen wird niemand einen Finger rühren. Er gehört nur zu den Objekten der hohen Politik, zu den Machtlosen. Gerade wie die Türkei, deren Schwäche er schonungslos mißbrauchen wollte. Vergeltung! Er wird gestraft, wie er sündigte. Seine Montenegriner, die den Krieg geräuschvoll eröffnet haben, werden, wenn alle anderen mit ihrer Beute zu Hause sind, stillschweigend heimziehen müssen. Die ersten werden die letzten sein.
Inzwischen haben die Bulgaren Adrianopel mit stürmender Hand genommen. Bald werden sie vielleicht auch die Tschataldschalinie überrennen. Sie haben der Passivität entsagt, um zu beweisen, daß sie weder klein noch schwach sind. Wieder stecken die Diplomaten verlegen die klugen Köpfe zusammen. Unzählige Federn kratzen. Täglich wird neues Schreibmaterial requiriert; denn die Angelegenheit ist "unversehens in eine neue Phase getreten".
Das freie Volk, 5. April 1913
Wie ein roter Faden zog sich durch die Rede des Reichskanzlers zur Militärvorlage der Gedanke, daß das Erstarken des slavischen Machtbewußtseins uns noch einmal in einen schlimmen Konflikt mit dem europäischen Osten bringen könne. Was der Reichskanzler mit philosophischer Diskretion da angedeutet hat, das hat man viel bestimmter in der alldeutschen Presse lesen können, nämlich, daß mit Rußland als Vormacht eine slavische Völkerverbrüderung im Entstehen begriffen sei, die zu einem großen Schlage gegen das Germanentum aushole. Kriegerische Töne unserer Regierung und unserer herrschenden Parteien gegen Rußland, das ist wirklich überraschend. Wie lange ist es her, da mußten wir uns mit Recht beklagen, daß man es in Deutschland an Rückgratfestigkeit gegenüber russischen Anmaßungen fehlen lasse. Der Königsberger Hochverratsprozeß, verschiedene Reden des Fürsten Bülow zur Zeit der russischen Revolution, die Polizeiwillkür gegen politische Flüchtlinge sind noch nicht vergessen. Allzu bereitwillig wurde dem Kosakentum die Erbfreundschaft bezeugt und anstatt einer Gegenleistung so manche schlimme Rücksichtslosigkeit eingesteckt.
Je intimer aber Rußlands Allianz mit Frankreich wurde, desto mehr ist die Begeisterung für den östlichen Nachbarn verflogen. Unsere phantasievollen Alldeutschen sehen im Geiste schon Mitteleuropa von neuen Hunnenherden überschwemmt, von wilden Reitern mit strähnigen Haaren und geschlitzten Baschkirenaugen. Der Panslavismus hat es nämlich darauf abgesehen, die Kultur Alteuropas mit Stumpf und Stiel auszurotten. Was ist denn dieser Panslavismus nun? Da er dazu herhalten muß, eine neue Militärvorlage begründen zu helfen, werden ihm skeptische Gemüter schon ohnehin keine allzu große Bedeutung beimessen. Gewiß wird er in bewegten Perioden einen Einfluß ausüben können; aber organisatorisch kann er noch auf lange Jahre hinaus nicht wirken. Vielleicht niemals. Ein Abgrund klafft zwischen Russen und Polen, zwischen Polen und Ruthenen und zwischen so vielen anderen slavischen Völkerstämmen. Die kleinen Balkanstaaten, deren Blüte im Sande Thraciens verscharrt ist, kommen um so weniger für eine Machtpolitik in Frage, als ihre Einigkeit kaum lange anhalten dürfte. Aber der Panslavismus will weniger eine politische als vielmehr eine intellektuelle Sammlung herbeiführen. Er will die vielen geistigen Kräfte, die im Slaventum noch brach liegen, nutzbar machen und der älteren Kultur Westeuropas eine eigene slavische an die Seite stellen. Wir kennen den Bildungshunger russischer Studenten, denen Mütterchen Rußland die Bildungsmöglichkeiten einschränkt. So kommen sie nach Berlin, Genf oder Paris, um in freieren Ländern das Wissen der Zeit zu sammeln und es nachher in der Heimat als gangbare Münze unter ihre Volksgenossen zu bringen. Das ist nur zu begrüßen. Je mehr eine bodenständige geistige Kultur ein Volk durchdringt, um so mehr müssen die nationalistischen Strömungen abflauen, die ihre Wurzeln nur in grober Unbildung und intellektueller Minderwertigkeit haben. Gewiß hat die slavische Agitation häufig lärmende chauvinistische Formen angenommen. Wir zweifeln auch nicht, daß sich ein resoluter Junker, wie Purischkiewitsch, die endliche Lösung des Problems weniger geistig denkt und nichts lieber sähe, als daß sich auch Westeuropa vor der Knute beugte. Aber wovon träumen nicht unsere Alldeutschen? – –
Man versuche doch nicht, uns das Erwachen des Slaventums als drohendes Gespenst an die Wand zu malen. (Die Befürworter unserer Polenpolitik haben allerdings Grund, eine Abrechnung zu fürchten.) Die Rassenfrage wird nicht in dem Maße akut werden, wie man es darzustellen beliebt. Auch bei einer Zusammenfassung der slavischen Volkskräfte wird die Entwicklung, wie überall, zunächst einmal eine kapitalistische sein. Nun ist der Kapitalismus durchaus nicht friedliebend. Aber er führt Kriege um Zölle oder Absatzgebiete und nicht um Ideen. Ihn kümmern nicht Rasse, Nation, Religion. Längst hat er die alten Grenzpfähle ausgerissen. Er wertet die Menschen nur nach ihrer Arbeitskraft. Wohin aber der Kapitalismus seinen Fuß setzt, dahin folgt ihm wie sein Schatten die Arbeiterbewegung mit ihren sozialistischen und demokratischen Tendenzen, die wir heute als sicherste Gewähr für den Frieden ansehen müssen. Auch bei den arbeitenden Klassen der slavischen Völker wird das Verlangen nach höherer Lebensform erwachen. Die Balkanregierungen werden schon nach kurzer Zeit aus ihrem Siegesrausch geschüttelt werden und Problemen gegenüber stehen, von denen sie bisher noch kaum eine Ahnung hatten.
Einen nimmermüden Feind hat die Kultur Westeuropas allerdings. Das ist der Zarismus, der fremd und seltsam in unsere moderne Zeit hineinragt wie eine Verkörperung östlicher Barbarei, wie ein posthumer Sprößling Dschingis Khans.
Noch steckt das Slaventum kulturell in den Kinderschuhen, so daß von einer Bedrohung deutscher Kultur nicht die Rede sein kann. Und wenn wir die Kraft finden, unser politisches Leben freiheitlich, demokratisch auszugestalten, so werden wir einen neuen gewaltigen Vorsprung erringen. Dann wird noch lange Zeit an Tagen der Gefahr nicht nur auf kriegerischen Schauplätzen die ehrenvolle Parole ausgegeben werden: Die Deutschen an die Front!
Das freie Volk, 19. April 1913
Nur noch wenige Tage und Carl Hagemann verläßt nach knapp dreijähriger Wirksamkeit seinen Posten als Leiter des Deutschen Schauspielhauses. Seine letzte Regieleistung wird, wie die Blätter zu berichten wissen, Eulenbergs "Alles um Geld" sein. Eine letzte Herausforderung des Publikums, dessen Gunst er mit dem Bruderstück "Alles um Liebe" gründlich verscherzt hat. Ein feiner Florettstich auch gegen die Macht, die ihm seine künstlerische Tätigkeit am meisten verleidet hat. Der große Krach bei der Premiere von "Alles um Liebe" war wider Erwarten vereinzelt geblieben. Es kam schlimmer. Passive Resistenz wurde geübt. Auch Konzessionen zogen nicht. Die Aktionäre grollten der leeren Häuser wegen. Die Histrionen sagten den Gehorsam auf. Viel Kabale, wenig Liebe. Und Hagemann ging.
Hier ist nicht der Ort zu entscheiden, ob Dr. Hagemann für seinen Plan, das hamburger Publikum für ein Kulturtheater zu erziehen, den richtigen oder unrichtigen Weg gefunden hat. Vielleicht mag man verneinen, daß es taktisch klug gehandelt war, schon in der ersten Saison ein demonstrativ modernes Programm aufzwingen zu wollen. Das Problem ist heikel. Fast scheint es, als wäre für litterarische Wagnisse bis auf Weiteres Berlin der einzige Ort.
Es ist viel behauptet worden, Hagemann wäre über die Bergersche Tradition gestrauchelt. Zur Berichtigung, daß von einer solchen Tradition schon heute, nach drei Jahren, nichts mehr zu spüren ist. In einem Nachrufe im "Kunstwart" hat Gregori Bergers hamburger Spielplan mustergültig genannt. Sehr anfechtbar! Berger war ein viel zu kluger Kompromißler, um den permanenten Kleinkrieg auf sich zu nehmen, gegen ein recht konservatives Publikum einen "mustergültigen Spielplan" durchzusetzen. Man blättre nur einmal in dem stattlichen Bande, den das Deutsche Schauspielhaus anläßlich seines zehnjährigen Bestehens veröffentlicht hat. Gewiß, viele Klassiker. Leider auch olle Camellen. Die neue Litteratur recht vernachlässigt. Das Fazit wäre: um seine Götter Hebbel und Ibsen zu retten, ließ Berger unbedenklich flauestes Unterhaltungsfutter überwuchern. Mit rührender Sorgfalt wurde jeder neue Blumenthal gebracht. Und Publikus nahm die spärlichen litterarischen Taten des Direktor dankbar auf. Besonders weil es dadurch billig zu einem Nimbus kam.
Über eine Bergersche Tradition kann also Hagemann kaum gestrauchelt sein. Darf man denn einer Folge von Kompromissen schon die große Erbschaft einer künstlerischen Tradition zutrauen? Bergers Wahlspruch mag sicher gewesen sein: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst! Er liebte prunkvolle Räume mit prächtig gekleideten Menschen, malerisch aussehende Krieger mit verwegenen Federbüschen und glänzenden Rüstungen. Zackige Felsen mit hohen, ragenden Bäumen, purpurne Sonnenaufgänge und goldige Abendröten. Hagemann liebt – charakteristische Kostüme. Liebt den Rundhorizont, der alle Herrlichkeiten des Schnürbodens einsam verschimmeln läßt. Er liebt den kargen, wuchtigen Aufbau der Stilbühne, die langen feierlichen Falten dunkelroter Vorhänge. Armer himmelblauer Prospekt mit Sonne, Mond und allen Sternen, jetzt liegst du zusammengerollt im Magazin und harrst der Auferstehung!
Bald hatten es die Abonnenten herausgefunden: er bietet nichts fürs Auge! Und er bot auch keine Unterhaltung im konventionellen Sinne. Nicht umsonst hat er einmal gesagt: Ernst ist das Leben – ernst ist auch die Kunst! Er war sich bewußt, viel zu geben. Und verlangte auch viel! Aufmerksamkeit, Regsamkeit – Resultate! Die Leute erkannten die Geste und wurden wütend. Berger mit seiner legeren Miene schien sich alle Herrlichkeiten aus dem Ärmel geschüttelt zu haben.
Hagemann begann mit einem Shakespeare'schen Lustspiele. Dann folgte Strindbergs "Totentanz", eine Tasso-Neuinszenierung, "eine Frau ohne Bedeutung" von Wilde. Eulenbergs "Alles um Liebe" setzte dem Aufstieg bis auf Weiteres ein Ziel. Der bis dahin so feste Kurs war von nun an Schwankungen unterworfen. Kompromisse blieben nicht aus. Und doch stand das Repertoire bis zuletzt höher als zur Bergerschen Zeit. Von Strindberg gab es "Ostern", "Gläubiger" und "Fräulein Julie". Von Hauptmann den "Bieberpelz" und den "Gabriel Schilling". Von Wedekind "Hidalla", von Schnitzler so vieles, daß sich anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages mühelos ein kleiner Schnitzler-Cyklus arrangieren ließ. Außer Neuinszenierungen sahen wir gute moderne Stücke von Wilde, Bahr und manchem Andern. Sogar Wagnisse fehlten nicht. "Michel Michael" von Richard Dehmel, "Alt-Nürnberg" von Charles Leyst, "Belinde" von Eulenberg. Besonders "Alt-Nürnberg" brachte Hagemann viele Anfeindungen. Hier kein Urteil über das Werk! Aber ein Theaterleiter hat die Verpflichtung, unbekannten Autoren den Weg zu ebnen. Er ist aber ebensowenig über Irrtümer erhaben, wie die Hamburger Tageskritik.
Was ließe sich über die dreijährige Tätigkeit des Regisseurs Hagemann abschließendes sagen? Daß es in Deutschland kaum einen ernsthaftern und phrasenloseren Regisseur gibt, keinen, der zäher mit den Problemen ringt. Unter Verzicht auf eine "günstige" Presse und allzu bereitwillige journalistische Tubenbläser. Er hat nichts von vorüberhastender Sensation. Ernst wie er ist, will er zu ernster Beschäftigung anspornen. Doch dem Ringenden fehlt die leichte Phantasie, fehlen die Schwingen. Ihm, der unermüdlich an seiner Vollendung arbeitet, fehlt das Sublime. Man vermißt manchmal die Heiterkeit des Geistes. Ich denke an Inszenierungen Shakespeare'scher Lustspiele. Hier gab er die kräftigen Linien farbiger Holzschnitte anstelle einer Farbensymphonie.
Bergers leichte, sprühende Begabung war der ewigen Freude der Komödien Williams entschieden näher gekommen. Dennoch war es Hagemann einmal gelungen seinen unermüdlichen Intellekt zu überwinden. Im "Schleier der Beatrice" beschwor er wirklich den farbigen Abglanz lichter Phantasiewelten. Da war die Renaissance lebendig geworden mit ihren kriegerischen, eisenstarrenden Tagen und den ränke- und lustvollen Nächten. Zwischen weißen Marmorsäulen, in schimmernden Nebel eingehüllt, wirbelten Gestalten mit gelösten Haaren, bacchantengleich, orgiastisch beschwingt. Ich weiß nicht, ob Hagemann ein zweites Mal so viel leichte Geistigkeit gezeigt hat.
Aber unbestritten war seine Leistung auf dem Gebiete moderner Konversations- und Thesenstücke. Wo es sich darum handelt, energische Konturen zu zeichnen, zu printieren, Licht und Schatten zu verteilen, ist seine scharfe, diesseitige Intelligenz recht an ihrem Platze. Was er hier leisten konnte, hat er noch kürzlich in der Inszenierung des "Professor Bernhardi" gezeigt. Glänzend arrangiert waren die langen Diskussionen, von feinster Beobachtung zeugte die Wiedergabe der tumultarisch verlaufenden Konferenz. Alles war so ungezwungen, so selbstverständlich, daß sich nicht ein Augenblick der Ermüdung einschlich. – Nun wird Hagemann bald seine hamburger Tätigkeit aufgeben, da er nicht die Möglichkeit einer Arbeit in seinem Sinne mit Konzessionen erkaufen will. Die Aktionäre haben zu seinem Nachfolger einen Herrn der "alten Richtung" bestimmt, von dem sie eine Fortführung der "Bergerschen Tradition" erwarten. Hagemann, der als Aufrechter weicht, wird es sich selbst vielleicht kaum eingestehen, daß er hier in Hamburg dennoch eine Tradition hinterläßt, und daß sein Nachfolger straucheln wird, wenn er diese Tradition etwa ganz außer Acht lassen sollte.
AdK-O. N Maud v. Ossietzky, 78/8
"Nur so, auf das gute Schwert gestützt, können wir den Platz an der Sonne erhalten, der uns zusteht, aber nicht freiwillig eingeräumt wird."
Ähnlichen Äußerungen begegnen wir tagtäglich in unserer nationalistischen Presse. Daß diese gerade der Feder des deutschen Kronprinzen entstammt, macht sie zwar nicht bedeutender, aber wesentlich bedenklicher. Auch ist sie als Symptom dafür anzusehen, wie sehr ein Grundirrtum Gemeingut aller Stände werden kann. Bei uns herrscht eine namenlose Überschätzung des Militarismus. Mars, der rabiate Kriegsgott, erlebt sein goldenes Zeitalter. Nirgends wird ihm mehr geopfert; nirgends ist seine Autorität größer, nirgends der Glaube an das Schwert stärker. Der letzte alldeutsche Zeilenschinder träumt von der weltbeglückenden Sendung der Bajonette. Der deutsche Kronprinz verkündet ein Evangelium des Krieges und tut die Weltfriedensidee mit wenigen energischen Worten ab:
"Diese Lebensauffassung ist undeutsch und steht uns nicht an."
Wir zweifeln nicht, daß publizistische Lakaienseelen für die Verbreitung der echt-"deutschen" Lebensauffassung die nötige Sorge tragen werden. Ein gefährliches Spiel, dessen Sinn die einen schlecht, die andern nur zu gut verstehen!
Trotzdem der Rüstungstaumel ganz Deutschland ergriffen zu haben scheint, ist er doch mehr preußischen Ursprungs. Auch die heutige preußische Regierung kann noch nicht darüber hinwegkommen, daß Preußen einmal der Militärstaat sans phrase war. Die historische Bedeutung soll nicht verkannt werden. Im Herzen Europas, umspannt von raublüsternen Großstaaten und ohnmächtigen Duodezländchen, hat Brandenburg-Preußen sich schonungslos und zähe zu einer Territorialmacht ersten Ranges emporgearbeitet. "Die Hohenzollern haben sich großgehungert", versichert die byzantinische Geschichtsklitterung. Die Völker mögen oft genug gehungert haben. Die Fürsten hatten das erfreulicherweise nicht nötig. Das Unglück wollte es, daß die Aufwärtsentwicklung Brandenburg-Preußens in die Zeit des stärksten fürstlichen Absolutismus fiel. In jene Zeit, da die großen Armeen die Länder arm fraßen und doch nur persönliche Werkzeuge von Fürsten bildeten, die selber wieder nichts als Instrumente heimtückischer Kabinettspolitik waren. Diese absolutistische Vergangenheit kann Preußen nicht verleugnen. Seit Jahr und Tag redet man offen von einer Nebenregierung des Militärkabinetts. Bezeichnend ist auch die Art des Auftretens der Militärverwaltung im Parlament. Brauchen wir noch an das Vorhandensein einer privilegierten Offizierskaste zu erinnern? Das Bürgertum nimmt diese Dinge genau so selbstverständlich hin wie vor Zeiten die autokratischen Exzesse. Der Militarismus ist zum Moloch geworden, der mit dumpfem Staunen beglotzt wird, wie er ein Opfer nach dem andern verschlingt.
Vielleicht war der Militärstaat einmal eine geschichtliche Notwendigkeit. Heute verdient er keinen Nimbus mehr. Die Entwicklung ist andere Wege gegangen. Auch Preußen-Deutschland erobert nicht mehr mit militärischen Mitteln. Handel und Gewerbe sind die Großmächte unserer Zeit, und deutscher Fleiß hat sich überall in der Welt eine glänzende Position errungen. Nicht der Kriegsmann – der Kaufmann, der Arbeiter erobert die Welt. Deshalb macht Deutschland mit seiner militaristischen "Kultur" durchaus nicht den eingebildeten furchtbaren Eindruck auf das Ausland; viel eher trifft man auf befremdetes Lächeln. Zwar scheinen die Auswüchse des Kapitalismus eine permanente Kriegsgefahr geschaffen zu haben; aber die wirtschaftliche Entwickelung reißt immer mehr Schranken nieder, die früher unüberwindlich schienen. Wie atavistisch wirkten doch die letzten Äußerungen alten Nationalitätenhasses in unseren Tagen der erbittertsten Klassenkämpfe! Die Militärstaaten finden keine Arbeit mehr. Sie haben sich überlebt. Trotz modernster Heereseinrichtungen kommen sie uns altmodisch und verknöchert vor. Sie sind in ihrem tiefsten Kern reaktionär. Schließlich stammen sie nicht umsonst aus absolutistischer Zeit. Und so dient auch bei uns die Armee in erster Linie zur "Wahrung des Althergebrachten". Sie ist das Werkzeug der Reaktion, die schlimmste Hemmung einer volkstümlichen Entwicklung. Sie ist mit ihren maßlosen Forderungen ein Staat im Staate.
Und dieser traditionelle Zustand wird vom Bürgertum willig hingenommen.
Der Kriegsgott lebt im Überfluß. Er braucht kaum mehr zu fordern. Alles fliegt ihm zu. Vielleicht geht er noch an Überfütterung zugrunde. Die paar Vernünftigen sind beiseite gegangen und betrachten resigniert die Bewilligungsorgien. Wenn jungen Mädchen (zwischen sechzehn und fünfundvierzig) die Ehre widerfährt, sich an der Seite eines leibhaftigen Leutnants öffentlich zeigen zu dürfen, nehmen sie gern jene verzückte Miene an, die verbissene Junggesellen "albern" nennen. Das gleiche Antlitz zeigt Frau Germania, wenn der unmanierliche Kriegsgott ihr als Kavalier zur Seite geht. Ja, albern und charakterlos ist die Lobhudelei und Beweihräucherung des Militarismus, in der sich das Bürgertum in seiner Gesamtheit gefällt. Wenn jemand die ungeheuren Rüstungen als häßliche Notwendigkeit hinstellt, so ist das bei der kritischen Weltlage allenfalls begreiflich. Aber dieses blinde, urteilslose Vertrauen auf die bewaffnete Macht ist eine wahre Kulturschande. Der Glaube an die Bajonette verdrängt immer mehr die politischen Überzeugungen. Wie die reaktionäre Presse, treibt es auch der größte Teil der Liberalen. Seit langem verleugnet sie die alten Reformforderungen; sie kuscht vor der Militärverwaltung; sie prahlt noch selbstgefällig mit empfangenen Ohrfeigen. Liberalen Blättern blieb es vorbehalten, über die doch wahrhaftig ernsten Liebknechtschen Enthüllungen Kübel läppischen Hohnes auszugießen.
Mars ist sakrosankt. Beschimpft die Majestät; lästert den lieben Gott auf offenem Markte; nennt alle deutschen Richter bestechlich; nur laßt den Kriegsgott in Ruhe! Das verträgt der Spießer nicht.
Und nicht nur der Spießer!
Auch bei den sogenannten Intellektuellen trübt sich das Urteil, wenn es sich um militaristische Dinge handelt. Vor einem halben Jahre etwa ist in deutscher Übersetzung ein Buch des Schweden Gustaf Jansen erschienen: "Lügen". Geschichten vom Kriege (nämlich vom Tripoliskriege). Wie unwürdig ist dieses den Stumpfsinnigsten aufreizende Buch in den großen Zeitungen behandelt worden. Gewiß, es läßt sich von den Leutchen nicht verlangen, die Kollegen überm Strich zu desavouieren. Aber meine Herren, wo blieb denn das "Kulturgewissen", von dem Sie so gern den Mund voll nehmen? Ein Dichter gibt ein paar packende Bilder von moderner Kriegsbarbarei. Und Sie glauben, so ein Buch wäre mit Ihren dürftigen Reporterwitzen abgetan? –
Etwas diplomatischer gebahrten sich schon die Kollegen von den Literaturblättern. Hier ließ man die künstlerischen Qualitäten des Buches gelten, strich sie sogar doppelt heraus, um nachher die Tendenz desto schärfer zu verurteilen. Es ist verblüffend, wie viel Militäranwärtersinn sich bei solchen Gelegenheiten auch bei Männern zeigt, die sonst gar nicht genug ihre intellektuelle Erhabenheit über alle Dinge des öffentlichen Lebens betonen können. Sobald Mars naht, stehen sie stramm, die Hände an der Hosennaht.
Was fehlt noch an der Apotheose des Kriegsgottes?
Nur die Demokratie bekämpft zielbewußt den Militarismus. Will der Liberalismus das wirklich ohne Widerspruch hinnehmen? Es scheint so! Sonst könnte er nicht seine eigenen Forderungen so bereitwillig zurückstellen und mit in das chauvinistische Gebrüll einstimmen. Beschönigen wir nichts! Die nationale Presse nährt ein Kriegsfeuer, das bei jedem der leider so häufigen "Zwischenfälle" hell auflodert. Jeder gute Bürger ist sich darüber klar, daß es demnächst – aber wann? – "losgehen" wird.
Unser Platz an der Sonne muß ja behauptet werden!
Den Chauvinisten zum Nachdenken, daß die eben zusammengekrachte Türkei ein Militärstaat in Reinkultur war! Einst, als sie noch in Asien hausten, sahen die osmanischen Türken in Europa ihren natürlichen "Platz an der Sonne". Und die Ecke, die sie erhaschten, haben sie jahrhundertelang mit allen Mitteln einer radikalen Säbelherrschaft behauptet. Doch als sich der große Sturmwind erhob, wurde das osmanische Reich, dieses waffenstarrende Gebilde, wie ein Kartenhaus zusammengeblasen.
Unsere Regierung ist nicht verpflichtet, aus Katastrophen zu lernen. Wenn es nur das Volk täte! Aber die "nationale" Presse verhindert die Aufklärung; Generäle mit merkwürdig viel freier Zeit reisen im Lande umher, um die nötige Begeisterung anzufachen; Reserveoffiziere, die keine andere Meinung haben dürfen als die ihrer Vorgesetzten, tragen die kriegerische Stimmung in die Familien, und damit auch die Kinder nicht leer ausgehen, arbeiten die Jungdeutschlandbünde auf eine vollkommene militärische Verblödung hin. In Frankreich wagt ein Mann vom Weltrufe eines Anatole France gegen den Rüstungstaumel zu reden. Erhebt sich nicht auch bei uns eine Stimme von Ernst und Gewicht, die den Trubel des militaristischen Karnevals übertönt! Aber schließlich, was dürfte so ein Wüstenprediger ausrichten? Nach ein paar Worten würde man ihm zuschreien: "Diese Lebensauffassung ist undeutsch und steht uns nicht an!!" Viel lieber lauscht man der Autorität des Kronprinzen, wie er in satten Farben eine Reiterattacke malt.
"Wer solche Attacke mitgeritten hat, für den gibts nichts Schöneres auf der Welt. Und doch: noch eines erscheint dem echten Reitersmann schöner: Wenn alles dies dasselbe ist, aber am Ende des schnellen Laufes uns der Feind entgegenreitet und der Kampf, für den wir geübt und erzogen sind, einsetzt: der Kampf auf Leben und Tod.
Wie oft bei solcher Attacke hat mein Ohr den sehnsüchtigen Ruf eines daherjagenden Kameraden aufgefangen: ›Donnerwetter, wenn das doch ernst wäre!‹ Reitergeist! Alle, die rechte Soldaten sind, müssen's fühlen und wissen: ›Dulce et decorum est pro patria mori!‹"
Wir halten den Gedanken des kommenden Krieges für zu furchtbar, um mit ihm kokettieren zu können. Aber unsere Mißstimmung will nicht recht aufkommen bei der tapferen Versicherung des deutschen Thronfolgers, wenn es einmal blutiger Ernst wird, in der ersten Reihe zu kämpfen – –
Das freie Volk, 31. Mai 1913
Fedja: Und Sie, der Sie an jedem Ersten mit einigen Groschen für Ihre Gemeinheit bezahlt werden, Sie ziehen sich Ihren Uniformrock an und tun sich nun groß über jene Leute, deren kleiner Finger mehr wert ist als Sie im ganzen, und die Sie nicht einmal ins Vorzimmer hineinlassen würden. Sie haben sich hinaufgeschustert und freuen sich nun. Der Richter: Ich lasse Sie abführen.
(Tolstoi: "Der lebende Leichnam")
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Drei Landwehrleute sollen auf fünf Jahre ins Zuchthaus wandern; ein paar andere erhalten bittere Gefängnisstrafen. So entschied das Kriegsgericht zu Erfurt. Grund: Alkoholausschreitungen. Schaden hat es außer der Aufregung nicht gegeben. Was kann man bei einem bürgerlichen Gerichte nicht alles für fünf Jahre Zuchthaus haben! Hunderttausende stehlen, seine Zeit abreißen und nachher als Rentner leben; im Affekt einen Mord begehen, den milde Richter als Totschlag auslegen. Milde Richter! Die militärische Justitia hat nicht nur verbundene Augen, sondern auch verstopfte Ohren und ein gepanzertes Herz. Alkoholausschreitungen sind häßlich. Aber so lange der Saufteufel noch eine Großmacht ist, wird nur eine geschwollene Moral einen Stein auf ein paar arme Kerle werfen, die sich in ihrer Weise einen vergnügten Tag gemacht haben.
Seit alten Zeiten zeichnen sich die militärischen Strafen durch besondere Grausamkeit aus. An der wilden Soldateska des dreißigjährigen Krieges sühnte die beleidigte Gerechtigkeit die zahllosen Untaten mit Spießrutenlaufen, Rad und Galgen. Was wurde damals gehängt! Wieviele Knochen wurden von den Strafwerkzeugen gebrochen! Die Kriegsjustiz sandte mehr Krüppel ins Land als alle Schlachten. Man erzählt von einem alten Haudegen, der als Vorsitzender eines Kriegsgerichts die Sitzung abbrach, indem er das Buch zuklappte und dem Profossen zurief: "Es ist das beste, wir beginnen mit der Exekution!"
Heute kennt die Justiz weder Wippe noch Rad. Nur noch Paragraphen. Aber die eben angeführten Worte des Marschalls von Monluc, die in ihrer rauhen Aufrichtigkeit so bezeichnend sind, müßten heute über der Pforte jedes Kriegsgerichtes stehen. Sie sind symbolisch. Und das Bild des alten Kriegsmannes müßte in jedem Sitzungszimmer hängen; denn er hat es erkannt und in wahrhaft klassische Form gebracht, daß es bei der militärischen Justiz nicht auf den Paragraphenplunder, sondern einfach auf die Strafe ankommt. Diese Justiz will nicht prüfen und wägen, wie die bürgerliche – es soll. Sie will auch nicht vergelten. Sie überzahlt. Sie hat die Aufgabe, den "Untertanen" an das Prinzip der Autorität, der unbedingten Disziplin zu erinnern. Sie hat ihm die Grenzen seiner Freiheit zu zeigen. Das bürgerliche Leben bringt eine höchst gefährliche Gleichmacherei mit sich. Also muß daran erinnert werden, daß es noch Klassen gibt. Das ist die Aufgabe der Kriegsgerichte. Der Vorgesetzte wird gestreichelt, der Untergebene gepeitscht. Das unverfälschte Prinzip der Reaktion, nackter Klassenegoismus! Wir entrüsten uns, daß es in Rußland noch Kirchenstrafen gibt. Verbannungen ins Kloster usw. Sind wir besser daran? Wehe dem Bürger, der vergißt, daß er an einem Tage im Jahre unter die Zuständigkeit der militärischen Gerichtsbarkeit fällt! Wehe dem, der in die Fußangeln ihres Strafsystems gerät!
Ein seltsamer Zufall wollte es, daß das Erfurter Urteil in die Zeit fiel, da der Reichstag die größte je an ein Parlament gestellte Militärforderung endgültig zu bewilligen hatte. Nicht der schwärzeste Reaktionär wagte das Urteil zu verteidigen. Nicht einmal der Kriegsminister. Sogar die Liberalen wurden energisch und verlangten ein Notgesetz. Gut gemeint! Aber von vornherein hätte man Kautelen erzwingen müssen; die völlige Neuschaffung des militärischen Rechts wäre mit die wichtigste gewesen. Die Regierung würde sich gesträubt haben – viel mehr noch als in der Frage des Gardeprivilegs. Nun, so hätte man ihre Vorlage ruhig in Scherben gehen lassen müssen.
Aber es wäre töricht, so viel Tatkraft von unseren "bürgerlichen" Politikern zu verlangen. Es hätte sich ja nur um die Gerechtigkeit gehandelt. Wer regt sich deswegen auf? Die Sozialisten und die paar verbohrten Demokraten. Die Herren, die bei jeder Gelegenheit "unser Geistesleben retten", mögen es sich gesagt sein lassen, daß wir das Erfurter Urteil für einen viel schlimmeren Schlag gegen die Kultur halten als das Verbot von zehn Festspielen.