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Das Hauptanliegen des Liberalismus ist: Es soll den Menschen gut gehen. Zugleich hat konsequentes Liberalsein es schwer. Warum? Und was bedeutet liberal wirklich? Dieses liberale Manifest bietet Orientierung. Sieben Prinzipien machen den Kern eines konsequenten Liberalismus aus. Jeder einzelne Mensch als Maß aller Dinge, Eigentum als Fundament unseres Handelns und Privatheit als gelebte Freiheit gehören genauso dazu wie ein Minimalstaat. Die Perspektive dieses Manifests ist die klassisch liberale. Klarheit bringen die Abgrenzungen von Konservatismus, Demokratie sowie »Lifestyle«-Liberalismus. Skizziert wird das Gerüst einer klassisch liberalen Staatsreform. Liberalismus ist eine zeitlose Lösung für viele aktuelle Herausforderungen - und anspruchsvoll.
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Seitenzahl: 140
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Dr. Michael von Prollius ist Publizist und Gründer von Forum Freie Gesellschaft, einer Internetplattform, die für eine Ordnung der Freiheit wirbt.
Vorrede
Prinzipien
1. Jeder einzelne Mensch ist das Maß aller Dinge
2. Freiheit ist der Sauerstoff des Lebens
3. Eigentum ist das Fundament unseres Handelns
4. Das Recht der Freiheit herrscht über alle
5. Privatheit ist gelebte Freiheit
6. Die spontane Ordnung macht uns groß
7. Der Minimalstaat ist das Maximum
Klarstellungen
Liberal oder nicht liberal, das ist hier die Frage
Herrschaft mindern
Sicherheit als Staatsaufgabe
Ungleichheit
Begriffsklärungen
Kritik der Kritik des Minimalstaats
Lifestyle-Liberale
Unterschiede
Liberalismus und die soziale Frage
Reformen
Lebensbedingungen verbessern!
Reformsäulen
Einzel maßnah men
Small is beautiful
Zu guter Letzt
Liberalsein ist en vogue. Liberal möchte heute fast jeder sein, zumindest weltoffen und tolerant. Wir leben doch in einer liberalen Gesellschaft. Na klar, oder? Was bedeutet liberal überhaupt? Dieses Manifest bietet Orientierung. Es enthält sieben Prinzipien, die den Kern eines konsequenten Liberalismus ausmachen. Zugleich kann man es als Plädoyer gegen allgegenwärtige Pseudoliberalität, gegen Befürworter eines allzuständigen Staates sowie gegen bevormundende Politik und Haltungsmoralismus in allen Lebensbereichen lesen. Wir Menschen wissen selbst am Besten, wie wir ein gutes Leben führen, und wir wissen es besser als jemand in einer Amtsstube oder in einer nicht-staatlichen Lobbyorganisation, die erfolgreich Kampagnen organisiert. Allerdings müssen wir die dafür benötigte Freiheit heute vielfach erst wieder zurückgewinnen.
Man kann dem Buch dies abgewinnen: Ein gelingendes Leben und ein gelingendes Zusammenleben ruhen auf sieben Prinzipien, zu denen Freiheit, Privatheit, Eigentum und die Gleichheit aller Menschen unter dem Recht gehören. Ohne die Achtung dieser Prinzipien ist auch ein gutes Zusammenleben in Nachbarschaft, Gemeinde und Stadt sowie in einer großen Gesellschaft und einer Nation, geschweige denn in Europa nicht dauerhaft möglich.
Manch einer wird es so lesen: Politik funktioniert derzeit über einen Mechanismus, der gut organisierte und wohlinformierte Teile der Bevölkerung begünstigt, während die passiven, nicht-informierten Bürger die Kosten tragen. Die Mietpreisbremse ist ein aktuelles Beispiel von vielen. All das folgt einer kurzfristigen statt einer langfristigen Sicht. Gegen diesen alltäglichen Zynismus politischer Praxis wendet sich das Buch. Es ist ein Plädoyer für Politik als eine öffentliche Angelegenheit, die klaren, überprüfbaren Prinzipien folgt und die nicht leichthin aus pragmatischen Gründen aufgeweicht werden.
Schließlich ist das Buch ein liberales Brevier, das echtes Liberalsein von Schein- und Lifestyle-Liberalen genauso abgrenzt wie von illiberaler Toleranz gegenüber vermeintlichen politischen Verbündeten. Ich zeige, warum es sich lohnt, zurück zu den Wurzeln zu gehen. Liberalsein ist im Kern zeitlos und muss nicht durch modische Wendungen zur Sozialdemokratie als positive Freiheit oder einen vermeintlich zeitgemäßen Liberalismus verwässert werden. Zugleich ist Wachsamkeit angebracht, sobald Liberalismus den Linken oder den Konservativen nahestehen soll oder diese gar als natürliche Verbündete angesehen werden. Unterschiedliche Begriffe sind dazu da, um unterschiedliche Inhalte zu benennen.
Liberale streben danach, Willkür respektive Herrschaft zu verringern, um Freiheit zu gewährleisten. Liberale sind zugleich Humanisten: »Die Freiheit hat einzig deshalb unschätzbaren Wert, weil sie unserem Geist angemessene Einsicht, unserem Charakter Stärke, unserer Seele Schwung verleiht«, erkannte der Lausanner Staatstheoretiker und Politiker Benjamin Constant vor 200 Jahren. Im Mittelpunkt des Liberalismus steht stets der Mensch, seine Freiheit und sein Wohlergehen sowie seine bestmögliche Entwicklung.
Ein Comeback des Liberalismus steht aus. Das mag im politischen Parteiensystem daran liegen, dass eine liberale Partei im Grunde ein Widerspruch in sich ist, wenn sie Partei für einige ergreift, aber nicht für alle. Eine konsequent liberale Partei wäre die Partei aller Bürger. Denn Liberalismus ist eine Weltanschauung und eine Gesellschaftsordnung, die ohne Unterschied der Person für alle Menschen die gleiche Freiheit und das gleiche Recht fordert. Folglich gelten die gleichen allgemeinen Rahmenbedingungen, dieselben Spielregeln. Das Ergebnis steht nicht im Vorhinein fest. So eröffnen sich allen Menschen Chancen und es entstehen viele ungeahnte Neuerungen.
Das Hauptanliegen des Liberalismus ist: Es soll den Menschen gut gehen. Daher engagieren sich Liberale für ein besseres Verständnis der Institutionen einer freien Gesellschaft, Die Institutionen machen den Unterschied: offene oder geschlossene Gesellschaft, Die Institutionen der Gesellschaft unterschieden sich von denen des überschaubaren Alltags in der Gemeinde und im Kiez. Liberale schauen auf den Koordinationsprozess, der für alle so frei von Hindernissen sein soll wie möglich, nicht aber auf die Ergebnisse und deren Umverteilung nach einzelnen Gruppeninteressen. Das Analysieren und Erläutern der Bedeutung von Märkten und freiem Handel weltweit gehört als Lösung nicht nur wirtschaftlicher, sondern vor allem sozialer Probleme ganz wesentlich dazu.
Warum hat konsequentes Liberalsein es schwer? Das mag daran liegen, das ernsthaftes liberales Gedankengut anspruchsvoll ist, bislang vor allem auf die Vernunft setzt und emotional unterkühlt erscheint. Liberalsein ist kein Lifestyle. Jeder Liberale kann seinen eigenen Stil entwickeln, aber Liberalismus lässt sich nicht auf eine Haltung reduzieren. Liberalsein ist minimalistisch, das gilt auch für den Staat, und maximalistisch was den Menschen in all seiner Vielfalt betrifft. Inzwischen gibt es zwar eine kleine, wachsende Szene Liberaler, die jung und alt zusammenbringt. Allerdings bleibt die Zahl der konsequenten Liberalen gering, während Flirts mit links und rechts dem Liberalismus schaden.
Liberalsein beruht auf guten, zeitlosen Institutionen und kann mit einer guten Haltung einhergehen. Das gilt mit Immanuel Kant für die »Liberalität der Denkungsart« und darüber hinaus für den Umgang mit anderen Menschen und deren Sichtweisen. Zugleich lässt sich Liberalität nicht auf Toleranz und Offenheit reduzieren. Liberalismus ist vor allem eine Ordnung, die für das Zusammenleben der Menschen und ihr Wohlergehen nachweislich gut funktioniert. Die Take-off-Phase der Menschheit in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Übergang zum Wohlstand für die Massen und einer nicht mehr durch die Geburt bestimmten Lebensperspektive gehört zur Epoche des Liberalismus. Die liberale Ordnung ist sehr flexibel, sie lässt sich einfach reparieren und bietet allen Geisteshaltungen und politischen Positionen viel Raum für ein gutes Leben.
Im Hauptteil des Manifests werden sieben Prinzipien erläutert, die eine wirklich freie Gesellschaft sowohl kennzeichnen als auch wieder ermöglichen.
Jeder einzelne Mensch ist das Maß aller Dinge. Liberale betrachten die Welt vom Individuum aus, blicken auf sein Handeln und die Interaktionen mit anderen Menschen. Jeder Mensch ist wichtiger als ein Kollektiv.
Die Freiheit ist der Sauerstoff des Lebens. Freiheit ist die Voraussetzung für persönliche Entfaltung, für Wohlfahrt und für Glück. Der Schutz der Freiheit des Bürgers vor dem Staat besitzt für Liberale eine herausragende Bedeutung.
Das Eigentum ist das Fundament auf dem das Leben ruht. Privateigentum und das uneingeschränkte Verfügen darüber sind gelebte Freiheit, ermöglichen Privatsphäre und Selbstbestimmung und sind die nicht zu ersetzenden Voraussetzungen für die Marktwirtschaft.
Das Recht der Freiheit herrscht über jedermann. Die Herrschaft des Rechts bindet alle Menschen ausnahmslos, explizit die Herrschenden, um ein Leben in Freiheit für jeden Menschen zu gewährleisten. Die Masse des Rechts entsteht für Liberale aus den Konventionen, die sich bilden, wenn Menschen miteinander im Austausch stehen, um ein besseres Leben zu führen.
Privatheit ist gelebte Freiheit. Die Privatsphäre ist der Raum für die freie Entfaltung des Menschen, unbehelligt von anderen. Privatheit stellt die unabdingbare Sphäre menschlicher Freiheit dar. Privateigentum und Privatheit sind zwei Seiten derselben Medaille und benötigen den Schutz des Rechts.
Die spontane Ordnung macht uns groß – als ungeplantes Ergebnis zwischenmenschlicher Interaktion, als Entdeckungsund Vielzweckverfahren, das sich niemand ausdenken könnte. Die unsichtbaren Hände vieler sind weitaus erfolgreicher als die starken Fäuste weniger. Nicht gezielte Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft weniger Experten verbessern unser Leben, sondern unzählige ungeplante Bemühungen vieler Menschen.
Der Minimalstaat ist das Maximum, weil er sich auf die Sicherung von Frieden und Freiheit konzentriert und nicht zum Spielball wechselnder Interessenkoalitionen wird. Mit seinen Privilegien als Gewaltmonopolist stellt der Minimalstaat sowohl eine ständige Bedrohung der Freiheit dar als auch deren Garant.
Die Perspektive dieses Mainfests ist die klassisch liberale. Offenkundig gibt es viele liberale Strömungen. Liberalismus wird von Liberalen vorwiegend individuell betrachtet, Gruppenbildung findet auch bei hier und dort statt. Das eint und trennt Liberale. Im Mittelpunkt des Manifests steht ein liberaler Kern aus einer gleichermaßen klassischen wie zeitlosen Perspektive – in Abgrenzung zu anderen Strömungen. Klassisch liberale Generalisierungen sollen hier abgrenzen, sie dienen dem Unterscheiden. Das Manifest ist dementsprechend hin und wieder pointiert formuliert und weniger abwägend oder vermittelnd. Die Grenzziehung dient zwar dem Unterscheiden, aber nicht einer Freund-Feind-Einteilung.
Andere Prinzipien hätten auch einen Platz finden können, zum Beispiel Toleranz. Toleranz lässt sich jedoch primär als eine Tugend begreifen. Außerdem kann Toleranz ein Aspekt in verschiedenen Prinzipien sein, darunter Individuum, Freiheit und vor allem dem aus Konventionen gewonnenen Recht.
Der sich an die Prinzipien anschließende Essay »Liberal oder nicht liberal, das ist hier die Frage« greift zunächst noch einmal die Frage auf, was Liberalismus ist, um ihn dann von anderen politischen Strömungen abzugrenzen – von Libertären, Konservativen und Demokraten. Neben Freiheit werden die Aspekte Moral, Gerechtigkeit, Gleichheit, Ungleichheit und Kritik des Minimalstaats sowie die soziale Frage thematisiert.
Skizziert wird schließlich das Gerüst einer klassisch liberalen Staatsreform. Die Skizze enthält Grundlegendes wie eine Verfassung der Freiheit und Einzelaspekte zur Eindämmung und zum Rückbau des Staates. Sie schließt mit dem Bekenntnis »Small ist beautiful« als Lob für kleine, überschaubare, menschengemäße politische Einheiten mit großer Selbstverwaltung.
Im gesamten Manifest geht es nicht um den Entwurf einer Blaupause für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Manifest sollte auch nicht so gelesen werden, dass die ideale Welt genauso aussehen würde wie skizziert. Vielmehr werden klassisch liberale Prinzipien für eine bessere Welt zusammengeführt, die Philosophen, Ökonomen, Juristen und andere Denker über Jahrhunderte hinweg hervorgebracht haben. Soziales, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, Recht sowie menschliches Handeln bilden für Liberale einen untrennbaren Zusammenhang.
Das Ergebnis ist eine liberale Utopie im besten Sinne. Bei Unternehmen und insbesondere Start-ups würde man von einer Vision sprechen. Ein zeitloses Bild der Zukunft entsteht, das beschreibt, wo es hingehen soll. Idealerweise entwickelt sich ein gemeinsames Verständnis, das Kräfte freisetzt. Diese liberale Utopie ist idealistisch und altruistisch und fordert zu enormen Anstrengungen auf.
Die wohl fundierte und Praxis bewährte Absicht Liberaler richtet sich auf die geeigneten Mittel, die das Leben der Menschen verbessern. Das ist wesentlich Hilfe zur Selbsthilfe durch bessere institutionelle Rahmenbedingungen. Hinzu kommt das tiefe Verständnis komplexer Ordnungen, die sich nicht mit allerlei Vorschriften einer allzu simplen Gesellschaftsklempnerei verbessern lassen. Liberale lieben Freiheit, weil sie wissen, dass Freiheit die Essenz eines guten Lebens ist. Passend dazu könnte das Motto eines modernen und zeitlosen Liberalismus lauten: Wer die Freiheit liebt, ist mit sich selbst und seinen Mitmenschen im
Reinen.
Fürstenberg, im September 2021Michael von Prollius
Das Wesen der Freiheit eines Individuums ist die Möglichkeit, von den traditionellen Handlungsweisen abzuweichen.Ludwig von Mises
Wer sich selbst liebt, der ist mit sich und anderen Menschen im Reinen. Wer zunächst an sich denkt, kann anschließend auch an andere Menschen denken. Wer sich mit sich selbst als Individuum beschäftigt und in anderen Menschen Mitmenschen sieht, der kann in individuellen, persönlichen statt kollektiven, abstrakten Kategorien auf die Welt blicken. Wer sich erkennt, sieht Konflikte nicht zuletzt als Konfrontationen mit sich selbst.
Genau das tun Liberale. Sie schauen auf sich und um sich und sie sehen individuelle Menschen, nicht Kollektive, die nach Nation, Rasse, Geschlecht, Ökobilanz, Impfstatus oder Wohlstand kategorisiert werden. Damit fällt es schwerer, andere Menschen geschweige denn Menschengruppen zu hassen oder diese als unselbständig, betreuungsnotwendig und verführbar zu betrachten.
Der Liberale denkt so: Jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Sch mied. Jeder Mensch hat seine persönlichen Fähigkeiten und kann die sich ihm bietenden Möglichkeiten nutzen. Die Fähigkeiten unterscheiden sich, lassen sich mit anderen kombinieren, so dass sich Menschen ergänzen und zusammen mehr erreichen. Das gilt für den Beruf und für die Familie, für die Nachbarschaft und die Freizeit, ob handwerklich oder geistig, künstlerisch oder kulinarisch.
Allerdings bleibt keine Wahl ohne Reue. Sei es, dass jeder Mensch die Konsequenzen seines Handelns selbst verantwortet, sowohl im glücklichen Fall eines Erfolgs als auch im weniger glücklichen Verlauf eines Misserfolgs. Außerdem bietet sich häufig eine Wahlalternative und diese erscheint zuweilen vorteilhafter zu sein. Das kann selbst die Partnerwahl einschließen. Die Kosten einer jeder neuen Wahlentscheidung bestehen darin, etwas anderes nicht gewählt zu haben. Dennoch kann nur der einzelne Mensch selbst seine Bedürfnisse verfolgen. Vermeintlich bessewissende Dritte können allenfalls beraten, aber nicht den inneren Abwägungsprozess treffend imitieren. Bei der Partnerwahl ist das offenkundig, gilt aber genauso für Konsumgüter. Das Wert schätzen, das Bilden von Präferenzen und Rangfolgen ist ein zutiefst individueller Akt. Nudging hat folglich keinen Platz im liberalen Weltbild. Erst die Schädigung anderer berechtigt zum Eingreifen in individuelles Handeln.
Liberalsein ist kein Versprechen. Liberale versprechen weder, dass jeder Mensch sich optimal entwickeln kann, noch dass es hinreichende Bedingungen geben muss oder auch nur geben könnte, damit sich jeder Mensch in Freiheit gut entwickeln kann. Liberale sind Realisten. Hindernisse und mangelnde Realisierungsmöglichkeiten lauern in vielen Leben und an vielen Ecken. Das ist eine nüchterne, aber ehrliche Haltung. Es wäre naiv zu glauben, weil wir etwas besser tun könnten und weil wir es einfach fordern, würde es auch so kommen. Eine Weltanschauung oder eine Lebenshaltung, die jedermann tatsächliches Glück und Wohlfahrt in Aussicht stellen, ist verführerisch, unrealistisch und unehrlich. Liberalismus ist kein Betreuungswerk für die Massen. Gleichwohl gilt, was Ludwig von Mises 1927 betonte: »Der Liberalismus hat immer das Wohl des Ganzen, nie das irgendwelcher Sondergruppen im Auge gehabt.« Deshalb sind Liberale Anhänger freiwilliger Solidarität – anders ist es aus liberaler Perspektive gar nicht möglich, denn befohlene oder moralisch erpresste Solidarität mit einer heute zumeist als Opfer deklarierten Gruppe ist lediglich schlecht kaschierter Gruppenegoismus. Außerdem gilt für Liberale: Man mischt sich nicht in die Angelegenheiten anderer Menschen ein. Und: Man muss nicht von anderen Menschen gemocht werden. Freiheit bedeutet auch, die Freiheit von anderen Menschen nicht gemocht zu werden.
Ein Blick auf die jährlich erscheinenden Freiheitsindices zeigt, dass es allen Menschen, gerade den Ärmsten, in den freiesten Gesellschaften am relativ besten geht. Das gilt überwiegend auch in kleinen Staaten. Liberale fragen: Wie viel besser würde den Menschen in einer wirklich freien Gesellschaft gehen?
Im Übrigen wird in politisch autoritären Systemen mit hohen wirtschaftlichen und sozialen Freiheitsgraden der zunehmende Wohlstand nicht von privilegierten Parteikadern und Regime treuen Bürokraten erarbeitet. Wohlstand entsteht dort trotz autoritärer politischer Führung. Schließlich weisen Liberale nüchtern auf den Fortschritt hin, also den zeitlichen Vergleich von Wohlstandsniveaus. Das Ergebnis: Die Superreichen im Jahr 1900 hatten einen Lebensstandard, den heute fast jedermann hat. Nicht Verteilung, sondern Entwicklung ist die angemessene Perspektive.
Für den Liberalen kann nur das Individuum handeln. Dabei gilt, was der führende Managementtheoretiker und -praktiker Reinhard K. Sprenger zeitlos treffend wie folgt formulierte: »Was den ›freien Menschen‹ ausmacht, ist nicht die Maximierung seiner Möglichkeiten, sondern das Bewusstsein seiner Wahlentscheidungen und die Bereitschaft, Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu übernehmen, die Kosten, die mit jeder Wahl verbunden sind, anzuerkennen. Während äußere Freiheit eine Größe ist, die sich aus rechtlichen, sozialen und politischen Umständen zusammensetzt, beschreibt innere Freiheit einen Zustand, in dem der Mensch seine eigenen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzt, um auszuwählen. Darin liegt seine Freiheit. Und mit ihr die Voraussetzung für ein gelingendes Leben.«
Freiheit ist die erste und nicht ersetzbare Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Ohne Freiheit ist alles Handeln nichts. Ich komme darauf später ausführlicher zurück.
Liberalsein setzt lediglich »eingewisses Minimum an Fähigkeit voraus, zu lernen und vorauszudenken und sich durch eine Kenntnis der Folgen des Handelns leiten zu lassen«, wie der Sozialphilosoph und Ökonom Friedrich August von Hayek in seiner Verfassung der Freiheit schrieb. Jederkann also liberal werden, wie Hunderttausende einfache Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts, die auf Marktplätzen und in Versammlungshallen in England, angeführt von den Manchesterkapitalisten, mit der Anti-Getreidezoll-Liga für Freiheit und gegen Privilegien eintraten.
Freiheit ist ein Wert. Für Liberale ist es der höchste Wert. Allerdings sehen sie ihn nicht nur als Wert, sondern als Ordnungsprinzip von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Liberale sind überzeugt, dass in einer Ordnung der Freiheit jedes Individuum nach seiner Wertefacon leben und glücklich werden kann. Da Werte Teil einer heteronomen Moralvorstellung sind, gehen Liberale nicht mit Werten hausieren. Inzwischen ist es allerdings längst überfällig, leidenschaftlich Freiheit zu predigen. Und sei es nur, um die Freiheitserosion zu verlangsamen. Solange die Individuen sich und ihre Freiheitssphäre achten, ist Platz für unterschiedliche Werte nebeneinander.
Das bedeutet indes nicht, dass damit über den Menschen aus liberaler Perspektive alles gesagt wäre oder es bei einer abstrakten Ordnung freier Individuen bliebe, die isoliert nebeneinander leben. Vielmehr lassen sich mit Kant liberale Ansprüche an einen Menschen formulieren. Diese bestehen nicht aus konkreten Werten, sondern in einem Entwicklungsanspruch: Der selbständig denkende und handelnde Mensch ist das Leitbild. Ein derart aufgeklärter Mensch zeichnet sich durch charakterliche Leistungen aus. Ein Charakter wird geformt. Am Anfang steht das Disziplinieren in der Erziehung. Der Mensch soll nicht Opfer seiner Launen werden, sondern die Fähigkeit