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Ein Liberaler. Ein Anarchist. Im Gespräch. Feuer und Wasser oder Geistesverwandte? Seit etlichen Jahren treffen sich in der Berliner Bar «Vincent» der Liberale Michael von Prollius und der Anarchist Stefan Blankertz. Aus anfänglicher Konfrontation ist Freundschaft geworden. Inzwischen steht die Suche im Vordergrund, was eine freiheitlichere Gesellschaft möglich machen würde und welche historischen Chancen verpasst worden sind, aber nachgeholt werden könnten. In diesem Buch präsentieren sie die besten Stücke aus ihren Diskussionen. Die Unterschiede werden klar benannt, die verbindende Haltung der Freiheit betont. Die Themen sind in kurze, übersichtliche Stücke unterteilt. Sie reichen von der Frage der Möglichkeit einer Verfassung der Freiheit bis hin zu der, ob durch ein Miteinander statt Gegeneinander von Liberalen und Anarchisten sich ein friedlicheres Deutschland hätte erreichen lassen.
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Seitenzahl: 194
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CC-BY, Foto: Michael Fraley, 23. März 2009, flickr.com/photos/mrfraley/3378349614. Kolorierung:
MICHAEL VON PROLLIUS ist Publizist und Gründer von «Forum Freie Gesellschaft», einer Internetplattform, die für eine Ordnung der Freiheit wirbt.
STEFAN BLANKERTZ, Wortmetz, Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt; ewiger Student der «Akademie für neoliberalen Kulturmarxismus».
Beide üben sich in «Vincent-Sessions» seit 2016; die besten Stücke daraus sind in diesem Live-Album dokumentiert.
I Intro
Wie es dazu kam, dass wir dieses Buch schreiben
II Die 6 Strophen
1
Skizzierung der eigenen Grundthesen
2
Stärken der jeweils anderen Position
3
Schwächen der eigenen Position
4
Warum man trotzdem festhält an der eigenen These
5
Kanon: Wichtige Denker der eigenen Position
6
Erste Schritte in Richtung einer Verwirklichung
III Refrains
1
Ludwig von Mises, unser nicht makelloser Held
2
Liberalismus und Anarchismus: ein schmaler Grat
3
Friedens- oder Gewaltmärkte?
4
Verfassung der Freiheit als unvollendeter Fortschritt
IV Bridge
Das Stadtrat-Gespräch in Liberstadt 2016
V Kontra-faktischen Skizzen
Einleitung: Hätte es anders kommen können?
Ein klassisch liberales, friedliches Deutschland, 1849 bis 1914
Ukrainische Anarchisten verhindern den Zweiten Weltkrieg, 1920 bis1939
VI Sündenregister
Fehler unserer liberalen und anarchistischen Ahnen
Index
Im «Vincent» gibt es eine Nische mit Blick auf Spreekanal, EY mit Tränenpalast, S-Bahnhof Friedrichstraße. Bei warmem Wetter ist sie offen & unverstellt zum schmalen Bürgersteig darunter. Zwei Barhockerstühle, ein Jack Daniels, ein Cuba Libre. Vorbeischlendernde Touristen, joggende Berliner und zum Bier strebende etablierte Damen und Herren könnten Worte und Namen von zwei Herren hören, die kaum jemand von ihnen zuordnen kann: Proudhon und Bakunin, Hayek und Hazlitt, dezentraler politischer Wettbewerb, eine verpasste Chance, Anarchisten und Liberale.
Im Laufe der Jahre wechselten Bücher über den Tisch den zugeneigten Besitzer: Proudhon: Für eine dezentrale Nation. Unterschied ist Leben, Harmonie der Tod. Politik macht Ohnmacht. Mit Marx gegen Marx. Ein liberales Manifest. Drei Mal Freiheitsliebe und 17 Zeilen für die Freiheit. Fortsetzung folgt.
Der Austausch der beiden auf dem Barhocker wird von Vincent van Gogh beobachtet, zumindest von einigen seiner Gemälde. Inzwischen ist die Konversation in den Sessions ähnlich umfangreich wie es die Briefwechsel von van Gogh waren. Während van Goghs Werk dem Post-Impressionismus zugeordnet wird und stilistisch Aspekte des Realismus, Naturalismus und Impressionismus aufgreift, fanden und finden die Sessions in der Zeit des Post-Liberalismus statt. Impressionen des Tagesgeschehens werden zwar aufgegriffen, indes geht es um reale Alternativen und um positive Utopien einer freiheitlicheren Welt.
Ein Ursprung der Sessions liegt in der Veranstaltung «The Battle: Ankap versus Libakap», die das Antibürokratieteam initiiert hatte. Der «Mythos Anarchokapitalismus» traf auf «Widerstand: Aus den Akten Pinker vs Anarchy». 2016 standen Gegensätze, intellektuell aufpoliert und munter gebattelt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Impulse für die wiederbelebte Österreichische Schule waren Teil einer breiteren Diskussion mit einem engagierten Publikum.
Im Vincent ist van Gogh Gastgeber und Publikum zugleich, stehen Gemeinsamkeiten beider Weltanschauungen und das, was sie zu sagen haben, stärker im Vordergrund. Dazu gehört die Suche nach einer Antwort auf die Frage: War das im 19. Jahrhundert versäumte Bündnis von Anarchisten und Liberalen eine verpasste Chance?
Zurück in die Zukunft des 19. Jahrhunderts. Pierre-Joseph Proudhon, der französische Revolutionär und Gegenspieler von Karl Marx, attackierte in mehreren Briefen zwischen 1862 und 1864 den italienischen Zentralismus. Proudhon warb für den Föderalismus, der dem Wesen Italiens entspreche: geographisch, ethnographisch, historisch, politikökonomisch und völkerrechtlich.
Für ihn ist das Prinzip der Revolution nicht der starke Einheitsstaat, vielmehr die eigenständige, also sich selbst verwaltende Kommune, die mit anderen Kommunen durch freiwillige Föderation Verbindungen eingeht. Keine Armee, keine Bürokratie, keine Steuern, keine Überwachung. Für seine neuen Ideen erfindet er den Begriff «Anarchismus».
Wäre die Geschichte Italiens richtig abgebogen, in Richtung Föderalismus, so hätte das ein Beispiel für Frankreich und damit auch Deutschland sein können. Kaum auszumalen, wie die Welt sich entwickelt hätte, wenn Europa und der Welt die Geißel des Nationalismus erspart geblieben wäre. Wahrscheinlich würden wir heute nicht den verkrampften, zentralistischen Korporatismus erleben, der so sklerotisierend wirkt. Stattdessen würde sich eine kreative Vielfalt im Umgang mit zahlreichen Herausforderungen entfalten, deren ausufernder Krisencharakter erst durch eine politisierte Zentralisierung konstruiert werden konnte.
Zentralismus zerstöre das Politische statt das politische Leben der Massen zu heben, diagnostizierte Proudhon zeitlos treffend. Die Nation werde nach dem Raub der Selbstbestimmung der 26 Millionen Menschen von einer gewaltigen Bürokratie, von Legionen von Beamten beherrscht werden. Die Nation werde ersetzt durch Angestellte, Soldaten, Steuerzahler. Die Einheit Italiens werde zum Grundstein von Despotismus und bürgerlicher Ausbeutung. Das Nationalstaat-Streben habe viel Blut und Opfer, Geld, Bildung und Freiheit gekostet, auch für Frankreich.
Berlin, im Deutschen Herbst 2022
Michael von Prollius Stefan Blankertz
Mit dem klassischen Liberalismus bricht die Menschheit in die moderne Welt auf. Massenwohlstand und massenhaftes Entkommen aus einer durch die Geburt vorherbestimmten Welt sind Folgen. Der klassische Liberalismus, fortan als «Liberalismus» bezeichnet, ist und bleibt der Schlüssel für Wohlstand, Wohlbefinden und Wohlfahrt. Ein regionales, nationales, internationales, globales, kosmopolitisches Begreifen der mit Menschen belebten Welt.
Der Liberalismus ist identisch mit dem Wert der besseren Ideen und weist den Weg in eine bessere Zukunft. Erst mit den liberalen Ideen der Aufklärung endet die absolute Herrschaft der Wenigen mit ihrem Reichtum und beginnt die Entfaltungsmöglichkeit der Vielen – unauflösbar verbunden ist damit auch der Wechsel vom Existenzminimum zum Wohlstand der Massen.
Im Mittelpunkt des Liberalismus steht der einzelne Mensch, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seiner proportionierlichsten Bildung der Kräfte zu einem Ganzen. Das Privateigentum und die Herrschaft des Rechts sind notwendige Bedingungen. Das Recht des Stärkeren wird durch die Herrschaft des Rechts ersetzt. So kann sich die Freiheit eines jeden Einzelnen entfalten. Zugleich wird die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen unter allgemeinen Rechtsgesetzen in Einklang gebracht.
Das Koordinationsproblem und damit das Problem von Knappheit und Opportunitäten lösen Menschen auf Märkten selbstbestimmt und selbstverantwortlich. Kooperation und Wettbewerb sind die elementaren Bestandteile des Entdeckungsverfahrens, das uns Dinge beschert, von denen die Masse nicht einmal geträumt hat – vom Bleistift über Waschmaschinen und Geschirrspüler bis iPod und iPad.
Für das Dilemma der Macht gibt es eine praktikable Lösung: Jemand muss mit etwas Macht betraut werden, aber niemand kann mit viel Macht ausgestattet werden. Deshalb ist für klassisch Liberale der Minimalstaat mit hoheitlichen Aufgaben die bestmögliche Lösung – bessere Alternativen gibt es nur bei den Engeln; und glauben Sie mir, als Erzengel Michael weiß ich, wovon ich rede.
Im Unterschied zum Anarchokapitalismus und Anarchismus wird die mit Macht ausgestattete Organisation – der Staat – sichtbar und abgrenzbar gemacht, sie wird verschiedenen Verfahren und Regeln unterworfen, die sowohl für Transparenz und Rechenschaft sorgen sollen als auch wirksam einhegen soll. Das Problem bleibt: Wer kontrolliert den Kontrolleur, wer beschränkt die Macht des Mächtigen? Jemand muss etwas Macht innehaben, aber man kann niemandem trauen, der viel Macht besitzt.
Liberale sind offensichtlich keine Anarchisten. Liberale wollen den Staat nicht abschaffen, sondern klein halten. Sie lehnen den umverteilenden, den räuberischen, den selbstbezogenen Staat ab und arbeiten auf eine Begrenzung des Staates zur Sicherung der Freiheit hin. Liberale wollen die aktuelle Gesellschaft nicht überwinden, sondern mehr Freiheit, Verantwortung und Selbstbestimmung erwirken. Ihre Utopie ist der Minimalstaat.
Die historischen Verdienste des Liberalismus bestreiten Anarchisten nicht, weder in ihrer klassischen Ausrichtung von Proudhon bis Paul Goodman noch in ihrer anarchokapitalistischen Ausrichtung. Doch die Probleme des Liberalismus beginnen nicht erst mit dem Aufkommen des Sozialliberalismus in den 1970er Jahren, dem Kompromiss der Liberalen mit der Sozialdemokratie, und nichteinmal erst mit dem Nationalliberalismus, dem Kompromiss der Liberalen mit dem militaristischen Nationalstaat. Ob bei den kriegerischen Konstitutionen des geeinigten Italiens oder des Deutschen Reichs, ob in Österreich-Ungarn, ob in Spanien, die Liberalen haben stets den Zentralstaat favorisiert, meist den Föderalismus verachtet und Sezessionsbestrebungen bekämpft. Die Opposition der englischen Liberalen gegen den Kolonialismus war auf einige wenige Vertreter beschränkt. Sogar in den USA haben die Liberalen von der Konstitution des Zentralstaats an diesen meist hochgehalten; die Opposition gegen die Verfassung – also die Idee, die USA sollten ein Bund von souveränen Einzelstaaten bleiben – war zwar stark, aber musste ohne intellektuelle Unterstützung der Liberalen auskommen. Liberale wie Ludwig von Mises, der ein unumschränktes Sezessionsrecht forderte (und damit, ohne es selber zu realisieren und zu wollen, zum Begründer des Anarchokapitalismus wurde) stellten leider Ausnahmen dar.
Als ein Beispiel führe ich die Bildungsreform des von mir hoch geschätzten Wilhelm von Humboldt an. Humboldt war «eigentlich» der Auffassung, der Staat habe in Erziehung nichts zu suchen. Aber er verabscheute die vorhandenen vielfältigen ständischen, handwerklichen und religiösen Bildungs- und Ausbildungswege so sehr, dass er doch meinte, zuerst müsse ein verpflichtendes zentralstaatliches Schulwesen mit einheitlichen Methoden (Vermittlung von Buchwissen), Inhalten (klassische Sprachen) und Abschlüssen (Abitur) eingerichtet werden, um dann dereinst wieder in die Selbstverwaltung der Bürger zurückgegeben werden zu können. Dezentralisierung durch Zentralisierung, eine Dialektik, die an Lenin erinnert.
Während, wie gesagt, die Folgen der durch die Liberalen in Gang gesetzten sozialen und wirtschaftliche Befreiung, die Michael so wunderbar zusammengefasst hat, unbestritten sind, blieb die Neigung der großen Mehrheit der Liberalen zu Nationalismus (Militarismus), Kolonialismus, Interventionismus und Sozialstaat nicht ohne negative Folgen. Wie Liberale wissen und die besten der liberalen Wirtschaftstheoretiker bis ins letzte Detail analysiert haben, führen hohe Staatsausgaben zur Abnahme des Wohlstands und zur Verarmung gerade der Schwächeren in der Gesellschaft. Der Kolonialismus war ein brutal schreckliches Unrecht. Die Kriege waren für die Bevölkerung eine Katastrophe. Die Vertreter der marktradikalen Manchester-Schule haben klar ge sehen, dass ein Liberalismus, der sich nicht radikal gegen Kolonialismus und Interventionismus wendet, verlieren wird. Doch ihre Stimme wurde nicht gehört. Die Chance eines Bündnisses aus Liberalen und Anarchisten ward (wie im Intro bereits angedeutet) verpasst.
Kann man die Versäumnisse und Defizite der Liberalen der Idee des Liberalismus anlasten? Sicherlich nicht alle. Aber meines Erachtens unterschätzen die Liberalen in ihrer Theorie die Eigendynamik der Staatsgewalt: Sie lässt sich nicht eindämmen. Und damit sind wir bei der systematischen Grundthese.
1. Staatliche Herrschaft ist nicht legitimierbar. Die Legitimation staatlicher Herrschaft (= strukturelle Gewalt) aufgrund eines Übereinkommens, das einem gegenseitigen Vorteil dient, kann bloß fiktional sein, denn ein solches Übereinkommen würde ausschließlich zustimmende Personen binden, also keinen Territorialstaat ergeben. Deshalb muss staatliche Herrschaft sich aus anderen Quellen speisen. Diese anderen Quellen sind das ökonomische Interesse, nicht-zustimmende Personen ihrer Ressourcen zu berauben (d.h. Ausbeutung), oder das paternalistische Interesse, Vorschriften zu machen (d.h. Bevormundung). Diese Ausbeutungs- und Bevormundungsinteressen führen zu den sozialen Problemen, welche eine ständige Erweiterung von staatlicher Herrschaft antreiben. In dieser Weise schreitet die Erweiterung der Staatsgewalt fort, bis die Moral und die soziale Kooperation aufgezehrt wurden. Nur dann führte der Zusammenbruch des Staats nicht in Katastrophen, wenn hinreichend viele Menschen die Perspektive der Befreiung in Betracht ziehen.
2. Staatliche Herrschaft ist dysfunktional. Der Staat verursacht selber die meisten Probleme, die er lösen soll. Die übrigen Probleme löst er schlechter, als freiwillige Kooperation es könnte. Freiwillige Kooperation setzt Verfügung über die eigenen Ressourcen voraus, also Eigentum. Der Grund für die schlechte Performance des Staats liegt darin, dass Gewalt stets gegen die Interessen der mit ihr Bedrohten verstößt. Immer gibt es Verlierer. Hieraus resultiert ein permanenter versteckter – oder teilweise offener – (Bürger-) Krieg. Demgegenüber stellt die freiwillige Kooperation eine Win-win-Situation her. Auf diese Weise werden weder alle Probleme gelöst noch alle Konflikte vermieden, aber die Möglichkeitsbedingungen für friedliche Problem- und Konfliktlösungen grundgelegt.
Staatliche Herrschaft ist legitimierbar und besitzt noch zwei weitere Komponenten: Prosperität & Repression. Zugleich lassen sich reale und konstruktivistische Formen der Legitimation analytisch trennen, aber nicht gegen einander ausspielen. Staatliche Herrschaft ist indes strukturell problematisch
Staatliche Herrschaft ist dysfunktional, weil sie Herrschaft ist, nicht oder nicht primär weil sie staatlich ist. Eine Ent-Mystifizierung des Staates sieht diesen als eine Interessenorganisation an, die wie andere Lobbyisten auch dem Nutzen ihrer Angehörigen und Profiteure dient. Das bedeutet indes nicht, dass diese Organisation ausschließlich selbst bezogen handelt, sondern vielmehr auch nützliche Dienstleistungen erbringt.
Daraus folgt eine liberale Position im Kontext der anarchokapitalistischen Grundthesen:
1. Die anarchokapitalistische Gesellschaft ist nicht realisierbar. Sie ist bisher nicht entstanden, kann nicht entstehen bzw. ist so instabil, dass sie unmittelbar in Staatsbildungsprozesse übergeht und/oder mit Problemen der Herrschaftsanmaßung nichtstaatlicher Gewaltakteure zu kämpfen hat. Das Verschwinden des Staates führt nicht zum Absterben von Herrschaft.
2. Der Minimalstaat wäre das Optimum. Staatliche Herrschaft ist auch, aber nicht nur dysfunktional; vielmehr erfüllt der Staat Aufgaben, die nützlich sind und kaum anders erbracht werden, darunter das Regeln des Zusammenlebens in einer Gesellschaft mit dem Durchsetzen des Rechts, auch in Form von Standards, das Gewährleisten inneren Friedens und der Schutz vor äußeren Angriffen – also primär die klassischen hoheitlichen Aufgaben des Schutzes von Leib, Leben und Eigentum. Bei aller berechtigten Kritik scheinen positive Aspekte moderner Staatlichkeit und das Bedürfnis der Masse der Menschen nach einem Staat von Anarchokapitalisten ignoriert zu werden. Das Zuspitzen von Gegensätzen ähnelt einem Schwarz-Weiß-Denken und wird der Ambiguität, der Gleichzeitigkeit positiver und negativer Aspekte nicht gerecht. Es gibt verschiedene Auswege:
a. Rolling back the State.
b. Politischer Wettbewerb.
c. Sezession.
Die gemeinsame Perspektive von Anarchokapitalisten und Liberalen könnte ein ihnen beiden gerade noch zustehender, geradezu bequemer Platz sein: die mahnende Opposition.
Die Aussage, «staatliche Herrschaft ist (nicht) legitimierbar», hat zwei Aspekte, der eine ist die inhaltliche Frage, ob der Staat sinnvolle Aufgaben hat und übernehmen muss. Der andere Aspekt besteht in der formalen Frage, auf welche Weise die staatliche Herrschaft legitimiert werden könne. Die liberale Standard-Antwort, staatliche Herrschaft sei über demokratische Verfahren legitimierbar, ist durchaus fragwürdiger als die gegenwärtige allgemeine Akzeptanz ahnen lässt. Dazu führe ich niemand geringeren als Jean-Jacques Rousseau an. Im «Gesellschaftsvertrag» sagt er am Anfang (später im Text vergisst er das dann), die Mehrheitsregel setze eine initiale einstimmige Übereinkunft voraus, und er statuiert, diejenigen, die initial nicht zustimmen, dürften nicht als Teil des Staats betrachtet werden. Weiter führt er aus, Eltern könnten nicht für ihre Kinder zustimmen, sodass gar keine generationsübergreifende Konstitution eines Staats erreichbar ist.1 Diese Argumentation ernst genommen (und ich kenne keine Widerlegung) bedeutet, dass der «Gesellschaftsvertrag» tatsächlich kein Staatsvertrag ist, als der er miss deutet wurde (z. B. in der Französischen Revolution durch die Jakobiner) und wird, sondern ein Vertrag über die Gründung einer Gesellschaft mit selbst gesetzten Regeln, die aber nicht auf jene ausgedehnt werden können, die keine ausdrückliche Zustimmung gegeben haben – und insofern ist Rousseaus Gesellschaftsvertrag die Konstitution des Anarchokapitalismus.
Der Gesellschaftsvertrag ist eine gleichermaßen nützliche wie unnütze Konstruktion, eine Denkfigur. Zunächst sollte man die Frage stellen, welches Kriterium geeignet ist, um Legitimität zu messen. Das wirft die Anschlussfrage auf, in welchem Ausmaß das Kriterium erfüllt sein muss. Ein Kriterium ist die Zustimmung der Menschen, die in einem Staat leben. Die maximale Zustimmung wäre bei Einstimmigkeit erreicht. Für Verfassungen gilt eine Zweidrittelmehrheit. In demokratischen Abstimmungen reicht eine absolute Mehrheit. Kluge Menschen, die Abstimmungen durchführen, weisen darauf hin, dass bei einer knappen Abstimmung in bedeutenden Fragen die siegreiche Seite nachgeben sollte, weil die Mehrheit zu gering ist. Das hätte beim Brexit der Fall sein können. Ich habe es selbst in vorbildlicher Form in einem Club erlebt. Aus Praktikabilitätsgründen und daneben auch, um Trittbrettfahrer auszuschließen, welche die Mehrheit ausbeuten wollen, sind einhundertprozentige Zustimmungen sehr selten. Die Transaktionskosten sind zu hoch.
Hinzu kommt, dass eine Staatsgründung, etwa diejenige der Bundesrepublik Deutschland, für lange Frist gilt und damit auch langfristig relativ verlässliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, an denen sich die Bürger, Unternehmer und andere Staaten orientieren können. Eine regelmäßige Abstimmung ist schlicht nicht praktikabel. Bei Kindern gilt die Annahme der Zustimmung, weil sonst jeden Tag neu abgestimmt werden müsste und Säuglinge sich nicht äußern können.
Im Übrigen ist unklar, was die Folge einer Legitimitätsabstimmung sein sollte, wenn z. B. eine 52 % Mehrheit mit Nein stimmt. Und worauf richtet sich die Frage nach der Legitimität «des» Staates? Schließlich gibt es unter jedem Recht absehbar Gewinner und Verlierer. Die Konstruktion der schwerlich verbindbaren Elemente «Sozial» als Staat und «Vertrag» als individuelle Zustimmung folgt der Annahme, dass eine rechtliche bzw. verfassungsmäßige Regel dem nahe kommen soll, was durch freie Zustimmung bei Abwesenheit von Transaktionskosten erreichbar wäre. Und der Sozialvertrag zielt nun darauf ab, dass die Menschen dadurch besser gestellt werden, dass der Staat sie zwingt, sich den Verfassungsregeln zu beugen. Offenkundig schwingt die Grundannahme mit, dass eine gewaltlose anarchistische Welt nicht existieren würde. Außerdem ist die Annahme enthalten, dass Individuen zu ihrem eigenen Vorteil ihre Rechte einschränken können und in diesem Fall wollen und dass kollektives Handeln im Interesse von Menschen ist. Verfassungen entstehen in Kontexten, im US-Fall war das der Ausgang aus dem Bürgerkrieg – einem hobbesschen Zustand. Sowohl James Buchanan als auch Richard Epstein haben sich mit der Frage beschäftigt und meiner Erinnerung nach Rousseau verworfen.
Bedeutender als die theoretische Denkfigur, die für mich keine rechte Entsprechung in der Realität findet, ist die Legitimität von Sezession und die Bedeutung von Non-Zentralität, das bedeutet einen gegenläufigen Prozess zu realisieren, der dem weltweit beobachtbaren Streben nach immer größeren staatlichen Gebilden entgegentritt und durchaus parallel verläuft.
Natürlich kann aus anarchokapitalistischer Sicht das Konstrukt Gesellschaftsvertrag zur Konstituierung des territorialen Gewaltmonopols nicht legitim sein. Ich finde bemerkenswert, dass Rousseau mit einem der wenigen Versuche, eine solche Konstituierung formal (und nicht inhaltlich) zu legitimieren, scheitert.
1 Siehe für entsprechenden Stellen im französischen Original und in deutscher Übersetzung: Stefan Blankertz, Einladung zur Freiheit: Werkbuch libertäre Theorie und Praxis, Berlin 2020 (edition g. 118), S. 17-22.
Zunächst erscheint die Idee sympathisch und ansprechend, in einer Welt zu leben, die ohne einen Gewaltmonopolisten auskommt, mit dem die monströsesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verbunden sind. Eine Institution, die geschaffen wurde, um Menschen dazu zu bringen und zu zwingen, gegen ihren Willen zu handeln, ist nicht amüsant; das gilt umso mehr, als Menschen mit Macht und unter Anwendung von Gewalt andere Menschen zwingen. Wie Macht korrumpiert, wird nicht nur bei sozialen Katastrophen deutlich, sondern bereits im alltäglich erlebbaren, legalen, aber illegitimen Missbrauch. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen parat.
Damit korrespondiert das teils beherzte, teils hartnäckige Eintreten für friedliche Selbstbestimmung, ob als Individuum oder als Gruppe. Wer möchte nicht im Frieden leben? Wer nicht nach eigenen, sondern fremden Zielen? Wer kann dem Gesetz der Somali, der staatsfreien Herrschaft des Rechts, beschrieben von Michael van Notten, nicht etwas abgewinnen? Leider wenige, die immer noch zu viele sind. Im Inland und im Ausland gibt es autoritäre, machthungrige Menschen.
Hinzu kommen gemeinsame Stärken wie die spontane Ordnung, Konventionen als Quelle von Recht, die Wertschätzung des Privateigentums und der Privatsphäre.
Es gibt eine ganze Reihe von Übeln, die Menschen Menschen zufügen, von der Kinderpornographie bis zur Vernachlässigung stark pflegebedürftiger Personen oder gar Gewalt gegen sie. Übel, die der Staat nicht verursacht hat; bei denen es naiv wäre anzunehmen, dass sie ohne Staat einfach verschwinden würden. Bezogen auf diese Übel tut es gut, auf einen Staat verweisen zu können, der mit Gesetzen, Überwachung und finanzieller Unterstützung einspringt. Es handelt sich auch um Übel, für die ich nicht eine mich (und andere) überzeugende Lösung parat habe. Ausgehend von der Regelung dieser Übel hat es durchaus etwas für sich, eine gemeinsame rechtliche Basis für ein territorial-kulturelles Gebiet zu formulieren: Innerhalb dieses Gebiets würde definiert, wie Konflikte, die im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenleben entstehen, geregelt werden. Dies hat etwas Beruhigendes und gibt für das Zusammenleben eine stabile, kalkulierbare Grundlage. Ein Minimal- oder Nachtwächterstaat, wie ihn etwa Wilhelm von Humboldt (1767-1835) in seinen «Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen» 1792 beschrieben hat, wäre eine famose Sache. Freilich ist diese geniale Frühschrift Humboldts zu Lebzeiten nie erschienen. Ihre Wirksamkeit auf die klassische Phase des Liberalismus war damit gleich null, denn sie wurde erst 1851 aus dem Nachlass herausgegeben. Als John Stuart Mill (1806-1873) sich 1859 in «On Liberty» auf sie bezog, war er zugleich damit beschäftigt, den klassischen Liberalismus zu verwässern: In allen Fragen, bei denen nachgewiesen werden könne, dass staatliche Interventionen utilitaristisch gemessen vorteilhaft seien, sollte man sich für sie entscheiden – ein Gedanke, der Humboldt fern lag.
Der klassische Liberalismusweist eine ganze Reihe von Schwächen auf. Nichts ist perfekt. Der beste Quarterback aller Zeiten, Tom Brady, wurde gefragt, wie viele perfekte Würfe er machen würde – von 100. Seine Antwort lautete, vielleicht sieben, eher drei.
Schwäche #1: Der Minimal- wird zum Maximalstaat. Wie Anthony de Jasay in «Der Staat» aufzeigt, trägt jeder Staat eine Tendenz zum Totalitären (sic!) in sich. Es gibt hinreichende Anreize für Angehörige des Staates und für Wähler sowie Profiteure des Staates in der Logik des kollektiven Handelns, dessen Zuständigkeit auszudehnen. Und es existieren genug Koalitionen, die das bewirken können. Auf deutschem Boden wurde das im 20. Jahrhundert zwei Mal auf furchtbare Weise unter Beweis gestellt, beim ersten Mal auf nahezu einzigartig brutale Weise. Bereits 1892 hatte der Ökonom und Staatssozialist Adolph Wagner (18351917) das nach ihm benannte Gesetz formuliert. Demnach wachsen Staatsausgaben und Staatsquote überproportional zum Bruttosozialprodukt.
Schwäche #2: Historisch, empirisch ist der Minimalstaat eine Ausnahme. Diese Tatsache verbindet ihn ein wenig mit dem Anarchismus und dem Anarchokapitalismus, bei denen die empirische Lage noch schlechter aussieht. Bis zum Ersten Weltkrieg waren niedrige Staatsquoten im einstelligen und unteren zweistelligen Bereich mit bis zu 15% verbreitet. Gleichwohl hat ein «Nachtwächterstaat» in Deutschland nie existiert. Regulierung und Interventionen waren dafür zu umfangreich, der Drang zum Zentralstaat zu mächtig. Gleichwohl hat es in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten Reformen gegeben, die den Staatseinfluss zeitweise zurückschraubten und kurzfristig eindämmten, wenn auch von einem hohen Niveau wie in Skandinavien, Großbritannien und Neuseeland.
Schwäche #3:Die Idee der Freiheit ist schwer zu vermitteln. Liberalismus ist anspruchsvoll und als Vernunft geleitete Weltanschauung weitgehend emotionslos. Zugleich steht die Forderung nach einer Herrschaft des Rechts statt einer Herrschaft von Menschen über Menschen im Widerspruch zum verbreiteten Wunsch, gut regiert zu werden.
Ein Perspektivwechsel wirft eine zunächst unerwartete Frage auf: Ist der liberale Staat zu schwach, um sich gegen Feinde zu verteidigen? Eine Reihe liberal eingestellter kluger Köpfe vertrat diese Auffassung in der Endphase und mit Blick auf den Untergang der Weimarer Republik.
Die Schwäche der anarchistischen Position ist genau das Gegenstück zum Puzzleteil, das ich als Stärke des Minarchismus bezeichnet habe: Für eine nicht-staatliche Regelung der rechtlichen Basis zur Lösung von Konflikten und von schweren Beeinträchtigungen der Menschenwürde liegen in einer modernen Gesellschaft und Wirtschaft keine umfassenden Beispiele vor. Und, wie Michael weiter oben schrieb: Man fühlt sich vom Recht der Somali vielleicht zwar angezogen; das freilich eher im Sinne einer exotischen Erbauung. Selbst wenn über das traditionale vorstaatliche Recht mehr Analysen vorliegen, als diejenigen Michael von Nottens (beispielsweise Alfred Kroeber, Christian Sigrist, Uwe Wesel, Hermann Amborn), so beziehen diese Analysen sich auf Gesellschaften, die in vielfacher Hinsicht mit der unsrigen nicht vergleichbar sind. Eine Übertragung fällt ziemlich schwer und muss den Umweg über Abstraktionen gehen. Andererseits stellt sich bei der Analyse nicht-staatlicher Konfliktlösung im Rahmen eines herrschenden Staats – sei dies im Mittelalter, sei dies im Kapitalismus der frühen Neuzeit, seien dies alltägliche Konfliktlösungen, seien dies heutigen private Schlichtungsstellen und Mediationen – stets die Frage, wie sie sich gestaltet, würde der Rahmen wegfallen, den der Staat setzt.
Ein Teilgebiet des fehlenden stabilen Rechtsrahmens in der Anarchie ist das Problem bei