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»Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.« Als 2011 der Arabische Frühling voll entfacht ist, löst der Fund zweier Leichen auch in Beirut erste Unruhen aus. Während schon Häuser brennen, schreibt Amin seine Erinnerungen nieder: an das Jahr 1994, als er als Jugendlicher mit seiner Großmutter in den Libanon zurückkehrte – zwölf Jahre nach dem Tod seiner Eltern. An seine Freundschaft mit dem gleichaltrigen Jafar, mit dem er diese verschwiegene Nachkriegswelt durchstreifte. Und daran, wie er schmerzhaft lernen musste, dass es in diesem Land nie Gewissheit geben wird – weder über die Vergangenheit seines Freundes, noch über die Geschichte seiner Familie. Nach dem internationalen Bestseller Am Ende bleiben die Zedern führt auch Pierre Jarawans neuer Roman in eine Welt voller unvergesslicher Figuren, sinnlicher Eindrücke und Emotionen, einfühlsam, spannend und virtuos verknüpft mit der bewegten Geschichte des Nahen Ostens. »Pierre Jarawan schreibt temporeich und klar und mit einer erzählerischen Souveränität, die den Leser vorantreibt.« The Guardian »Pierre Jarawan ist ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Seine expressive Bildsprache, schwelgerisch durchzogen von Melancholie, lässt fremde Welten spürbar werden.« Lalena Hoffschildt/Hugendubel am Stachus, München »Mit beeindruckender Leichtigkeit entwirft Pierre Jarawan eine Geschichte, die so lebendig aus den Seiten strahlt, dass ich mich beim Lesen tief eingehüllt gefühlt habe in diese besondere Atmosphäre aus Stimmen, Duft und Licht. Eine Welt, aus der man gar nicht mehr auftauchen möchte – eine Welt voller Figuren, denen man bis zum letzten Absatz folgen will. Scheinbar mühelos verbindet er dabei persönliches Erleben seiner Charaktere mit weltgeschichtlich Großem, verwebt wundersam Märchenhaftes mit politisch Hochbrisantem. 'Ein Lied für die Vermissten' ist soghaft spannend und atmosphärisch berauschend – und all das in einer Sprache, die wundervoll klar ist und genau meint, was sie sagt. Was für ein begnadeter Erzähler!« Maria-Christina Piwowarski/Buchhandlung ocelot, Berlin
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Cover & Impressum
Yeki Bud. Yeki Nabud
Erste Strophe
Ein Haus mit vielen Zimmern
Camera obscura
Stürme
Hakawati
Ein verwilderter Garten
Auszug aus meinem Notizbuch
Zahrat al-wala’a
Ein Lied für die Vermissten
Zweite Strophe
Jafars Auge
Metamorphosen
Geisterbahn
Der einzig sichere Ort
Vom Verbergen
Notizbuch, 7. Dezember 1994
Die letzten Wintertage
Eine altbekannte Sehnsucht
Terra incognita
Kleine Feuer
Aus meinen Gesprächen mit Saber Mounir
Nirgends ein Irrlicht
Ausweichmanöver
Lichternis
Der Junge im Spiegel
Erdrutsch
Gewissheit
Allegorien der Einsamkeit
Die Enthüllung des Raupenzüchters
Vom Ankommen
Dritte Strophe
Am Anfang ein Schatten
Mehr oder weniger in Sicherheit
Das Ende von etwas
Ein Sandkorn
mamihlapinatapai
Nachbemerkung
ICH DANKE
Für Kathleen
Jetzt bleiben Fragmente.Und du ganz tief in mir vergraben,wie eine Geschichte in Diabildern,an jenen Tagen, als wir in Stadtkartenverschwanden, um aus dem Ozean wieder aufzutauchen.
Hasune El-Choly
Die besten, die ältesten Geschichten der Welt beginnen seit jeher auf diese Weise: Es war so. Und es war nicht so. Ein einzelner persischer Satz aus einer ganzen Schatzkiste persischer Sätze, aber dieser ist das Fundament. Die Triebfeder jedes Geschichtenerzählens. Der Beginn jedes Märchens.
Jemand war dort. Und jemand war nicht dort.
Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit.
Yeki Bud. Yeki Nabud. Deine Fantasie ist ein windschiefes Haus. Oder ein geheimer Thronsaal. Höre, wie es schwirrt vor Botschaften und Bildern. Sieh dich um. Atme ein. Harzdurchwirkte Luft und Olivenhaine. Etwas im Duft dieses Augenblicks fordert dich auf: Habibi ya albi, schließe die Augen und denke an eine weiße Stadt. Die Stadt der Brunnen und des weichen Lichts, die Orchidee des Mittelmeers. Schließe die Augen und denke an Beirut. Denn es war so, und es war nicht so, wie die Alten es erzählen, das Beirut von damals. Sie erinnern sich gut.
Das Beirut vor dem Krieg? Habibi ya eini, das waren die Sonne, die Freiheit und die Lebenslust! Und die Sommernächte in Pepe Abeds Taverne direkt am Meer, wo der Hummer die schönste Farbe hatte und nachts die Jachten vertäut auf den Wellen wogten – das Saint-Tropez der Levante. Von den Decken der Familien am Strand stieg das ganze Jahr über der warme Geruch der Mezze auf, die man bei Abu Naim in der Rue Duraffourd kaufte, wo es auch Dattelkekse für die Kleinen gab, die sie am Meer auf den Felsen verspeisten. Unter ihnen: Schatten auf der azurblauen See – die Flieger der Middle East Airlines im Tiefflug, die immer neue Touristen brachten ins Paris des Nahen Ostens. Das alte Beirut, das war das Licht, das morgens über die Berge kam, um die Stadt mit allen Farben zu übergießen. Oder nachts das schummrige Leuchten in den Jazzbars und Clubs, wo sich das Licht der Scheinwerfer in ihrem Bauchtanzschmuck fing, wenn Jamela Omar tanzte und sang. Dort in der Gegend, nur einen Steinwurf entfernt, stand das altehrwürdige St. Georges Hotel, in dem schwere Teppiche die Gerüchte dämpften und Geheimnisse bewahrten, die Spione am Tresen flüsterten, zwielichtige Figuren auf dem Schachbrett der Stadt. Beirut, das waren die Straßenhunde, die durch die Gassen streiften, und manchmal brachte Maurice, der junge Kellner aus Mar Elias, ihnen marinierte Hühnerleber mit, die er heimlich in der Küche stahl. Denn Beirut, das war Überfluss, das war Nächstenliebe und Rücksicht, wenn die halbe Stadt sich zum Freitagsgebet in den Moscheen leerte und etwas später wieder füllte, während nun die Klänge der Kirchenglocken, die aus dem Osten herüberschallten, die Christen zum Abendgottesdienst luden. Das Beirut vor dem Krieg, das waren die Klänge der Stadt. Stadt der Lieder und Melodien! Passanten sangen, der Muezzin sang, und die Nonnen in den Kirchen sangen mit den Gemeinden. Es gab das Rufen der Geldwechsler am Place des Martyrs, das Lachen der Verliebten an der Corniche, das Schachern der Händler auf dem Souk, rund um den Glockenturm am Place de l’Étoile, und das Gemurmel von Achmed Aziz, dem Schuhputzer vor dem Moonlight Hotel, der Marlon Brando und Brigitte Bardot einen angenehmen Tag wünschte. In dieser flirrenden, bunt gemischten Stadt, in der der armenische Juwelier mit dem maronitischen Schneider und dem schiitischen Obsthändler Dame spielte, in den Vorhallencafés der Basare, wo man sich eine Pfeife teilte und nach der Gesundheit der Familie fragte, aber nie nach der Religion. Denn die Feste, die feierte man gemeinsam, und eine Stadt, die viele Religionen kennt, kennt viele Feiertage. Beirut, das waren die Lieder von Dikran Najarian, dem Lautenspieler an der Rue Monot, der unter den Spitzbogenfenstern seine Lieder sang, die die Frauen in den Zimmern erröten ließen. Und es war das ständige Gemurre von Hussein Badir, dem Souvenirverkäufer an der Rue Hamra, dem der zurückgehende Absatz seiner Sorgenkettchen Sorgen machte, weil die Leute sich einfach zu wenig sorgten.
Es gibt das Erzählen, und es gibt das Schweigen. Und es gibt das Fragen dazwischen. Was war mit dem Misstrauen? Mit den Ängsten, mit den Zweifeln? Wie konnte das, was später kam, passieren und warum? Doch wo Antworten sein sollten, stößt du nur auf Schweigen. Sand und Wüste. Die Geografiebücher sagen: Der Libanon ist das einzige arabische Land ohne Wüste. Doch das stimmt nicht. Die Wüste ist überall. Und in ihr gibt es kein Erinnern, das sich in Sprache fassen lässt. Keine Sprache für das Erinnerte. Das Schweigen, nach dem du fragst, ist tiefer als Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt. Selbst im kleinsten Raum bleiben das Ticken einer Uhr oder das Brummen des Kühlschranks. Dazu draußen vor dem Fenster gedämpfter Rummel, alltägliches Leben. Ruhe, Lautlosigkeit, Stille, es gäbe viele falsche Wörter.
Das Schweigen aber ist anders. Es dehnt sich über jeden Horizont und frisst, was es berührt, und jede Gewissheit, die zu finden du gehofft hast, stiehlt sich davon wie ein behandschuhter Dieb.
Schon die Erzähler früherer Tage in den Cafés und auf den öffentlichen Plätzen von Isfahan, Kairo, Damaskus und Beirut wussten, dass in der Wüste mehr ist als Leere. Dass sich unter dem Sand ganze Städte befinden, Zivilisationen, die irgendwann versunken sind.
»Schon ein Sandkorn genügt« – das sagte mir, als ich noch ein Kind war, einer der alten Meister. Wir waren von einem Sturm überrascht worden und hatten die Nacht im Haus eines Fremden verbracht. »Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.«
»Wie oft holen wir diese Momente hervor,die wir im Rückblick als Wendepunkte erkennen?«
Eine Geschichte erscheint in jeweils anderem Licht, je nachdem wo man sie zu erzählen beginnt. Diese hier ließe sich mit den beiden Särgen eröffnen, die eigentlich einfache Holzkisten waren und die man vor den Augen der Öffentlichkeit von einer Baustelle trug. Oder mit der herabfallenden Asche in einer Straße, als kurz danach die ersten Häuser brannten, als zu befürchten war, alles würde sich wiederholen. Sie könnte auch mit einem Bild beginnen: Großmutter und ich vor einer zugewucherten Mauer, und sie sagt: Hier. Hier ist es passiert. Oder mit einem anderen Bild, einer Zeichnung, die mir ein Mann, der später berühmt wurde, schenkte, als ich dreizehn war. Sie könnte auch damit beginnen, dass ich mir die Linie bewusst mache, in der das Mädchen sich über den Flohmarkt und später von der Geisterbahn weg bewegte, bevor es aus meinem Leben verschwand. Oder mit dem Blick auf eine Hand, die einen Mantel entgegennimmt, in einem alten und schönen Theater. Oder aber, und das erscheint mir richtig, genau in der Mitte. Mit einem Tag vor fünf Jahren. Denn alles ist mit allem verbunden. Und soweit ich weiß und sagen kann, war dies ein Tag, der gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit wies.
2006
Tausend Bomben waren auf Beirut gefallen, und ich war endlich angekommen. Selbst hier in der Abgeschiedenheit des Hauses, in das ich mich zurückgezogen hatte, konnte man sie hören: Jets, die in großer Entfernung über den Himmel jagten, und dann, verzögert und abgeschwächt, das Grollen von Detonationen. Ihre Schallwellen legten die Strecke aus der Stadt bis herauf ins Gebirge innerhalb von Sekunden zurück. Sie stiegen aus dem Tal auf, wälzten sich über die einsamen Hänge und über die Steinmauern meines Hauses hinweg. Ein Zittern der Luft. Die hohen Zypressen vor dem Fenster schwankten. Vögel stoben aus den Zweigen. Wäre es nicht Sommer gewesen, taghell und nur vereinzelte Wolken am Himmel, ich hätte es für Donner gehalten. Ein Sommergewitter.
Ich stand am Küchenfenster und sah den Vögeln zu, wie sie in Schwärmen über den Himmel zogen. Sie legten sich schräg in den Wind, dicht an dicht wie ein geflochtenes Band, stoben über den Hügeln auseinander und verschwanden aus meinem Blick. Ich legte das Werkzeug beiseite und ging hinaus in den Garten. Es war August. Die Luft voller Wärme und Feuchtigkeit. Ein Geruch von Holz, Harz und Laub über dem Garten. Das Haus lag, von zwei Hügeln umgeben, in einer Senke, und ein schmaler Weg, dessen Einfahrt man leicht übersah, führte vom Ende des Anwesens aus in gerader Linie einige Hundert Meter weit auf eine Straße zu. Ich durchquerte den Garten, ging in Hausschuhen den Weg entlang und warf einen Blick in den Briefkasten. Ich hatte ihn blau angestrichen, damit er nicht zu übersehen war, denn das Haus lag versteckt hinter Bäumen. Der Briefkasten war leer. Wieder eine Detonation. Schwach und leise und weit entfernt.
Ich ging zurück ins Haus, setzte eine Kanne Kaffee auf und trat wieder in den Garten, wo ich mich auf einem morschen Stuhl niederließ, den Wind und Wetter lange bearbeitet hatten und der unter meinem Gewicht verdächtig knackte. Eine Eidechse huschte unter einem Stein hervor und verharrte zwei Armlängen entfernt in einem Sonnenfleck.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »hier sind wir sicher.«
Was mich an Nachrichten aus Beirut erreichte, waren kurze, irrlichtgleiche Anekdoten, die ich aufschnappte, wenn ich zweimal in der Woche das Grundstück verließ. Etwa eine Viertelstunde Fußmarsch von der Einfahrt entfernt gab es eine größere Kreuzung. Ein Mann namens Walid kam dort regelmäßig mit seinem Pick-up hin, von dessen Ladefläche er Brot, Reis, Gemüse und Medikamente verkaufte, die die Menschen aus der Umgebung bei ihm bestellten. Die Häuser hier oben lagen so weit auseinander, dass es ihn Stunden gekostet hätte, sie einzeln anzufahren, und irgendwann vor meiner Zeit hatte man sich darauf geeinigt, dass dieser Punkt in etwa in der Mitte lag.
Die Tage, wenn ich vor zur Kreuzung ging, waren im Grunde die einzigen, an denen ich auf meine Nachbarn traf. Viele von ihnen waren hier geboren. Sie grüßten mich, wir unterhielten uns. Und mehr als einmal luden sie mich zu sich ein. Ein Abendessen, ein kühles Getränk in der Sommerhitze, höfliche Gespräche. Ich glaube, sie misstrauten mir. Hier oben in den Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende, fast zwei Autostunden von Beirut entfernt, lebte sonst niemand unter dreißig. Nur ein Sonderling also konnte dieses Haus in den Bergen gekauft haben. Dieses Haus mit dem verwilderten Land, das es umgab.
Während Walid seine Ware verteilte, ließ er das Radio laufen. So drängten sich seit Wochen Nachrichten in die Gespräche: ein Luftangriff auf Kana. In Beirut wurden die Viertel der Hisbollah beschossen, die sich in Wohnhäusern unter Zivilisten verschanzte. Das Ölkraftwerk in Dschije war bei Kampfhandlungen beschädigt worden, Tausende Tonnen Öl flossen seitdem ins Meer.
»Vollkommen schwarz ist die See vor Byblos«, ergänzte Walid, der gerade zwei Kartoffelsäcke von der Ladefläche hob, um sie einer Frau auf die Sackkarre zu reichen, »ein schwarzer Teppich, und was den Fischern ins Netz geht, ist bereits tot.«
Ich stand da und versuchte, mich an die geschwenkten Fahnen, den Jubel, die Tänze zu erinnern. All das war erst ein knappes Jahr her. Freudentränen waren in aller Öffentlichkeit vergossen worden, als die syrische Armee abgezogen war. Nach dreißig Jahren militärischer Präsenz. Nach Wochen der Proteste und des öffentlichen Drucks waren die letzten Panzer über die Grenze gerollt, dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Ich war an jenem Tag durch Beirut gelaufen. Die Stadt eingehüllt ins letzte Licht des Tages, dunkelblau, fast Nacht, die langen Schatten der Häuser und in diesen Schatten Menschen, großes Gedränge, ein Gefühl von statischem Knistern. Ich sah die Leute einander umarmen, hörte sie rufen: Endlich! Endlich können wir aus eigener Kraft unser Land führen! Es war wie ein Lied, fröhlich und hoffnungsvoll, und ich weiß noch, dass ich dachte: Vielleicht, vielleicht ist dies der Anfang von etwas Gutem, auch für mich.
»Wir werden die Hisbollah vernichten und den Libanon um zwanzig Jahre zurückwerfen«, zitierte Walid jetzt einen israelischen General. »Das haben sie gesagt. Zwanzig Jahre. Den Flughafen, die großen Straßen und Brücken haben sie zerstört. Sogar das Meer ist abgeriegelt.« Walids Gestalt hob sich gegen den Himmel ab. Von der Ladefläche aus sah er auf uns herab, unser Bote aus der Stadt.
In der kurzen Zeit, die ich hier oben wohnte, hatte meine Unruhe abgenommen. Und immer häufiger gab es überraschende Momente heller Zuversicht, ausgelöst durch nebensächlichste Dinge: wanderndes Licht an der Wohnzimmerwand, das genau zur Mittagszeit das Bild erhellte, das ich dort aufgehängt hatte. Oder der stille Anblick der Landschaft, die sich verschwenderisch leer unter einem strahlend blauen Himmel über Hügel, Talfalten und Bergketten zog. Oder wenn ich unverhofft an ein vergessenes Lied denken musste, das plötzlich mit Text und Melodie wieder vor mir stand. Ich wachte nachts nur noch selten auf, fühlte mich meist sogar ausgeruht, und es fiel mir schwer, mir in Erinnerung zu rufen, wie es gewesen war, als ich glaubte, der Boden müsse jeden Moment unter meinen Füßen einbrechen und mich mit in eine Tiefe reißen, in der ich nie aufhören würde zu fallen.
Sicher hatte es auch mit den vielen Dingen zu tun, die es rund um das Haus zu erledigen gab. Ich verbrachte meine Tage damit, das Holz der Fensterläden abzuschleifen, die früher einmal blau gestrichen worden waren, überprüfte Ziegel an Teilen des Dachs, zog Schrauben in Türrahmen und Regalen nach, wischte Staub von Möbeln, von jeder Schräge, jedem schiefen Fenstersims und fiel abends erschöpft ins Bett. Das Haus verwandelte mich, so wie es sich verwandelt hatte. Früher war das Grundstück weitläufig und gepflegt gewesen, doch über die Jahre war die Natur näher herangerückt, hatten Unkraut und dichtes Gras die Herrschaft über die Einfahrt und den Weg zur Straße übernommen, bewuchs Efeu die alten Mauern und Fensterläden, wucherten Hecken und Bäume in alle Richtungen aus.
An manchen Abenden, wenn ich vor dem Haus saß, während die Zypressen wie Schattentänzer in der Dämmerung wogten, hatte ich das befreiende Gefühl, nichts, weder Moskitos noch die fernen Kriegsgeräusche, könnte die Abgeschiedenheit, die ich hier gefunden hatte, jemals stören.
An jenem Tag im August 2006 wartete ich im Garten darauf, dass es Mittag wurde. Walid kam immer relativ pünktlich zur Kreuzung, und auch ich hatte wieder ein paar Dinge bei ihm bestellt. Seit die Israelis das Land großflächig unter Feuer nahmen, um, wie sie sagten, Rache zu üben für die Entführung zweier Soldaten, hatte er uns gebeten, in größeren Mengen zu bestellen, da er nicht wusste, ob die Strecke in nächster Zeit noch zu befahren sein würde.
Als ich aus meinen Gedanken auftauchte, ließ ein dunkler Fleck mich stutzen. Er wölbte sich auf der Steinplatte neben mir, wo ihn Fliegen umkreisten. Wie lange hatte ich über Walid und dessen düstere Geschichten nachgedacht? Vor wenigen Augenblicken noch hatte sich hier die Eidechse in der Sonne gewärmt. Jetzt war sie verschwunden, und nur der Fleck und die Fliegen verrieten, dass etwas passiert sein musste. Ich fand nichts, das auf einen Kampf hingedeutet hätte, nichts, das die Abwesenheit der Eidechse erklärte. Nur diese leere Stelle.
Den Vogel nahm ich wahr, weil er mich blendete. Er saß auf dem obersten Ast des Apfelbaums, seine Federn reflektierten das Sonnenlicht. Ein Shikra. Wie schön er war! Und wie groß! Etwas Stolzes umgab ihn. Eine Haltung, die ihn entrückt und würdevoll zugleich wirken ließ, wie einen alten König. Er saß da auf dem Ast mit seinem hellen Federkleid, das im Wind, der durch die Blätter fuhr, kaum wahrnehmbar erzitterte. Scharfe Klauen, ein kräftiger, grauer Schnabel und Augen von der Farbe schwarzer Perlen, in denen etwas Fernes und Strahlendes lag. Die Ruhe in seinem Blick befremdete mich, denn ich wusste, dass diese Augen alles aufnahmen, alles sahen: die tanzenden Lichtpunkte auf den Dächern der Häuser, Hunderte von Metern entfernt, das Zucken einer Maus zwischen den Steinen, Walids schwarzen Wagen, der noch kilometerweit weg war und der heute eine andere als die übliche Route nahm. Und mich. Natürlich sah er mich. Er betrachtete mich mit einer Gleichgültigkeit, die mich verletzte, wie ich irritiert bemerkte. Sie barg eine Überheblichkeit in sich, die mich klein und bedeutungslos werden ließ, während er unnahbar und unangreifbar erschien. Ich bin sicher, er spürte mein Unbehagen, als ich ihn ansah und mir klar wurde, dass er hier gewesen war, in meinem Garten, und dass er etwas entwendet hatte, ohne dass ich es hatte wahrnehmen können. Seine imposante Erscheinung stand in schroffem Gegensatz zu der Lautlosigkeit, mit der er vorgegangen sein musste. Nicht einmal seinen Schatten hatte ich bemerkt.
Der Räuber musste den Windstoß gespürt haben, bevor er aufkam. Ein Wetterumschwung, so plötzlich wie ein Wimpernschlag. In einer einzigen fließenden Bewegung breitete er die Flügel aus, durchschnitt die Luft und verschwand in der Ferne. Dann spürte ich ihn ebenfalls, den Wind, der über die Hügel kam.
Als ich jünger war, nach unserer Rückkehr aus Deutschland, hatte ich mit meiner Großmutter in einer kleinen Wohnung in einem Viertel in Ostbeirut gelebt. Damals liebte ich diese Augenblicke – die traumartige Flüchtigkeit der Ruhe vor Stürmen. Alles schien stillzustehen, die Umgebung wie elektrisch aufgeladen, auf Bordsteinen wirbelten Zeitungsseiten, welke Apfelblütenblätter tanzten in den Abflussrinnen, Mutterhände umschlossen Kinderfinger, zogen sie in Hauseingänge, und Jafar, der nicht weit entfernt wohnte, rannte über die Straße bis unter mein Fenster und rief: »Amin, wir müssen den Zeichner finden, bevor die Welt untergeht!«
Mit dem auffrischenden Wind zogen Wolken am Himmel auf und umzingelten das Blau. Verdrängte, vergessen geglaubte Bilder hoben sich aus meiner Erinnerung: Jafar und ich vor einer bröckelnden Lehmmauer auf dem Flohmarkt, wie wir Geld zählten, das wir ergaunert hatten. Jafar, der auf einem Auge blind und trotzdem der geborene Privatdetektiv war, denn er konnte Menschen aufstöbern, die nicht gefunden werden wollten. Und Großmutter. Wie sie die Fenster schloss, sich ins Bett legte und sich die Decke über den Kopf zog, wenn ein Sturm durch die Straßen und ihr Bewusstsein fegte.
Sie kamen kurze Zeit später. Ich war bereits so an die Stille gewöhnt, dass ich auffuhr beim Geräusch des Motors. Als ich in den Regen hinaustrat, hielt Walids schwarzer Wagen gerade an der Einfahrt zur Straße. Mein erster Gedanke war, dass das schlechte Wetter ihn dazu bewogen haben musste, die Häuser diesmal einzeln anzufahren. Doch dann öffnete sich die Beifahrertür, und eine Frau stieg aus. Unter ihrer Jacke trug sie ein schwarzes Gewand, dessen Saum den Boden streifte, als sie gebückt durch den Regen lief. Sie hielt einen Beutel in der Hand. Ich erkannte sie. Sie war alt geworden.
»Hallo, Amin«, sagte Umm Jamil.
Während sie ihre tropfnasse Jacke an den Haken neben der Tür hängte und im Wohnzimmer Platz nahm, legte ich die bei Walid bestellten Dinge in der Küche ab, setzte Tee auf, kramte nach Keksen, Nüssen oder irgendetwas, das ich ihr anbieten konnte. Der Regen prasselte gegen die Scheiben.
Später, als wir uns gegenübersaßen und Umm Jamil mir die Nachricht vom Tod meiner Großmutter überbracht hatte, sah sie mich über den dampfenden Tee hinweg an. Vielleicht hatte ich konsterniert oder geistesabwesend dreingeschaut, denn sie fragte, leise und ohne Dringlichkeit: »Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?«
»Ja.«
»Es kam für uns alle völlig unerwartet«, sagte Umm Jamil. »Niemand hat damit gerechnet.«
»War sie im Krankenhaus? War sie … krank?«
»Nein. Sie ist friedlich eingeschlafen. Sie war zu Hause. Yara und ich waren zum Frühstück verabredet, ich habe sie gefunden.«
Yara. Ich hatte sie nie bei ihrem Vornamen genannt. Für mich war sie immer nur Teta, Großmutter, gewesen.
Ich spürte, wie Umm Jamil mein Gesicht nach einer Regung absuchte. Nach irgendeinem nachvollziehbaren Gefühl hinter der Starrheit, die ich ihr gegenüber wohl ausstrahlte.
»Wie geht es dir, Amin? Kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Danke«, sagte ich leise, »ich komme schon klar.« Und nach einer Pause fügte ich hinzu: »Danke, dass ihr immer für sie da wart.«
Sie musterte mich schweigend. Und möglicherweise verbunden mit dem stillen Vorwurf: im Gegensatz zu dir. Doch dann sagte sie: »Was passiert ist, ist passiert. Ich bin nicht hergekommen, um darüber zu urteilen. Du hattest deine Gründe, dich von ihr abzuwenden.« Sie gab der Aussage Raum, als könnte Stille ihr mehr Glaubwürdigkeit verleihen, beugte sich vor, nahm einen Schluck von ihrem Tee und fügte dann hinzu: »Aber ich will, dass du weißt, deine Teta hat dich immer beschützt. Ihr ganzes Leben lang. Sie war überzeugt davon, dass der Weg, den sie dazu wählte, der richtige war.«
Ich erinnere mich noch an den Geruch des Parfums, das Umm Jamil an diesem Tag aufgelegt hatte. Moschus und ein Hauch Jasmin. Allein dieser Duft löste tausenderlei Erinnerungen aus. Sie hier sitzen zu sehen, war verwirrend. Als wäre mein Haus das Foyer eines Theaters und sie, um viele Jahre gealtert, ungeschminkt aus der Garderobe getreten, nachdem die Vorstellung zu Ende war.
»Ich soll dich von Abbas grüßen«, sagte sie. »Von ihm und den anderen. Abu Amar, Nadja, Fida, sie alle richten dir ihr Beileid aus.«
In diesem Raum, der mir bis dahin wie eine warme Höhle erschienen war, löste der Klang dieser Namen eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Umm Jamil bemerkte es. Sie beugte sich über den Tisch und berührte meine Hand. Blaue Adern unter faltiger Haut. Altersflecken auf ihrem Handrücken. Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
Die Geräusche des sich abschwächenden Sturms streiften ums Haus. Umm Jamils Hand lag auf meiner, und ich war bedacht darauf, sie dort zu lassen, mich ihr nicht zu entziehen und nicht zu zittern.
»Bist du sicher, dass dieses Haus der richtige Ort für dich ist?«, fragte sie nach einer Weile.
Als ich sie endlich ansah, lächelte sie. Es war ein schmerzvolles Lächeln. Mitfühlend und mitleidig zugleich. So wie jemand Älteres über einen lächelt, der dabei ist, dieselben Fehler zu machen wie er. Nicht hochmütig, sondern zärtlich.
»Es ist der einzige Ort«, sagte ich.
In der Nacht, lange nachdem Umm Jamil gegangen und mit Walid in die Stadt zurückgefahren war, stand ich im Türrahmen meines Schlafzimmers und schaute auf das unberührte Bett. Ich fand keine Ruhe. Ich wollte nicht einmal für längere Zeit die Augen schließen. Ich weiß nicht, ob ich mich vor den Träumen fürchtete oder davor, lange wach zu liegen und mich herumzuwälzen. Meine Unruhe war einfach zu groß. Noch heute sehe ich mich dort stehen. Und mir fallen die Tage ein, in denen Großmutter im Regen unter den Linden vor dem Schultor stand, um mich abzuholen. Gehen wir zusammen?, fragte sie dann, und ich begreife, dass es wohl diese Augenblicke waren, in denen sie mir ihre Angst offenbarte.
Wir hatten seit über einem Jahr nicht miteinander gesprochen. Doch auf eine undurchschaubare Weise war sie immer Teil meines täglichen Lebens geblieben, trotz der Stille, die ich gewählt und die sie respektiert hatte. Auch ohne direkten Kontakt begegnete ich ihr weiter in meinen Träumen, hörte sie weiter zu mir sprechen. Und trotz allem, was sie in diesen Träumen und Erinnerungen sagte, wurde mein Leben von dem beherrscht, was meine Teta nicht gesagt, was sie mir nicht erzählt hatte.
Umm Jamil war etwa eine Stunde geblieben. Sie und die anderen würden sich um alles kümmern, hatte sie gesagt, die Beerdigung finde in drei Tagen statt, und wenn ich wollte, würden sie mir noch genauer Bescheid geben. Ich denke, da erst wurde mir wirklich bewusst, dass diese kleine Gruppe von Menschen um Großmutter immer mehr gewesen war als eine Schicksalsgemeinschaft. Sie waren füreinander wie eine Familie gewesen.
Dann hatten Umm Jamil und ich uns verabschiedet. Doch keine zehn Sekunden später hatte es noch mal an meiner Haustür geklopft.
»Hast du kein Telefon hier oben?«
»Doch, natürlich. Warum?«
»Deshalb«, sie griff in ihre Handtasche, »hier, den hätte ich fast wieder mitgenommen.« Sie zog einen Zettel hervor. Eine Nummer war darauf notiert. Kein Name.
»Eine Frau aus Kanada hat bei Yara angerufen, als ich gerade in ihrer Wohnung war. Du sollst zurückrufen. Sie sagte, es sei dringend.«
Ewig hatte ich den Zettel zwischen meinen Fingern gedreht, ihn zuerst auf die Vitrine im Wohnzimmer und dann oben neben das Telefon gelegt, jedoch ohne die Nummer zu wählen. Wenn es hier Abend war, wie spät war es dann in Kanada? Früher Morgen? Lange hatte ich auf einen Anruf von dort gehofft. Doch jetzt, in der stumpfen Stille meines Hauses, in dem so unvermittelt Raubvögel und Geister vergangener Jahre aufgetaucht waren, wagte ich es nicht, zurückzurufen. Ich fürchtete eine weitere schlechte Nachricht. Nach einer Weile wandte ich mich vom Telefon ab, stieg die Treppe hinunter und verließ das Haus.
Die Luft war vom Sturm reingewaschen. Eine sternenklare Nacht. Nur noch vereinzelte Wolken, grau und unförmig wie Staubflusen, zogen vor dem Mond vorbei. Letzte Regentropfen lagen auf den Halmen. Selbst der Fleck auf der Steinplatte, dort, wo ich die Eidechse gesehen hatte, war verschwunden. Ich ging durch den Garten und einfach immer weiter. Bald verfärbte sich der Saum meiner Hose dunkel, die Nässe drang durch Schuhe und Socken. Eine ganze Weile ging ich so, den Blick geradeaus gerichtet, und versuchte, das Gefühl abzustreifen, das ich empfand. Trauer oder Scham oder beides. Und irgendwann stand ich auf einem der Hügel und sah zurück ins Tal. Mondlicht fiel auf die Zypressen und die Mauern des Hauses. Vor zwölf Jahren hatte ich an dieser Stelle mit Großmutter gestanden. Wir waren zur Obsternte in die Berge gefahren, und aus einer Stimmung heraus, die ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, hatte sie mir das alte Haus gezeigt. Der Garten war schon damals wie verzaubert gewesen, und die blauen Fensterläden hatten in der Spätsommersonne geleuchtet.
»Warum leben wir nicht hier, in diesem Haus, wenn es doch dir gehört?«, hatte ich sie gefragt.
Sie hatte meine Hand genommen und sie etwas zu fest gedrückt.
»Weil ich es verkauft habe, Amin. Es gehört mir nicht mehr. Wir brauchen das Geld für das Café, für deine Schule und für den neuen Start in der Stadt.«
Die Endgültigkeit in ihrer Stimme und der Druck ihrer Finger hatten mich abgehalten, weiter nachzufragen.
Später am Abend, zurück in Beirut, hatte ich unter den Eindrücken des Tages am Fenster gestanden und auf die Stadt geblickt – auf die Umrisse der Baukräne und die Hochhäuser, die in der Ferne entstanden.
»Was glaubst du, wer wird dort oben wohnen, wenn all die Türme fertig sind?«, hatte ich gefragt.
Womöglich ohne dass es ihr bewusst war, hatte sie mir mit ihrer Antwort mehr über sich verraten als mit allen anderen Antworten zuvor und danach. Doch das konnte ich damals noch nicht wissen. Ich kann die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht beschwören. Vielleicht sagte sie den Satz auch spöttisch. Beides hätte zu ihr gepasst.
»Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin«, das war es, was sie mir sagte. »In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.«
Der Mann hatte sich bedrohlich vor Jafar aufgebaut. Adern traten auf seiner Stirn hervor. An seinem Hals rannen Schweißperlen hinab und verschwanden unter einem hochgeklappten Hemdkragen. Seine Hand ruhte auf der Schulter eines Jungen, offenbar sein Sohn, der ausspuckte und so wirkte, als wolle er jeden Augenblick auf Jafar losstürmen. Hätten sich drum herum nicht so viele Schaulustige eingefunden, die beiden hätten wohl längst die Beherrschung verloren. In ihrer identischen Haltung mit geballten Fäusten und angriffslustig vorgestrecktem Kopf sah der Kleine wie eine nahezu perfekte Kopie des Größeren aus. Der Mann starrte wütend auf das Heft in der Hand seines Sohnes und dann auf Jafar, der mit dem Rücken zur Wand dastand und keine Fluchtmöglichkeit sah.
Eigentlich war alles bereits gesagt worden, doch um seinem Ärger Luft zu machen, nahm der Mann einen tiefen Atemzug und wiederholte:
»Du hast mich übers Ohr gehauen. Du hast mich und meinen Sohn beleidigt. Dafür lasse ich dich bezahlen!«
Ich stand erstarrt einige Meter entfernt, einen Eimer voll Popcorn in jedem Arm.
Jafar bemerkte mich. Mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln gab er zu verstehen, dass ich nicht näher kommen sollte.
*
In jenen Tagen trieben Jafar und ich uns in der Nähe eines Zirkusses herum, auf dessen Vorplatz an den Wochenenden ein Flohmarkt stattfand. Wir kletterten auf knorrige Pappeln, die das Gelände säumten, und versuchten, einen Blick auf die Wagen zu erhaschen, die wie dösende Tiere hinter dem Zirkuszelt lagerten. Sie bargen eine für uns fremde Welt und weckten eine Sehnsucht nach der Ferne. Nicht weil der Zirkus aus Frankreich zu Gast war, sondern wegen der wundersamen Wesen, die wir von unserem hohen Versteck aus hinter den Sichtschutzzäunen erspähten. Wenn zwischen einzelnen Nummern der Applaus im Zelt aufbrandete, sahen wir sie im abgesperrten Bereich hinter dem Eingang versammelt: feengleiche Flügelfrauen und tätowierte Zwerge, die ins Gespräch vertieft oder in Konzentration versunken ihre Dehnübungen vollführten. Drahtige Entfesselungskünstler schlossen die oberen Knöpfe ihrer Westen und lockerten die Handgelenke mit kreisenden Bewegungen, und es gab hünenhafte, rotbärtige Feuerschlucker, die sich mit Fackelstäben am Rücken kratzten. Da war auch eine Tänzerin. Sie sprang auf das gespannte Seil vor den Waggons und vollführte Probeläufe mit ausgebreiteten Armen. Sie alle wirkten auf mich wie vergessene Figuren einer fantastischen Geschichte. Als sei ihr Schöpfer vom Schreibtisch aufgestanden und nicht zurückgekehrt, sodass sie sich nun unbeaufsichtigt die Zeit vertreiben konnten. Einige der Wagen waren mit dicken Schlössern verriegelt. Jafar und ich vermuteten Raubtiere hinter den Türen.
Weit hinter dem Zirkuszelt schoben sich Beiruts Hochhäuser kastenförmig vor den Himmel. Aus den Stadtschluchten ragten Kräne wie Dinosaurierhälse empor, und entlang der schmalen Linie zwischen Häusern und Horizont flirrte die Sommerluft.
Die Welt um das Zelt, in die wir von unserem Versteck aus blickten, erschien uns als ein davon losgelöstes, ganz eigenes Universum.
Wir saßen auf dem Ast der Pappel, spähten über die Mauer und aßen getrocknete Aprikosen, die wir bei einem Straßenhändler im Viertel hatten mitgehen lassen. Mit den Beinen baumelnd träumten wir davon, wenigstens einmal im Dunkel der Manege zu sitzen, bevor diese fremde, in vielerlei Hinsicht reiche Welt wieder verschwinden würde. Alles, was uns dazu fehlte, waren ein paar Scheine.
»Wir brauchen sicher zehn Dollar«, sagte Jafar.
»Sitzen wir dann hinten oder weiter vorne?«
»Können wir uns aussuchen. Ist freie Platzwahl. Fünfzehn Dollar brauchen wir, wenn wir uns Popcorn dazuholen und teilen.«
»Wir brauchen auf jeden Fall Popcorn. Aber ich hätte gern mein eigenes.«
»Dann achtzehn oder zwanzig. Ungefähr.« Jafar hob das Comicheft, das er in den Händen hielt, vor sein gesundes Auge und studierte zum wiederholten Mal das Cover.
Es war heiß an diesem Julitag. Der Flohmarkt vor dem Zirkuszelt lag in der Sonne. Drinnen lief die vorletzte Vorstellung des Tages, und eine fröhliche Melodie wehte über den Platz.
Jafar hatte das Heft vor einer halben Stunde auf dem Flohmarkt aus einer Kiste voller Comics gezogen. Für zehn Cent hatte er es gekauft, mit den Schultern gezuckt und versuchen wir’s gesagt.
Dann waren wir auf die Pappel gestiegen.
Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte er sich mit der einen Hand auf dem Ast ab und reichte es mir herüber.
»Mit diesem Heft kriegen wir das hin«, sagte er. »Zwanzig Dollar sollten drin sein. Was meinst du?«
Auf den ersten Blick wirkte der Umschlag überladen. Doch etwas an ihm sorgte gleichzeitig dafür, dass ich nicht so leicht wieder wegsehen konnte. In roter Schrift prangte der Titel darauf:
GIANT-SIZE X-MEN
und in der unteren linken Ecke stand:
DEADLY GENESIS!
Zwischen den beiden Schriftzügen tummelte sich eine Heerschar faszinierender Figuren: ein Mann mit eisernen Krallen. Eine afrikanische Göttin mit schwarz-goldenem Umhang. Ein riesenhafter Kerl aus Metall und ein Monster mit blauem, haarigem Gesicht. Die Helden schienen aus dem Heft herauszustürmen, aus einem Loch im Papier, das sich im Cover aufgetan hatte, direkt auf den Betrachter zu. Und hinter ihnen, das sah ich erst auf den zweiten Blick, verbargen sich weitere Figuren. Ihre Haltung war anders. Sie hatten die Augen vor Schreck aufgerissen und hielten die Hände schützend vor sich, als würden sie von einem Angriff überrascht.
»Es ist von 1975«, sagte Jafar mit einem Blick auf das Datum. »Und es steht eine Eins daneben. Denkst du, das heißt Erstausgabe?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Könnte auch Januar bedeuten. Aber wir könnten behaupten, dass es die Erstausgabe ist.«
»Was wär es dann wert?«
»Weiß nicht. Sind Erstausgaben überhaupt was wert?«
»Es klingt auf jeden Fall gut. Daraus können wir was machen.«
»Wie viele Comics lagen denn noch in der Kiste?«
»Schätzungsweise über hundert.«
»Dann ist es vermutlich nicht mal die zehn Cent wert, die wir bezahlt haben.«
»Noch nicht«, sagte Jafar.
Das Heft war in gutem Zustand, von ein paar wenigen Knicken abgesehen. Ich vermutete, dass es bereits einige Zeit in der Sonne verbracht hatte, denn die Farben am oberen Rand waren verblasst. Aus dem Innenteil sprangen sie mir jedoch leuchtend entgegen, als ich es aufschlug.
»Wir brauchen auf jeden Fall eine überzeugende Geschichte.« Jafar rollte die Serviette auf seinem Schoß vollends auf, nahm die letzte Aprikose und schob sie sich in den Mund. »Eine Geschichte, die auch jemanden anspricht, der überhaupt kein Interesse an Comics hat.« Er schluckte, ohne richtig gekaut zu haben, leckte sich die Fingerspitzen ab und betonte noch einmal unsere goldene Regel: »Es darf nicht um das Heft an sich gehen. Irgendwas anderes muss es angeblich wertvoll machen. So, wie wir es mit dem hässlichen Bilderrahmen gemacht haben. Oder mit dem Porzellanmops, den uns die Frau abgekauft hat.«
»Oder wie mit dem zerbrochenen Spiegel.«
»Oder der Nachttischlampe.«
»Oder der Schreibmaschine.«
»Oder der grässlichen Vase.«
»Stimmt«, sagte ich, »das waren gute Geschichten.«
Es war unser bisher bester Tag gewesen. Ein Tag vor zwei Wochen. Sechs Verkäufe in nur vier Stunden. Achtzig Dollar, vierzig pro Kopf. Da war der Zirkus noch nicht da gewesen, aber Plakate hatten sein Kommen bereits angekündigt. Wir waren mit dem Taxi zurück in die Stadt gefahren, hatten die Fenster heruntergekurbelt und uns wie Könige gefühlt. »Kutscher, drehen Sie die Musik lauter«, hatte Jafar dem Fahrer zugerufen, und wir hatten ein bisschen zu hysterisch gelacht. Am Luna Park waren wir ausgestiegen, um Riesenrad zu fahren, hatten Zigaretten, Schokobananen und Lose gekauft, unvernünftig viel Eis gegessen und uns am späten Abend mit leeren Taschen und Bauchweh auf den Rückweg nach Hause gemacht. Ich weiß nicht mehr, wer den Plan zuerst ausheckte, aber im Grunde war es jedes Mal dasselbe: Jafar suchte irgendeinen billigen Gegenstand auf dem Flohmarkt aus, und wir erfanden eine Geschichte dazu, die dem Ding einen Wert verlieh, den wir selbst bestimmten. Anschließend hielt ich mich im Hintergrund, während Jafar loszog, um die Ware an den Mann zu bringen, wie er es zu nennen pflegte.
Drei Dollar hatten wir für den hässlichen Bilderrahmen bezahlt, und für dreißig Dollar hatten wir ihn wieder verkauft. Jafar war eigentlich kein Rechengenie, schon einfachste Subtraktionen konnten ihn ins Straucheln bringen. Was er aber im Schlaf berechnen konnte, war die Wertsteigerung eines Objekts: »Neunhundert Prozent«, verkündete er mit leuchtenden Augen, als wir uns das Geld in die Taschen schoben.
Der Rahmen habe im obersten Bankettsaal des Holiday Inn Hotels gehangen, so hatten wir behauptet. Bei der Schlacht um die Hotels sei er während des Bürgerkriegs im Keller in Sicherheit gebracht worden wie andere Kunstwerke auch und mit ihm das Gemälde Das Geheimnis des Wacholderstrauchs, eines der ersten Stillleben orientalischer Malerei. Später, als man das Hotel eingenommen hatte, war das Kunstwerk jedoch entdeckt und gestohlen worden – der Auftakt einer unglaublichen Odyssee durch Beiruts Unterwelt, auf der das Gemälde einmal als Pfand im Tausch gegen eine Geisel eingesetzt wurde und einmal ein Jahr lang hinter dem Schreibtisch eines Offiziers hing, bis es während eines Bombardements erneut verschwand, um Monate später in Marseille aufzutauchen. Dort wanderte es durch zahllose zwielichtige Hände – nächtliche Treffen unter Brücken und in Tiefgaragen, Geldkoffer, Händeschütteln –, bis es schließlich in der Halbschattenwelt geheimer Kunstmärkte verschollen ging, während der Rahmen allein in Beirut verblieb, wo er Jahre später von einem Fachmann in einem Antiquariat erkannt und für zweihundert Dollar erworben wurde. »Dieser Fachmann war mein Onkel«, sagte Jafar dann, »und jetzt sollen wir den Rahmen für ihn verkaufen, mein Vater und ich, aber der ist heute leider krank. Mein Onkel? Der ist kurz vor Kriegsende nach Kanada ausgewandert. Er hat uns gebeten, alle Gegenstände von unter tausend Dollar Wert für ihn zu verkaufen, sie ihm nachzuschicken lohnt sich nicht. Wir hatten auch noch andere Rahmen, dieser hier ist leider der letzte.« Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Jafar einhundert Dollar verlangt. Am Ende bekamen wir dreißig dafür und konnten uns in einer Regel bestätigt sehen: Je absurder der Schwindel, desto wahrscheinlicher war es, dass jemand sich überzeugen ließ.
Was lösten diese ersten Erfahrungen mit dem Geschichtenerzählen damals in mir aus? Denke ich an diese Momente zurück, in denen Jafar und ich uns den Kopf über Figuren und Wendungen zerbrachen, Szenen wie beim Puzzlespiel hin- und herschoben, bis sie am richtigen Platz waren, ist da ein Hauch von Wärme, ein flüchtiges Glück und die Überzeugung, dass diese Geschichten schon damals mehr als Jungenstreiche waren. Sie verliehen uns selbst Bedeutung.
Wir planten unsere Gaunereien mit großer Ernsthaftigkeit. Für Geschichten wie die mit dem Bilderrahmen betrieben wir sogar regelmäßig Recherche. Wir sahen Gangsterfilme auf raubkopierten Videokassetten und stöberten an den Ständen die Kisten nach Büchern über Kunstwerke durch. Oder wir befragten gelangweilte Händler, die dann meist gar nicht mehr aufhören wollten zu dozieren.
In manchen Bildern des Malers Jan Vermeer fällt ein so differenzierter Einsatz von Licht und Schatten auf, dass er modernen Fotografien ähnelt, aber nicht dem entspricht, was für einen Maler mit bloßem Auge sichtbar gewesen sein kann. Das erzählte uns eines Tages ein Händler, als versuchte er uns zu warnen. Er sagte, Vermeer habe eine Camera obscura als Hilfsmittel benutzt, wie viele seiner Kollegen auch. Er sei deshalb gar kein Genie gewesen. Wahrheit in der Kunst sei natürlich eine Illusion, doch jeder Betrug käme irgendwann ans Licht. Er ließ uns nicht aus den Augen dabei und sprach mit einem Unterton, als sei es unsere Schuld. Jafar und ich kannten keinen Vermeer. Aber die Idee einer Dunkelkammer, in der sich ein Abbild der Welt einfangen und auf den Kopf stellen ließ, gefiel uns. Wir nahmen den Ausdruck in unseren Wortschatz auf, als sei er ein Code. Wenn wir abends im Schatten einer Lehmmauer das Geld zählten, sahen wir uns an und sprachen es abwechselnd aus: Camera obscura.
Um auf Ideen zu kommen, blätterten wir manchmal auch in den Geschichtsbänden und Stadtplänen, die ich für mich kaufte. Es waren halb zerfledderte Bücher über historische Personen, Fundstücke vom Flohmarkt oder aus schlecht sortierten Buchläden, die ich stapelweise nach Hause trug. Ich sammelte Postkarten von geschichtsträchtigen Orten und Karten von Beirut, Ansichten der damals noch intakten Altstadt, im Maßstab 1:5000, die ich in einem Buch aus dem Jahr 1977 fand und in denen die Namen längst verschwundener Straßen verzeichnet waren. In einem Ordner hortete ich Schwarz-Weiß-Fotografien aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren – der Souk mit seinen steinernen Arkaden, der Hafen, der unversehrte Märtyrerplatz. Abends breitete ich alles auf dem Boden meines Zimmers aus. Es war eine Sammlung verloren gegangener Häuser, Straßen und Plätze.
In gewisser Weise versuchte ich, damit ein Leben zu erschaffen, in dem ich mich geborgen fühlen konnte. Ich glaube, die Bücher vermittelten mir eine Ahnung von Gewissheit über diese Stadt, in der ich doch erst wenige Monate lebte. Ich war zwar hier verwurzelt, doch hatte ich mein bisheriges Leben in Deutschland verbracht. All diese unbekannten Straßen und Viertel übten nach unserer Rückkehr eine große Anziehungskraft auf mich aus, doch muss ich gestehen, dass ich sie bisweilen als unheimlich empfand. Es war eine Zeit der Leerstellen. Ganze Gebäude und Fabrikhallen standen ungenutzt da, wurden nur von den spärlichen Lichtquellen der Obdachlosen, Plünderer oder heimlichen Liebespaare erhellt; brach liegende Plätze taten sich unerwartet hinter Wohnhäusern auf, und manchmal, wenn Jafar und ich vom Flohmarkt nach Hause gingen, liefen wir durch wie ausgestorben wirkende Stadtteile, Schraffuren nicht beleuchteter Straßen und Gassen voller Schutt, in denen wir nur wenige Menschen, zumeist Kinder, sahen, die in dunklen Ecken saßen und sich weigerten zu sprechen.
Jafar kannte viele der Ruinen und wusste, wie man sich Zugang verschaffte. In einer dieser Nächte nahm er mich mit in eine Halle an der überwucherten Bahnstrecke, die, das erzählte er mir, vor dem Krieg bis nach Damaskus geführt hatte, inzwischen jedoch stillgelegt war. Wir kletterten durch ein Fenster. Jafar führte mich durch einen Gang an ehemaligen Büroräumen vorbei, in denen Abdrücke auf den Teppichen die Stellen verrieten, an denen Aktenschränke gestanden hatten. In einer Halle zeigte er mir rostige Schalthebel und Pulte, Werkbänke und leere Dieseltanks, in denen das Echo unserer Schritte widerhallte, als wir hineinstiegen. Ich weiß nicht, nach welchem Plan er die Gebäude auswählte, in die er mich mitnahm, und schon damals war ich mir sicher, dass es Nächte geben musste, in denen er sich allein dort herumtrieb. Am Ende der Halle befand sich ein Raum, von dem aus man durch eine Glasfront das gesamte Areal überblicken konnte. An der Wand hing eine Karte, in der das Streckennetz verzeichnet war. Stecknadelköpfe ragten an Knotenpunkten daraus hervor. Unterhalb der Glasfront befand sich ein Kommandopult. Wir drückten Knöpfe und legten Schalter um, doch die Lämpchen gingen nicht an, und der Raum blieb ebenso dunkel wie jene Punkte an der Wand, die ferne Orte markierten, durch die früher Züge gefahren waren.
Später saßen wir im Mondschein auf den Gleisen und sahen nach Osten in Richtung Syrien.
»Morgens weckt einen nichts als das Singen der Vögel, und in den Innenhöfen der Häuser blühen Bitterorangenbäume.« Jafar sagte es so leise, als wäre ich gar nicht da. »Das habe ich in einem Brief gelesen.«
»Was denn für ein Brief?«
Er kramte ein zerknittertes Papier hervor und reichte es mir.
Liebe Samira, liebe Kinder, stand in der ersten Zeile.
»Einfach ein Brief«, sagte er.
In anderen Nächten betraten wir verlassene Gebäude, aus denen Familien zu Kriegszeiten geflohen waren. Wir schlichen durch Wohn- und Schlafräume, Küchen und bis in die oberen Stockwerke und blickten auf die Stadt; graue Wassertanks auf Tausenden von Dächern und Abertausend Lichter. Ich verweilte meistens an den Fenstern und staunte. Jafar ging umher. Er schaute in Schubladen, Schränke und Kommoden, auf der Suche nach zurückgelassenen Briefen.
Würde man mich heute fragen, was mir aus meiner Jugend als Erstes einfiele, wären es diese Häuser während unserer nächtlichen Stunden in meinem ersten Sommer in Beirut. Ich liebte diese Ausflüge. Die geheimen Orte und Geräusche, die sie vernehmen ließen – knarrende Dielen, aufflatternde Tauben, das Knirschen von Glasscherben am Boden, und oft, wenn das Haus groß und hoch und verwinkelt war, beschränkte sich alles Hörbare auf diese Klänge.
Ich weiß noch, wie Jafar sich auf unseren Streifzügen manchmal verwandelte. Es gab dann Dinge zwischen uns, die unausgesprochen blieben. Das Bild der Stadt von großer Höhe aus mit ihren mal verdunkelten, mal hell erleuchteten Fenstern ist mir wohl auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil es Momente mit Jafar gab, die ähnlich wechselhaft zwischen Licht und Schatten waren. Es war, als führten die Räume in diesen Gebäuden dazu, dass er sich der Grenze zwischen uns bewusst wurde und spürte, dass es Dinge gab, alltägliche Erfahrungen, die wir gemacht oder nicht gemacht hatten und die uns voneinander trennten.
Einmal in einem der Häuser verschwand er einfach, und als ich ihn wiederfand, saß er im Schneidersitz vor einem großen Loch in der Wand, zig Meter über der Straße, mir den Rücken zukehrend. Er hörte mich näher treten.
»Komm her, Amin, ich zeig dir was.«
Ich setzte mich neben ihn auf den Boden.
»Hier.«
Er hatte mir etwas Schweres in die Hand gelegt. Die Granate hatte eine graublau schimmernde Farbe. Ihre Oberfläche glänzte wie Marmor.
»Woher hast du die?«
»Lag hier oben neben der Couch. Ich hab sie aufgehoben.«
Schweigen.
»Warum lässt jemand so etwas hier liegen?«
Er musterte mein Gesicht, als wäre ihm im Traum nicht eingefallen, wie man das fragen konnte.
»Die Häuser sind voll davon. Und die Gärten der Häuser auch. In den Ruinen liegen Sprengköpfe von Raketen, die Dächer durchschlagen haben, aber nie explodiert sind. Das Gleiche gilt für Granaten. Oder sie wurden absichtlich zurückgelassen. Milizen mussten manchmal Hals über Kopf den Rückzug antreten. Dann verminten sie Gebäude, die sie verloren hatten, und manchmal vergaßen sie ihre Munition auch einfach.«
»Woher weißt du das?«
Er schwieg.
Bis zu diesem Moment waren mir unsere Ausflüge mehr magisch als gefährlich erschienen. Jafar war nur wenige Monate vor mir geboren, doch ich weiß noch, dass er mir in diesem Augenblick sehr viel älter und erfahrener vorkam. Die flackernden Lichter der Stadt beleuchteten sein Gesicht von der Seite. Es sah aus, als würde er brennen.
»Sie ist schwer«, sagte ich. »Schwerer, als ich dachte.«
Jafar verharrte in seiner Position, als wüsste er genau, dass er wieder im Dunkeln wäre, wenn er sich zurücklehnte. Er sagte nichts.
»Was hast du damit vor?«
»Warum?«
»Weil sie gefährlich ist.«
»Gefällt sie dir?«
»Ja … schon.«
»Sieht aus wie eine Brust, findest du nicht auch?«
Ich nickte verunsichert.
»Ich schenk sie dir.«
Erst erwiderte ich nichts. Dann aber wagte ich es doch: »Ich will sie nicht.« Ich reichte ihm die Granate zurück.
Jafars Finger fuhren ihre Kurven entlang, glitten langsam über den Stift an der Krone.
»Schade.«
Er lehnte sich zurück. Dann drückte er den Knopf oberhalb des Zündhebels.
»Dabei ist es ein sehr gutes Feuerzeug«, sagte er und sah in die Flamme, die daraus emporschlug und die sein Gesicht jetzt von unten erhellte.
Ein anderes Mal fand ich ein Radio in einem Zimmer, in dessen Mitte verkohlte Holzscheite lagen. Ruß hatte die Tapeten geschwärzt, und Brandgeruch hing in der Luft. Ich schaltete das Radio ein, wir hörten ein Lied von Majida El Roumi. Ich sah aus dem Fenster und genoss den Ausblick. Irgendwann wurde das Lied unterbrochen, und eine Melodie kündigte die Nachrichten an. Der Sprecher las die Meldungen des Tages vor: Das Hauptquartier der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO wurde von Tunesien nach Gaza verlegt … Das Boot des Walschützers Paul Watson wurde von einem norwegischen Küstenschiff gerammt … Im belagerten Sarajevo haben Heckenschützen … Erst als ich das Knirschen von Glasscherben hörte, bemerkte ich, dass Jafar nicht mehr neben mir war. Stattdessen saß er in der hintersten Zimmerecke, hatte die Augen geschlossen, das Gesicht verzogen und beide Hände auf die Ohren gepresst. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Erst als ich das Radio ausschaltete, beruhigte er sich wieder. Viel später erfuhr ich, dass die Erkennungsmelodie der Nachrichtensendung sich seit dem Krieg nicht verändert hatte. Wer sie hörte, verband damit die Erinnerung an Ankündigungen bevorstehender Bombardierungen oder Warnungen, bestimmte Straßen zu begehen. Jafar erzählte mir damals nichts davon. Erst als ich ihn aus dem Haus geführt hatte, entspannte er sich, und später, als ich ihn vorsichtig darauf ansprach, sagte er nur: »Keine Sorge, das war die Camera obscura«, um mir verständlich zu machen, was da irgendwo in ihm verborgen war: ein dunkles Zimmer, in dem ein Teil der Welt auf den Kopf gestellt war.
Es gibt viele solcher von unstetem Licht erhellten Augenblicke, von denen ich nicht weiß, weshalb ich mich heute wieder an sie erinnere. Vieles, was später in diesem Sommer passierte, war prägender, hinterließ einen tieferen Eindruck und lenkte mein Leben weitaus stärker in bestimmte Bahnen als diese Fragmente aus mondhellen Nächten.
Als der Wiederaufbau voranschritt und immer mehr Ruinen und baufällige Häuser verschwanden, begann ich, mir Notizen zu machen, und erstellte eine Liste der vom Abriss bedrohten Verstecke. Ich hielt ihre Standorte sowie gewisse architektonische Besonderheiten fest: schiefes Dach, grüne Tür, zweiundzwanzig Balkone. Oder dass das Eintrittsloch der Rakete in der Nordfassade in seinem Umriss an Grönland, das Austrittsloch auf der Südseite an Alaska erinnerte. Nichts um mich herum schien von Dauer zu sein, und vielleicht, weil ich glaubte, meine Welt sei fragiler geworden, so, wie die Mauern und die Menschen fragil waren, und so, wie Häuser und Plätze mit der Zeit verschwanden und wie Menschen im Krieg verschwunden waren, dachte ich wohl, ich könnte einiges vor dem Vergessen retten, wenn ich es in Listen und Geschichten bewahrte.
Jetzt, auf dem Ast in der Pappel, sagte Jafar plötzlich: »Ich habe eine Idee.«
Er legte sich das Heft auf den Schoß und zog eine Cola aus dem Rucksack, den er in der Astgabel abgelegt hatte. »Die ist sowieso warm geworden.«
Er drückte mir die Dose an die Stirn, als ob er es beweisen wolle. Dann öffnete er sie und hielt das Heft vor sich hin. Er klappte das Cover beiseite und ließ wie ein Künstler, der Farbe auf eine Leinwand kippt, den Inhalt über das Titelblatt laufen.
Die nächste Vorstellung im Zirkus würde in zwei Stunden stattfinden. Ich wollte wegen der Seiltänzerinnen rein, Jafar wegen der Raubtiere. Wir warteten noch eine Weile, bis die Seite getrocknet war, und feilten währenddessen an der passenden Geschichte. Dann verließen wir unseren Aussichtsplatz im Baum.
*
Mit den beiden Popcorneimern in den Armen versuchte ich mir einen Reim darauf zu machen, was schiefgelaufen war. Die Feindseligkeit lag spürbar in der Luft und schien sich auf alle Umstehenden, hauptsächlich junge und ältere Männer, zu übertragen. Sie hatten einen Halbkreis um den Schauplatz gebildet, der sich wie eine Schlinge zuzog. Zwischen den dicht gedrängten Körpern hindurch konnte ich Vater und Sohn sehen, die noch immer vor Wut schäumten. Mit dem aufgestellten Kragen, hochgekrempelten Hemdsärmeln und einer blasierten Miene sah der Junge aus wie einer dieser grobschlächtigen Halbstarken, die in amerikanischen Highschool-Filmen Gleichaltrige in Besenkammern stecken oder Treppen runterschubsen, einfach, weil sie es können.
Jafar mühte sich sichtlich, Vater und Sohn zu beruhigen. Auf alle anderen mochte er gefasst wirken, doch ich kannte ihn gut genug, um seine Nervosität zu bemerken. Dafür gab es ein untrügliches Zeichen: Über seinem Glasauge begann das Lid zu flattern.
In Gedanken ging ich unsere Geschichte noch einmal durch. Sie war nicht schlechter als all die anderen, die so gut funktioniert hatten. Und auch mit dieser hatten wir zunächst Erfolg gehabt. Sobald das Comic verkauft war, hatte Jafar mir das Geld in die Hand gedrückt, und ich war losgezogen, um das Popcorn zu holen, während er die Eintrittskarten für den Zirkus besorgen wollte. Ich hatte ihn noch gefragt, wie es gelaufen war, und er hatte den Daumen gereckt und war ein Kinderspiel gesagt.
Ich mochte eine ausgeprägtere Fantasie haben, doch Jafar war bei Weitem der bessere Erzähler. Wenn ich ihm meine Ideen an die Hand gab, machte er die Geschichten lebendig, schmückte sie aus, flocht Stimmungen und Beschreibungen ein. Und sicher hatte er auch diesmal ein Universum an Bildern entstehen lassen, denen zufolge das Heft, wie wir es besprochen hatten, einst einem jungen Kellner im sagenumwobenen St. Georges Hotel gehörte, der das Comicheft aus Langeweile an einer Bushaltestelle gekauft und dann zur Arbeit mitgenommen hatte, wo er sich am Abend, als er an der Bar bediente, Peter O’Toole gegenübersah, dem Star aus Lawrence von Arabien. Wir hatten den Film ein paar Tage zuvor gesehen. Ich stellte mir vor, wie Jafar die Schauspiellegende beschrieb – den leidenden Zug um den Mund, das aschblonde Haar, das feine Faltenspiel um die Augen – O’Tooles berühmte Augen –, die er vermutlich schwärmerisch mit dem Blau blühender Hyazinthen verglich, sodass der Mann Gestalt gewann, dort an der Bar des St. Georges Hotels, einsam und schwer betrunken.
»Du da, mach mir noch einen Gin.«
»Sind Sie sicher, dass es noch einer sein soll, Sir?«
»Ausgesprochen sicher, Kleiner.«
»Wir haben auch sehr gutes Wasser«, imitierte Jafar den Kellner, der sich um das Wohl des prominenten Gastes sorgte. Dieser reagierte zuerst ungehalten, erzählte dann aber eine Anekdote, die Jafar sich als kleine Schleife ausgedacht hatte. Ich konnte mir vorstellen, wie er lallend in die Rolle des betrunkenen Weltstars schlüpfte, der dem Kellner seine Anekdote zum Besten gab: »Ich war mal in Dublin. Da gab es eine kleine Bar. Ich ging rein, um noch einen Absacker zu nehmen. Und der Wirt meinte irgendwann: Sir, ich denke, Sie haben genug! Woraufhin ich nur sagte: Nein, nein! Ich will noch viel, viel mehr trinken. Er aber wollte mich vor die Tür setzen. Also habe ich die Bar einfach gekauft.« Der junge Kellner, so hatten wir es uns ausgedacht, gab dem Gast also seinen Gin, damit er nicht das St. Georges Hotel kaufte, und als O’Toole noch betrunkener war, bat der Kellner ihn um ein Autogramm. Der Weltstar unterschrieb auf dem Cover des Comics, und mit dem letzten Schwung seiner Hand stieß er dabei versehentlich das Gin-Glas um, sodass die Tinte auf dem Heft sofort wieder verschwamm. Der Kellner nahm es trotzdem mit nach Hause und bewahrte es auf, denn für ihn besaß es nun sogar einen doppelten Wert: Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte es das Autogramm einer Legende getragen, und der Gin, der die Unterschrift wieder getilgt hatte, war die fleckgewordene lebenslange Mahnung, dass Alkohol gefährlich und Ruhm vergänglich war. Jafars Geschichte war dann sicher wie üblich ausgegangen: »Und dieser Kellner war zufälligerweise mein Onkel. Er ist kurz vor Kriegsende nach Kanada ausgewandert. Er hat noch mehr Gegenstände zurückgelassen, aber die meisten haben mein Vater, der heute krank ist, und ich für ihn verkauft.«
Was also war schiefgelaufen? Ich versuchte, näher heranzukommen.
»Dreißig Dollar!«, zischte der Vater jetzt. »Dreißig Dollar hast du mir abgenommen mit deiner lächerlichen Story! Ich habe dir von Anfang an kein Wort geglaubt. Hätte mein Sohn dein verdammtes Heft nicht unbedingt haben wollen, hätt ich dich gleich zum Teufel gejagt.« Er machte eine Pause, in der er dem Sprössling auf die Schulter klopfte. »Es ist nicht unser Pech, sondern deins, dass wir den Stand mit den Comicheften entdeckt haben. Du hast uns reingelegt.«
»Ja, du Betrüger«, der Sohn spuckte erneut vor Jafar aus, »das ist dein Pech!«
Um mich herum erhob sich Gemurmel.
Zu nah. Jafar war zu nah bei dem Händler geblieben, bei dem wir das Heft gefunden hatten. Hätte er das Comic auf der anderen Seite des Flohmarkts weiterverkauft, wir wären längst über alle Berge gewesen.
Jafar versuchte trotzdem, die Sache irgendwie zu retten. Er sagte etwas, das ich nicht verstand.
»Was?«, brüllte der Mann. »Was soll das heißen?«
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, stieß mit den Popcorneimern an Hüften und Rippen.
»Na ja …«, Jafar hob beschwichtigend die Hände, schaffte es, ein Lächeln aufzusetzen, und machte einen behutsamen Schritt nach vorn. »Natürlich gibt es diesen Stand, den kennen hier wirklich alle. Die Hefte sind okay, guter Zustand und so, und Sie können sie dort für deutlich weniger Geld kriegen. Comics gibt es hier wie Sand am Meer, aber, wie ich bereits sagte, keins davon hat den Wert dieses besonderen Exemplars, das ich Ihnen verkauft habe. Ich habe es Ihnen doch erklärt …«
Unsere Blicke trafen sich. Ich nickte ihm zu. Und dann betonte Jafar noch einmal die Wahrheit unserer Geschichte und legte dar, weshalb der Fleck auf dem Heft, den der Weltstar verursacht hatte und der womöglich noch dessen Speichelreste enthielt, die dreißig Dollar durchaus wert war. Aber das hörte ich kaum, denn ich hatte soeben dieses Mädchen wiedergesehen. Und auch sie hatte mich angeschaut. Wir waren einander vorher in der Popcornschlange aufgefallen oder besser: Sie hatte in einiger Entfernung wie angewurzelt im Strom der Menschen gestanden und zum Popcornstand hinübergeblickt, als gäbe es dort etwas Geheimes zu entdecken, und so war es weniger sie als ihre Unbewegtheit gewesen, die mir aufgefallen war. Als ich Augenblicke später die beiden Eimer bezahlt und wieder hingesehen hatte, war sie verschwunden. Jetzt hatte ich sie erneut entdeckt, und nachdem ich einmal genauer hingesehen hatte, konnte ich den Blick nicht mehr von ihr nehmen. Sie stand inmitten der aufgebrachten Menge, etwa zehn Meter von mir entfernt, und beobachtete den Streit mit zurückhaltender Neugier, fast scheu und mit verschränkten Armen, als sei sie es nicht gewohnt, von vielen Leuten umgeben zu sein, und als mache ihr die Vorstellung, an fremde Körper anzustoßen, Angst. Und auch sie sah jetzt immer wieder verstohlen zu mir herüber. Unter dem schwarzen Kleid konnte ich ihre Gestalt nur erahnen. Ihr Haar war durch einen schwarzen Hijab verborgen. Ich hätte nicht einmal sagen können, was ich so faszinierend an ihr fand. Und doch war da etwas, das meinen Magen flattern ließ, und der prüfende Blick, den sie über mich hinweggleiten ließ, machte mich nervös. Woher kam sie? War sie allein? Wie um die Frage zu beantworten, warf das Mädchen einen Seitenblick auf den aufgebrachten Mann und seinen Sohn, die sich vor Jafar aufgebaut hatten – ihren Vater und ihren Bruder.
Der Mann hatte Jafars Gegenrede zunächst mit abschätziger, fast belustigter Miene verfolgt, doch dann wurde er zunehmend ungehaltener. Und als Jafar fertig war, blickte er auf meinen Freund herab und trat noch einen Schritt weiter vor.
Um mich herum begannen die Menschen zu diskutieren. Einige hielten die dreißig Dollar für das Heft für gerechtfertigt, vorausgesetzt, die Geschichte war wahr. Andere forderten, den kleinen Betrüger sofort anzuzeigen.
»Er lügt!«, rief der Junge dazwischen. »Das Heft ist überhaupt nichts wert, es ist hässlich und verdreckt, im Gegensatz zu den anderen Heften da drüben«, er trat an Jafar heran, sodass ihre Stirnen sich berührten, »nimm dein Scheißheft zurück, sonst …«, er deutete einen Kopfstoß an. Jafar wich aus, stolperte und fiel hin. Der Junge gab ein fieses Lachen von sich.
Der Vater ließ den Arm sinken, dorthin, wo er die Schulter seiner Tochter vermutete, doch das Mädchen war zurückgewichen. Als sie jetzt seinen Arm dort in der Luft hängen sah, machte sie einen Schritt nach vorn, um den Kontakt, den er von ihr einforderte, wiederherzustellen. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie verschwand mit hängenden Schultern zwischen den Umstehenden, die eine Gasse bildeten. Kurz darauf kehrte sie mit dem Comicverkäufer zurück.
Für einen Moment setzte mein Herz aus, dann schlug es so heftig in meiner Brust, dass ich fürchtete, alle könnten es hören.
Wie oft holen wir diese Momente hervor, die wir im Rückblick als Wendepunkte erkennen? Wie oft bauen wir ein Fundament aus diesen Augenblicken und errichten darauf ein Haus aus Erinnerungen, in dessen Zimmern wir umhergehen und sagen: Hier hat sich das Glück ins Elend oder das Elend ins Glück gewendet? Erfahren wir auf diese Weise die Wahrheit darüber, wie wir zu dem Menschen geworden sind, der wir sind?
Ich weiß noch, dass ich damals die Angst verspürte, man könnte uns ins Gefängnis werfen oder Gewalt antun, und dass ich an das Erlebnis in der Wohnung zurückdachte, als das Radio lief, während sich der Spalt in Jafars dunkles Zimmer kurz geöffnet hatte, und dass ich mir sicher war, dies würde meine ganz persönliche dunkle Stunde werden: eine Tür, dahinter ein Raum und darin eine auf den Kopf gestellte Welt.
Als ich den Mann, von dem wir das Heft hatten, auf uns zukommen sah, war mir klar, dass es vorbei war. Ich habe diese Szene so oft hervorgeholt, dass ich sie wie einen Film anhalten und einzelne Standbilder betrachten kann: