Ein menschlicher Fehler - Kim Hye-jin - E-Book
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Ein menschlicher Fehler E-Book

Kim Hye-jin

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Beschreibung

Erst wenn sich abends die Straßen Seouls allmählich leeren, verlässt die Psychotherapeutin Hae-Su den Schutz ihres Hauses. Niemand soll sie sehen, eine Frau, die alles verloren hat: ihre Arbeit und Reputation, ihren Partner, ihre Freunde. Eine unbedachte Äußerung bei einem Fernsehauftritt hat sie zur Ausgestoßenen gemacht. Doch dann trifft sie bei einem ihrer nächtlichen Spaziergänge ein junges Mädchen, das sich um eine Straßenkatze kümmert und genau wie Hae-Su ihren Platz in einer Gesellschaft sucht, die keine Fehltritte akzeptiert. Aus scheuer Neugier wird eine tiefe Freundschaft, von der sie beide nicht wussten, wie sehr sie ihnen fehlte. Kim Hye-jin erzählt voller Empathie von den Ausgeschlossenen und Strauchelnden, von der Bedeutung sanftmütiger Gesten – und von unvermuteten Neuanfängen.

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Das ist das Cover des Buches »Ein menschlicher Fehler« von Kim Hye-jin

Über das Buch

Erst wenn sich abends die Straßen Seouls allmählich leeren, verlässt die Psychotherapeutin Hae-Su den Schutz ihres Hauses. Niemand soll sie sehen, eine Frau, die alles verloren hat: ihre Arbeit und Reputation, ihren Partner, ihre Freunde. Eine unbedachte Äußerung bei einem Fernsehauftritt hat sie zur Ausgestoßenen gemacht. Doch dann trifft sie bei einem ihrer nächtlichen Spaziergänge ein junges Mädchen, das sich um eine Straßenkatze kümmert und genau wie Hae-Su ihren Platz in einer Gesellschaft sucht, die keine Fehltritte akzeptiert. Aus scheuer Neugier wird eine tiefe Freundschaft, von der sie beide nicht wussten, wie sehr sie ihnen fehlte. Kim Hye-jin erzählt voller Empathie von den Ausgeschlossenen und Strauchelnden, von der Bedeutung sanftmütiger Gesten — und von unvermuteten Neuanfängen.

Kim Hye-jin

Ein menschlicher Fehler

Roman

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee

Hanser Berlin

Sehr geehrter Herr Lee Seong-Mok,

mein Name ist Lim Hae-Su.

Es mag Sie überraschen, diesen Brief zu erhalten. Vielleicht haben Sie meinen Namen auch schon längst vergessen. Ein Ereignis, das für den einen nicht der Erinnerung wert ist, bleibt einem anderen dauerhaft im Gedächtnis haften, sogar über den Tod hinaus. Ist es nicht erstaunlich, dass derjenige, der nicht vergessen kann, in seinem Innersten jeden Tag ein Stück weit stirbt, während der andere mit seinem Leben weitermacht, als sei nichts geschehen?

Bedeutet leben, zu lernen, mit dem Schlimmsten zurechtzukommen? So zu tun, als sei man am Leben, während man in eine todesähnliche Schockstarre verfällt. Mehr tot als lebendig. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass das möglich ist. Ich bin sicher, Sie erraten, warum.

Noch immer kann ich im Internet die Artikel finden, die Sie geschrieben haben. Die Artikel über mich. Ich begreife nicht, wie Sie das tun konnten, ohne die geringste Überprüfung der Fakten.

Warum wird meine Bitte, diese Texte — nur ein Sammelsurium herumgeisternder Gerüchte — aus dem Netz zu nehmen, immer wieder abgelehnt? Es ist für mich einfach nicht nachvollziehbar, warum ich jedes Mal aufs Neue zurückgewiesen werde.

Hae-Su hält einen Moment inne und legt ihren Stift beiseite. Die Tinte an ihrer Handkante hinterlässt einen dunklen Abdruck auf dem unteren Teil des Blattes, der noch nicht beschrieben ist. Jetzt ist der Brief ruiniert. Sie muss wieder von vorne anfangen. Sie weiß, dass nicht der Tintenfleck den Brief verdorben hat. Er war nicht gut genug. Mit dieser höflichen, gemäßigten Wortwahl wird sie ihre Botschaft nicht angemessen vermitteln können.

Sie sieht auf die Worte hinunter, die sie gewählt hat. Dann nimmt sie wieder den Stift zur Hand und streicht ›vielleicht‹, ›dauerhaft‹ und ›in seinem Innersten stirbt‹. Aus ›vergessen kann‹ macht sie ›vergessen wird‹, aus ›Name‹ wird ›Existenz‹. Aber der vorsichtige, unsichere Grundton des Briefes verliert sich dadurch nicht ganz. Die nüchternen Worte und Sätze können nicht ansatzweise die Gefühle ausdrücken, die sie so oft überschwemmen. Scharf und glühend heiß erhalten sie die Funken am Leben und Brennen. Sie übersteigen ihre Kraft.

Hae-Su hatte sich angewöhnt, ihre Emotionen zu verbergen. Natürlich gab es Augenblicke, in denen sie sie kaum aushielt, aber in der Regel waren sie erträglich und sie konnte sie leicht unterdrücken. Sie glaubte, ihre Gefühle dank ihrer Stärke und ihres Willens unter Kontrolle zu haben. Aber jetzt, wo alles in sich zusammengebrochen ist, muss sie zugeben, dass mitnichten ihre innere Stärke oder ihr Wille ihr diese Kontrolle erlaubten, sondern die Lebensumstände, die sie sich geschaffen hatte.

Hae-Su faltet den Brief in der Mitte und dann noch einmal auf die Hälfte, steckt ihn in ihre Tasche und verlässt das Haus. Zu dieser nächtlichen Stunde sind die letzten Abendspaziergänger längst nach Hause gegangen, nur ein paar Betrunkene teilen sich vor einem Laden eine Schachtel Zigaretten. Wenn ein Auto vorbeifährt, werden ihre geröteten Gesichter von den Scheinwerfern erfasst.

Sie verlässt die enge Gasse, überquert die vierspurige Straße und geht in den Park. Dort ist es dunkel und menschenleer. Bis vor wenigen Jahren war diese Gegend ein Brennpunkt mit heruntergekommenen Kneipen. In der Nacht wurden die Fassaden der Häuser von Lichterketten mit bunten nackten Glühbirnen beleuchtet, und die mit Folie beklebten Schiebetüren standen die ganze Nacht für Kunden offen. Warf man einen Blick hinein, sah man ein schäbiges Interieur, verkommen und irgendwie einsam. Ein abgehalfterter Hafen, in dem alle gescheiterten Existenzen strandeten.

Jetzt ist nichts mehr davon zu sehen. Überall gleichförmige Wohngebäude, Läden mit Glasschaufenstern, durch die man hindurchsehen kann, breite Straßen, saubere Gehwege. Die Leute kommen und gehen, als ob sie ganz vergessen hätten, wie es hier einmal aussah. Vermutlich leben kaum mehr Menschen hier, die wissen, wie es einmal war.

Hae-Su geht durch den ganzen Park. In der angenehmen Stille und der gedämpften Beleuchtung hofft sie, ihren inneren Frieden wiederzufinden. Der Frühling steht vor der Tür. Sie konzentriert sich auf die ersten Anzeichen dieser Jahreszeit. Jedes Mal, wenn ein Windhauch durch den Park streicht, zittern die Schatten der Bäume leicht. Sie gewinnen langsam wieder an Form, nachdem sie den Winter über eher Strichen geähnelt hatten. In den nächsten Monaten werden sie kräftig austreiben und an Fülle zulegen.

Ein Spaziergang mitten in der Nacht tut Hae-Su immer gut, sie fühlt sich sicher. Während des Tages ist alles sichtbar und die Menschen reden über die Dinge, die sie sehen. Vielleicht schläft nur in der Nacht, wenn die Konturen der Welt verschwimmen, die furchteinflößende Neugier der Leute. Hae-Su dreht eine weitere Runde durch den Park, dunklere Wege nehmend, bevor sie in der Nähe des Eingangs vor einem Abfalleimer stehen bleibt. Dort nimmt sie den zusammengefalteten Brief aus der Tasche und zerreißt ihn über dem Abfallbehälter in viele kleine Teile. So, als ob sie damit auch ihre Gefühle loswerden könnte. So, als ob sie dabei schwört, sich nie mehr von ihnen vereinnahmen zu lassen.

Zurück in der Gasse, die zu ihrem Haus führt, trifft sie auf zwei streitende Nachbarinnen.

»Warum werfen Sie immer wieder Essen vor meine Haustür?«, ertönt die Stimme eines kleinen Schemens mit gebücktem Rücken.

»Gute Frau, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Die Straße ist ein öffentlicher Raum. Sie ist für alle da«, erwidert der größere der beiden Umrisse.

»Darum frage ich ja. Warum legen Sie Futter für die Katzen auf die Straße, die jedermann benutzt? Legen Sie es doch vor Ihre eigene Haustür, wenn Sie die Viecher so mögen. Warum belästigen Sie die Leute in der Nachbarschaft?«

»Wann habe ich denn jemals jemanden belästigt? Diese Katzen brauchen auch etwas zu essen. Wie kann man jemanden belästigen, einfach dadurch, dass man Katzen füttert? Gute Frau, Sie sind diejenige, die mich belästigt.«

Eine Stimme klingt angriffslustig, die andere verteidigend. Die eine ist eine Lanze, die andere ein Schild. Keine der beiden Zankenden wirkt, als würde sie nachgeben wollen.

Ein Auto fährt mit aufgedrehter Stereoanlage vorbei. Die klagende, traurige Melodie verliert sich langsam, als es am Ende der Straße um eine Ecke biegt. Hae-Su lehnt sich vorsichtig an einen illegal geparkten Lastwagen. Um zu ihrem Haus zu gelangen, muss sie an den Streitenden vorbeigehen und eine der beiden könnte sie dabei sehen. Vielleicht würden sie sie sogar ansprechen. Sie darum bitten, sich auf eine Seite zu schlagen, ihr Fragen stellen, auf die sie nicht antworten, oder Dinge sagen, die sie nicht hören will.

Einige Tage zuvor hatte Hae-Su genauso einen Angriff erlebt. Sie sah sich gerade auf dem Markt an der Ecke um, auf dem es vor Werbetafeln nur so wimmelte: ›Zwei zum Preis von einem‹, ›unschlagbare Preise‹, ›Alles muss raus!‹. Eine Frau vor dem Gemüsestand musterte Hae-Su verstohlen, näherte sich ihr und sprach sie an:

»Sind Sie nicht Hae-Su Lim? Das sind Sie doch, oder? Seltsam, Sie hier zu sehen. Wohnen Sie in der Nähe?«

Die Frau trug eine blaue Strickjacke und eine gelbe Einkaufstasche über einer Schulter. Die große Sonnenbrille, die im Haar steckte, drohte jeden Augenblick herunterzufallen. Hae-Su hatte noch nicht geantwortet, als die Frau ihr fest in die Augen sah und fortfuhr:

»Es mag Ihnen kein Trost sein, aber ich glaube, was geschehen ist, war nicht allein Ihr Fehler. Die Leute reden, aber sie wissen nicht wirklich, wovon sie sprechen. Hauptsache, sie geben etwas von sich. Kümmern Sie sich einfach nicht darum«

Hae-Su lächelte die Frau an. Oder zumindest versuchte sie es, bis sie spürte, dass ihre Gesichtsmuskeln sich verspannten, als wären sie gelähmt.

»Ich sage Ihnen, was ich wirklich denke. Als all die Artikel über Sie erschienen sind, hätten Sie Ihre Position stärker behaupten sollen. Mit solchen Leuten muss man offensiv umgehen, sonst werden sie nie Ruhe geben. Wenn man ihnen den Eindruck vermittelt, nicht zu wissen, wie man reagieren soll, reißen sie einen in Stücke. Diese Leute sind unerbittlich.«

Die Augen fest auf eine Pyramide aus Salatköpfen gerichtet, versuchte Hae-Su, diesen Moment zu überstehen. Wäre nicht der oberste Kopf, der gefährlich auf der Pyramidenspitze balancierte, heruntergefallen und hätte ein paar weitere mit sich gerissen, und hätte dies nicht die Verkäufer aufgescheucht und Unruhe unter den Umstehenden verursacht, dann hätte Hae-Su stehen bleiben und sich all die unverschämten Dinge anhören müssen, mit denen diese Frau sie überschüttete, bis zum bitteren Ende.

Ich bin nicht wie diese Leute. Ich bin anders.

Worte, um sich von anderen abzugrenzen. Worte, die andere auf Distanz halten. Worte, die dazu bestimmt sind, moralische Überlegenheit zu beweisen und das eigene Gewissen durch das Gefühl von Gerechtigkeit zu erleichtern. Aber für Hae-Su bedeuten all diese Worte dasselbe — sie sind eine Erinnerung an das, was geschehen ist, der Beweis dafür, dass nichts je vergessen wird, und eine Warnung, dass ihr Name für immer im Zusammenhang mit dieser Sache genannt werden wird. Vielleicht liegt es an ihrem zerstörten Selbstbewusstsein und einem daraus resultierenden Opferkomplex. Jedenfalls möchte sie in nichts hineingezogen werden, egal, worum es geht, wen auch immer es betrifft. Sie möchte nicht damit in Verbindung gebracht werden.

Als sie sich von der Frau abwendet, springt etwas Gelbes an ihr vorbei und verschwindet unter dem Lastwagen.

*

Hae-Su lebt nach einem festen Tagesablauf. Um acht Uhr morgens steht sie auf, macht ein paar leichte Stretching-Übungen im Bett, putzt ihre Zähne und trinkt ein Glas Wasser. Dann öffnet sie die Fenster und kocht sich eine Tasse Kaffee, während sie Radio hört. In der Regel wählt sie Sender, die kleine Geschichten aus dem Leben ihrer Hörer zum Besten geben. Gegen zehn nimmt sie ein spätes Frühstück zu sich, bevor sie sich bis zur Mittagszeit der Hausarbeit widmet. Der Nachmittag vergeht meistens schnell und dann ist es schon Abend.

Vor dem Abendessen schreibt sie Briefe. Manchmal handgeschrieben, manchmal als E-Mail. Es ist die wichtigste Tätigkeit ihres Tages. Sie fängt jeden Brief mit einer simplen Grußformel an und navigiert sich dann vorsichtig durch ein verwirrendes Labyrinth aus bedächtig gewählten Worten. Sobald die Dunkelheit einbricht, nimmt sie den unfertigen Brief und macht einen Spaziergang. Eine Stunde lang streift sie durch den Park, wirft den penibel verfassten Brief weg und kommt mit dem erleichternden Gefühl nach Hause, dass sie wieder einen Tag wohlbehalten überstanden hat.

Ihre Tage vergehen ruhig und still, zumindest scheint es oberflächlich so. Im Inneren fühlt sie sich so zerbrechlich wie sprödes Glas. Bei der kleinsten Berührung zersplittert es und sie braucht lange Zeit, um diesen Scherbenhaufen wieder zusammenzusetzen. Dabei landet nicht jedes Teil wieder auf seinem angestammten Platz. Sie weiß das, aber sie will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie irgendwann ihre innere Stärke von früher wiederfinden wird.

Ein unmöglicher Wunsch. Ein unerreichbarer Traum.

Ihr unerschütterlicher Glaube mag aber der Grund dafür sein, dass sie überhaupt in der Lage dazu ist, diesen festen Tagesablauf aufrechtzuerhalten.

Eines Nachts sieht Hae-Su auf dem Heimweg wieder das kleine Geschöpf. Das gelbe Ding, das sich unter dem illegal geparkten Lastwagen versteckt hatte. Es ist eine Katze. Sie hockt unter der Stoßstange. Das Fellknäuel blickt zu Hae-Su hinauf. Ihre Augen sind nur zwei glimmende Lichter in der Dunkelheit.

»Ach, du bist das also. Du bist der Grund dafür, dass sich die Leute hier streiten«, murmelt Hae-Su und streckt eine Hand aus. Die zusammengekauerte Katze öffnet ihr Maul ein kleines Stück. Eine zaghafte Bewegung. Die Katze ist schmächtig, kein Kätzchen mehr, aber ausgewachsen auch noch nicht.

»Komm her, Mieze.«

Hae-Su geht in die Knie und streckt ihre Hand noch weiter aus. Ein sich angeregt unterhaltendes Grüppchen nähert sich und entfernt sich wieder. Zwei Motorräder rasen hinter ihr vorbei, als lieferten sie sich ein Rennen. Beide Ohren angelegt, blickt sich die Katze ängstlich um, während sie Abstand zu Hae-Su hält.

»Du bist ein Hasenfuß, nicht wahr?«

Hae-Su will sich gerade erheben, als die Katze miaut. Sie beugt sich weiter vor und blickt unter den Lastwagen. Das Tier miaut erneut.

Auf seiner Stirn bemerkt Hae-Su einen roten Fleck. Es ist getrocknetes Blut. Sie neigt ihren Kopf zur Seite und mustert die Wunde eingehend. Der Schorf in der Größe einer Münze ist dunkel und umgeben von einem weißen Eiterring. Doch das ist nicht die einzige Verletzung. Eine der Vorderpfoten ist so stark angeschwollen, dass es aussieht, als trüge die Katze einen Boxhandschuh. Als Hae-Su noch näher kommt, um sich die Pfote genauer anzusehen, versteckt die Katze sie unter ihrem Körper.

Hae-Su geht zu einem nahe gelegenen Lebensmittelladen und kauft eine Tüte Milch und eine Packung Hühnerbrust. Um den Hunger dieses kleinen Lebewesens zu stillen. Um es vor Zigarettenkippen, Plastikverpackungen und anderem Müll zu bewahren, der in der Dunkelheit herumliegt.

Sie erkennt sich selbst in der armen Katze wieder und verfällt in Selbstmitleid. Sie projiziert die Härte, mit der sie selbst konfrontiert worden ist, auf die unter dem Lastwagen kauernde Katze, die sie an ihr eigenes Unglück erinnert. Warum hat sie das Bedürfnis, ihre jämmerliche Traurigkeit, ihre Wut und Verletzlichkeit in irgendeiner verlassenen Gasse auf eine streunende Katze zu übertragen, die doch nichts mit ihr zu tun hat? Sie zerfließt in unendlichem Selbstmitleid.

Als sie zurückkommt, ist die Katze verschwunden. Hae-Su wartet eine lange Zeit, aber es scheint, dass das Tier ihre Absicht durchschaut hat und nicht wieder auftauchen wird. Sie geht nach Hause und stellt Milch und Hühnchen in den Kühlschrank.

*

Hae-Su beschwert sich nicht über den immer gleichen Tagesablauf, in dem sie bereits seit fast einem Jahr festsitzt. Sie kann jedoch nicht sagen, wie lange sie noch so weiterleben kann. Ihr ist klar, dass sie nicht für ein so eintöniges Leben geschaffen ist. Besser als jeder andere weiß sie, dass sie sich nicht an diese Langeweile gewöhnen wird. All die Dinge, die sie vom Leben erwartet. Die unzähligen Träume. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass ihr Dasein zu so einer faden, nicht weiter bemerkenswerten Angelegenheit verkümmern würde. Ihr Leben ist einfach so zu einem anderen geworden. Es könnte genauso gut das einer anderen Person sein. Sie hat nicht länger die Kontrolle über das Leben, das sie lebt.

Am nächsten Abend sieht Hae-Su die Katze wieder. Sie guckt unter dem Lastwagen hervor und zieht sich zurück, als sie Hae-Su näher kommen sieht, die sich langsam vor der Kühlerhaube niederlässt und der Katze Milch und Hühnerbrust anbietet. Die Milch gießt sie in einen Pappbecher, das Fleisch hält sie ihr in einem Stück hin.

»Mach schon. Nimm ein bisschen«, ermutigt sie die Katze, aber diese rührt sich nicht. Ihre hellen, glänzenden Augen verfolgen Hae-Sus Bewegungen. Ist diese unbeugsame Wachsamkeit anderen gegenüber eine angeborene Fähigkeit? Oder aus der Notwendigkeit heraus entstanden? Was auch immer der Grund dafür sein mag, es ändert nichts an der Tatsache, dass sie ein einsames, zermürbendes Leben führt. Hae-Su ergreift schon wieder das Selbstmitleid. Sie reißt sich zusammen und macht einen Schritt zurück. Die Katze reckt ihren Kopf vor und schnüffelt an dem Fleisch.

»Äh. Hallo«, ruft plötzlich jemand.

Hae-Su dreht sich um und bemerkt ein kleines Mädchen hinter sich. Tatsächlich ist es schon zu groß, um ein kleines Mädchen zu sein. Vielleicht geht es in die Grundschule. Oder doch schon in die Mittelschule? Sie nimmt Augenkontakt zu dem Mädchen auf und versucht, sein Alter zu erraten.

»Ich denke nicht, dass der Kater den ganzen Brocken essen kann. Katzen haben kleine Mäuler. Ist das eine Hühnerbrust? Er hatte gerade Katzenfutter.«

»Kennst du diesen Kater?«

Als Hae-Su aufsteht, erscheint ihr das Kind kleiner als zuvor. Das Mädchen wechselt seine große Tasche auf die andere Schulter und macht dabei einen kleinen Hüpfer.

»Diesen Kater? Ja, den kenne ich. Ist die Hühnerbrust nicht eher für Menschen gedacht? Sie können Katzen so etwas nicht zu essen geben. Es ist gewürzt und das ist schlecht für die Nieren von Katzen.«

»Ist das wahr?«, sagt Hae-Su, während sie auf das weißlich graue, auf dem Boden liegende Stück Hühnerfleisch hinuntersieht. Auf einem Teller mag es lecker aussehen, aber auf dem Boden wirkt es unappetitlich. Hae-Su ist sich nicht sicher, ob sie das Fleisch aufheben oder liegenlassen soll. Das Kind beugt sich vor und nimmt es kritisch unter die Lupe. Die große Tasche kippt nach vorne und etwas klappert darin.

»Oh, das ist in Ordnung. Es ist gar nicht gewürzt. Ich esse das auch manchmal. Es schmeckt nach nichts«, sagt die Kleine. Dann setzt sie sich hin und fängt an, in ihrer Tasche nach etwas zu suchen. Ihre Bewegungen sind unbeholfen und ruckartig und dabei in ihrer Beiläufigkeit doch ganz natürlich. Sie ist völlig in sich gekehrt. Das entwaffnet Hae-Su für einen Augenblick.

»Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, warum geben Sie ihm dann nicht einen von diesen? Er mag sie.«

»Was ist das?«

»Churu. Ein Katzenleckerli. Wenn Sie es in die Hand nehmen, stinkt die danach furchtbar.«

Ein schwarzer Mittelklassewagen hupt im Vorbeifahren. Hae-Su und das Kind drücken sich eng an den Lastwagen. Das Gesicht des Kindes glänzt schweißnass. Vom Körper des Mädchens steigt der Geruch nach Schweiß auf, ein Geruch, den man eher von Menschen kennt, die den ganzen Tag harter körperlicher Arbeit nachgehen. Hae-Su lässt ihren Blick unauffällig von den Sportsocken des Kindes, über das Schweißband am Handgelenk, zu dem zu einem straffen Pferdeschwanz gebundenen Haar wandern.

»Reißen Sie es an dieser Stelle hier auf und pressen Sie! Er wird nicht zu Ihnen kommen, also müssen Sie es ihm auf den Boden legen.«

Hae-Su nimmt einen der Churu-Riegel von dem Kind entgegen. Dies ist die längste Unterhaltung, die sie je mit jemandem aus dem Viertel geführt hat. Sie hat Bekannte in der Nachbarschaft, aber die wenigen Leute, die sie kennt, haben vergessen, wie man ein normales Gespräch mit ihr führt. Sie urteilen und diskutieren. Sie wollen ihre Meinung kundtun und sie belehren. Sie scheinen Gefallen daran zu finden, Hae-Su den Vorfall immer wieder unter die Nase zu reiben.

»Katzen mögen also diese Leckerlis? Wie viel schulde ich dir?«

Hae-Su sucht ihre Geldbörse. Das Kind antwortet gelassen: »Sie müssen nichts bezahlen. Ich habe sie auch von einer Frau geschenkt bekommen. Vergessen Sie nur nicht, es dem Kater zu geben, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen.« Das Kind deutet plötzlich unter den Lastwagen. Der Streuner hat sich hervorgetraut und schleckt an der Milch. Seine geschwollene Pfote hält er seltsam von sich gestreckt, aber sein Stand auf drei Beinen ist ganz sicher. Hae-Su und das Kind sind von dem Anblick völlig gefesselt.

»Sehen Sie das? Seine Vorderpfote? Sie ist schon sehr viel besser geworden. Noch vor ein paar Wochen, da war sie wirklich dick. Er konnte überhaupt nicht richtig laufen«, sagt das Kind. Das Tier wird misstrauisch und verschwindet wieder unter dem Lastwagen. Hae-Su ist sich nicht sicher, warum das Mädchen ihr all das erzählt. Ebenso wenig versteht sie, warum sie sich mit einem Kind unterhält, das sie gerade erst kennengelernt hat. Jedenfalls geht sie nicht fort.

»Aber das Schlimmste ist überstanden. Zumindest sagt das die Frau, die die Katzen füttert. Sie sagt, diese hier ist stärker, als die Leute denken. Sie hat die Entzündung gut bekämpft. Sie sagt auch, dass Straßenkatzen schlauer und tapferer sind, als alle glauben.«

Das gefällt Hae-Su. Sie schaut unter den Lastwagen und sieht den Kater an, der wachsam zurückstarrt. Sie sieht das Tier nun in einem anderen Licht und bombardiert das Kind mit Fragen. Wann taucht der Kater denn gewöhnlich auf? Wo bekommt er sein Fressen? Wer sind die Leute, die ihn füttern? Wie alt ist er? Wie hat er sich verletzt? Pflichtbewusst beantwortet das Kind die Fragen. Aber als sein Handy klingelt, macht es sich bereit, um aufzubrechen.

»Ich muss gehen«, sagt es.

»Wie heißt du?«

»Rübe. Ich habe ihn so genannt«, erwidert das Kind und wendet sich ab. Hae-Su hatte mit dem Kind gesprochen, nicht mit dem Kater. Aber sie nickt trotzdem zustimmend. Als das Kind schon ein Stück die Straße hinuntergelaufen ist, ruft ihm Hae-Su hinterher. »Weißt du, wie er sich verletzt hat?«

»Die Leute sind immer erstaunt, wenn ich ihnen sage, dass ich in der dritten Klasse bin! Aber das bin ich wirklich!«, schreit das Kind zurück.

Es muss sie wegen der Straßengeräusche und des Motorenlärms falsch verstanden haben. Das Kind überquert die befahrene Straße und verschwindet aus Hae-Sus Sichtweite.

*

Liebe Dsu-Hyeon,

ich habe ein paar Mal versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da. Wie geht es dir? Ich schlage mich ganz gut. Zumindest versuche ich es. Ich weiß, dass es wichtig ist, mich anzustrengen. Zum Glück.

Ich bin mir sicher, dass du wusstest, dass ich einem Zusammenbruch nahe war, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber ich war nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Ich verlor schier den Verstand. Ich erinnere mich, dass du mir sagtest, der Spuk würde bald ein Ende haben. Ich müsse das einfach durchstehen. Ich solle es nicht schlimmer machen, als es ist.

Ich wusste, dass du es nur gut mit mir gemeint hast, aber ich war es leid, das andauernd zu hören. Es klang für mich wie eine Warnung, dass mir das Schlimmste erst noch bevorstünde. Ich hatte Angst. Aber ich wollte nicht, dass das jemand bemerkt, weshalb ich jeden, den ich traf, anschrie und beschimpfte — vor allem diejenigen, die mir am nächsten standen.

Das entschuldigt natürlich nicht, was ich gesagt habe. Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, dir vorzuwerfen, dich an meinem Leid zu weiden. Wie fühlt es sich an, bei einem Schiffbruch in der ersten Reihe zu sitzen?

Ich habe schlimme Dinge aus deiner Vergangenheit ausgegraben und dir ins Gesicht geschleudert. Das ist genau der richtige Ausdruck, ›ins Gesicht geschleudert‹. Ich kann kaum glauben, wie tief ich gesunken bin. Du hast dabei zugesehen, wie ich mich wie eine Idiotin aufführe, bis du sagtest, du müsstest jetzt gehen. Ich habe mich gefragt, was dir dabei im Kopf herumging. Vielleicht war es das Ende unserer Freundschaft?

Ich konnte einfach nicht aufhören, herumzuschreien, bis ich schließlich hörte, wie du gingst und die Tür hinter dir ins Schloss fiel. Erst da verstummte ich, weil plötzlich die Tränen aus mir heraussprudelten und mich augenblicklich zum Schweigen brachten. Ich erinnere mich, dass ich lange geweint habe, um die Dinge trauernd, die ich verloren hatte, und um die, die ich erst noch verlieren würde. Um mein Leben trauernd, das sich ohne absehbares Ende in einer Abwärtsspirale befand.

Ich verstand damals nicht, dass das Wichtigste, was ich im Begriff war zu verlieren, du warst. Es kam mir noch nicht einmal ansatzweise in den Sinn.

Hae-Su schreibt bis zu dieser Stelle und liest den Brief noch einmal durch. Immer und immer wieder liest sie den Text, bis sie zugeben kann, dass dies nur ein weiterer verzweifelter Versuch ist, sich selbst etwas vorzumachen.

Möchte sie mit Dsu-Hyeon ins Reine kommen? Versucht sie zu sagen, wie sehr es ihr leidtut? Nein, Hae-Su weiß genau, dass keines von beidem wahr ist. Sie will erklären, warum sie damals so handelte, wie sie handelte. Sie will Dsu-Hyeons Verständnis dafür, dass sie keine andere Wahl hatte, als so zu handeln — und genau deshalb ist dieser Brief nur ein weiterer Fehlversuch.

Auf dem Nachhausweg von ihrem nächtlichen Spaziergang, bei dem sie auch diesen Brief entsorgt hat, macht sie halt bei dem Lastwagen, unter dem sich für gewöhnlich Rübe versteckt. Sie hat ihn mit dem Churu des Kindes gefüttert und sich danach einen eigenen Vorrat zugelegt. Im Moment hat sie drei Packungen in der Tasche, jede eine andere Geschmacksrichtung.

Hae-Su hat bislang kein Interesse an Tieren gehabt. Viele Jahre lang war sie eine fähige Therapeutin und hatte in dieser Rolle ausschließlich mit Menschen zu tun. Mit deren Gefühlswelt, mit ihren Empfindungen, ihren überwältigenden Emotionen. Hae-Su glaubte, dass sie ihre eigenen Gefühle vollständig unter Kontrolle hatte — und es war diese Überzeugung, die es ihr erlaubte, den von ihren Stimmungen und Emotionen beherrschten Menschen entscheidende Ratschläge zu geben. Es gab in ihrem Leben keinen Platz für Tiere oder Pflanzen — nur für Menschen. Ein Leben, ausgefüllt mit Menschen und deren Angelegenheiten. Ein perfektes Menschenleben. Aber kann sie dieses Leben überhaupt als menschliches bezeichnen?

Hae-Su kehrt aus ihrer Gedankenspirale zurück in die Gegenwart und blickt sich um. Es dauert einen Moment, aber dann entdeckt sie Rübe. Er sitzt diesmal nicht unter dem Lastwagen, sondern auf der Mauer und blickt auf die Autos herunter. Mit seinem kleinen Gesicht, der knopfartigen rosa Nase, den überproportional großen, spitzen Ohren und den scharfen Krallen, die in seinen Pfoten verborgen sind. Ein gelber Streifen in seinem Fell beginnt über den Augen, verläuft entlang seines Rückens bis zum Schwanz und ringelt sich darum herum.

Hae-Su lernt ständig mehr über den Kater. Sie zieht einen Churu-Riegel aus der Tasche und nähert sich ihm langsam. Sein Blick schweift umher, als überlege er, ob er weglaufen soll oder ob es sicher ist, zu bleiben. Sein Zögern interpretiert Hae-Su als ein positives Zeichen. Das Tier rührt sich nicht, selbst als sie ihm ganz nahe kommt.

»Willst du einen Snack? Schau dir das an. Das magst du, oder?«

Hae-Su reißt das Ende des Churu-Riegels ab und drückt den Inhalt auf den Boden. Diese Haltung, so weit wie möglich nach hinten gelehnt und nur die Arme nach vorne gestreckt, fühlt sich eigenartig an.

Plötzlich erscheint ein weiterer runder Kopf hinter Rübe. Eine andere Katze. Es ist eine Kami, eine schwarze Katze. Hae-Su holt einen weiteren Churu-Riegel hervor. Ohne zu zögern, kommt die zweite Katze näher und verschlingt gierig das Leckerli. Dann schaut sie nach oben und miaut.

»Willst du mehr, Kami?«

Die schwarze Katze wirkt heiter und unbedarft, sie hat keine Hemmungen. Macht es das Leben auf der Straße für dieses kleine Ding leichter, naiv und fröhlich zu sein, oder ist es eher ein Risiko? Sind die beiden Katzen Freunde, Verwandte oder besteht gar keine Verbindung zwischen ihnen?

Während sie die albernen Gedanken beiseiteschiebt, zieht Hae-Su noch einen Churu-Riegel aus ihrer Tasche. Kami macht sich sofort darüber her. Rübe hält sich im Hintergrund und beäugt die beiden misstrauisch. So, als würde eine einzige unbedachte Bewegung ihn zum Angriff übergehen lassen. Seine Augen sagen, dass er nicht den kleinsten Fehler durchgehen lassen würde. Kami nähert sich Hae-Su, die kleine rosa Zunge aus dem Maul gestreckt. Sie ist schon fast in Reichweite, als sich plötzlich Rübe mit einem Satz vor die schwarze Katze drängt. Eindeutig eine Schutzgebärde. Oder bildet Hae-Su sich das alles nur ein? Mit ein paar Miaus tadelt Rübe Kami, bevor er wieder über die Mauer verschwindet. Kami blickt sich noch einmal zu Hae-Su um, bevor sie Rübe folgt.

Anstatt nach Hause zu gehen, läuft Hae-Su weiter die Mauer entlang.

*

Seit drei Jahren wohnt Hae-Su in diesem Viertel.

»In ein paar Jahren wird die Nachbarschaft aus lauter netten Häuschen bestehen. Im Moment sind die meisten Gebäude hier schon etwas in die Jahre gekommen, aber einen Block weiter wurden sie bereits vollständig renoviert. Sie werden sehen. Dieser Block ist auch bald dran.«

Das waren die Worte des Maklers gewesen, als sie sich zum ersten Mal in dieser Gegend nach einem Haus umgesehen hatte. Er war ein Mann mittleren Alters, der einen ordentlichen Eindruck machte. Im Vergleich zu der schäbigen Fassade wirkte sein Büro ansehnlich. Jedes Blatt der Topfpflanzen glänzte in vollem Saft. Der Mann sprach freundlich mit der Frau, die seine Ehefrau zu sein schien, und das Paar hüllte sich in angenehmes Schweigen, während sie Hae-Su Zeit zum Nachdenken gaben.

Sie erinnert sich noch genau an all das. Die Visitenkarte der Purun Immobilien GmbH hat sie nicht weggeworfen. Viele Dinge hat sie nicht wegwerfen können.

Zu dieser Zeit war sie noch mit Tae-Dsu zusammen. Als sie sich kennenlernten, war er als in vielerlei Hinsicht nicht gut genug für sie erachtet worden, aber im Nachhinein erwies er sich als der perfekte Partner. Tae-Dsu und sie hatten sich in dem Viertel umgesehen und am Ende dieses Haus ausgewählt. Es war ein Flachbau, alt, aber mit guter Substanz, und der einfache Grundriss ließ viel Raum für Veränderungen. Vor allem anderen war es der geräumige Innenhof, der ausschlaggebend für ihre Entscheidung war.

Hae-Su und Tae-Dsu planten einen kompletten Neubau, wobei der vernachlässigte Innenhof zu einem ansehnlichen Garten werden sollte. Die Mauer um das Grundstück wollten sie abreißen, Rollrasen verlegen, in einer Ecke eine Garage bauen und den Weg dorthin mit niedlichen kleinen Lichtelementen versehen. Sie würden selbst ein hölzernes Tor aus hüfthohen Zaunlatten entwerfen und auf dem Flachdach eine Terrasse anlegen. Als sie sich schließlich für dieses Haus entschieden, gab es nichts, das sie nicht schon bis ins kleinste Detail durchgeplant hatten.

Sie waren zuversichtlich, dass sie diesem alten Gemäuer und dem vernachlässigten Innenhof neues Leben einhauchen konnten. Sie hatten die Mittel und die Motivation. Warum also, fragt sich Hae-Su, ist ihr Haus noch in demselben Zustand wie vor drei Jahren? Hat sie ihre Arbeit als Ausrede vorgeschoben, um nicht mit den Bauarbeiten beginnen zu müssen? Hat sie überhaupt je daran gezweifelt, dass sie jederzeit, wann immer sie wollte, mit dem Neubau beginnen konnte? War die unvorhergesehene Tragödie der Grund für den Aufschub gewesen oder hatte es schon vorher Anzeichen gegeben? Hatte sie das unheilvolle Ereignis wirklich nicht kommen sehen?

Hae-Su weiß nicht, wie sich ihre Beziehung zu Tae-Dsu entwickelt hätte. War Tae-Dsu tatsächlich ein Teil der Zukunft gewesen, von der sie geträumt hatte? Vielleicht wäre er auch einfach nur zu einer Gewohnheit in ihrem Leben geworden und sie hätte ihn völlig vergessen. War Tae-Dsu für sie nur eine Zugabe zu der ausgefüllten Zukunft, die sie sich so lange zurechtgelegt hatte?

Als Hae-Sus Gedankengänge an diesem Punkt angekommen sind, nimmt sie einen Stift und beginnt zu schreiben. Verworrene Schlingen und Häkchen erscheinen auf dem weißen Briefpapier. Nichts davon ist lesenswert. Sie kann sich nicht überwinden, an Tae-Dsu zu schreiben. Es scheint ihr unmöglich. Es gibt nichts, was sie in netten, zierlichen Zeilen zu Papier bringen kann, von links nach rechts Buchstaben aneinanderreihend.

Wenn Hae-Su an Tae-Dsu denkt, verliert sie sich in Gedanken. Er fand schon immer schnell einen Weg in ihren Kopf hinein, doch nie hinaus. Hatte er sich erst einmal dort festgesetzt, wurde sie ihn nicht mehr los. Und nun kann sie sich nicht einmal mehr vorstellen, was sie Tae-Dsu bedeutet hat. Sie kann ihn nichts mehr fragen oder sich bei ihm vergewissern.

Ein ermüdendes Gefühl von Hoffnungslosigkeit steigt langsam in ihr auf.

Schnell macht sie sich fertig und verlässt das Haus. Sie geht nicht in Richtung Park, sondern zu der kleinen Gasse auf der anderen Straßenseite. Diese Strecke mag sie nicht besonders. Anders als ihr üblicher Weg, der immer breiter und heller wird, verengt und verdunkelt sich die Gasse, als führte sie in eine Ruine. Aber vielleicht ist es nicht ihre Umgebung, sondern ihr Innerstes, das allmählich bröckelt und verfällt.

Hae-Su schaut zurück zu ihrem Haus, das an der Kreuzung zwischen dem gut beleuchteten Weg und dem dunklen, schmalen Pfad steht. Ihr Haus, das weder hier- noch dorthin gehört, markiert für sie die Grenze zwischen zwei verschiedenen Welten. Sie trottet weiter, ihren Erinnerungen nachhängend. Sie besinnt sich auf die Person, die sie einmal war, die geglaubt hatte, sie könne Erlebtes und Gefühltes davon abhalten, an die Oberfläche zu gelangen. Je angestrengter sie versucht, diesen Gedanken wieder loszuwerden, desto stärker setzt er sich in ihr fest. Hae-Su lernt, dass Zeit ein grausamer Lehrmeister ist.

Sie beschleunigt ihre Schritte. Schnell mustert sie jeden Winkel der Gasse. Sie hält Ausschau nach Rübe. In einiger Entfernung flitzt etwas unter ein geparktes Auto. Sie bückt sich, um unter das Fahrzeug zu blicken. Jedes Mal, wenn sie das tut, schießt ihr das Blut in den Kopf und in ihren Kniekehlen fühlt sie ein dumpfes Zwicken. Hae-Su kann sich mittlerweile Rübe annähern, ohne ihn zu verschrecken. Sie hat seine Lieblingsleckerei in der Tasche, aber er ist nirgendwo zu sehen. Passanten bedenken Hae-Su mit neugierigen Blicken.

Etwas weiter die Straße hinunter sieht sie eine Gruppe Kinder unter einer Straßenlaterne stehen. In dem Haufen meint sie, hin und wieder ein vertrautes Gesicht zu sehen. Ein großer Turnbeutel und weiße Sportsocken. Ein Pferdeschwanz und großgewachsen für ihr Alter. Es ist das Mädchen. Die Kleine, die ihr den Churu-Riegel gegeben hat. Aber sie scheint eine andere Person zu sein. Die Energie und Begeisterung, die das Mädchen bewogen hatten, ein Gespräch mit Hae-Su anzufangen, sind verschwunden und Unbehagen und Zurückhaltung gewichen. Die Stimmen der Kinder verschmelzen zu einer und werden zu einem undeutlichen Geräusch im Hintergrund.

Hae-Su bleibt einen Moment lang stehen und beobachtet die Kinder.

Liebe Min-Young,

es ist schon eine Weile her, seit wir voneinander gehört haben, und ich hoffe, es geht dir gut.

Ich kann mir vorstellen, dass du ziemlich beschäftigt bist. Mit deinen Sitzungen, Vorlesungen, Besprechungen und dem einen oder anderen Interview vergehen deine Tage mit Sicherheit wie im Flug. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht in der Stimmung, dir Nettigkeiten zu schreiben. Aber bitte verstehe mich nicht falsch — ich bin nicht darauf aus, mit dir wie früher wegen jeder Kleinigkeit zu streiten. Ich möchte nur eine Sache wissen.