Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik - Jürgen Habermas - E-Book

Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik E-Book

Jürgen Habermas

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Beschreibung

1962 erschien Strukturwandel der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas' erstes Buch. In sozialhistorischer und begriffsgeschichtlicher Perspektive profiliert er darin einen Begriff von Öffentlichkeit, der dieser einen Platz zwischen Zivilgesellschaft und politischem System zuweist. Der Strukturwandel reihte sich alsbald ein unter die großen Klassiker der Soziologie des 20. Jahrhunderts und hat eine breite Forschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften angeregt. Und auch Habermas selbst hat sich in späteren Arbeiten immer wieder mit der Rolle der Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens beschäftigt. Angesichts einer durch die Digitalisierung veränderten Medienstruktur und der Krise der Demokratie kehrt er nun erneut zu diesem Thema zurück.

Kernstück des Buches ist ein Essay, in dem er sich ausführlich mit den neuen Medien und ihrem Plattformcharakter beschäftigt, die traditionelle Massenmedien – maßgebliche Antreiber des »alten« Strukturwandels – zunehmend in den Hintergrund drängen. Fluchtpunkt seiner Überlegungen ist die Vermutung, dass die neuen Formen der Kommunikation die Selbstwahrnehmung der politischen Öffentlichkeit als solcher beschädigen. Das wäre ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit gravierenden Konsequenzen für den deliberativen Prozess demokratischer Meinungs- und Willensbildung.

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Titel

3Jürgen Habermas

Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-77413-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit

Deliberative Demokratie. Ein Interview

Was heißt »deliberative Demokratie«? Einwände und Missverständnisse

Fußnoten

Informationen zum Buch

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7Vorwort

Ich danke den Kollegen Martin Seeliger und Sebastian Sevignani, die mich im Rahmen ihrer aktuellen Beschäftigung mit der Frage, ob wir von einem »neuen« Strukturwandel der Öffentlichkeit sprechen müssen, zur erneuten Beschäftigung mit einem alten Thema angeregt haben, obwohl ich mich seit langem mit anderen Fragestellungen befasse und die einschlägigen Veröffentlichungen nur noch sehr selektiv zur Kenntnis nehme. Dafür habe ich mich von den Beiträgen, die sie zu einem inzwischen publizierten Sonderband der Zeitschrift Leviathan gesammelt haben, auf den Stand der fachlichen Diskussion bringen lassen können.[1]  Ich danke den Kolleginnen und Kollegen für diese lehrreiche Lektüre.

Nicht ganz überraschend stößt das Thema heute auf ein breites Interesse. Daher habe ich mich entschlossen, meinen eigenen Beitrag zum genannten Band in geringfügig überarbeiteter Form einem allgemeineren Publikum zugänglich zu machen. Diesen Text ergänze ich um zwei Erläuterungen zum Begriff deliberativer Politik, die auf eine aufgeklärte demokratische Willensbildung in der politischen Öffentlichkeit angewiesen ist. Dabei handelt es sich um die gekürzte Fassung eines für das Oxford Handbook on Deliberative Democracy geführten Interviews[2]  und um die 8Bearbeitung meines Vorworts zu einem von Emily Prattico herausgegebenen Interviewband zum selben Thema.[3] 

Starnberg, im Januar 2022 Jürgen Habermas

9Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit

Als Autor des vor sechs Jahrzehnten erschienenen Buches Strukturwandel der Öffentlichkeit, das Martin Seeliger und Sebastian Sevignani als Ausgangspunkt der von ihnen angestoßenen aktuellen Diskussion gewählt haben,[4]  erlaube ich mir zwei Bemerkungen. Am Absatz gemessen, ist das Buch, obwohl es mein erstes war, bis heute mein erfolgreichstes geblieben. Die andere Bemerkung bezieht sich auf den Grund, den ich für diese ungewöhnliche Wirkungsgeschichte vermute: Das Buch enthält eine sozialgeschichtliche und begriffshistorische Darstellung der »Öffentlichkeit«, die viel Kritik auf sich gezogen, aber auch neue Impulse zu einer breiter angelegten historischen Forschung gegeben hat. Diese historische Seite ist hier nicht unser Thema. Aber für die Sozialwissenschaften ist damit der politische Begriff der Öffentlichkeit in einen breiteren sozialstrukturellen Kontext eingebettet worden. Bis dahin war der Terminus vorwiegend im Begriffsfeld der »öffentlichen Meinung«, die seit Lazarsfeld auch demoskopisch erfasst wurde, eher unspezifisch gebraucht worden, während nun die soziologisch begriffene Öffentlichkeit im funktional differenzierten Gehäuse moderner Gesellschaften einen Ort zwischen Zivilgesellschaft und politischem System erhielt. So konnte 10sie auch im Hinblick auf ihren funktionalen Beitrag zur Integration der Gesellschaft und insbesondere im Hinblick auf die politische Integration der Staatsbürger untersucht werden.[5]  Obwohl mir bewusst ist, dass die Öffentlichkeit ein soziales Phänomen ist, das weit über den funktionalen Beitrag zur demokratischen Willensbildung in Verfassungsstaaten hinausreicht,[6]  habe ich das Thema auch später aus der Sicht der politischen Theorie behandelt.[7]  Auch im vorliegenden Text gehe ich von der Funktion aus, die die Öffentlichkeit für die Bestandssicherung des demokratischen Gemeinwesens erfüllt.

Ich will zunächst auf das Verhältnis von normativer und empirischer Theorie eingehen (1), sodann erklären, warum 11und wie wir den demokratischen Prozess, sobald er unter Bedingungen einer individualisierten und pluralistischen Gesellschaft institutionalisiert wird, im Lichte deliberativer Politik begreifen sollten (2), und schließlich an die unwahrscheinlichen Stabilitätsbedingungen einer krisenanfälligen kapitalistischen Demokratie erinnern (3). In diesem theoretischen Rahmen, für den der Strukturwandel von 1962 eine sozialhistorische Vorarbeit gewesen ist, skizziere ich die digital veränderte Medienstruktur und deren Auswirkungen auf den politischen Prozess. Der technologische Fortschritt der digitalisierten Kommunikation fördert zunächst Tendenzen zur Entgrenzung, aber auch zur Fragmentierung der Öffentlichkeit. Der Plattformcharakter der neuen Medien erzeugt neben der redaktionellen Öffentlichkeit einen Kommunikationsraum, worin Leser, Hörer und Zuschauer spontan die Rolle von Autoren ergreifen können (4). Die Reichweite der neuen Medien lässt sich am Ergebnis einer Längsschnitterhebung zur Nutzung der erweiterten Medienangebote ablesen. Während sich die Nutzung des Internets im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte rasch verbreitet hat und das Fernsehen ebenso wie das Radio ihre Anteile mehr oder weniger behauptet haben, bricht der Konsum von gedruckten Zeitungen und Zeitschriften drastisch ein (5). Der Aufstieg der neuen Medien vollzieht sich im Schatten einer kommerziellen Verwertung der einstweilen kaum regulierten Netzkommunikation. Diese droht einerseits den traditionellen Zeitungsverlagen und den Journalisten als der zuständigen Berufsgruppe die wirtschaftliche Basis zu entziehen; andererseits scheint sich bei exklusiven Nutzern sozialer Medien eine Weise der halböffentlichen, fragmentierten und in sich kreisenden 12Kommunikation durchzusetzen, die deren Wahrnehmung von politischer Öffentlichkeit als solcher deformiert. Wenn diese Vermutung zutrifft, wird bei einem wachsenden Teil der Staatsbürger eine wichtige subjektive Voraussetzung für den mehr oder weniger deliberativen Modus der Meinungs- und Willensbildung gefährdet (6).

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Bei Arbeiten, die die Rolle der politischen Öffentlichkeit im demokratischen Verfassungsstaat behandeln, unterscheiden wir normalerweise zwischen empirischen Untersuchungen und normativen Theorien – John Rawls spricht von »idealer Theorie«. Ich halte das für eine übervereinfachte Alternative. Aus meiner Sicht soll die Demokratietheorie den vernünftigen Gehalt der Normen und Praktiken, die seit den Verfassungsrevolutionen des späten 18. Jahrhunderts positive Geltung erlangt haben und insofern Teil der historischen Wirklichkeit geworden sind, rational rekonstruieren. Allein die Tatsache, dass empirische Untersuchungen demokratischer Meinungsbildungsprozesse ihren Witz verlieren, wenn sie nicht auch im Lichte jener normativen Erfordernisse interpretiert werden, denen sie in demokratischen Verfassungsstaaten genügen sollen, macht auf einen interessanten Umstand aufmerksam. Dazu bedarf es freilich eines kurzen historischen Exkurses, denn erst mit jenen revolutionären Akten, die Grundrechten positive Geltung verschafft haben, ist ein neues normatives Gefälle in das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und damit in die gesellschaftliche Realität selbst eingezogen.

13Das Neue an der historischen Tatsache dieser eigentümlich steilen, weil »ungesättigt« über den Status quo hinausweisenden Normativität grundrechtlich fundierter Verfassungsordnungen lässt sich besser vor dem Hintergrund der üblichen gesellschaftlichen Normativität verstehen. Soziale Phänomene haben, ob es sich nun um Handlungen, Kommunikationsflüsse oder Artefakte, um Werte oder Normen, Gewohnheiten oder Institutionen, Verträge oder Organisationen handelt, einen regelhaften Charakter. Dieser zeigt sich an der Möglichkeit abweichenden Verhaltens – Regeln können befolgt oder verletzt werden. Nun gibt es verschiedene Sorten von Regeln: logische, mathematische, grammatische Regeln, Spielregeln und sowohl instrumentelle als auch soziale Handlungsregeln, die sich wiederum nach strategischen und normativ regulierten Interaktionen unterscheiden lassen. Diese zuletzt genannten Normen sind es, die sich durch den eigentümlichen Geltungsmodus des Sollens auszeichnen.[8]  Solche normativen Verhaltenserwartungen können, was sich an der Art der Sanktionen für abweichendes Verhalten zeigt, mehr oder weniger strikte Forderungen stellen, wobei die Moral die strengsten Forderungen erhebt. Die mit den achsenzeitlichen Weltbildern auftretenden universalistischen Moralen zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundsätzlich die Gleichbehandlung aller Personen verlangen. Im Laufe der europäischen Aufklärung hat sich dieses moralkognitive Potential sodann 14von dem jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund gelöst und so ausdifferenziert, dass – gemäß dem heute immer noch maßgeblichen Kantischen Tenor – jeder und jede Einzelne in seiner und ihrer unveräußerlichen Individualität die gleiche Achtung verdient und die gleiche Behandlung erfahren soll. Nach diesem Verständnis muss das Verhalten jeder Person in Berücksichtigung ihrer individuellen Lage nach genau den allgemeinen Normen beurteilt werden, die – aus der diskursiv geprüften Sicht aller möglicherweise Betroffenen – gleichermaßen gut sind für alle.

In unserem Zusammenhang interessiert eine bestimmte soziologische Konsequenz dieser Entwicklung: Man muss sich die unerhörte Radikalität der Vernunftmoral in Erinnerung rufen, um die Fallhöhe des Sollensanspruchs dieses egalitär-individualistischen Universalismus zu ermessen und um dann, mit einem Blickwechsel von der Vernunftmoral zu dem von dieser Moral inspirierten Vernunftrecht, zu begreifen, was es historisch bedeutet hat, dass seit den ersten beiden Verfassungsrevolutionen dieses steile moralkognitive Potential den Kern der staatlich sanktionierten Grundrechte und damit des positiven Rechts überhaupt bildet. Mit der »Erklärung« der Grund- und Menschenrechte ist die Substanz der Vernunftmoral in das Medium des zwingenden, aus subjektiven Rechten konstruierten Verfassungsrechts eingewandert! Mit jenen geschichtlich vorbildlosen Akten der Gründung demokratischer Verfassungsordnungen hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts die bis dahin unbekannte Spannung eines normativen Gefälles in das politische Bewusstsein von rechtlich freien und gleichen Staatsbürgern eingenistet. Diese Ermutigung zu einem neuen normativen Selbstverständnis geht Hand in Hand 15mit einem neuen, von Reinhart Koselleck untersuchten historischen Bewusstsein, das offensiv der Zukunft zugewandt ist – insgesamt ein komplexer Bewusstseinswandel, der in die kapitalistische Dynamik eines zugleich durch technischen Fortschritt beschleunigten Wandels der sozialen Lebensverhältnisse eingebettet ist. Inzwischen hat diese Dynamik in den westlichen Gesellschaften freilich ein eher defensives Bewusstsein hervorgerufen, das sich von dem technologisch und ökonomisch vorangetriebenen Wachstum an gesellschaftlicher Komplexität eher überwältigt fühlt. Aber die bis heute fortgesetzten sozialen Bewegungen, die das Bewusstsein für die unvollständige Inklusion der unterdrückten, marginalisierten und entwürdigten, der heimgesuchten, exploitierten und benachteiligten Gruppen, sozialen Klassen, Subkulturen, Geschlechter, Ethnien, Nationen und Erdteile immer wieder aufrütteln, erinnern an das Gefälle zwischen der Positivität der Geltung und den noch ungesättigten Gehalten der inzwischen nicht mehr nur national »erklärten« Menschenrechte.[9]  Daher gehört 16es, und darauf will ich mit meinem Exkurs hinaus, zu den Bestandsvoraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens, dass sich die Bürger aus der Perspektive von Beteiligten in den Prozess einer fortgesetzten Realisierung der unausgeschöpften, aber schon positiv geltenden Grundrechte verwickelt sehen.

Ganz abgesehen von diesen langfristigen Prozessen einer Grundrechtsverwirklichung, interessiert mich der Normalfall der selbstverständlich vorgenommenen Idealisierungen, die in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen mit dem Status freier und gleicher Staatsbürger verbunden sind; denn diese können sich an ihren staatbürgerlichen Praktiken gar nicht anders beteiligen als mit der intuitiven (und kontrafaktischen) Unterstellung, dass die Bürgerrechte, die sie praktizieren, im Allgemeinen halten, was sie versprechen. Der normative Kern der demokratischen Verfassung muss, gerade im Hinblick auf die Stabilität des politischen Systems, im staatsbürgerlichen Bewusstsein, das heißt in den impliziten Überzeugungen der Bürger selbst, verankert sein. Nicht die Philosophen, die Bürgerinnen und Bürger müssen in der großen Mehrheit von den Prinzipien der Verfassung intuitiv überzeugt sein. Andererseits müssen sie 17auch darauf vertrauen können, dass ihre Stimmen in demokratischen Wahlen gleichmäßig zählen, dass es in Gesetzgebung und Rechtsprechung, im Regierungs- und im Verwaltungshandeln grosso modo mit rechten Dingen zugeht und dass in der Regel eine faire Möglichkeit zur Revision besteht, wenn zweifelhafte Entscheidungen getroffen werden. Auch wenn diese Erwartungen Idealisierungen sind, die mal mehr, mal weniger über die tatsächliche Praxis hinausschießen, schaffen sie – indem sie sich in Urteil und Verhalten der Bürger niederschlagen – soziale Fakten. Problematisch an solchen Praktiken sind nicht die idealisierenden Unterstellungen, die sie ihren Teilnehmern abverlangen, sondern die Glaubwürdigkeit der Institutionen, die diese Idealisierungen nicht offensichtlich und auf Dauer dementieren dürfen. Trumps fatale Aufforderung hätte in der Wut der Bürger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt haben, kaum das erwünschte Echo gefunden, wenn nicht die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen Teils ihrer Bürger enttäuscht hätten. Die politische Theorie, die auf diese Art des Verfassungsstaates zugeschnitten ist, muss mithin so angelegt sein, dass sie beidem gerecht wird: sowohl dem eigentümlich idealisierenden Überschuss