Ein Prinz für Movenna - Petra Hartmann - E-Book

Ein Prinz für Movenna E-Book

Petra Hartmann

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Beschreibung

Mit dem Schild oder auf dem Schild - als Sieger sollst du heimkehren oder tot. So verlangt es der Ehrenkodex des heldenhaften Orh Jonoth. Doch der letzte Befehl seines sterbenden Königs bricht mit aller Kriegerehre und Tradition: "Flieh vor den Fremden, rette den Prinzen und bring ihn auf die Kiesinsel." Während das Land Movenna hinter Orh Jonoth in Schlachtenlärm und Chaos versinkt, muss er den Gefahren des Westmeers ins Auge blicken: Seestürmen, Riesenkraken, Piraten, stinkenden Babywindeln und der mörderischen Seekrankheit ....

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Petra Hartmann

Ein Prinz für Movenna

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte des Landes Movenna

Erstes Buch: Das Buch des Orh Jonoth

Der Leuchtturm am Rand der Welt

Seegespenst

Goldauge

Goldauge II

Wulfrics Schwert

Nebelbank

Reenes Zorn

Im Hafen

II. Teil: Das Diamanten-Buch

Eine Flasche voller Diamanten

Brief Fandirs

Diamantsplitter

III. Teil: Das Buch der Bernländer

Raubwürger

Furunkula Warzenkraish

Fandirs Geschichten in Bernland

Die Karawane aus Aristamí

Piri-ere-ua

Kairis und Epontyr oder die Freundschaft der Nearith

Drei Pfeile für Ardua

In der „Mutter des Seetrolls“

An Ventas Strand

Durch das Jahr

Statt eines Nachworts:

Gewitternacht

Impressum neobooks

Karte des Landes Movenna

Erstes Buch: Das Buch des Orh Jonoth

Der Leuchtturm am Rand der Welt

„Vorsicht!“ Harrod riss das Steuerruder herum und bemühte sich, die mannshohe Welle seitlich abzureiten. Die schmale Nussschale wurde gefährlich durchgerüttelt, stürzte gleich darauf ins nächste Wellental und trudelte wie ein betrunkener Albatros durch die nächtlichen Wogen. Harrod der Sturmvogel umklammerte das feuchte Holz der Pinne, dass es fast unter seinem Griff zu brechen drohte. Mit rauen Stricken hatte der alte Seebär sich am Heck der Lachmöwe festgezurrt, und das Salzwasser troff ihm von der Krempe der Ölhaube. Wieder sprang eine Woge über Bord und klatschte ihm ins Gesicht.

Besorgt blickte er hinauf zum Mast, an dem das bis zum Äußersten gereffte Dreieckssegel schlug und im Sturm knallte. Wenn der Orkan noch stärker anschwoll, würde das Leinen ausreißen. Doch bei diesem Seegang wollte er es lieber nicht wagen, seine Männer zum Bergen des Tuches dort hinaufzuschicken. Zumindest ein wenig mehr Mondlicht wollte er haben, bevor er ihr Leben aufs Spiel setzte.

„Harrod?“

Ein Stöhnen kam vom Mast her. Man hatte den riesenhaften Krieger mit mehreren Tauen festgelascht, und da hockte er nun zusammengekrümmt, den mächtigen Oberkörper schützend über das Kind gelegt, das er mit seinem Leben zu verteidigen geschworen hatte. Der alte Kapitän lächelte leise in sich hinein. Er hatte schon viele seekranke Passagiere gehabt, doch noch keiner hatte ihm so viel Respekt abgenötigt wie dieser hünenhafte, finstere Kriegsheld mit dem leicht grünlichen Antlitz, der sich trotz aller Todesangst und Magenkrämpfe tapfer bemühte, nicht auf das Baby zu kotzen.

„Harrod!“, schrie der Riese wieder. „Hört dieser Sturm denn nie auf?“

Harrod schüttelte bedauernd den Kopf. „Noch mindestens zehn Meilen, Freund Orh!“, brüllte er gegen das Rasen der See an. „Dann können wir auf einen anderen Kurs gehen. Ich hoffe, dass dann das Schiff ein wenig ruhiger liegt ...“

Der Wind riss ihm die letzten Silben aus dem Mund. Wieder schoss die See kübelweise über die Bordwand. Im nächtlichen Dunkel konnte er die Ruderknechte kaum ausmachen, die sich mit aller Kraft in die Riemen legten. Nur den schmalen, sehnigen Oberkörper Löweners konnte er vor sich erahnen, der sich im Takt der Ruderschläge aufbäumte und wieder niedersank, unermüdlich wie ein struppiges Bergpony.

Harrod verlagerte das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und suchte einen sicheren Stand. Vorsichtig löste er die rechte Hand vom Steuer und griff in seinen Pelzkragen. Unter den Kleidern förderte er seinen kostbarsten Besitz hervor: die alte Kristallscheibe seines Vaters und Großvaters, die er stets an einem Seehundsriemen um den Hals trug. Die kaum handtellergroße, flache Kristallplatte schien schwach zu leuchten, als er sie am Riemen in der Luft pendeln ließ. Unschlüssig drehte sich der Stein im Kreis, schwankte durch den Wind wie die mit den Wogen kämpfende Lachmöwe durch die See, bis die runde Scheibe sich exakt in Richtung der Kiellinie drehte. Zufrieden schob Harrod den Kristall wieder zurück unter seinen Pelz. „Wir sind genau auf Kurs, Freund Orh“, rief er dem Riesen tröstend zu. „Die Lachmöwe fährt einen sauberen Nordkurs, egal was Sturm und Wellen dazu sagen.“

Das Schiff sprang. Einen kurzen Augenblick lang schien es in der Luft zu schweben, bevor es donnernd wieder auf die Wasserfläche aufschlug. Der Mast erzitterte, und einen endlosen Herzschlag lang fürchtete Harrod, die Wanten, die den schweren Eichenstamm aufrecht hielten, müssten zerreißen. Die geteerten Hanfseile schrien gequält auf. Doch sie hielten den Mastbaum unverrückbar fest.

„Wuääääh!“

Harrod fuhr zusammen. Alles, alles hatte er schon gehört und ertragen in seinem Seefahrerleben. Niederkrachende Masten, zerberstende Planken und das Geräusch, wenn ein Riff einem Segler den Kiel aufschlitzte. Todesschreie riesenhafter Wale und Raubfische, die sich unter der Harpune aufbäumten. Das furchtbare Heulen des Orkans und die verlorenen Seelen der Ertrunkenen, die in seinen Träumen nach ihm riefen. Alles, alles hatte der Sturmvogel zu ertragen gelernt ...

„Wuäääh!“

Da schrie das Kind schon wieder. „Sag ihm, es soll still sein!“, brüllte Harrod den Riesen an. Der beugte sich hilflos über das plärrende Bündel und begann, es mit seinen rauen Händen zu streicheln. Vergebens.

„Wuäääääh!“

Harrod standen die Haare zu Berge. Nicht einmal die südlichen Meerhexen konnten solche Töne erzeugen. Er spürte, wie sein Herzschlag ihm das Blut in den Kopf jagte. „Sag dem Balg, es soll still sein!“, schrie er Orh an, verpasste eine Welle und bekam einen Riesenkübel eisiges Salzwasser mitten ins Gesicht, als eine Sturzwelle über die Bordwand hereinbrach. Ärgerlich wischte er sich die triefenden Haare aus der Stirn und funkelte den Riesen aus giftigen Augen an.

Orh blickte genauso böse zurück. Mühsam richtete sich der Gigant zu seiner vollen Größe auf. Er taumelte leicht, doch das Tau, das um seine Brust geschlungen war, hielt ihn aufrecht am Mastbaum. Da stand er, Orh Jonoth aus Akkatossa, der tödlichste Krieger Movennas, hochaufgerichtet am Mast der Lachmöwe. In seiner Linken hielt er den plärrenden Säugling, die Schwerthand ruhte provozierend auf dem Knauf seiner Waffe. Ein wenig grün im Gesicht, doch immer noch eine eindrucksvolle Gestalt, wie Harrod zugeben musste.

„Das Balg, wie du es genannt hast, ist Orsans Sohn und dein zukünftiger König, vergiss das nicht“, grollte der Riese.

„Wuääääh!“

„Verdammt, sei still!“, schimpfte Orh und besann sich gerade noch rechtzeitig, bevor er dem Kind mit der Pranke einen Klaps gab. Kapitän und Krieger blickten sich hilflos an.

„Hast ja recht, Alter“, brummte der Recke schließlich versöhnlich. „Mir greift es auch an die Nerven. Ich will lieber tausend Moglàt den Schädel spalten als hier weiter den königlichen Babysitter spielen ...“

„Wuäääh!“

„Verdammt, Harrod, denk dir etwas aus, oder ich drehe durch!“

„Gib ihn mir“, piepste plötzlich ein dünnes Stimmchen zu Füßen des Riesen. Orh blickte verblüfft nach unten. Sparrow, der Schiffsjunge, reichte ihm kaum bis zum Gürtel, doch er stand breitbeinig und ohne sich festzuhalten vor ihm auf den schwankenden Planken und glich das Rucken und Springen des Schiffs mit spielerischer Mühelosigkeit aus. Auch das Kind schwieg, wie vom Auftreten des Jungen aus dem Kurs gebracht, für einen Augenblick, legte dann aber mit doppelter Lautstärke erneut los.

Ein Stoß erschütterte die Lachmöwe, und Orh wäre beinahe trotz des Halteseils lang hingeschlagen. Er ließ sich, mühevoll ächzend, wieder auf die feuchten Planken nieder. Nun schwebte sein Gesicht auf der Höhe Sparrows.

„Setz dich zu uns, Kleiner“, hustete er. Das Springen und Stoßen des Schiffes nahm zu, und trotz der Dunkelheit konnte man sehen, wie der Hüne mit seinem Magen kämpfte. „Setz dich zu uns. Und dann zeig uns deine Kunst ...“

Sparrow hockte sich gehorsam neben den Krieger. Mit einem geübten Handgriff verhakte er seinen Gürtel in einer Klampe des Mastbaums. Erst dann streckte er die Hand nach dem Kind aus. Der Riese zögerte. Schob dann hastig den Prinzen von sich fort und wandte sich ab. Mit weit über die Reling gebeugtem Oberkörper hing er in den Seilen und gab würgende Geräusche von sich. Und das Baby in Sparrows Arm schrie noch immer.

„Schon gut, kleiner Varel, ganz ruhig, mein Varelian“, flüsterte der Schiffsjunge, wie er es bei seiner Mutter gehört hatte. Mit der linken Hand löste er behutsam die Tücher, in die der Säugling gewickelt war. „Kein Wunder, dass er so plärrt, der kleine Hosenscheißer“, brummte er vor sich hin. Der kleine Prinz kiekste vor Vergnügen und schien es für einen großartigen Spaß zu halten, als Sparrow die Windel angewidert über Bord schleuderte.

„Hee, pass doch auf“, beschwerte sich Orh, dessen Kopf in diesem Augenblick wieder aus der Tiefe auftauchte. Doch Sparrow drückte ihm nur kurz das Kind in die Hand und glitt ins dunkle Achterschiff davon. Einen Moment später war er bereits wieder da, in der Hand die zerfetzten Reste des Vorsegels, das der Sturm am Abend in der Mitte durchgerissen hatte, und ein kleines Fläschchen mit Seehundsfett, das eigentlich dazu diente, die Ketten und Eisenbeschläge an Bord einzufetten und vor Rost zu schützen.

„Meinst du, du bekommst das hin?“, fragte Orh besorgt. Er hielt das Kind mit spitzen Fingern von sich fort, und das Würgen in seinem Hals kam diesmal nicht vom Seegang.

„Klar“, meinte Sparrow lässig. „Gib ihn mal her, deinen Prinzen.“

Wenig später lag der movennische Thronerbe gewaschen, geölt und neu gewindelt im Arm des Schiffsjungen. Sparrow hatte sogar einen Streifen Dörrfisch in ihn hineinbekommen und einen guten Mundvoll Trinkwasser, denn an Milch für den Kleinen hatte in der Eile des nächtlichen Aufbruchs niemand gedacht.

„Fertig?“, fragte Orh.

Sparrow schüttelte langsam den Kopf. „Meine Mutter hat uns Kindern immer noch eine Geschichte erzählt, damit wir besser einschlafen konnten.“

„Ho, das ist einfach. Ich werde ihm von meinem letzten Feldzug gegen die Moglàt erzählen. Und wie ich dem verwünschten Fahnenträger den Schädel gespalten habe ...“

„Ach, hör auf. Das macht nur schlechte Träume“, versetzte der Hänfling altklug. „Nein, es muss ein freundliches Märchen sein. Und vielleicht etwas, aus dem er ein wenig über sein Land lernen kann ... Wir wollen ihm vom Leuchtturm erzählen. Vom Leuchtturm Isenfüür am Rand der Welt.“

Rand der Welt ist gut, dachte der hochgewachsene Kämpe aus Akkatossa. Bernland, seine Heimat, begann erst eine halbe Meile hinter diesem Leuchtturm. Und weiter im Norden, da gab es auch noch Menschen. Das kleine, fischgesichtige Volk der Plukku lebte dort in Fellzelten und Eishäusern. Aber für einen Moven’Am mochte es angehen, vom Rand der Welt zu sprechen ...

„Weißt du, wohin wir fahren, kleiner Prinz Varel?“, flüsterte Sparrow. „Geradewegs auf das Sharkenthökk-Riff fahren wir zu. Ganz oben im Norden liegt es, am äußersten Rand der Welt. Das ist so weit im Norden, dass der Nordwind dort von allen Seiten gleichzeitig mit seinen Sturmfäusten auf See und Schiffe niederjagt. Turmhoch schlägt er die Wellen dort in den Himmel hinein, und man nennt Borh, den mächtigen Nordsturm, nicht aus Langeweile den Flottenverheerer. Unter den eisigen Wellen des Bernländer Nordmeers liegen mehr Schiffe begraben, als Seeleute auf dem Friedhof von Ura ruhen. Mancher stolze Kauffahrer aus Akkatossa oder Pisca liegt dort unter den Wogen, mancher kühne Segler aus Chadashqarth fand dort mit zerschmettertem Bug sein kaltes Seemannsgrab, und die Zahl der Plukku, deren kleine, leichte Fellboote Borh wie totes Laub auseinanderstob, ist höher als die der Sterne am Himmel. Und doch ist der Zorn des mitleidslosen Herrn der Stürme ein freundliches Kinderlächeln gegen das schreckliche Sharkenthökk-Riff, das vor uns liegt ...“

„Wuääääääh!“

„Feine Gute-Nacht-Geschichte“, höhnte Orh. Er war noch etwas bleich um die Nase herum, doch schaffte er es inzwischen wieder, den Kopf oben zu halten. „Besser als meine Moglàt-Schlacht sind deine Schauermärchen ja wohl auch nicht.“

„Ach, warte es ab“, meinte Sparrow ungerührt. „Sieh einmal, Varel, das Sharkenthökk-Riff, das sind rasiermesserscharfe Unterwasserfelsen. Nur höchstens eine Handbreit unter der Meeresoberfläche liegen sie, sodass kein Ausguck sie jemals entdecken kann. Wenn Borh der Nordwind und die hartherzige Meereskönigin Reene ein Schiff dort hineintreiben – wie eine Messerklinge durch Butter zerschneiden dann die Riffkanten die Schiffskiele, und die Seeleute sind unrettbar verloren. Große, graue Eishaie kreisen rund um die Felsen, und wer sein Leben nicht in den steinernen Messerklingen verliert, der wird von den Eisbestien lebendig verschlungen mit Haut und Haar. Dann kreisen sie rund um das Riff, und nur ihre stahlgrauen Rückenflossen durchschneiden die Wasserlinie. Und wenn die Bluternte für sie gut und reichlich ausgefallen ist, dann will man sie sogar singen gehört haben: ‚Danke, Mutter des Meeres, für die gute Mahlzeit!‘“

„Wuääääääh!“

„Ach, du bist ja nicht bei Trost!“, schimpfte Orh. „Wie kannst du dem Kind solche Angst einjagen!“

„Ach was“, sagte Sparrow. Aber ein klein wenig ärgerte es ihn doch, dass Orh so gar keine Angst zeigte.

„Dort an der Küste gab es viele kleine Fischerdörfer, in denen Menschen zu Hause waren, die vom Ertrag der See lebten“, fuhr er fort. „Manche stellten dem Thunfisch und dem Hering nach, manche legten Kastenfallen für Hummer und Krebse aus, und manche heuerten auch auf den abenteuerlichen Walfängern an und kehrten erst nach Jahren wieder zurück – die Taschen voll Gold und den Mund voller Seemannsgarn. Doch viele, und das ist wirklich wahr, lebten auch vom Riff selbst. Sie sammelten Strandgut. Und diejenigen, die das an der Küste angeschwemmte Treibholz sammelten, waren noch die harmlosesten. Manche waren auf die Ladung der Kauffahrer aus, die am Haifischriff gescheitert waren. Und manche, aber das ist nur ein Gerücht, manche sollen sogar absichtlich die Schiffer mit ihren flachen Booten ins Verderben gelotst haben. Das waren böse Zeiten damals.

Nun lebte aber auch in jener Zeit ein kleiner Junge, den sie Elektryon riefen. Er hatte bernsteinfarbene, blitzende Augen und einen wachen Verstand, und oft, wenn die Erwachsenen von tödlichen Havarien auf dem Sharkenthökk-Riff erzählten, stand er dabei und dachte mit gerunzelter Stirn nach. Oft sah man diesen Jungen, wie er am Ufer stand und weit aufs Meer hinausblickte, dorthin, wo man zwar die gefährlichen Felsenriffe nicht sehen konnte, wohl aber die Rückenflossen der Eishaie, die dort draußen ihre Bahnen zogen.“

Prinz Varel hatte aufgehört zu schreien. Aus kritisch zusammengezogenen Augen blickte er den Schiffsjungen an, der mitten im Orkan am Mast hockte und Märchen von Haifischen und Riffen erzählte.

„Als die Zeit herankam, in der die jungen Männer ihren künftigen Beruf wählen sollten“, fuhr Sparrow fort, „da nahm Elektryons Bruder eine Stelle bei einem Kaufmann an. Ein Vetter ging an Bord eines Walfängers. Und mehrere seiner Freunde gingen wohl auch unter die Riffpiraten. ‚Und du, sag, was möchtest du einmal werden?‘, fragte man den Knaben. ‚Ach‘, sagte er träumend, ‚ich will Leuchtturmwärter werden.‘ Da lachten sie ihn alle aus. ‚Du Dummer‘, spotteten sie, ‚an der ganzen Küste gibt es keinen Leuchtturm. Wo willst du denn Leuchtturmwärter sein?‘ ‚Dann werde ich eben selbst einen bauen. Mittendrin im Sharkenthökk-Riff‘, sagte er trotzig. Und als sie weiter lachten, da schnürte er sein Bündel und zog in die weite Welt auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen Traum wahr werden zu lassen.

Elektryon zog südwärts. Viele Dörfer und Städte sah er. Aber wo immer er seinen Traum vom Leuchtturm auf dem großen Riff erzählte, erntete er nur Gelächter oder ungläubiges Kopfschütteln. Hilfe fand er nicht, und niemand schien Interesse an einem solchen Signalfeuer zu haben.

So gelangte er schließlich auch in die Stadt Dichtaby. Abgerissen und müde, in durchgelaufenen Schuhen, so kam er durchs Stadttor herein, die Haare staubig und das Gesicht voll Schmutz, und nur die Bernsteinaugen des Fischersohnes leuchteten noch immer vom Traum, einen Leuchtturm zu bauen. Ein mitleidiger Schiffsbauer gab ihm schließlich Arbeit in seiner Werft, und für Essen und ein Quartier begann Elektryon mit dem Kalfatern von dickbauchigen Kaufmannsschiffen ...“

„Verstehe kein Wort, und der Prinz auch nicht“, knurrte Orh unwillig. „Was ist Kalfatern?“

„Abdichten“, sagte Sparrow. „Entschuldige, Varel. Er schmierte die Fugen zwischen den Hölzern zu. In seinem Dorf hatte man die Ritzen fest mit Werg verstopft und schwarzes, klebriges Erdpech dazugegeben. Und wenn die ganze Schiffswand mit einer dreifachen Pechschicht überzogen war, dann drang bestimmt kein Wasser mehr ins Innere ein. In Dichtaby aber war vor kurzem das Dibbukit erfunden worden, ein neuer Klebstoff, der wesentlich schneller trocknete als das Fischerpech und dabei auch noch elastisch blieb und nicht riss oder bröckelte wie das Pech, das man spätestens nach der dritten Ausfahrt wieder erneuern musste. Für eine Weile vergaß Elektryon sogar seinen Traum vom Leuchtturm über der Arbeit mit dem Dibbukit.

Doch dann, eines Tages, kam die Nachricht nach Dichtaby, dass der König die Nachbarstadt Urasport besuchen würde. König Flaric wollte dort die Bauarbeiten für das neue Hafenbecken inspizieren. Da beschloss der Junge, mit dem König über seinen Leuchtturm zu sprechen. Er verabschiedete sich also von seinem Schiffsbauer und machte sich auf den Weg nach Urasport.

Aber ach, als der kleine Leuchtturmwärter dort ankam, da hingen überall in der Stadt schwarze Flaggen, und das prächtige Königsbanner mit der Lachmöwe auf rotem Grund schwankte traurig auf halbmast. Alle Frauen hatten ihr Gesicht unter schwarzen Tüchern verhüllt. Und als Elektryon um eine Audienz beim König bat, da hieß es, König Flaric sei in Trauer, und er habe schon seit Tagen mit niemandem mehr gesprochen.

‚Das ist ja furchtbar‘, sagte der Junge. ‚Ist denn jemand aus der königlichen Familie gestorben?‘

‚Nein, etwas viel Schlimmeres ist geschehen‘, sagte ein Diener des Königs. ‚Ein schrecklicher feuerspeiender Drache ist über die Stadt hergefallen und hat des Königs Tochter entführt. Ach, wir werden die liebliche Beryllis sicher nie mehr wieder sehen.‘

Da stellte sich Elektryon auf die Zehenspitzen – und tatsächlich, er reichte dem Diener fast bis zur Brust. ‚Sag dem König, ich werde ihm seine Tochter wieder zurückbringen‘, gab der Fischersohn entschlossen bekannt. Und als der Diener sich halb totlachen wollte, machte der Leuchtturmwärter auf dem Absatz kehrt und stapfte mit festem Schritt zum Hafen.

In einer Schiffswerft am Fluss Lethargyrion fand er Arbeit und hatte bald so viel Geld verdient, dass man ihm aus der Werkstatt alles überließ, was er als Drachenjäger gebrauchen konnte – einschließlich eines alten Zinneimers als Helm, eines rostigen Enterhakens und einer großen Anzahl Taue. Auf einem Fischerboot aus Dichtaby vervollständigte er seine Ausrüstung und nahm auch ein Dutzend Stockfische mit auf seine Expedition. So zog er los in die Berge, wohin, wie mehrere Zeugen berichteten, der Drache geflogen sein sollte.

Die Spur des Untiers war nicht schwer zu finden. Überall hatte die Riesenechse schreckliche Verwüstungen angerichtet. Verkohlte Reste von Höfen und Hütten, die der Feuerstrahl des Drachen getroffen hatte, säumten den Weg. Brennende Felder und von Flammen verzehrte Wälder zeigten dem Jungen nur allzu deutlich, wohin der Drache geflogen war. Da, plötzlich, sah er ihn. Hoch oben in den Felsen hatte er seine Höhle. Und er hörte auch schon die Prinzessin Beryllis um Hilfe rufen. Da machte sich der kleine Leuchtturmwärter startklar. Er setzte den Zinneimer auf, den er statt eines Ritterhelms mitgenommen hatte, knotete den Enterhaken an einem der Taue fest und stieß dann einen zweiten Eimer um, der laut scheppernd über die Felsen hüpfte.

Neugierig streckte der Drache seine Nase aus der Höhle, um zu sehen, was dort unten vor sich ging. Soeben hatte der Junge noch einen weiteren Eimer umgestoßen und machte einen Krach, wie ihn der Drache noch nie gehört hatte. ‚Hey, komm runter du blödes Mistvieh!‘, schrie Elektryon provozierend und ließ den schweren Enterhaken am Seil kreisen. Der Drache musste vor lauter Lachen husten und spuckte einen Feuerstrahl in Elektryons Richtung, dass sich der Junge nur durch einen Hechtsprung hinter einen Felsblock retten konnte. ‚Ist das alles, was du kannst?‘, rief Elektryon wütend zur Höhle hinauf, als er sich wieder aufgerappelt hatte. ‚Du traust dich wohl nicht zu mir runter und schickst bloß ein paar Flämmchen, du Feigling‘, höhnte er.

Das hatte sich noch niemand getraut. Wutschnaubend breitete der Drache seine Flügel aus und stieß sich vom Fels ab. Er stieg hoch in den Himmel auf, legte dann die Schwingen eng an den Körper und stieß in einem mörderischen Sturzflug auf den kleinen Leuchtturmwärter hinab.

In letzter Sekunde sprang Elektryon zur Seite, und donnernd schlug die Echse am Boden auf. Mit wütendem Fauchen fuhr das Tier auf den Jungen los. Doch was war das? Seine Beine steckten fest. Da stand die furchtbare Urzeitbestie und konnte ihre Klauen nicht mehr vom Boden losbekommen. Elektryon hatte nämlich zwei Eimer schnelltrocknenden Dibbukit auf dem Felsboden umgestürzt, und das Ungeheuer war mitten in seine klebrige Falle hineingesprungen. Schnell war Elektryon heran und schleuderte den Enterhaken. Die Leine schlang sich um das Maul des Drachen und zog sich bombenfest zusammen. Nur aus den Nüstern pufften noch zwei dünne, harmlose Flämmchen hervor, dann nichts mehr. Der furchtbare, feuerspuckende Drache war gefangen und konnte niemanden mehr verletzen.“

„Das war sehr tapfer von dem kleinen Kerl“, meinte Orh anerkennend. „Aber ihr Zwerge erzählt ja wohl immer Geschichten, in denen die Kleinen gut dastehen, nicht wahr?“

Sparrow grinste. „Das mag wohl sein, Großer. Und wie du siehst, dem kleinen Varel hat es gefallen. Er lächelt sogar etwas im Schlaf ... Und willst du denn nun hören, wie die Geschichte ausging?“

‚Nun, wie wird die schon ausgegangen sein?‘, knurrte Orh. „Elektryon erhielt die Hand der Prinzessin Beryllis, und nach des Königs Tod wurden die beiden König und Königin über das Land, und sie lebten glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

„Nein.“

„Nein?“

„Nein.“

Sparrow lehnte den Kopf an den Mast und starrte hinaus in die tosende See, die sich wie gewaltige schwarze Bergeshöhen vor ihnen auftürmte. „Nein“, wiederholte er nach einer Weile. „So war es nicht. König Flaric freilich mag es sich so vorgestellt haben, als er den Fischersohn zu sich rief und ihn aufforderte, er solle sich doch etwas wünschen. König Flaric, heißt es, hatte eine gewisse romantische Ader und liebte Geschichten um heldenhafte Drachenbezwinger. ‚Was es auch sei, um das du bittest, es sei dir gewährt‘, versprach der König. Und Prinzessin Beryllis stand dabei und strahlte ihn mit ihren sternenblauen Augen an und lächelte mit ihren rosenroten Prinzessinnenlippen, dass die Welt sich um den jungen Elektryon zu drehen begann. Aber dann nahm er den König fest ins Auge und sprach: ‚Mein König, einen Wunsch habe ich in der Tat: Bitte schenkt mir den Drachen.‘ ‚Was willst du denn mit einem Drachen?‘, fragte der König verblüfft. Aber er hatte versprochen, den Wunsch zu erfüllen, und Könige halten ihre Versprechen. Er ließ also eine Urkunde ausfertigen, in der stand, dass der Feuerdrache dem Elektryon auf alle Zeiten gehören sollte. Und Elektryon rollte das Pergament zusammen und sagte ‚Dankeschön‘, dann verließ er die Stadt.

Es dauerte Wochen, bis der Junge den festgeklebten Drachen gezähmt hatte. In den ersten Tagen schlug die Echse wild mit dem Schwanz und hätte ihn beinahe erschlagen. Und als der große Tag kam, an dem Elektryon ihm das Seil abnahm und der Drache wieder Feuer spucken konnte, da hielten alle, die ihn dabei beobachteten, vor Angst den Atem an. Doch der Junge ließ sich nicht anmerken, wie unheimlich ihm die Situation war. Und die Echse beugte sich zu ihm hinab und fraß einen Stockfisch aus seiner Hand. ‚Siehst du‘, sagte er, ‚solch einen Leckerbissen will ich dir jeden Tag geben, wenn du mein Drache sein willst und mit mir zusammen arbeitest.‘ Da nickte das Tier, und Elektryon streichelte ihn sanft zwischen den Ohren.

Wenige Tage später war die Zeit gekommen, in der der Drache seine Haut abstreifte. Denn alle Reptilien werfen von Zeit zu Zeit ihren Panzer ab, wenn er alt und zu eng geworden ist, und darunter kommt eine neue, glänzende Haut zum Vorschein. Als sich die festgeklebten Drachenschuppen lösten, jauchzte das Ungeheuer vor Freude auf. Es nahm Elektryon auf seinen Rücken und flog los, so schnell und so hoch, wie die Drachenschwingen das Tier tragen konnten. Elektryon steuerte die Flugbestie nach Norden, bis sie das gefährliche Sharkenthökk-Riff erreichten. Hier landete der Drache, und als er auf dem scharfkantigen Felsen stand, da wurden gerade mal seine Fußsohlen nass, so groß war er.

Nacht für Nacht stand der Drache von nun an auf dem Riff, und wann immer sich ein Schiff den verhängnisvollen Felsen näherte, stieß er einen hellen Feuerstrahl in den schwarzen Himmel, sodass die Schiffer gewarnt waren. Und seither ist niemals wieder ein Schiff dort gescheitert, denn ob es auch stürmte oder ob wie aus Kübeln Wasserstürze auf sie einjagten, Elektryon und sein Drache hielten getreulich auf dem Riff Wacht und warnten die Seeleute.

Später ließ der König auf dem Felsen einen gemütlichen kleinen Leuchtturm für die beiden errichten, und der steht noch heute am Sharkenthökk-Riff: ein Turm aus grauen, grünbemoosten Felsen mitten auf dem tödlichen Riff, und er hat oben drei riesige Fenster aus poliertem Bernstein, durch die sein Suchstrahl auf die Wellen fällt – Dort!“

Sparrow wies mit weit ausgestrecktem Arm nach vorn. Am nördlichen Horizont war ein helles Licht aufgeflammt. „Leuchtturm voraus!“, vermeldete die volltönende Stimme Wannewers. Trotz des Sturms war der Ruf des Ausgucks an jedem Punkt des Schiffs zu hören. „Geschafft“, freute sich Löwener. „Jetzt ist das Schlimmste überstanden.“

Harrods Kommandos vom Heck aus schallten durch die Nacht, und wenig später drehte sich die Lachmöwe aus dem Wind. Löwener und Sparrow knüpften mit flinken Fingern die Reffleinen auf. Schon blähten sich die Segel stolz im Sturm. Das Schiff lag nun wesentlich ruhiger im Wasser, und auch Orh lächelte zufrieden, als er sah, wie sich Harrods Kristallscheibe quer zur Schiffslinie drehte. „Den Kurs lass ich mir gefallen, Kapitän“, lachte er. „Und das Drachenlicht da vorne auch ...“

Seegespenst

Löwener, der hagere, sehnige Steuermann, schüttelte, seine wilde, graue Mähne und gähnte laut und ausgiebig. Den Fuß lässig über die Ruderpinne gelegt, räkelte sich der braungebrannte Seemann aus Dichtaby in der Mittagssonne des erstaunlich warmen Wintertags und hielt die Lachmöwe in dem fast unbewegten Wasser mühelos auf Kurs. Der kleine Segler machte gute Fahrt. Der Bug durchschnitt die sanften, flachen Wellen nahezu geräuschlos. Meile um Meile glitt das Schiff westwärts, und wenn das gute Wetter und der leichte aber stetige Wind anhielten, würden sie in weniger als acht Tagen ihr Ziel erreichen.

Der Mann am Steuer ließ den Blick über Deck schweifen. Oben im Ausguck träumte wohl der scharfäugige Wannewer vor sich hin, und dort in der Taurolle hatte es sich der Schiffsjunge Sparrow gemütlich gemacht. Nur sein nackter, schmutziger Fuß hing über die aufgeschossenen Seile heraus, ansonsten war der Bengel unsichtbar. Löwener wusste, dass Sparrow den Säugling Varel im Arm hielt, und er war dankbar, dass das Kind offenbar endlich einmal schlief. Königssohn hin oder her, das ständige Schreien der kaum vier Hände großen Fracht hatte in den letzten Tagen hart an den Nerven der Seeleute gezerrt. Doch nun war Ruhe eingekehrt, und selbst Kapitän Harrod hatte es gewagt, sich für ein paar Stunden unter Deck zu begeben. Nur ein paar blaue Wolken von Vanilletabak-Rauch verrieten, dass der alte Sturmvogel dort unten in seiner Kajüte hockte und genüsslich sein Pfeifchen schmauchte. Was für ein friedlicher Tag, dachte Löwener. Wenn nun noch der Krieger zur Ruhe käme, dann wäre der Frieden vollkommen.

Orh Jonoth lehnte am Bugspriet und starrte gedankenverloren in die See. Der riesenhafte Krieger hatte auch am vierten Tag ihrer Reise den schwarzen Harnisch noch nicht abgelegt. Auch wenn der schwere Eisenpanzer seinen sicheren Tod bedeuten würde, falls der Hüne bei einer ruckartigen Bewegung des Schiffes über Bord gehen sollte. Die fast fingerstarken Metallplatten, die in der Schlacht schon mehrfach sein Leben bewahrt hatten, würden ihn unrettbar in die Tiefe ziehen, und Harrod und Löwener hatten ihn bereits mehrfach eindringlich gewarnt. Doch Orh hatte nur eigensinnig den Kopf geschüttelt und die Rechte auf den schweren Waffengurt gelegt. Das wuchtige Breitschwert baumelte wie eine blutige Drohung an der Seite des Akkatossers, und die dunkle Doppelaxt aus hartem, bernländischem Stahl mochte schon mehr Schädel gespalten haben, als Menschen an Bord waren.

Welch ein eigenwilliger Entschluss von König Orsan, ausgerechnet diesen Kämpen als Kindermädchen für den Säugling abzustellen, dachte Löwener. In alten Zeiten hätte man gewiss eine Komödie darüber verfasst. Aber Orsan war tot, gefallen in der letzten Schlacht um Movenna, und einen besseren Mann für seinen letzten Auftrag hätte er schwerlich finden können. Orh würde das Kind mit seinem Leben verteidigen, soviel stand für den Steuermann fest. Keine Frage, der beste Mann des Königs würde diesen Auftrag ausführen ...

Orh Jonoth starrte düster ins Wasser. Die dunklen Wolken, die um seine Stirn lagerten, verliehen ihm ein noch finstereres Aussehen, als es der dunkle Panzer ohnehin schon tat. Wie ein drohender schwarzer Felsen stand er dort in der Mittagssonne, dumpf vor sich hinbrütend in nachtschwarzen Gedanken.

„Auf dem Schild oder mit dem Schild sollst du heimkehren“, so riefen die Frauen der Bernländer es einem Krieger nach, wenn er in die Schlacht zog. So hatte es auch seine Rieke ihm nachgerufen. Tot oder als Sieger führte der Weg zurück in die Heimat, ein Drittes gab es nicht. Aber dort hinten, jenseits der Berge, war das Heer Movennas hingesunken. Der König tot. Die jungen Moven’Am tot. Die bernländische Garde tot, wie es einem Krieger aus Akkatossa ziemte. Nur er selbst ... Der Kämpe ballte die Faust.

Wusste Orsan eigentlich, was er von ihm verlangt hatte? Der König war kein Kriegsmann. Den empfindlichen Ehrenkodex der Bernländer – er hätte ihn nie begreifen können. Flieh und rette meinen Sohn – ein solcher Befehl an einen Bernländer. Orh Jonoth war Soldat. Ein Soldat hat den Befehlen seines Heerführers zu gehorchen. Auch wenn es nur ein Tölpel mit Krone war. Wieder ballte er die Faust, ließ sie donnernd auf die Bordwand niederjagen, dass das Schiff erzitterte. Auch, wenn der Befehl lautete zu fliehen?, grübelte er grimmig. Auch, wenn der Befehl den Stolz und die Ehre des Kriegers in den Staub trat? Wäre es da nicht seine Pflicht gewesen, Fahnenflucht zu begehen und sich dem Heer voran in die erste Schlachtreihe zu stellen? Er wusste es nicht.

Nur, dass er selbst, wenn er das Kommando gehabt hätte, die Schlacht nicht so hoffnungslos verloren hätte, das schien ihm sicher. Was sollte man auch von einem König halten, der im Angesicht des Feindes den Schlachtruf Surbolds vergaß? „Mir nach!“, hätte er brüllen sollen, sich selbst als erster den Scharen der Moglàt entgegenwerfen müssen. Doch dieser unreife Knabe, Angst hatte er bekommen, als die Ebene vor ihm schwarz wurde vom Heer der Moglàt. „Ihr Männer, voran!“, hatte er in der ersten Panik gebrüllt und hatte damit ein heilloses Chaos angerichtet. Die Gegner hatten ein leichtes Spiel mit den verwirrten Schlachtreihen Movennas. Doch da war er selbst schon auf der Flucht. Ein Bernländer auf der Flucht. Orh Jonoth, der sich aus der Schlacht davonstahl wie ein Knabe der Waldwohner. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Hätte er bleiben sollen?

Der Riese starrte brütend vor sich ins Meer. Die Lachmöwe glitt durch flaches, klares Wasser, und unter sich konnte der Hüne den Meeresgrund erkennen. Eine bizarre Landschaft aus Korallen und lautlosen Algenwäldern breitete sich dort aus, über die der Schatten ihres Schiffes wie eine schwarze Wolke hinweg glitt. Dunkle, grüne Pflanzenwedel wogten dort unten auf und nieder, und der Akkatosser verfolgte mit den Augen eine gefleckte Muräne, die sich durch das Buschwerk des Meeres wand und davonglitt, lautlos wie eine der großen Sandkatzen des Festlands.

Ein Schwarm von bunten Fischen blinkte im Schatten der Lachmöwe auf. In allen Regenbogenfarben glänzten ihre Schuppen, und Orh wurde fast fröhlich zumute, als er diese Komödianten des Meeres durcheinanderpurzeln sah. Doch plötzlich stoben die Tiere in wilder Flucht auseinander. Zurück blieb ein grauer, fast armlanger Raubfisch, der einen der Kleinen als Beute zwischen den Zähnen hielt. Mit einem raschen Flossenschlag tauchte er ab. Orh entdeckte erst jetzt in der Tiefe eine Gruppe in schimmernde Muschelpanzer gekleidete Gestalten. Hoch auf schlanken Delphinen ritten diese Meerleute, und einer, oder vielmehr eine von ihnen, machte eine knappe Geste mit der Hand. Sofort sank der graue Räuber wie ein gelehriger Falke auf den Arm der zierlichen Seeprinzessin nieder und warf ihr seine Beute in den Schoß.

Und weiter huschte der Schatten der Lachmöwe über den Meeresgrund. Orh sah Felder und Wälder, und dort, tatsächlich, da breitete sich unter ihm ein kleines Städtchen aus mit zierlichen rotgedeckten Dächern und Kuppeln aus grünschimmerndem Kupfer wie in seiner bernländischen Heimat. Rotberockte Meermädchen schritten mit geflochtenen Körben unter dem Arm zum Markt, und junge See-Männer glitten stolz auf dem Rücken ihrer Delphine durch die Straßen. Vierspännige Kutschen rollten über die Hauptstraße, und dort, das junge Mädchen mit dem Strauß Korallen in der Hand, das war wohl auf dem Weg zu seinem Liebsten. Als der Schatten des Seglers sich über das Städtchen legte, blickten die Menschen nach oben. Viele lachten freundlich und winkten. Doch als das Mädchen den Kopf hob, da standen Tränen in seinen Augen.

„Rieke“, flüsterte Orh, als er das bleiche Gesicht erkannte.

Ein freudiger Glanz breitete sich über das Gesicht des Mädchens. Rieke öffnete die Arme, und Orh flog seiner Geliebten entgegen ...

„Großer, bist du verrückt geworden!“ Eine kleine braune Faust umklammerte seinen Fußknöchel wie ein Schraubstock. Schnell sprang Löwener herbei und half dem Schiffsjungen, Orh zurück an Bord zu hieven. „Nur ein Gaukelspiel Reenes“, meinte der Steuermann knapp. „Hütet Euch vor den Künsten der Meeralten.“

Orh Jonoth nickte. „Danke“, sagte er. Und doch wünschte er, die beiden hätten ihn nicht gerettet.

Goldauge

Windstille. Missmutig stapfte Orh Jonoth an Deck der Lachmöwe auf und ab. Die Planken dröhnten dumpf unter dem Gewicht des bernländischen Riesen, der noch immer den schweren, dunklen Schuppenpanzer trug, als gelte es, in eine Schlacht zu ziehen. Schon seit zwei Tagen dümpelte der flachbordige Segler bereits auf der fast unbewegten See vor sich hin, und ein Ende der Flaute war nicht abzusehen. Die Segel hingen wie schlaffe Gespenster im unbewölkten Winterhimmel, und selbst als Kapitän Harrod den Befehl gegeben hatte, das Tuch zu befeuchten, damit nur ja kein noch so leichter Windzug durch die Poren des Leinengewebes entkommen konnte, selbst da hatte sich dort oben nichts geregt. Sicher, die Ruderer hatten sich anfangs noch tüchtig in die Riemen gelegt. Aber selbst der zähe Löwener hatte irgendwann nicht mehr weiter gekonnt, und Harrod hatte eine Pause geboten.

Zornig ballte Orh die Faust. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Riese hätte die schwere Doppelaxt aus dem Gürtel gezogen und vor lauter Ärger den Mast niedergehauen. Und nur das eine war an der ganzen Lage noch erfreulich zu nennen, dass nämlich der Säugling, der ihm die ganze Nacht über die Ohren vollgeplärrt hatte, endlich verstummt war. Sparrow, der Schiffsjunge, hatte für Varelian aus einem alten Wasserfass eine provisorische Wiege gebaut und am Großbaum aufgehängt, und da pendelte der junge Kronprinz nun zwischen Luft und Meer und war augenscheinlich eingeschlafen. Gut so. Wenn nun noch Wind käme ...

Einzig Sparrow schien gut gelaunt zu sein. Leise pfeifend schlenderte er auf Orh zu und grinste ihn an. „Hey, Großer, wenn du nichts zu tun hast, könntest du mir eigentlich helfen.“

Der Bernländer knurrte unwillig, zuckte dann jedoch die Achseln. „Warum nicht?“ Er folgte dem Jungen zum Bug der Lachmöwe, wo im Abstand von einer Armeslänge an der Reling einige Stricke verknotet waren, deren anderes Ende ins Wasser hing.

Orh hatte am Morgen beobachtet, wie der Schiffsjunge hier ein halbes Dutzend Krüge über Bord geworfen hatte. Warum, das hatte er nicht fragen wollen. Wortlos sah er zu, wie Sparrow die Leine einholte. Mit schnellen, gleichmäßigen Bewegungen schoss er das Tau auf, ohne den Blick von der Wasseroberfläche zu wenden. In langen, sauberen Buchten hing die Leine über seiner linken Hand, während die Rechte sie Windung um Windung herumführte. Ein letzter Ruck, und der bauchige Tonkrug durchbrach die Wasserfläche.

„Jetzt drück die Daumen, Großer“, rief Sparrow aus. Er hievte das Gefäß mit beiden Händen über die Reling. Wasser triefte heraus und klatschte aufs Deck, doch Sparrow ließ sich nicht abschrecken. Beherzt griff er in die dunkle Öffnung hinein, und sofort breitete sich ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. „Ja, da ist einer drin.“

Orh beugte sich neugierig über den Krug, fuhr jedoch zurück, als ein langer, dünner Tentakel aus der Öffnung herausglitschte. Sparrow zog die Hand zurück und hielt sie dem Riesen unter die Nase. Eine faustgroße, gummiartige Masse lag dort auf seiner Handfläche, acht Arme wanden sich schlangengleich in einem wild auf und ab zuckenden Knäuel. Doch was den Riesen am meisten entsetzte, war der Blick der starr auf ihn gerichteten Augen.

„Was – was ist das?“, fragte er mit schlecht gespielter Gleichmütigkeit und trat von einem Fuß auf den anderen. Die Augen des Tieres folgten jeder seiner Bewegungen, und fast hatte er das Gefühl, dass ihm aus den talergroßen, leicht hervorgewölbten Goldscheiben eine fremdartige Intelligenz entgegenblickte, die bis auf den Grund seiner Seele hinabschaute. Wie hypnotisiert starrte er in die schwarzen, spaltförmigen Pupillen, ein tiefer, senkrechter Graben, hinter dem irgendwo ...

„Großer, träumst du?“ Sparrow lachte. „Hast wohl noch nie einen Kraken gesehen, wie?“

Er schüttelte den rotbraunen Klumpen in seiner Hand, um den das Schlangennest der Tentakeln noch immer auf und ab wogte.

Orh fuhr zusammen. Entsetzt sog der Riese die Luft ein. Sparrow beugte sich mit dem Kopf über das Tier und biss zu, spuckte dann in hohem Bogen eines der Goldaugen über die Reling. Der Krake krümmte sich zusammen, dann erschlafften seine Arme, hingen wie nasse Stricke von Sparrows Hand herab. Die zuvor kräftige, rotbräunliche Färbung verblasste. Wo eben noch das rechte Auge den Riesen angestarrt hatte, trat Blut aus, eine wässrige, leicht bläulich schimmernde Flüssigkeit.

„So machen es die Fischer am Sharkenthökk-Riff“, lächelte der Schiffsjunge und fügte nach einer kurzen Pause beruhigend hinzu: „Du musst dir keine Sorgen machen. Er hat nicht lange leiden müssen. Und heute Abend kannst du dich auf ’ne echte Delikatesse freuen.“

Der Riese nickte stumm. Als Sparrow die nächste Leine einholte, wandte er den Kopf ab. Er sah aus dem Augenwinkel, wie ein Tonkrug die Wasseroberfläche durchbrach. Er betete zu allen seinen Göttern, dass ...

„Wäääääh!“

Wütendes, forderndes Babygebrüll ließ die Lachmöwe erzittern.

„Weor sei Dank“, glaubte Sparrow den Riesen sagen zu hören. Als er aufblickte, war Orh bereits vom Bug verschwunden und hatte sich über die Wiege gebeugt, um den Kleinen zu trösten.

Goldauge II

Ein markerschütternder Schrei gellte über das Deck der Lachmöwe. Orh schoss in die Höhe und hatte bereits im Sprung sein Schwert gezogen. Die breite Klinge beschrieb einen Halbbogen und blieb vibrierend auf Höhe des Großbaums in der Luft stehen. Breitbeinig stand der Hüne vor dem weinenden Säugling, bereit, jedem Angreifer den Schädel zu spalten, der sich dem Prinzen nähern würde. Dann sah Orh das Untier.

Ein fast oberschenkelstarker Tentakel glitschte über das Deck auf ihn zu. Orh sprang zur Seite und hechtete über die Wiege Varelians hinweg. Im Abrollen umschlang er das Kind mit dem linken Arm, kam wieder auf die Füße und riss das Schwert hoch. Die Waffe sirrte durch die Luft, kappte die Spitze des gummiartigen Kampfarms und richtete sich erneut auf die dunkelbraune Schlange, die sich auf ihn zu wand. Hoch über ihm schrie Sparrow um Hilfe. Der Schiffsjunge hing von einem Tentakel umklammert in der Luft, in der Hand noch immer den Tonkrug, den er als Krakenfalle ausgelegt hatte. Orh hieb wie ein Besessener auf die Arme der Seebestie ein, die nun in immer dichter fallenden Hieben über die Lachmöwe heran glitschten.

Neben ihm tauchte Löwener auf. In wahrer Berserkerwut ging er mit der Axt auf die baumdicken Tentakeln los, und wo seine Hiebe fehlgingen, blieben tiefe Kerben in den Planken zurück.

Wieder schnellte einer der zuckenden Schlangenarme heran. Orh, von dem zappelnden Kind behindert, strauchelte, stürzte. Das Schwert wurde ihm von einem Tentakel aus der Hand geprellt und ins Meer geschleudert, als wüsste die Tiefseekreatur ganz genau, welche Gefahr von dieser Waffe ausging. Schlangengleich glitt ein weiterer Tentakel heran, umschlang das Knie des Riesen und hob ihn mit fast spielerischer Mühelosigkeit in die Höhe. Mit dem Kopf nach unten hängend, umklammerte Orh noch immer das Kind, während das Deck der Lachmöwe in schwindelerregende Tiefen unter ihm zurücksank.