Ulf - Petra Hartmann - E-Book

Ulf E-Book

Petra Hartmann

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Beschreibung

Ein Roman-Experiment mit ungewissem Ausgang: Ulf (Magisterstudent unbekannter Fachrichtung), stammt aus einem Dorf, das mehrmals jährlich überschwemmt wird. Zusammen mit Pastor Dörmann (Geistlicher unbekannter Konfession) und Petra (Biografin ohne Auftrag) überlegt er, was man dagegen tun kann. Als ein vegetarisches Klavier die Tulpen des Gemeindedirektors frisst und das Jugendamt ein dunkeläugiges Flusskind abholen will, spitzt sich die Situation zu. Nein, Blutrache an Gartenzwergen und wütende Mistgabelattacken sind vermutlich nicht die richtigen Mittel im Kampf für einen Deich ... Mal tiefgründig, mal sinnlos, etwas absurd, manchmal komisch, teilweise autobiografisch und oft völlig an den Haaren herbeigezogen. Ein Bildungs- und Schelmenroman aus einer Zeit, als der Euro noch DM und die Bahn noch Bundesbahn hieß und hannöversche Magister-Studenten mit dem Wort "Bologna" nur eine Spaghettisauce verbanden.

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Petra Hartmann

Ulf

Ein Roman-Experiment in zwölf Kapiteln

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Wer experimentiert hier eigentlich und warum?

1. Teil: Von Starnsum nach Hannover - 1. Kapitel: Johanna

2. Kapitel: Stationen einer Reise

3. Kapitel: Das offene Geheimnis

Zweiter Teil: Musikalisches Intermezzo - Viertes Kapitel: Andreas Machenschaften

Fünftes Kapitel: Ulf Tenorio I

Sechstes Kapitel: Ulf Tenorio II

Teil III: Biografische Erkundungen - Kapitel VII: Traum von einer Sommernacht

Kapitel VIII: Liftstory

Kapitel IX: Ein Päckchen von Ulf

Letzter Teil: Vineta oder Ostia? - Drittletztes Kapitel: Das Experiment

Vorletztes Kapitel: Der Tempel von Ostia

Letztes Kapitel: Ohne Titel

Epilog

Anhang: Journal einer Reise, die nicht nach Gotland führte

Die Autorin

Impressum neobooks

Wer experimentiert hier eigentlich und warum?

Kann man einen Roman zu Papier bringen, auf dessen Thema man gar keinen Einfluss hat? Kann man sich blind von Kapitel zu Kapitel hangeln, und jedesmal wirft jemand anderer ein Schlagwort in die Runde, über das man dann schreiben muss? Ja, es geht. Irgendwie. Ob es gut oder schlecht gelungen ist, mag freilich auf einem anderen Blatte stehen.

Der vorliegende Roman ist das Ergebnis eines Experiments. Er ist ein „fremdbestimmter“ Roman und verdankt sein Entstehen einer Gruppe von Studenten an der Uni Hannover, die sich Mitte der 1990er Jahre zu einer „Schreibwerkstatt“ zusammengeschlossen hatte. Der eine trug unverständliche Anspielungen auf Adorno vor, der andere schrieb schwülstige Liebesgedichte an seinen Mann, der dritte schleuderte Sätze mit der Gewalt eines Maschinengewehrs ins Publikum, der vierte war wieder einmal mit leeren Händen gekommen, weil ihm zum Thema absolut nichts eingefallen war, und mindestens einer war noch ganz kräftig am Pubertieren.

Ja, und dann war da noch ich. Ein Mensch, der treu und brav seine Texte zum jeweiligen Thema ablieferte. Das hatte in den ersten beiden Jahren recht gut geklappt. Dann aber passierte – beim letzten Treffen vor den Weihnachtsferien – etwas Furchtbares. In Ermangelung einer besseren Idee zur Themenfindung beschlossen wir, dass jeder von uns ein Wort auf einen Zettel schreiben sollte. Es kamen zusammen: Schreiben, grüne Haare, Vakuum, Elfen, entwurmen, körperlos, Quarantäne, Verfall, Mondgöttin und natürlich Sex (sagte ich das mit dem Pubertieren schon?). Diese zehn Wörter sollten nun also in eine Geschichte verpackt werden. Eigentlich harmlos. Nur, dass ich über Weihnachten einen Anfall von Schaffenswut hatte. Als wir uns im Januar 1995 wiedertrafen, hatte ich einen Stapel von 20 Seiten (einzeilig) mitgebracht und war etwas traurig, dass ich meinen geplagten Kommilitonen nicht die ganze Geschichte vorlesen konnte ... Die Geschichte der furchtlosen Crew der Segelyacht Himingläfa auf ihrer Reise, die eigentlich nach Gotland hätte führen sollen, hätte ich doch zu gern zum Vortrage gebracht.

Aber: Ich hatte Blut geleckt. Ich wollte einmal etwas Längeres schreiben. Etwas anderes als die typischen Vier-Seiten-Texte, die sich in der Schreibwerkstatt als optimale Vorlesemenge erwiesen hatten. Und so kam ich auf eine – zugegeben: etwas irre – Idee: Warum nicht die vierwöchentlichen Treffen und ihre Themen nutzen, um einen Roman zu schreiben? Ausprobieren konnte man es doch, und wenn am Ende nichts dabei herauskam, nun, so hatte ich zumindest gelernt, wie man es nicht machte, dieses Romanschreiben.

Ich hielt mich in den nächsten zwölf Treffen vollständig aus den Themendiskussionen heraus und überließ mich mehr oder weniger dem Zufall. Interessanterweise ergab sich dennoch schnell ein Zusammenhang, und ich hatte es bald heraus, dass man jedes, auch das abseitigste Stichwort in den Strom des Romans einfließen lassen konnte. Und Strom ist in diesem Fall durchaus wörtlich zu verstehen, denn Ulf, mein Titelheld, sollte im Laufe seines Romanlebens sehr viel Ärger mit über die Ufer tretenden Gewässern bekommen.

Der Roman entstand in der Zeit von Februar bis Oktober 1995. Die Themen lauteten:

1. Kapitel: Fische

2. Kapitel: Bahngleise

3. Kapitel: Geheimnis

4. Kapitel: Werbung

5. Kapitel: Musik

6. Kapitel: Lügen

7. Kapitel: Sommer

8. Kapitel: Angst

9. Kapitel: Verständnis

10. Kapitel: Goldfischglas

11. Kapitel: Tempel

12. Kapitel: kein Thema (weswegen ich dem letzten Kapitel den Titel „Ohne Titel“ gegeben habe)

Getäuscht hatte ich mich freilich in der Annahme, dass ich nun automatisch auch wieder kürzere Texte zu den Treffen mitbringen würde. Im 9. Kapitel – während der Sommerferien – schlug die furchtlose Himingläfa-Crew erneut gnadenlos zu und ertrotzte sich einen Platz im Ulf-Roman. So kann es gehen, so etwas passiert. Ein guter Lektor würde sie mir wahrscheinlich komplett herausstreichen, um den Roman zu glätten. Aber die Leute sind nun einmal darin und sind Teil des Experiments, und darum konnte ich es nicht über mich bringen, das Schiffsabenteuer zu löschen.

Im Anhang ist diesem Roman daher auch die erste Reise der Himingläfa-Crew beigegeben. Das hat sie verdient, und der geneigte Leser wird vielleicht auch wissen wollen, was es mit den Personen auf sich hat, die im Kapitel über „Verständnis“ so unverständlicherweise in die Handlung hineinpurzeln.

Bleibt mir nur noch, allen Lesern viel Vergnügen zu wünschen. Willkommen bei meinem Experiment und in der überfluteten Welt von Ulf!

Petra Hartmann, April 2015

1. Teil: Von Starnsum nach Hannover - 1. Kapitel: Johanna

Ulf wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Noch nicht. Wenn er sie aufschlug, das wusste er, würde der seltsame Traum auf Nimmerwiederfinden davonfliegen. Und das wollte er nicht. So hielt er die Augen geschlossen, nicht zu fest, sondern locker und entspannt, und versuchte, sich noch einige Sekunden in dem Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen zu halten, der es ihm erlaubte, sich an die Geschichte zu erinnern. Also, wie war das noch?

Es war in Hannover gewesen, an einem späten Sommernachmittag. Er hatte auf einem großen Platz, wahrscheinlich war es der Kröpke, gestanden, und alles war voll mit Kühen, mit schwarzweißgefleckten Niederungsrindern hauptsächlich, doch waren auch einige Kakaokühe zu sehen, und sogar ein paar Alpenrinder mit prächtigen Kuhglocken an breiten, buntbestickten Bändern um den Hals waren erschienen. Nach und nach füllte sich der ganze Platz mit den muhenden Wiederkäuern. Es schien sich um eine Art Kundgebung zu handeln. Presse war reichlich zugegen, Blitzlichter der Fotografen flammten immer wieder auf.

Dann kamen die Schweine. Sie waren von der Marktkirche aus losmarschiert und gesellten sich nun leise grunzend, doch sehr diszipliniert zu den Kühen. Immer mehr nackte, rosafarbene Leiber drängten sich zwischen das Schwarzweiß, und als Ulf glaubte, der Platz könne sich unmöglich noch mehr füllen, tauchte vom Steintor her der Zug des Geflügels auf. Weiße und braune Hühner, bunte Hähne, Enten und Gänse in allen Weiß-, Grau- und Braunschattierungen, Stockerpel mit grünem Kopf, auch einige Fasane und Rebhühner; und sogar ein Truthahn, ein ehrfurchtgebietender Koloss, hatte den Weg hierher gefunden.

Inzwischen war auch vom Bahnhof eine Kolonne aus Hasen und Kaninchen heran marschiert, die allesamt sehr entschlossen aussahen. Ein alter Stier aus Argentinien erklomm ein Podest und brüllte seine donnernde Ansprache ins Mikrophon, die immer wieder von lauten Beifallsbekundungen unterbrochen wurde; dann brüllten und muhten die Rindviecher, die Schweine grunzten lärmend, das Federvieh schnatterte und gackerte und kollerte, aber am lautesten waren doch die Hasen, die mit ihren Hinterbeinen auf den Boden trommelten.

Abschließend wurde ein riesiges Transparent ausgebreitet, auf dem in schiefen, blutroten Buchstaben die Botschaft stand, die sie den Menschen in aller Welt übermitteln wollten. Ulf hatte ein wenig Mühe, das Geschmiere der schreibungewohnten Kuhhufe zu entziffern, doch schließlich las er, und er las es laut für alle: „ESST MEHR FISCH!“

Ulf lachte leise und schaute noch eine Weile zu, wie das Sonnenlicht rötlich durch seine geschlossenen Augenlider schien. Dann räkelte er sich genüsslich. Er war es gewohnt, bunte und lustige Träume zu haben, und diese Geschichte gefiel ihm. Dass er von Hannover geträumt hatte, war am Ende ganz in der Ordnung. Er würde sich über kurz oder lang sowieso mit der Stadt anfreunden müssen, da war ein Traum ein guter Anfang. Wenn ihm vor der Abreise noch Zeit blieb, würde er versuchen, ein Bild von dieser seltsamen Tier-Demonstration zu zeichnen, das wollte er ganz oben in seinen Koffer packen ... Doch jetzt: genug geschlafen.

Ulf schwang sich aus dem Bett und – erstarrte noch zwei Zentimeter bevor seine Füße den Boden berührten. Er stand im Wasser, in kaltem, trüben Flusswasser, das sich gleichmäßig über die Fliesen seines Zimmers verteilt hatte.

„Schon wieder“, stöhnte er.

Seine Pantoffeln, die neben der Lampe auf dem Nachttisch standen, zog er gar nicht erst an, sondern griff gleich zu den dunkelgrünen Gummistiefeln. Die passten zwar farblich nicht besonders gut zu seinem blauweißgestreiften Schlafanzug, aber dafür trugen sie ihn trockenen Fußes durch die erdige Suppe hinüber zur Küche. Vergessen der Traum von der kuhüberschwemmten Stadt am hohen Ufer. Das hier war die Wirklichkeit.

In der Küche bot sich ihm das gleiche Bild. Auch hier war das Wasser eingedrungen und stand nun zentimeterhoch auf den Fliesen. Die Eltern waren nicht da, nur Harraß, der Langhaardackel, lag auf dem Küchentisch und wedelte mit dem Schwanz. Ulf streichelte ihn ausgiebig, schob ihn dann aber energisch vom Tisch hinunter auf die Sitzbank, da hatte das Tier es trocken genug. Mit Mühe lockte er einen letzten Rest Kaffee aus der Kanne, füllte die Tasse mit Milch und Zucker auf und stürzte das Gebräu mit Todesverachtung hinunter. Ja, das hier war die Wirklichkeit. Starnsum, das kleine Dörfchen am zumeist freundlichen Flüsschen Glitta.

Ulf brauchte nicht aus dem Fenster zu schauen. Er wusste, wie es aussah, wenn die Glitta über die Ufer trat. Die Schokoladenkekse waren arg trocken heute morgen. Die herbstlichen Unwetter hatten aus dem gemächlich dahintreibenden Fluss wieder mal einen reißenden Strom gemacht. Wahrscheinlich hatte er auch wieder den einen oder anderen Baum entwurzelt, der später auf der Hauptstraße stranden würde. Und Hoffmeisters Schweinestall stand natürlich wieder völlig unter Wasser. Ulf kannte das. Seit nunmehr fünfzehn Jahren wurde Starnsum von der Glitta überflutet, und zwar circa achtmal pro Jahr. Am schlimmsten waren die Frühjahrshochwasser. Wenn sich der Regen mit der Schneeschmelze verbündete. Wenn es hieß, mit klammen Fingern Sandsäcke durch das eisige Wasser zu schleppen. Das mochte er gar nicht gern. Das Herbstwasser war weniger kalt, zumindest das. Es war wirklich zu ärgerlich, wie hart diese Schokoladenkekse waren. Er war nun neunzehn Jahre alt. Seine ersten vier Lebensjahre, so sagte man ihm, seien von Überschwemmungen weitgehend verschont gewesen. Gut, das eine oder andere Hochwasser hatte es natürlich immer gegeben, nur eben vereinzelt. Daran konnte er sich nicht erinnern. Nur an fünfzehn Jahre Wasser. Und an entsetzlich trockene Schokoladenkekse.

Ein Zappeln in der Ecke machte ihn aufmerksam. Irgendetwas rührte dort das Wasser auf und produzierte kurze, hektische Wellen. Harraß sprang auf den Tisch und knurrte. Er konnte sehr furchterregend knurren, und Ulf wusste, dass dies Geräusch bei dem Dackel alles andere als eine leere Drohgebärde war. Er brachte zuerst seine Tasse in Sicherheit, damit der wütende Hund sie nicht etwa im Eifer des Gefechts vom Tisch schmeißen konnte, und watete dann hinüber zu der Ecke, in der es noch immer zappelte und spritzte. Er konnte sich schon denken, was es war. Und er hatte sich nicht getäuscht. Es bereitete ihm keine große Mühe, die junge Regenbogenforelle aus der Mausefalle zu befreien. Sie war noch sehr klein und als Mittagessen so gut wie unbrauchbar. Daher warf er sie kurzerhand aus dem Fenster. Wenn sie der Seestraße folgte, würde sie ohne Probleme zum Fluss zurückfinden. „Esst mehr Fisch“, murmelte er. Dann schob er Harraß, sanft aber sehr nachdrücklich, wieder vom Tisch auf die Bank.

Später ging er mit dem Hund nach draußen, um die diesmaligen Schäden in Augenschein zu nehmen. Es hielt sich in Grenzen. Zwei Autos waren vollgelaufen und würden nicht mehr ohne weiteres anspringen. Und Hoffmeister hatte mal wieder ein Loch in die Stallwand schlagen müssen, aus dem das Wasser nur so heraussprudelte.

Ulf war etwas ärgerlich, wenn er daran dachte, wie die braven Starnsummer seit nunmehr fünfzehn Jahren von den Behörden regelrecht verarscht wurden. Anfangs hätte man die ganze Angelegenheit noch mit simplen 300.000 DM Baukosten aus der Welt schaffen können. Die entsetzliche Begradigung, die irgendsoein Dämlak von Schreibtischtäter verbockt hatte, wäre ohne Probleme zu beseitigen gewesen, ein kleiner Deich hätte ein Übriges getan ... Inzwischen beliefen sich die Kostenvoranschläge auf mehrere Millionen. Wann immer bei den zuständigen Stellen ein demütiges Bittgesuch eingereicht wurde, erfolgten Dorfbegehungen durch die verschiedenen Politiker (Starnsum hatte 83 wahlberechtigte Einwohner), es folgten Untersuchungen, Gutachten, Planfeststellungsverfahren, Pläne und Entwürfe, und dann nahm das ganze seinen Weg durch die Instanzen, bis es schließlich an den Glitta-Zweckverband zurückverwiesen wurde. Harraß knurrte leise. Im Glitta-Zweckverband aber saß der Herr Gemeindedirektor Vettermann. Der wohnte fünf Kilometer weiter flussabwärts, und solange sich die Glitta in Starnsum abreagierte, würden die hübschen Vorgartenzwerge des Herrn Vettermann keine nassen Füße kriegen. Und so würden wohl nächstes Jahr in Starnsum die ersten Häuser aufgegeben werden müssen. Wegen Vettermanns Gartenzwergen.

Ulf trat in eine Pfütze, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Bevor kein Stein ins Hildesheimer Rathaus flog, würde garantiert nichts geschehen. Aber wer hier sollte ihn werfen? In Starnsum lebten die liebsten Menschen auf der Welt, nur ihre Mentalität stammte leider noch aus der Zeit vor den Bauernkriegen. Es war, als stünde auf dem Ortsschild unter dem Namen Starnsum das Motto: „Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.“

Vielleicht, wenn man einmal einen ganzen Tanklastzug voll Hochwasser nach Hannover schicken und den Kröpke unter Wasser setzen würde. Das stellte sich Ulf als eine sehr wirkungsvolle Demonstration vor. Aber selbst so etwas einfaches wie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit zwei Traktoren das alte Wehr von Harbardsum wegzureißen (was sicher die größte Erleichterung brächte), das täten die Starnsummer nie. Nun, er würde dann sowieso nicht mehr da sein. Aber ärgerlich war es schon.

„Hallo, Ulf!“

Ulf schaute auf. Vor ihm stand die kleine Jette und schwenkte eifrig eine leere Sammelbüchse, während sie mit der anderen Hand Harraß abwehrte, der immer wieder freudig an ihr hochsprang.

„Spendest du etwas, mir zuliebe?“

„Klar“, sagte Ulf und zückte sein Portemonnaie. „Für was sammelst du denn?“

Jettchen sah betreten auf die Stelle, an der ihre roten Gummistiefel im Wasser verschwanden. „Für die Überschwemmungsopfer in Köln“, sagte sie leise und fügte rasch hinzu: „Frau Hagen hat mich praktisch dazu gezwungen.“

Ulf steckte die Geldbörse wieder ein. „Sag deiner Lehrerin, die haben schon beim ersten Jahrhunderthochwasser genug Hilfsmaßnahmen gekriegt. Die sollen sich nicht so anstellen.“

Jettchens Augen füllten sich mit Tränen. Aber Ulf konnte ihr nicht gut etwas geben.

In diesem Moment hörte er schwere Schritte heranplatschen. Es war Pastor Dörmann, der nun auf die beiden zukam. Dörmann war Pastor in Starnsum, solange Ulf und Jette sich überhaupt zurückerinnern konnten. Aber in all den Jahren hatte es noch kein Starnsummer herausgebracht, ob Dörmann nun katholisch oder evangelisch war. Peter Dörmann schwieg sich ebenso beharrlich darüber aus, wie er den Bischöfen beider Konfessionen Paroli bot. Lebend, so hatte er geschworen, würde ihn jedenfalls keiner aus seinem Amt herausbekommen.

„Ah, der Herr Studiosus“, grüßte er schon von weitem. „Wann soll's denn losgehn?“

„Ich fahre morgen früh“, sagte Ulf. „Da habe ich noch eine Woche Zeit mich einzuleben, bevor die Vorlesungen anfangen.“

Dörmann hatte den schlammverschmierten Harraß auf den Arm genommen und knuddelte ihn. „Na, Jettchen“, fragte er dann, „und du? Du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.“

Jettes Miene heiterte sich auf. Sie schüttelte die leere Sammelbüchse und fragte: „Spenden Sie etwas für die Überschwemmungsopfer von Köln?“

Dörmann war sichtlich betroffen. „Das kann ich nicht machen“, sagte er schließlich und setzte Harraß auf den Boden.

„Ihre Lehrerin hat ihr das aufgeschwatzt“, erklärte Ulf.

„Weißt du was, Jette“, schlug Dörmann vor, „ich gehe morgen einfach mit dir zur Schule und spreche ein paar Takte mit deiner Lehrerin.“

Jettchen nickte ernsthaft. „Ja, das ist wohl das beste.“ Sie schob die Büchse in die Tasche ihres Anoraks. „Aber nicht vergessen.“

„I, wie werd ich denn“, sagte Dörmann. Er strahlte über sein ganzes Gesicht. Doch plötzlich zuckte er zusammen. „Was war das?“

Ulf hatte es auch gehört. Aber was genau es war, wusste auch er nicht zu sagen. Dabei hatte er immer geglaubt, er kenne alle Geräusche, die während einer Überschwemmung vorkommen konnten. Aber dieses hier ... Er lauschte. Es klang wie: „Wäääääääääääääääääääh blubbberblubberblubber Wäääääääh!“

„Hört sich an wie ein ertrinkendes Baby“, witzelte er und zuckte die Achseln. Da war Dörmann schon losgespurtet, und Ulf und Jette hatten Mühe, ihn einzuholen. Erst an der alten Glitta-Brücke, die nun mitten im Wasser stand, hielt der Pastor inne und horchte.

„Da!“, schrie er und wies mit der Hand auf ein vollkommen umspültes Weidengebüsch am gegenüberliegenden Ufer. Dort war ein kleines Körbchen angespült worden, aus dem die sonderbaren „Wääääh“- und „Blubb“-Laute drangen. Wobei die „Blubbs“ nun deutlich in der Überzahl waren.

„Los, Harraß“, forderte Ulf den Dackel auf. „Apport.“ Doch das Tier schaute ihn nur vorwurfsvoll und etwas beleidigt an und drehte sich dann demonstrativ in die andere Richtung.

„Du wirst hinschwimmen müssen“, stellte Dörmann fest.

„Ich???“, fragte Ulf. „Kommt überhaupt nicht infra-“

„Verdammtnochmal, du schwimmst da jetzt sofort hin!“, brüllte Dörmann und stieß ihn in den Nacken.

Ulf verlor das Gleichgewicht und stürzte in die kalte braune Brühe. Prustend und schimpfend kam er wieder an die Oberfläche, besann sich dann aber doch auf das Körbchen und kraulte hinüber. Die Strömung war hier ziemlich stark, und wenn er nicht ertrank oder von einem der treibenden Baumstämme erschlagen wurde, so war ihm zumindest eine anständige Erkältung sicher. Wütend grapschte er nach dem schreienden und blubbernden Körbchen und kämpfte sich damit zurück zu Jettchen und Dörmann.

Die Kraftausdrücke, die er dem rücksichtslosen Seelsorger um die Ohren hauen wollte, blieben ihm allerdings im Hals stecken, als der Geistliche das Körbchen öffnete.

„Nun schaut euch mal an, was uns da für ein seltsamer Fisch ins Netz gegangen ist“, rief Dörmann aus und hob ein kleines, lautstark plärrendes Baby aus dem halb mit Wasser gefüllten Korb. Geistesgegenwärtig fing Ulf einen Zettel auf, der aus den Decken des quäkenden Bündels herausflatterte. Er faltete ihn auseinander und las laut vor, was augenscheinlich eine sehr schreibungewohnte Hand in ungelenken Buchstaben auf das Papier gemalt hatte:

„NAME JOHANNA, BiTTE GUTSEiN.“

2. Kapitel: Stationen einer Reise

Starnsum in der Glitta

Als Ulf am nächsten Morgen in eklig klammen und kalten Gummistiefeln zum Postamt von Starnsum gewatet kam, waren Jettchen und Dörmann bereits da. Dörmann schob eben das dunkeläugige Flusskind über den Tresen hinüber zu Frau Niemeyer, die öfter mal die Kinder der Starnsummer in Verwahrung nahm. Ulf selbst hatte einen Großteil seines Lebens in Frau Niemeyers Postamt zugebracht.

Er wuchtete seinen schweren Koffer ebenfalls auf den Tresen und stellte fest, dass er noch einige Minuten Zeit hatte, bis der Traktor kam, um sie zum nahegelegenen Bahnhof von Barkhenburg zu transportieren. In Zeiten des Hochwassers wagte sich grundsätzlich kein Bus in diese Gegend. Nur Hoffmeisters Traktor fuhr dreist weiter querfeldein und nahm schon mal ab und zu Passagiere mit. An solchen Tagen wurde dann die kleine Post von Starnsum zur Traktorhaltestelle.

Johanna wurde zusammen mit dem posteigenen Teddybären Rolfi, mit dem schon ganze Generationen von Starnsummern gespielt hatten, in der Paketablage verstaut. Da war sie gut aufgehoben, solange Dörmann in der Stadt zu tun hatte.

Ulf kramte ein Fünfmarkstück aus der Hosentasche und kaufte noch rasch ein paar Briefmarken. Die würde er zwar in Hannover auch nicht wesentlich teurer kriegen, glaubte er, aber über dem Tresen von Frau Niemeyer schwebte nun einmal seit der Zerschlagung der Post unverscheuchbar der Pleitegeier, und wenn der Umsatz nicht hoch genug war, würde der Schalter bald unweigerlich geschlossen werden. Da musste man wenigstens noch ein paar Mark investieren, fand Ulf.

Er sah sich noch einmal um in dem kleinen Raum, der bei seiner Rückkehr vielleicht schon leergeräumt sein würde. Die Wände waren seit Jahren schon nicht mehr gestrichen worden, und das ständige Hochwasser trug auch nicht gerade zur Verschönerung bei. Dafür stand aber immer eine Schale mit Bonbons bereit, aus der er, Dörmann und Jettchen sich auch heute wieder reichlich bedient hatten, das machte das Zimmer wieder etwas wohnlicher. An der Tür hingen die Fahndungsfotos von Terroristen, die schon vor 25 Jahren geschnappt worden waren, daneben der vergilbte Steckbrief von Simon Fischer aus derselben Zeit; der hatte damals in Hildesheim das Hauptpostamt überfallen und 20.000,- DM erbeutet. Die Polizei bat immer noch um sachdienliche Hinweise und versprach eine Belohnung. Ulf lachte leise. Er würde denen nicht mal die Uhrzeit sagen.

„Da ist noch Post für Sie, Herr Pastor“, sagte Frau Niemeyer und kramte einige an „Herrn Peter Dörmann, Pastor in Starnsum“ adressierte Briefe hervor. Einer trug den Stempel des Hildesheimer Bischofs. Dörmann stopfte sie alle zusammen in seine Jackentasche. Dann fuhr draußen der Traktor vor, und die drei verließen die Post.

*

Einziger und Hauptbahnhof Barkhenburg

Hoffmeister hatte Ulfs Koffer noch bis zum Bahnsteig getragen. Das wollte Ulf zwar eigentlich lieber selbst tun, aber Hoffmeister bestand darauf, „wo der Junge doch bald einen studierten und gebildeten Menschen werden würde.“

Der Koffer war wirklich sehr schwer. Ulf hatte ihn randvoll mit Büchern gepackt. Seine anderen Sachen wollte ihm die Mutter mit der Post nachschicken, aber von den Büchern trennte er sich eben nicht so gern.

„Weißt du, Ulf“, sagte Hoffmeister abschließend, „ich denke mir ja, wenn du erstmal alles gelernt hast, was in den Büchern steht, dann kannst du auch was gegen das mit dem Hochwasser machen.“

Ulf wusste nicht so recht, was er darauf sagen sollte. Er würde nicht als Jurist oder Hydrostatiker zurückkommen. Aber er brachte es nicht fertig, Hoffmeister über die Natur seines Studiums aufzuklären. Außerdem hatte er den alten Bauern noch nie im Leben einen so langen und zusammenhängenden Satz sprechen hören. Hoffmeister, der aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft von den Starnsummern immer wieder mit überwältigender Mehrheit zum Ortsvorsteher gewählt wurde, war leider alles andere als ein brillanter Redner. Stotternd, herumdrucksend und undeutlich artikulierend war er stets von jedem Behördenvertreter ohne Probleme über den Tisch zu ziehen. Kein Wunder, dass der aalglatte Gemeindedirektor Vettermann da Oberwasser behielt. Und nun so ein langer Satz von Hoffmeister. Ulf versprach, sein Bestes zu geben (das hatte er sowieso vor), und überlegte, ob Starnsum nicht einfach medienwirksamer absaufen konnte. Das würde vielleicht zu machen sein ...

Die drei sahen Hoffmeister nach, wie er auf seinen Trecker kletterte und langsam davontuckerte.

„Tja", sagte Dörmann. „Das war das.“

Jettchen wuselte ein wenig auf dem Bahnsteig herum und studierte schließlich zum hundertsten Mal in ihrem Leben die Tafel mit den Ankunftszeiten der Züge. In den großen Bahnhöfen gab es ja immer zwei Tafeln: eine, über der „Ankunft“ stand, und eine mit der Überschrift „Abfahrt“. Aber in Barkhenburg hielten sich die Züge nie lange auf, und so brauchte man nur eine Tafel. Es gab auch nur noch zwei Gleise, man konnte sich nicht irren. Vor Jahren waren es einmal drei gewesen, und es war noch gut zu erkennen, wo die Schienen damals gelegen hatten, aber nun ging die Fahrt entweder nach Nordwesten oder nach Südosten. Sie wollten nach Nordwest.

„Was soll nun eigentlich aus Johanna werden?“, fragte Ulf und tastete nach seinem Semesterticket, das ihm eine Fahrtermäßigung von ca. 5,- DM bescheren würde. Der Fahrkartenschalter von Barkhenburg war schon lange zugenagelt, und daher würde der Zugschaffner den Preis für die Reise nach Hannover berechnen müssen. Ulf freute sich schon auf dessen angestrengt rechnendes Gesicht ... „Sie ist sehr laut“, meinte Dörmann. „Was hältst du von Opernsängerin?“ Die Ankunft des Zuges enthob Ulf der Antwort.

*

Hildesheim, Stadt an Innerste und Treibe

Als der Zug im Hauptbahnhof von Hildesheim einlief, hatte sich Dörmann immer noch nicht darüber geäußert, was er mit Johanna anzufangen gedachte. Ulf schloss daraus, dass er die Kleine behalten wollte. In Starnsum war man es gewohnt, sich an das zu halten, was der Pastor nicht sagte.

Ulf schaute den beiden nach, wie sie in Richtung der Schule Jettchens davonzogen, dann öffnete er seinen Koffer und holte die Schachtel Schokoladenkekse hervor, die seine Mutter ihm eingepackt hatte. Oben auf die Bücher hatte er zwei Bilder gepackt, zur Erinnerung. Das eine war ein Foto und zeigte seine Eltern und Harraß am Ufer der sommerlichen Glitta. Das andere hatte er gestern Abend noch gezeichnet, zuerst mit Bleistift; die Linien hatte er dann mit einem schwarzen Roller-Pen nachgezogen: der Kröpke, auf dem die aufgebrachten Rindviecher ihr Transparent entrollten. Das Bild war ihm nicht gelungen. Er hatte zwar mit Schattierungen einiges überdecken können, aber es ließ sich nicht verbergen, dass er einfach keine Kühe malen konnte. Die Tiere sahen bei ihm immer etwas wie dalmatinergemusterte Pferde aus; und die Gesichter der Schweine schauten ihn wie Harraß an: gerunzelte Nase, Schlappohren; Augen, in denen man fast nur das Weiße sah: wie ein Dackel kurz vor dem Zubeißen. Eigentlich hätte er noch gern ein Bild von Dörmann, Jettchen und Johanna mitgenommen. Aber Dörmann gab nicht gern ein Foto von sich aus der Hand. Klar.

Und Johanna? Ulf zermalmte einen der Schokoladenkekse zwischen den Zähnen und hob den Koffer zurück in die Ablage. Dörmann hatte sich an den Spekulationen über ihre Herkunft nicht beteiligt, aber der fehlerhaft geschriebene Zettel und der dunkle Teint des Kindes wiesen auf die ihrer Abschiebung harrenden Asylbewerber von Barkhenburg hin. Nur eine Vermutung, wohlgemerkt. Und was sollte nun werden. Er schob das Fenster auf und lehnte sich weit hinaus. Jettchen und Dörmann waren schon verschwunden, genau wie auch er bald verschwinden würde, wenn der Zug weiterfuhr.

Draußen lag Hildesheim, die Stadt von Dörmanns Bischof, der sich wahrscheinlich auch seine Gedanken machen würde, wenn er davon erfuhr, dass im Hause des Pastors ein Säugling aufgetaucht war. Der Bischof saß in seiner trockenen Stadt an der Innerste und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, aber Dörmann hatte nun einmal an der Glitta seine Schäflein ins Trockene zu bringen, das war etwas anderes.

O Hildesheim an der Innerste, du traditionsreiche und wohlkanalisierte Stadt des heiligen Bischof Bernward, reich an Kunstschätzen aus Ägypten, dem vom fruchtbaren Nil regelmäßig überschwemmten Lande, und selbst so gesegnet mit deinem Flusse. Ulf lachte leise, und es klang ein wenig schadenfroh. Ja, wenn man es nicht besser wusste. Er wusste es besser. Er wusste, dass es neben der friedlichen Innerste auch noch die Treibe gab, den reißenden unterirdischen Strom, die kostenverschlingende Treibe. Es gab mehrstöckige, prächtige Gebäude in Hildesheim, bei denen das Fundament um einiges teurer war als alles, was sich über der Erde befand. Nur kein Neid.

„Ist hier noch frei?“

Ein kastanienbrauner Irish Setter mit glänzendem Fell und dunklen, intelligenten Augen schob sich zur Tür herein. Sein Mensch sah etwa so aus, wie Ulf sich immer die Gaby Glockner aus den TKKG-Büchern vorgestellt hatte.