Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann - E-Book

Geschichten aus Movenna E-Book

Petra Hartmann

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Beschreibung

Verwünschte Hexen! Warum zum Henker muss König Jurtak auch ausgerechnet seinen Sinn für Traditionen entdecken? Seit Jahrhunderten wird der Kronprinz des Landes Movenna zu einem der alten Kräuterweiber in die Lehre gegeben, und der Eroberer Jurtak legt zum Leidwesen seines Sohnes großen Wert auf die alten Sitten und Gebräuche. Für den jungen Ardua beginnt eine harte Lehrzeit, denn die eigenwillige Lournu ist in ihren Lektionen alles andere als zimperlich ...

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Petra Hartmann

Geschichten aus Movenna

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte des Landes Movenna

Erstes Buch: Das Buch der Könige

König Surbolds Grab

Die Krone Eirikirs

Flarics Hexen

Das letzte Glied der Kette

Brief des Dichters Gulltong

Rimurics Kranich

Teil I: Der Kranich

Teil II: Die Rückkehr des Kranichs

Das Märchen von Yvalir

Zweites Buch: Das Buch der Nearith

Fandir von Venta

Strandleben – Sechs Gedichte Fandirs

Wildbesen

Der Turmbau zu Ira

Varelian

Drittes Buch: Das Buch der Götter

Föj lächelt

Ein Opfer für Weor

Ein teurer Tag in Ura

Impressum neobooks

Karte des Landes Movenna

Erstes Buch: Das Buch der Könige

König Surbolds Grab

„Und so fiel König Surbold in der Schlacht auf den singenden Feldern“, schloss Aeshna ihre Erzählung und bemühte sich, nicht auf das Lärmen der Krieger zu achten. Es war wichtig, dass die Enkelin die Geschichte König Surbolds kannte. Die wahre Geschichte. Nicht die, die Harvarts Krieger verbreiteten, wenn sie aus den Schenken gewankt kamen.

„So also war König Surbold“, murmelte Lournu versonnen. Sie schmiegte sich enger an die Großmutter, und beide blickten in das Lagerfeuer. Es war dunkel um sie, schon vor Stunden war die Sonne untergegangen, und Harvarts Krieger lärmten noch immer. Da war es gut, wenn man in die Flammen starren konnte und ein wenig Ruhe und Kraft sammeln für den weiten Weg, der noch vor ihnen lag.

„Na, alte Hexe, erzählst du der Kleinen eine Gute-Nacht-Geschichte?“ Harvart, der an allen Feuern des Lagers einige Minuten verweilt hatte, war zu den beiden Frauen getreten.

Lournu wusste, dass Aeshna den fremden König nicht leiden konnte, und schob die Unterlippe trotzig vor. „Großmutter hat mir von König Surbold erzählt. Das war ein mächtiger König und immer gut und freundlich. Er hat in den alten Zeiten geherrscht, lange bevor deine Leute nach Movenna gekommen sind und alles zerstört haben.“

Harvarts Hand fuhr zum Schwert, doch der Blick der alten Aeshna ließ ihn zurückschrecken. Lächelnd streichelte er dem Mädchen über das Haar. „Aber deine Großmutter hat dir sicher nichts von König Surbolds Grab erzählt, nicht wahr?“ Lournu schüttelte den Kopf, und ohne sich um die wütenden Blicke Aeshnas zu scheren, ließ sich der König am Feuer nieder und zog den Mantel enger um sich. „Dann werde ich dir davon erzählen“, sagte er ruhig. „Denn warum sollte jeder hier im Lager unser Ziel kennen, nur unsere süße kleine Geisel nicht.“ Er schwieg eine Weile und kostete die Wut der beiden Frauen genussvoll aus. Endlich begann er mit der sanften Stimme eines Märchenerzählers:

„Als König Surbold gestorben war, da hoben ihn seine Mannen auf vom Schlachtfeld und setzten ihn auf sein Pferd. Bis in das Tal der tanzenden Schatten, das weit im Norden Movennas in den Bergen der eisigen Einsamkeit liegt, brachten sie seinen Leichnam und schufen ihm dort ein Grab, wie es die Menschheit bis dahin noch nicht gesehen hatte und wie es auch auf Erden kein zweites Mal errichtet werden wird, so hoch und groß war dieses Hünengrab des Königs Surbold. Allein der Felsen, der oben auf dem Grabhügel liegt, ist so groß, dass weit über einhundert Schafe darauf stehen können. Und ganz oben auf dem Felsen ist eine Inschrift eingegraben. Weißt du wohl, wie die lautet?“

Verwundert schüttelte Lournu den Kopf.

„Und du, Alte?“

Aeshna biss sich wütend auf die Lippen und sagte keinen Ton.

„Ich will es dir verraten, meine Kleine“, fuhr Harvart aufgeräumt fort und schnalzte mit der Zunge. „Da steht geschrieben: ‚Wunner äwer Wunner - wat leit woll dar unner‘. Wunder über Wunder, was liegt wohl darunter. Das steht darauf.“

„Und was liegt darunter?“, fragte Lournu gespannt.

„Das weiß niemand. Viele hundert Männer haben schon versucht, den Stein zu heben. Aber der schwere Fels auf König Surbolds Grab widerstand all ihren Versuchen und rührte sich nicht von der Stelle. Und so hat bis heute noch niemand herausgebracht, was dort liegt unter dem gewaltigen Grabstein im Tal der tanzenden Schatten.“

„Jeder weiß es“, grölte ein vierschrötiger Kerl am Nachbarfeuer. Jorn, Harvarts erster Krieger, stand auf und kam zu ihnen herüber gestapft. „Jeder weiß, was dort vergraben liegt. Was kann dort anderes liegen als der Schatz des alten Surbold, hä? Sag mir das mal.“

Harvart lächelte flüchtig über den Eifer seines Heerführers. „Es ist wahr“, nickte er dann Lournu zu. „Was kann dort anderes liegen als der märchenhafte Reichtum des alten Königs. Gold und Silber in Fülle soll er besessen haben, dazu Diamanten und Perlen und Schmuck. Möchtest du nicht auch einen solchen Schatz haben, kleine Lournu?“ Lournu schob die Unterlippe noch weiter vor. „Ich jedenfalls träume schon seit meiner Kindheit davon“, gestand Harvart. „Und wenn ich ehrlich sein soll: Nur deswegen bin ich in euer Land eingefallen.“

Lournu lachte. „Na, König, das ist aber wirklich dumm. Wie willst du denn den Stein hochheben, wenn er tatsächlich so schwer ist, wie du sagst?“

Der König grinste und sah zu Aeshna hinüber. „Ihn zu heben wird Aufgabe deiner Großmutter sein. Denn wo rohe Gewalt versagt, muss eben die Magie ran.“

Aeshna schüttelte traurig den Kopf. „Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass ich nichts von Magie verstehe. Dass du das nicht einsehen willst.“

„Ich habe deine Taten gesehen, alte Frau“, widersprach der König. „Wie du die Pfeile in der Schlacht in Rauch aufgehen lassen hast. Wie du die Kranken geheilt und das tote Kind wieder zum Leben erweckt hast. Wie konntest du das tun, wenn du, wie du sagst, nichts von Magie verstehst?“

Aeshna starrte in die Flammen und antwortete nicht. Erst nach einer Weile murmelte sie, mehr zu sich selbst als an den König gerichtet: „Vielleicht versteht ja die Magie ein wenig von mir ...“

„Großmutter wird den Stein heben, den keine Macht heben kann“, sagte Lournu überzeugt. „Und dann wird sie ihn auf dich drauf fallen lassen, dass du ganz zermatscht wirst. Das hast du dann davon.“

Harvart fuhr erschrocken zurück, doch gewann er seine Überlegenheit sofort wieder. Mit bösem Grinsen zischte er: „Und genau darum habe ich dich mitgenommen, du kleine Ratte. In jedem Augenblick sind zwanzig Pfeile auf dich angelegt, und wenn deine Alte nicht spurt, dann ...“ Er machte eine vielsagende Pause, und auch Lournu schwieg betroffen.

„Ich denke, es ist besser, wenn du uns nun schlafen lässt“, stellte Aeshna ruhig fest. „Es ist noch ein weiter Weg, und du willst sicher nicht, dass die Kleine unterwegs schlappmacht und deinen ganzen schönen Marsch verzögert.“

Harvart erhob sich vom Feuer. „Du hast Recht. Ich möchte sowieso noch ein wenig mit dem Techniker plaudern.“ Er nickte hinüber zu dem kleinen schmächtigen Mann am Nachbarfeuer, der sich seltsam fremdartig zwischen all den muskelbepackten Riesen ausnahm. „Wer wird sich schließlich allein auf Hexen verlassen, wenn es um Schätze geht.“ Er und Jorn stapften davon, während sich die beiden Frauen zum Schlafen niederlegten.

„Glaubst du an einen Schatz in Surbolds Grab?“, flüsterte Lournu leise.

„Vielleicht“, murmelte Aeshna. „Eine Sage hat immer einen wahren Kern. Nur ob der Schatz Harvart gefallen wird, da bin ich mir gar nicht so sicher.“

 *

Lournu schlief tief und fest in dieser und in allen darauffolgenden Nächten. Sie bewegte sich mit der unbekümmerten Sorglosigkeit eines Kindes zwischen den Soldaten Harvarts, ließ ihr Pony bald neben dem einen, bald neben dem anderen Ritter her traben und wusste sogar mit dem finsteren Jorn ungezwungene Gespräche anzuknüpfen. Aeshna sah es nicht ohne Sorge. Zum wiederholten Male fragte sie sich, ob die Kleine nicht zu sehr auf die Kunst ihrer Großmutter vertraute. Denn es stimmte schon, was Harvart gesagt hatte: Die Soldaten ließen Lournu nicht aus den Augen, und ununterbrochen hatten die Bogenschützen auf sie angelegt.

Aeshna hätte mit den Kriegern spielend fertig werden können. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn mit der Magie war das so eine Sache. Man wusste vorher nie ganz genau, was passieren würde. Harvart würde das niemals begreifen. Lournu vielleicht. Später einmal. Wenn sie nicht vorher erschossen wurde.

Aeshna seufzte. Der Weg durch die eisigen Einöden war auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Mit Genugtuung stellte sie fest, wie heruntergekommen das ehemals so stolze, schmucke Heer des fremden Königs aussah. Nein, es waren nicht bloß der Frost und der eisige Wind, die hier an den Nerven der Soldaten zerrten. Es war die Eiswüste selbst. Sogar die Leute aus Movenna durchquerten das Eisland nie ohne eine gewisse Scheu und waren dankbar, wenn sie unversehrt an Leib und Seele wieder heraus kamen. Denn in der ewigen Einsamkeit des Eises, unter dem ewig weißen Himmel mit dem ewig gleichen, einförmigen Horizont, gab es nichts als das Nichts. Nur noch das Nichts, dem schon der Einzelne nicht ohne weiteres gegenüber zu treten wagte. Um wie viel weniger diese riesige Armee. Wenn die Philosophen und Magier Movennas sich am Ende ihrer Ausbildung einige Wochen in das weiße Nichts zurückzogen, dann war dies trotz jahrelanger Vorbereitung immer noch eine höchst gefährliche Angelegenheit, und es kam immer wieder vor, dass jemand nicht zurückkehrte aus dem Nichts. Der tanzte nun wohl als Schatten mit den Geistern der Ahnen in Surbolds Tal um den Felsen des Königs.

Aeshna sah besorgt zu Lournu hinüber. Sie hatte versucht, die Enkelin auf die Eiswüste vorzubereiten. Hatte versucht zu erklären, dass alle Wesen und Geister in der Wüste den Bewohnern Movennas freundlich gesonnen waren. Und auch, dass man sich mit dem Nichts befreunden musste, um es zu überleben.

Viele von Harvarts Kriegern hatten es nicht verstanden, mit der eisigen Einöde umzugehen. Wie sollten sie auch, dachte Aeshna grimmig. Die meisten waren Söldner, nachgeborene Bauernsöhne zumeist, ausgesetzte Waisen die anderen. Gestrandete, auf deren Ausbildung niemand auch nur die geringste Mühe verwandt hatte. Gib ihnen ein Schwert in die Hand und jage sie in die Schlacht. Kehren sie lebendig zurück, so hast du erfahrene Soldaten, und du kannst sie in die nächste Schlacht schicken. Kehren sie nicht zurück, hast du wenigstens den Sold gespart und kannst dir neue damit kaufen. Aeshna schüttelte den Kopf. Es war kein Wunder, wenn diese Menschen in der Eiswüste durchdrehten. Eben erst war wieder einer von ihnen in irrsinniges, tierhaftes Geschrei ausgebrochen, war vom Pferd gesprungen und in wahnwitzigem Lachen davon gestürzt, und sie fanden ihn nicht mehr wieder. Und Lournu?

Aeshna lenkte ihr Pferd näher an die Kleine heran und hörte zu, wie das Mädchen fröhlich auf den finster vor sich hinbrütenden Jorn einschwatzte. War es Bosheit, dass das Mädchen die Nerven des bis aufs Äußerste gereizten Kriegers mit Erzählungen aus den heiteren Tagen Movennas malträtierte? Aeshna glaubte es fast.

„König Surbold war ein fröhlicher Mann“, plauderte Lournu munter und schlenkerte mit den Beinen unaufhörlich an der Seite ihres Ponys hin und her. „Seine Regierungszeit wird auch als das lachende Zeitalter Movennas bezeichnet. Kein Tag ging ins Land, an dem es nicht wenigstens einmal ein Gelächter gab, das selbst die Berge der eisigen Einsamkeit erschütterte. Solch ein König war König Surbold.“

Jorn lachte böse. „Und das macht also deiner Meinung nach einen großen König aus, ja?“

„Man erinnert sich an ihn“, stellte Lournu einfach fest. „Was ist schon ein König ohne Humor. Deinen lächerlichen Schattenkönig habe ich noch niemals lachen sehen. Und darum wird er eher vergessen sein, als du vielleicht glaubst.“

„Ach wirklich, ist das so?“ Harvart hatte die unangenehme Angewohnheit, sich besonders leise von hinten zu nähern. Er hatte die letzten Worte des Mädchens mit angehört und trieb nun seinen Hengst drohend an das Pony heran.

Doch Lournu ließ sich nicht einschüchtern von seinem finsteren Blick. „Sicher“, sagte sie. „Ein König, der keinen Sinn für Humor hat, ist es nicht wert, dass man sich seiner erinnert.“

„Wenn ich erst mit deinem Land fertig bin, wird sich garantiert niemand mehr an deine großartigen Könige erinnern“, drohte er.

Lournu lachte hell auf, und dann sang sie die Kette der alten Könige hinunter, wie Aeshna es sie unterwegs gelehrt hatte, und sie vergaß keinen einzigen dabei:

„Surbold als erster war König Movennas ihm folgte sein schöner Sohn Vidger dann Glaukos und Henna Katlyna Selanna und Wulfric der König der Schwerter von hoher Gestalt war Eirikir und Flaric ein freundlicher Mann schönen Künsten zugetan dann Vagn der Starke und Luthold der Rasche mit heller Stimme auch Lathmon und Kyris so sind die Könige Movennas mit Lorman und Orsan richtig aufgezählt.“

Sie schaute Beifall heischend zu Aeshna hinüber, und die Alte nickte zufrieden. Lournu hatte die Reihe der alten Könige auf dem Wege sorgfältig auswendig gelernt. Wieder schrie einer der Soldaten.

„Dich werfe ich im Tal den tanzenden Schatten vor, du freches Ding“, grollte Harvart.

Doch Lournu lachte nur. „Die Schatten im Tal sind die Geister meiner Ahnen“, stellte sie fest. „Und die alten Könige sind dort. Glaubst du, sie werden ein Mädchen aus Movenna anrühren? Sei auf der Hut, fremder König. Es sind nicht deine Ahnen, die bei Surbolds Grab tanzen.“ Damit stieß sie ihrem Pony die Fersen in die Weichen und lenkte es hinüber zu den Bogenschützen.

„Deine Enkelin wird sehr frech, alte Frau“, brummte der fremde König Aeshna zu. „Du solltest ihr etwas mehr Respekt beibringen, das ist sicherer für sie.“

„Sie hat fast alles gelernt, was ich ihr auf dieser Reise beibringen wollte“, entgegnete Aeshna.

Wieder brach einer der Krieger in wahnwitziges Schreien aus.

„Heb du nur morgen den Stein“, drohte Harvart. Dann trieb er den Hengst an und sprengte davon.

*

Das Tal. Aeshna war schon oft im Tal der tanzenden Schatten gewesen. Und doch hatte der Ort für sie nichts von seinem geheimnisvollen Zauber verloren. Dunkle Berghänge, reichbewaldet, umschlossen das Tal, und in langsamen, würdevollen Wellenbewegungen glitten Licht und Schatten durch das dunkle Laub der Bäume. Schattengeister, die alten Mächte Movennas, wohnten im Tal, helle und dunkle Erinnerungen, und König Surbold war einer von ihnen.

Harvart war sehr schweigsam geworden, seit sie das Tal betreten hatten. Bösen, bleichen Gesichtes bewegte er sich durch die Schatten der Bäume, ein falscher König unter den Schatten Movennas, und biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Auch die Krieger waren sehr still geworden, als spürten auch sie die Heiligkeit dieses Ortes.

Als der Wald sich lichtete, schrie Harvart auf.

Was immer er aus den alten Legenden über Surbolds Felsen erfahren haben mochte, so groß hatte er sich das Grabmal des Königs nun doch nicht vorgestellt. Wie erstarrt stand er vor der gewaltigen Felsplatte, eine lächerliche rotäugige Fliege, und mit blutunterlaufenen Augen las er die Inschrift:

„Wunner äwer wunner – wat leit woll dar unner“.

„Eine reizvolle Aufgabe, in der Tat“, stellte der kleine Mann fest.

Der Techniker war der einzige, den die Aura des Tales nicht angerührt hatte, und Aeshna konnte es fast körperlich fühlen, wie unter den trockenen Worten der Zauber zerbrach.

Die Schatten wichen, und plötzlich war die Felsplatte über Surbolds Grab nicht mehr als ein gewöhnlicher Grabstein. Ein besonders großer Stein vielleicht, doch nichts was man nicht mit Hilfe von Rollen, Keilen und Seilwinden von der Stelle bewegen konnte. Die Soldaten Harvarts atmeten auf, und schon machten erste Scherzworte die Runde.

„Siehst du, du kleine Kröte“, grinste Jorn triumphierend zu Lournu hinüber, „wir brauchen deine Großmutter nicht einmal. Wir sind moderne Eroberer, mit uns marschiert eine neue Zeit in Movenna ein.“

Lournu sagte nichts darauf.

Der kleine Techniker hatte inzwischen seine Werkzeuge ausgepackt und gab den Soldaten seine Anweisungen. Harvart stand dabei, fast sah es aus, als habe der König abgedankt und die Macht in die Hände des schmächtigen Mannes gelegt. Und die riesenhaften Krieger, die den Techniker auf der Reise oft genug verlacht und verspottet hatten, nun sprangen und liefen sie nach seinem Befehl mit einer Demut und Bereitwilligkeit, die sie Harvart gegenüber nie gezeigt hatten. Hundert mächtige Eichen fällten Harvarts Männer an diesem Tage. Andere hoben einen tiefen Graben am Fuße der Steinplatte aus, wieder andere trieben Keile unter den Felsen oder verarbeiteten die Eichenstämme zu Hebeln und Rollen, während der Techniker mehrere Seilwinden anbrachte.

„Ich glaube“, flüsterte Lournu der Großmutter zu, „der kleine Mann ist gefährlicher als König Harvart.“ Aeshna nickte stumm.

Kurz vor Sonnenuntergang war der Techniker bereit. Tausend schwitzende und schwer atmende Riesen standen still und warteten auf seinen letzten Befehl. Seile, Hebel, Rollen, Keile und die riesenhafte Armee Harvarts, all dies stand bereit, harrte auf das Wort des mächtigsten Mannes in Movenna. Und er sprach es aus: „Jetzt.“

Da legten sich eintausend Riesen in die Seile, eintausend Männer zogen, schoben, drückten, hoben, eintausend Beinpaare stemmten sich gegen die Erde. Mächtig traten die Muskeln der Krieger hervor, Adern drohten zu platzen, Sehnen zu reißen, und der Stein hatte sich noch immer nicht geregt, doch dann – „Sieh nur, Großmutter, der Felsen!“, rief Lournu erschrocken aus – hob sich die gewaltige Steinplatte, erst langsam, endlich mit einem einzige mächtigen Ruck richtete sie sich auf und schlug dann donnernd um. Eintausend Krieger stürzten zur Erde und blieben keuchend im Gras liegen.

Der Felsen war bewegt worden, doch keiner der Soldaten hatte noch Kraft genug, zum Grab zurückzukehren.

Einzig Harvart, ein sehr alter, einsamer Mann, stand vor dem Felsen und las die Inschrift, die an der Unterseite der Grabplatte eingemeißelt war: „Dat was Tied, dat ek kom op anner Siet“, las er fassungslos und starrte in das leere Grab hinein. Das war Zeit, dass ich auf die andere Seite komme.

Kein Gold, kein Silber, kein Schmuck. Dafür das Heer vollkommen zugrunde gerichtet und die Soldkasse leer.

Das Gelächter in Movenna, das über ihn hereinbrechen würde, konnte er schon jetzt hören. Lachte es dort nicht bereits aus den Schatten um ihn herum, lachten nicht selbst die Schatten Movennas über den lächerlichen Eindringling?

Harvart presste die Hände auf die Ohren, aber das Gelächter wollte kein Ende nehmen, da lief er davon, tiefer und tiefer in den Wald hinein, und niemand in Movenna hat ihn je wieder gesehen.

*

„Was sollen wir jetzt tun, Großmutter?“, fragte Lournu leise, als sich die Soldaten nach und nach davongemacht hatten und es still und dunkel geworden war im Tal.

„Aufräumen“, sagte die Alte. „Fass mal mit an.“

Als Lournu die Hand an die Steinplatte legte, spürte sie ein eigenartiges Kribbeln in den Fingerspitzen, das sich durch ihren ganzen Körper fortsetzte. „Ist das jetzt Magie?“, flüsterte sie ehrfürchtig.

„Ich weiß es nicht genau“, entgegnete Aeshna.

Vorsichtig hoben die beiden Frauen die Felsplatte auf und legten sie zurück auf das Grab, wo sie hingehörte. Dort liegt sie heute noch, und jeder, der versuchen will, sie zu heben, wird sie leicht finden. Sie liegt im Tal der Schatten, wo die Geister Movennas tanzen, und auch Lournu und Aeshna sind schon seit langen Zeiten dort.

Die Krone Eirikirs

Ardua hielt das Buch mit beiden Armen fest umklammert. Sein Atem ging stoßweise, als er durch die Nacht hastete, mehrfach war er gestrauchelt, war lang hingeschlagen auf das scharfkantige Geröll und hatte sich üble Schürfwunden an Armen und Beinen zugezogen. Aber das Buch ließ er nicht los, obwohl der dickleibige Kodex viel zu schwer war, um von einem untrainierten, schwächlichen Jungen über weite Strecken getragen zu werden. Keuchend stürzte er voran, blickte immer wieder hastig über die Schulter zurück, doch einen möglichen Verfolger hätte er selbst bei Tage in der unwegsamen Felslandschaft nur schwer ausmachen können, um wie viel weniger in dieser mondlosen Nacht und mit flüchtigen, gehetzten Schulterblicken.

„Verwünschte Hexe!“, stieß er keuchend hervor und dachte neiderfüllt an seine Altersgenossen daheim in Mogàl, die bei ihren kriegerischen Übungen auch auf derartige nächtliche Fluchten in wüsten Felsgegenden vorbereitet worden waren. Hier in Movenna dagegen, so hatte man es seinem Vater einzureden gewusst, sei es Tradition, dass der zukünftige König zu einem der alten Kräuterweiber in die Lehre gegeben wurde. Wie hatte er nur darauf eingehen können. Ardua stolperte schwer atmend vorwärts. „Verwünschte Hexe!,“ keuchte er wieder und schaute sich im Laufen um, übersah dabei einen fast kniehohen Steinblock, stürzte und rutschte meterweit über feinkörnigen Schotter, bis er gegen eine Felswand prallte. Benommen blieb er liegen.

Das Buch hielt er noch immer umklammert, fest hatte er den in uraltes, brüchiges Leder eingebundenen Wälzer an sich gepresst, und obwohl er nun wirklich kaum noch Luft bekam, spielte ein triumphierendes Lächeln um seine Lippen. „Das hättest du nicht gedacht, Lournu, du alte Wetterhexe“, röchelte er, „dass dein kleiner Kräutersammler aus Mogàl dir deine Sprüche stiehlt.“

Langsam, sehr langsam beruhigte sich sein Atem wieder, es wurde still um ihn, nicht einmal Schotter rutschte noch nach. Offenbar hatte er seine Verfolger, wenn es solche gegeben haben sollte, tatsächlich abgeschüttelt. Er war allein. Zufrieden ließ er seine Finger über den Einband des Buches gleiten, ertastete Lederwülste, metallene Beschläge und die feingeschliffenen grünen Katzensteine aus dem nördlichen Gebirge, wo die Hexen, wie man in Mogàl erzählte, seinen Großvater getötet hatten. Das Leder war etwas abgeschabt von Arduas Sturz, doch hatten auch andere Unfälle im Laufe der Jahrhunderte an dem Buch ihre Spuren hinterlassen. Bei Tageslicht hatte er Brandlöcher im Einband sehen können, einige Seiten waren durch Bücherwürmer verstümmelt worden, und den allerletzten Zauberspruch hatte ein dunkler Blutfleck fast vollkommen unlesbar gemacht. Aber es roch gut, das Buch, es roch nach Pferden, nach Vanille, nach der uralten Magie des Landes Movenna. Warm und freundlich lag es in den Händen des jungen Prinzen, und ein bläuliches Glimmen schien von den Pergamentseiten auszugehen.

Entschlossen stand Ardua auf. Sein Atem hatte sich inzwischen fast vollkommen beruhigt, und auch der Puls schlug langsam und regelmäßig, wie ein Puls schlagen muss, wenn man sich mit magischen Dingen beschäftigen möchte. „Also, Schluss mit dem Blümchenpflücken“, murmelte er. „Jetzt wird es sich ja zeigen, ob man aus diesen Hexen nicht etwas mehr herausholen kann als Pfefferkuchenrezepte und Kräutertees.“

Als der Junge sich in Positur stellte und das uralte Buch aufschlug, zitterten seine Arme unter dem Gewicht des schweren Bandes, denn der voluminöse Wälzer war nicht für die Hände jugendlicher Hexenlehrlinge geschrieben worden, und erst recht nicht für fremde Eroberer aus den Steppen von Mogàl. Doch Ardua stemmte beide Beine fest und entschlossen in den Schotterboden und hielt den alten Kodex mit aller Kraft fast waagerecht vor sich. Nun sollte es sich erweisen, ob er nicht erfolgreicher war als sein Vater und sein Großvater, die das Land erobert und dennoch kein Glück gehabt hatten mit ihrer Herrschaft über Movenna.

Ardua schlug das Buch auf, und das bläuliche Leuchten, das von den Seiten ausging, verstärkte sich. Im Licht des Buches konnte man erkennen, wie sehr seine Arme zerschunden waren von den nächtlichen Stürzen, und die zerrissene Hose gab den Blick auf Knie und Oberschenkel frei, in deren Fleisch der feine rote Steinstaub sich tief hineingefressen hatte. Doch Ardua fühlte keinen Schmerz in diesem Augenblick.

Mit den Fingerspitzen wandte er die rauen, steifen Pergamentblätter um, eines nach dem anderen. Er blätterte langsam, ohne Hast, aber für die kunstvollen Illustrationen oder die geheimnisvoll verschlungenen Initialen, die von Hexen zahlloser Generationen geschaffen worden waren, hatte er keinen Blick übrig. Er wusste genau, was er suchte. Endlich hatte er den Zauberspruch gefunden. Er las ihn durch, zweimal, dreimal und zur Sicherheit auch noch ein viertes Mal. Dann schlug er das Buch zu und sprach ihn aus:

„In den Bergen von Movenna wohnt der alte Riese Orkon, Hüter roter Schotterhalden, Wächter gelber Goldesadern, Hort der Krone Eirikirs. Wem Movenna ist zu eigen, dem gehören auch die Berge. Wem die Berge sind zu eigen, dem gehorcht der Riese Orkon. Wem der Riese ist zu eigen, der erlangt des Reiches Krone von dem alten Riesen Orkon aus den Bergen von Movenna.“

Ein Blitz jagte durch die Nacht. Genau vor seinen Füßen schlug er in den Boden, und Ardua sprang erschrocken zurück, als er in dem plötzlichen Lichtstrahl erkannte, dass die Felswand, vor der er gelegen hatte, gar keine Felswand war. Entsetzt starrte er nach oben, erblickte steinerne Knie und den unbewegten steinernen Oberkörper, breite steinerne Arme waren vor der gewaltigen steinernen Brust verschränkt, und obwohl der Felsenkoloss saß, konnte Ardua den Kopf bereits nicht mehr erkennen.

„Ho ho“, lachte eine grollende Donnerstimme auf ihn herab, dass das Echo noch minutenlang die Berggipfel erzittern ließ. „Wer ruft nach Orkon?“

„Ich bin es“, rief Ardua fest und laut zu ihm hinauf und hoffte, der Riese werde das Zittern seiner Stimme überhören. „Ardua, Sohn des Königs Jurtak und Kronprinz von Movenna. Als dein Herr und Meister gebiete ich dir, Orkon: Bring mir die Königskrone Eirikirs, die in allen Stämmen Movennas geehrt und geachtet ist. So lautet mein Befehl.“

Irgendetwas war falsch, entsetzlich falsch, etwas stimmte nicht, schoss es Ardua durch den Kopf. Klein und demütig hätte der Riese vor dem Meister des Zauberspruchs erscheinen müssen und auf seinen Befehl hin die strahlende Krone des Eirikir herbeibringen sollen. Aber von einem solchen Gelächter, wie es nun ertönte, hatte in Lournus Buch nichts gestanden. Mit fliegenden Fingern begann er erneut zu blättern, zerriss beinahe in seiner Hast eine der Seiten, endlich fand er das Blatt mit der Zauberformel, deren Buchstaben wirr vor seinen Augen zu tanzen begannen. Ardua stöhnte auf, als er den Butterfleck und einige verschmierte, kaum noch sichtbare Zeichenreste am Ende des Spruches bemerkte. Zwei Verse, mindestens zwei, waren hier verlorengegangen, verschwunden unter dem Geruch von ranziger Butter und frischem Pfefferkuchen, und nur noch Lournu selbst mochte wissen, wie man die Beschwörung Orkons korrekt zu Ende brachte. „Verwünschte Hexe!“, stieß Ardua ein drittes Mal hervor und taumelte rückwärts.

Der Steinblock hatte sich noch immer nicht bewegt, nur das Lachen beruhigte sich langsam. „Ho ho“, lachte Orkon ein letztes Mal, „ein fluchender kleiner Moglàt mit ’nem Buch. Und Eirikirs Krone will er haben. Sowas Komisches ist mir ja noch nie in den Weg gekommen.“

„Ich ...“ stammelte Ardua und wich weiter zurück, „ich – meine Mutter war eine Moven’Am. Jurtak mein Vater nahm eine Steppenprinzessin aus dem Stamm der Nearith zur Frau und machte sie zu seiner Königin. Ich bin ein echter Sohn Movennas ...“

Der Felsgigant antwortete nichts. Wieder wich Ardua einen Schritt zurück und versuchte gleichzeitig, in dem Buch einen, irgendeinen, hilfreichen Spruch zu finden. Aber die Zeichen waren plötzlich fremd und unlesbar geworden, und er erkannte keinen einzigen Buchstaben mehr. „Mein Vater gab mich zu Lournu der Hexe in die Lehre“, rief er ängstlich. „Sie soll mich in der Geschichte Movennas unterweisen – glaub mir, ich werde deinem Land ein guter König sein, wenn ...“ Ein weiterer Schritt rückwärts, dann noch einer und –

„Bleib stehen!“, herrschte ihn Orkon mit Donnerstimme an. Ardua erstarrte. „Ich glaube, ich muss mir dich einmal aus der Nähe betrachten. Momentchen, ich komme runter.“ Oben auf den Knien des Steinriesen bewegte sich etwas. Eine kleine, flinke Gestalt ließ sich über die Kante des linken Knies gleiten, rutschte daraufhin eher gemächlich das Schienbein herunter und sprang vom Fuß in den Schotterkies hinein. Ein kleiner, verhutzelter Zwerg, der Ardua nicht einmal bis zum Bauchnabel reichte, kam auf den jungen Prinzen zu, blieb vor ihm stehen und musterte ihn kritisch von oben bis unten. „Du hältst das Buch verkehrt herum“, stellte er fest.

Ardua wurde rot bis über beide Ohren. Hastig schlug er das Buch zu und schnaubte unwillig: „Das geht dich gar nichts an. Wer bist du überhaupt?“

Aber der Zwerg ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen lehnte er sich gegen den großen Zeh des Felsgiganten und fuhr fort, Ardua zu mustern. Schließlich zog er seine alte, zerkaute Tabakspfeife hervor, die er umständlich zu stopfen begann. „Man sollte meinen“, nuschelte er undeutlich mit dem Pfeifenrohr zwischen den Zähnen, „man sollte meinen, du wüsstest, wer ich bin. Immerhin hast du eben noch laut und deutlich nach mir gerufen.“

„Dann bis du – du bist ...?“, japste Ardua überrascht.

„Orkon der Bergriese, ja“, bestätigte der Zwerg. Er hatte inzwischen einen Holzspan entzündet und hielt die linke Hand schützend vor Flamme und Pfeifenkopf. Ardua betrachtete das putzige Männchen, das dort am Zeh des Steinriesen lehnte und an seiner Pfeife sog, mit großen, runden Augen. Endlich hatte der Tabak Feuer gefangen, Orkon der Zwerg begann vergnügt, vor sich hin zu paffen, und verbreitete einen schweren, nicht unangenehmen Vanillegeruch um sich.

„Aber wenn du Orkon bist“, fragte Ardua unsicher, „wer ist dann das da?“

„Wer?“ Der Zwerg blickte sich verwirrt um. „Ach, du meinst das da, das Steindingsbums?“ Er zuckte die Achseln. „Das haben die Menschen gebaut, vor langer Zeit. Ich glaube, es stellt König Eirikir dar, den letzten der sieben großen Könige. Weißt du, ich wohne da oben in seinem Bauchnabel, der ist sehr geräumig und schön trocken, muss man sagen.“

Ardua lachte. Er lachte fast so laut wie Orkon vorhin gelacht hatte, nur dass die Berge dabei nicht zitterten. Sogar das Buch musste er loslassen, um sich den Bauch halten zu können, so sehr lachte Ardua. „Und vor so einem lächerlichen Winzling habe ich Angst gehabt“, lachte er lauthals, „es ist wirklich zu komisch.“

Orkon der Bergriese schmauchte gemütlich weiter vor sich hin und betrachtete mit unbewegtem Gesicht den jungen Königssohn, der sich nur langsam wieder beruhigte. Erst als Ardua nach einigen Minuten mit seinem Gelächter zum Ende gekommen war, nahm der Zwerg die Pfeife aus dem Mund und brummte: „Ein halbausgebildeter Halb-Moglàt will mit einem halben Zauberspruch die Krone Eirikirs erlangen. Wer von uns beiden ist hier wohl die größere Witzfigur? Also, besser noch klein als halb.“

„Entschuldigung“, murmelte Ardua. Er streckte dem Zwerg die Hand entgegen. „Es tut mir leid, nimm’s bitte nicht übel.“

Orkon übersah die ausgestreckte Hand. Aber er blickte nicht unfreundlich dabei. „So, also du willst die Krone Eirikirs nach Hause tragen. Weißt du denn auch, dass keiner der sieben kleinen Könige, die nach Eirikir kamen, die Krone gefunden hat? Und sie waren alle hier und haben mich gerufen mit ihrem Zauberspruch. Mit dem ganzen Spruch, wohlgemerkt. Glaubst du etwa, ein komischer kleiner Halb-Moglàt kann erreichen, woran sieben echte Könige Movennas aus dem Stamm König Surbolds gescheitert sind?“

„Die sieben kleinen Könige waren Schwächlinge“, sagte Ardua selbstbewusst. Jedenfalls hoffte er, dass es sich selbstbewusst anhörte. „Sie waren die kraftlosen Erben einer großen Zeit, die mit König Eirikir beendet war. Aber ich bin der Spross einer neuen Dynastie. Mein Großvater König Harvart eroberte Movenna durch die Kraft seines Schwertes. Mein Vater König Jurtak errichtete und festigte eine neue Königsherrschaft, wie es sie seit Eirikirs Tagen nicht mehr gegeben hat. Ich bin fähig, die Krone zu tragen, glaube mir. Bitte, lass es mich versuchen.“ Bei dem letzten Satz hatte Ardua seinen typisch mogalithischen Kinderblick eingesetzt. Lournu hatte er damit noch jedesmal herumgekriegt. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er auch auf Wesen wirkte, die ihm nur bis zum Bauchnabel reichten.

„Und obendrein würdet ihr damit endlich so etwas wie Achtung bei den Moven’Am erlangen“, ergänzte der Zwerg Arduas Rede und ignorierte demonstrativ den herzensbrecherischen Kinderblick.

Der junge Prinz nickte. Selbst wenn man die stärkeren Waffen auf seiner Seite hatte, war es nicht angenehm, von den Eingeborenen als unerwünschtes Usurpatorenärgernis betrachtet zu werden. Die Krone Eirikirs konnte dem Königshaus der Moglàt eine Legitimation verleihen, die einen Mangel an Ahnen mehr als wettmachte. „Lass es mich versuchen, bitte“, bettelte Ardua.

Der Zwerg schwieg. Langsam kletterte er den großen Zeh Eirikirs hinauf, bis er genau auf der Höhe von Arduas Gesicht angelangt war. Er fasste den Jungen unters Kinn und blickte ihm prüfend in die Augen. „Es ist wirklich zu schade, dass du nie König werden wirst“, murmelte er. „Wir hätten sicher viel Spaß miteinander. Aber wenn du darauf bestehst, gut, du sollst deine Chance haben.“ Ardua jubelte hell auf. „Freu dich nicht zu früh, mein Kleiner“, warnte der Zwerg. „Wer die Krone Movennas finden will, der muss den Pfad der Träume und Alpträume gehen, und selbst wenn er schließlich den Saal der Krone erreichen sollte, so ist noch nichts, aber auch wirklich gar nichts, dadurch gewonnen.“ Mit einem gewagten Salto kam Orkon vom Zeh des alten Königs herabgesprungen, dass der Schotterkies nach allen Seiten davon spritzte. „Ich sage dir jetzt die Regeln für den Weg zur Krone. Und es ist wichtig, dass du sie dir vollständig einprägst. Jede auch noch so winzige Abweichung bedeutet das Ende deines Weges. Dann verschwindet die Krone im Inneren der Berge, und sie wird sich von dir nie wieder berühren lassen. Hast du das verstanden, kleiner Prinz?“

Ardua nickte ehrfürchtig.

„Also“, sagte Orkon, „das Wichtigste, das überhaupt Aller-Allerwichtigste auf deinem Weg ist: Du darfst nicht sprechen. Kein einziges Wort, kein lauter Angstschrei, kein noch so leiser Seufzer darf über deine Lippen kommen, bevor nicht die Krone sicher und fest auf deinem bezaubernden Prinzenköpfchen sitzt. Kein Wort von jetzt an, verstanden?“

Ardua biss sich fest auf die Lippen und nickte. Die Bedingung war leicht zu erfüllen. Schließlich galten die Moglàt nicht gerade als Schwätzer, nein ganz gewiss nicht.

„Der Rest ist einfach“, fuhr der Zwerg, inzwischen wieder gemächlich geworden, fort. Er lehnte mit untergeschlagenen Armen an Eirikirs Zeh und plauderte im Tonfall movennischer Märchenerzähler: „Die ersten hundert Schritte musst du in absoluter Dunkelheit zurücklegen. Zähle sie sorgfältig mit, aber sprich die Zahlen nicht aus. Nach einhundert Schritten wird dir ein Licht erscheinen. Und was immer auch geschehen mag: Diesem Licht musst du folgen. Du wirst Spukgestalten sehen, die furchterregendsten Gestalten von ganz Movenna, vielleicht auch schöne, verlockende Bilder. Aber achte nicht darauf. Folge du nur immer deinem Licht, und es wird dich durch das Innere der Berge geleiten bis hin zu dem großen steinernen Saal, in dem die Krone Eirikirs seit neun Königsaltern verborgen ruht. Dann fasse sie an, mit beiden Händen, hebe sie hoch in die Luft, dann setze sie dir aufs Haupt, und wenn du das getan hast, wird sie unangefochten dein sein, und auch die Krone deiner Kinder und Enkelkinder. Aber du darfst nicht sprechen, bis zu diesem Moment. Denn sonst zerbricht der Pfad unter deinen Füßen, und die Krone Eirikirs sinkt zurück in die unerreichbaren Tiefen der Berge. Hast du das alles begriffen?“

Ardua nickte schweigend.

„Nun gut!“, rief Orkon. Er richtete sich hoch auf, und plötzlich kam es Ardua so vor, als sei er doch ein Riese, der mit seiner gewaltigen Faust zwischen Eirikirs Beinen gegen den Fels schlug. Donnernd fuhren die Steinmassen auseinander.

Ardua schluckte lautlos, fast hätte er aufgeschrien vor Entsetzen. Schwarze, undurchdringliche Finsternis breitete sich hinter dem Felsriss aus, zwei Schritte weit konnte er noch sehen, doch was danach kam, was dort hinten im Dunkel auf ihn lauern mochte, das –

„Und denk daran: keinen Laut, sonst ist alles verloren!“, brüllte der Bergriese ihn an. Er packte Ardua mit der Faust am Kragen und warf ihn hinein in die Dunkelheit. Noch während er durch die Luft segelte, schlossen sich die Felswände hinter ihm.

Er stürzte auf unebenen Schotterboden und schlug mit dem Ellenborgen gegen eine Felskante. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte er sich auf, hastete in der ersten Panik zurück zur Tür, doch seine ausgestreckten Hände fuhren ins Leere. Wohin er sich auch wandte, der lichtlose Raum schien in keiner Richtung eine Begrenzung zu haben. Um ihn war Dunkelheit. Dunkelheit und absolute Stille. Und die Angst, die langsam heran kroch, mit jedem Herzschlag ein Stück näher. Hätte sich in diesem Augenblick eine Hand auf seine Schulter gelegt, der mogalithische Prinz wäre in hysterisches Schreien ausgebrochen und in wahnsinniger Flucht davon gestürzt. Doch nichts dergleichen geschah.