Der Fels der schwarzen Götter - Petra Hartmann - E-Book

Der Fels der schwarzen Götter E-Book

Petra Hartmann

0,0

Beschreibung

Hochaufragende Felswände, darin eingemeißelt weit über tausend furchteinflößende Fratzen, die drohend nach Norden blicken: Einer Legende zufolge sind die schwarzen Klippen das letzte Bollwerk Movennas gegen die Eisdämonen aus dem Gletscherreich. Doch dann begeht der junge Ask bei einer Mutprobe einen folgenschweren Fehler: Er schlägt einem der schwarzen Götter die Nase ab. Der unscheinbare Dreiecksstein wird Auslöser eines der blutigsten Kriege, die das Land jemals erlebt hat. Und die Völker des Berglandes wissen bald nicht mehr, wen sie mehr fürchten sollen: die schwarzen Götter, die weißen Dämonen oder die sonnenverbrannten Reiter aus den fernen Steppen ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 410

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Petra Hartmann

Der Fels der schwarzen Götter

Ein Roman aus Movenna

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erstes Buch: Die Nase

Zweites Buch: Die Augen

Drittes Buch: Der Schädel

Viertes Buch: Der schwarze Turm

Epilog: Fünfzehn Jahre danach …

Impressum neobooks

Erstes Buch: Die Nase

Ask zuckte zusammen, als der lautlose Schatten über ihn hinwegstrich. Der Nachtvogel glitt zwischen den Eichenstämmen dahin und war sofort wieder im Dunkel verschwunden. Erst in der Ferne stieß das Tier einen heiseren Ruf aus, ein helles Aufquietschen zerriss die Nacht, als der gebogene Schnabel das dünne Genick durchschlug, dann eisige Stille, in der der Todesschrei der Maus beängstigend nachhallte. Ein Schauer fuhr dem Jungen über den Nacken. Seine Finger krampften sich um den dünnen Kaninchenbogen. Die Waffe war gut geeignet, um kleine Pelztiere zu erlegen, doch gegen die Gespenster des nördlichen Waldes waren die leichten Pfeile machtlos, das wusste er.

„Das war nur ein Käuzchen“, sagte er laut und hoffte, die anderen würden das Zittern seiner Stimme nicht bemerken. Die Töne kamen falsch und quiekend aus seiner Kehle. Wie der Todesschrei einer Maus. „Ein ganz kleiner Nachtvogel, nicht viel größer als eine Maus. Ein geschickter Jäger könnte ihn im Flug treffen.“

„Das wagst du nicht“, flüsterte Rowan. Der braune Wuschelkopf seines kleinen Bruders tauchte neben ihm im Mondlicht auf und warf einen Schatten wie ein gewaltiger Höhlenbär. Sagitta, die Schwester, sagte nichts. Aber Ask wusste, dass sie einen Pfeil an die Sehne ihres Kaninchenbogens gelegt hatte und nach der kleinen Eule Ausschau hielt.

Ask holte tief Luft. „Es wird nicht wiederkommen“, sagte er. Entschlossen richtete er sich auf und zog sein dünnes Jäckchen aus Kaninchenfell enger um sich. Das Laub raschelte unangenehm laut unter seinen nackten Füßen. „Wir gehen weiter“, bestimmte er und stapfte in die Richtung, in die das Käuzchen geflogen war. „Ein echter Waldwohner kennt keine Angst.“

„Genau, der kennt keine Angst“, echote Sagitta und warf Rowan einen trotzigen Blick zu.

Zum wiederholten Male überlegte Ask, ob es nicht ein Fehler gewesen war, die Fünfjährige mitzunehmen. Aber die kleine Schwester schlief im gleichen Raum wie er und Rowan und hätte sie ganz sicher verpetzt, wenn er nicht versprochen hätte, dass sie dabei sein durfte. Außerdem, das musste er ihr zugestehen, die Kleine hielt sich weitaus besser als Rowan im unheimlichen Nordwald. Und wenn er etwas ehrlicher mit sich selbst gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, dass das Mädchen als einziges der drei Kinder keine Angst zeigte.

Irgendwo vor ihnen rief wieder das Käuzchen. Ask schritt gleichmäßig weiter und bemühte sich, möglichst fest aufzutreten. Ein trockener Zweig knackte unter seiner Fußsohle. Da besann der Junge sich und wechselte wieder in den leisen, federnden Schritt über, den er von seinem Vater gelernt hatte. „Die Waldwohner sind ein Teil des Waldes, und sie rühren das Laub nicht auf“, hatte er gesagt. „Sacht wie ein fallendes Blatt ist der Schritt des Jaran-Dem. Der Hase hört ihn nicht, der Uhu sieht ihn nicht, der Hirsch wittert ihn nicht, bis ihm sein Pfeil ins Herz dringt.“

„Und wenn es nun doch der Waldalte war?“, flüsterte Rowan.

Ask fuhr zusammen, als der Bruder lautlos neben ihm auftauchte. „Schleich nicht so“, zischte er. „Um ein Haar hätte ich dich erschossen.“

Er senkte den Kaninchenbogen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Nächte waren schon empfindlich kühl geworden. Trotzdem war seine Hand schweißnass, als er sie wieder zurückzog, und er wischte sie sorgsam an der Jacke ab, bevor er die Sehne wieder berührte. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Bogensehne feucht würde.

„Ask?“, wiederholte Rowan. „Was, wenn es doch der Waldalte war?“

„Den Waldalten gibt es nicht“, knurrte Ask. „Das ist nur ein dummer Aberglaube.“

„Ja, das ist ganz dummer Aberglaube“, bestätigte Sagitta ernsthaft. „Ich wette, ich kann den Waldalten erschießen, wenn er kommt. Ask, glaubst du, dass ich ihn treffen kann, wenn er kommt, der dumme alte Aberglaube?“

„Still jetzt“, fuhr Ask sie an. „Ich glaube, wir sind jetzt ganz nahe dran. Wenn ich mich nicht irre, muss da vorne schon die Felswand anfangen.“

Eine dunkle Wolke schob sich vor den Mond, und plötzlich war es stockfinster. In der Ferne schrie wieder das Käuzchen.

„Ihr wartet hier“, bestimmte Ask und schubste die beiden Geschwister hinter einen breiten, knotigen Eichenstamm. „Rowan, pass auf Sagitta auf“, befahl er. Dann rückte er seinen Köcher mit den leichten Kaninchenpfeilen zurecht und huschte davon. Lautlos wie ein Schatten verschwand er im Unterholz.

„Glaubst du, er kriegt den Stein?“, fragte Sagitta. Sie spähte neugierig hinter dem Bruder her. „Ich glaube ganz bestimmt, dass er ihn kriegt.“

„Still.“

Rowan schob sie tiefer in die Mulde hinein. Ängstlich lugte er über den Rand ins Dunkel. Wieder schrie das Käuzchen. Es schien, als komme der Ruf wieder näher.

„Guck mal, ich kann auch wie ein Käuzchen machen“, sagte Sagitta. „Hu-hhuuuh, hu-hhuuuh.“ Sie hatte mit beiden Händen eine Hohlkugel geformt und blies aus vollen Backen gegen die Daumenknöchel. Es klang nicht besonders eulenähnlich, aber doch unheimlich genug, um Rowan einen Schauer über den Rücken zu jagen.

„Still, sonst hört dich der Waldalte“, fauchte er die Schwester an.

„Ask hat gesagt, das ist nur ein dummer Aberglaube“, begehrte sie trotzig auf. „Und Aberglauben haben keine Ohren.“

„Ach, Ask weiß auch nicht alles.“ Ärgerlich schob Rowan das Laub zur Seite. Es machte ihn wütend, dass die kleine Schwester gar keine Angst zeigte. „Der Waldalte ist fürchterlich“, raunte er mit heiserer Stimme. „Und wer ihn des Nachts im Wald trifft, der wird seines Lebens nicht mehr froh. Die wahnsinnige alte Ulma hat ihn gesehen in der Nacht, als sie ihren Verstand verloren hat. Und Kedwig muss ihn auch getroffen haben, damals, als sie ihn gefunden haben, das Gesicht auf den Rücken gedreht, mit grausam entstellten Zügen.“

Rowan holte tief Luft. Sagitta sagte nichts. So, jetzt hatte die kleine Nervensäge endlich auch begriffen, dass dies hier kein fröhlicher Waldspaziergang war. Triumphierend fuhr er fort:

„Der Waldalte war ein mächtiger Fürst und hat damals über all dies Land geherrscht. Das war in den alten Zeiten, als es hier noch keine Bäume gab. Nur die grausigen Geisterklippen, wo Ask jetzt ist, mit ihren schrecklichen Dämonenfratzen, die starrten damals schon drohend nach Norden. Aber das Land ringsum war kahl und nackt. Und nur der Waldalte, der damals noch der Bergfürst hieß, hockte auf seiner himmelhohen steinernen Burg und sah weit übers Land.“ Rowan räusperte sich. Ein unangenehmes Kratzen in seiner Kehle hinderte ihn am Sprechen. Doch nun, da er Sagitta Angst machen konnte mit seiner uralten Schauergeschichte vom Waldalten, war er schon wesentlich mutiger geworden. Die Kleine neben ihm sagte nichts. Gut so. Leise fuhr er fort:

„Eines Tages sah der Alte in seinen Zauberspiegeln die Sonnentochter. Sie war so wunderschön, dass er sich sofort in sie verliebte. Da stieg er hinunter zu den schwarzen Felsen, wo die Dämonen am grausigsten und am scheußlichsten in den Himmel starren, und rief den Bösen an. Dreimal rief er seinen geheimen Namen, und als er ihn das dritte Mal gesagt hatte, da teilten sich die schwarzen Klippen, und der Böse kam heraus – aaah!!!“

Ein weicher, lautloser Flügel hatte ihn gestreift. Gleich darauf glommen über ihm im Geäst der alten Eiche zwei bernsteingelbe Augen auf. „Hu-hhuuuh?“, klang es fragend. Rowan riss den Bogen hoch, packte in fiebernder Hast seinen Köcher und verschüttete dabei seine sämtlichen Pfeile. Als er endlich einen der dünnen Schäfte an die Sehne gebracht hatte, war das unheimliche Augenpaar verschwunden. „Das war nur das Käuzchen, Sagitta“, flüsterte er. „Der Waldalte ist längst tot. Glaube ich.“

Wieder räusperte der Junge sich. „Weißt du, Sagitta, der Alte, er wollte die Sonnentochter unbedingt haben. Darum hat er den Bösen gerufen. ‚Schaffe mir das Mädchen her‘, verlangte er von dem furchtbaren Geist. ‚Ich will dir geben, was immer du von mir verlangst.‘ ‚Der Preis ist deine Seele‘, sagte der Böse. Und jener erwiderte: ‚So sei es. ‘ Da flog der Böse in seinem Drachenwagen durch die Nacht bis in den höchsten Himmel hinein, holte die Sonnentochter auf die Erde und brachte sie ins steinerne Schloss des Alten.

Der Bergfürst war glücklich, als er seine Braut in die Arme schloss. Aber das Glück währte nicht lange. Denn auf der Fahrt durch den Himmel hatte der giftige Atem der Drachen die junge Frau gestreift, sie trug den Keim des Todes bereits in sich. Am Tag nach der Hochzeit war sie blass und sprach nicht. Drei Tage später war sie zu schwach, um auch nur das Bett zu verlassen. Die Zauberer schüttelten traurig den Kopf und gaben sie auf. ‚Sie muss sterben‘, sagten sie dem Alten. ‚Wenn sie morgen noch am Leben ist, dann wäre das schon ein großes Wunder. ‘ Da weinte der Alte.

Doch dann ging er wieder zu den Dämonenfelsen und rief zu den schwarzen, steinernen Fratzen den Namen des Bösen hinauf. Und wieder teilten sich die Berge. ‚Was willst du denn nun noch?‘, grollte der Böse. Und der Alte bat, er solle die Sonnentochter wieder gesund machen. ‚Das kann ich wohl‘, zischte der Böse. ‚Doch wenn ich’s tue, dann werde ich morgen Nacht schon zu dir kommen und deine Seele und dein Leben von dir fordern.‘ ‚So sei es‘, sagte der Alte. Und er schlich sich traurig nach Hause.“

Rowan lauschte. Für einen Augenblick hatte er geglaubt, schleichende Schritte im Laub zu hören. Aber es war wohl nur der Wind gewesen. Der Wind oder der Waldalte.

„Am nächsten Morgen“, flüsterte er, „war die Frau gesund und munter, und sie lachte und sang fröhliche Lieder. Aber der Alte war blass und grämlich, er konnte sich gar nicht mehr freuen. Er dachte nur immer an die Mitternacht und daran, dass der Böse ihn holen würde. ‚Ach wo‘, lachte da die Sonnenfrau, als er ihr erzählte, was er getan hatte. ‚Gräme dich nicht, Mann, ich will schon mit ihm reden.‘ Und als die Mitternacht kam und der Böse den Alten holen wollte, da stellte sich die Frau ihm entgegen. ‚Es ist nicht recht, dass wir, wo wir doch gerade erst geheiratet haben, gleich wieder auseinander sollen. Höre, Böser, diesen Vorschlag will ich dir machen: Lass uns noch solange zusammen leben, wie wir für eine Saat und eine Ernte brauchen, und wenn die Ernte eingebracht ist, dann magst du uns beide haben.‘ ‚Das ist mal ein Wort‘, lachte der Böse. Und er fuhr mit lautem Jubel wieder in die schwarze Felswand zurück.“

Sagitta atmete tief und ruhig neben ihm. Sie hatte den Kopf an den Eichenstamm gelehnt. Irgendwo in der Ferne strich der Wind um die Dämonenfelsen, es klang wie Klagerufe der verlorenen Seelen.

„‚Bist du nicht klug, Frau?‘, jammerte der Bergfürst, als der Böse verschwunden war. ‚Nun hast du alles noch tausendmal schlimmer gemacht. Was ist gewonnen mit diesem einen Jahr Aufschub? Wenn die Ernte eingebracht ist, wird er wiederkommen. Dann wird er nicht nur mich, sondern uns beide holen.‘ ‚Ach was, Mann‘, lachte die Sonnenfrau da. ‚Ist erstmal ein Aufschub erreicht, lässt sich der Rest auch gewinnen. Ein Jahr, das ist lange hin.‘“

Wo mochte nur Ask bleiben? Was, wenn die Felsendämonen doch mehr waren als grausige Steingesichter in der schwarzen Wand? Und was, wenn der Waldalte kam? Rowan lauschte. Doch so sehr er sich auch anstrengte, die Schritte des älteren Bruders konnte er nicht hören. Nur die Geräusche des Waldes. Des Waldes, der dem Waldalten gehörte.

„Und er hat ihn doch ausgetrickst, den Bösen, hörst du, Sagitta?“ flüsterte Rowan. „Als er am nächsten Tag rastlos durch sein Land streifte, da traf er einen Bauern, der gerade sein Feld bestellte. Aber der tat das nicht, wie man normalerweise auf seinem Acker sät. Nein, er drückte Eicheln in die Furchen. Eine neben der anderen, das ganze Feld entlang. ‚Was tust du da?‘, fragte der Bergfürst verwundert, denn er hatte so etwas noch nie gesehen. ‚Ich arbeite für die Zukunft‘, sagte der Landmann. ‚Oh, nicht für meine eigene und auch noch nicht für meine Kinder und Enkel. Aber meine Urenkel werden einst einen stattlichen Wald besitzen und eine reiche Ernte haben. Sie werden mich segnen, wenn erst meine Eichen in die Höhe gewachsen sind. Genauso, wie ich es meinem Urgroßvater zu danken habe, dass ich jenes reiche Waldstück dort hinten besitze.‘ ‚Segnen, das will ich dich auch, guter Mann‘, freute sich der Bergfürst. Und er überschüttete den verdutzten Bauern mit Gold und Silber. Und dann, dann begann er, das ganze Land längs der Berge umzupflügen. Und überall, wo nur eine Handbreit Erde sich fand, da senkte er eine Eichel in den Boden. Hörst du, Sagitta, er hat ihn ausgetrickst, den Bösen. Denn als der ein Jahr darauf kam und die beiden holen wollte, da hatten die jungen Eichenbäume nur gerade erst den Kopf aus der Erde gestreckt. ‚Eine Saat und eine Ernte war ausgemacht‘, lächelte der Bergfürst dem Bösen entgegen. ‚Und die Zeit der Ernte ist noch lange nicht heran.‘ Da schrie der Böse auf vor Zorn und riss die Felswände auseinander. So laut war der Wutschrei, dass die Berge noch lange nachzitterten. ‚Und holen werde ich dich doch!‘, schrie er. ‚Und gehn auch Jahre drüber hin, zittern sollst du vor dem Tag, an dem der letzte Baum fällt.‘

Aber Vertrag ist Vertrag, und er hat den Alten nicht angetastet bis heute. Jahre kamen und gingen. Und höher und immer höher wölbte sich das Blätterdach des Bergwalds. Längst sind die Kinder und Enkel des Bergalten dahingesunken. Menschengeschlechter kamen und gingen. Nur der Alte streift noch immer als ruheloser Geist durch den Wald, den er gesät hat. In hellen Mondnächten, heißt es, hat man ihn rufen hören. Und wer immer seinen Wald antastet, den wird er strafen. Denn noch immer wartet der Böse im schwarzen Felsen darauf, dass der letzte Baum des Bergwaldes fällt. Dann wird er kommen und holt den Waldalten in sein Reich unter den Felsen.“

Sagitta gab leise Schnarchlaute von sich. Eng an den Stamm des Eichenbaums geschmiegt, war das Mädchen eingeschlafen. Missmutig starrte Rowan ins Dunkel. War das eine Art, ihn ganz allein zu lassen? Er tastete nach seinem Kaninchenbogen.

Plötzlich stob das Laub auseinander. Wie eine Rotte flüchtender Wildschweine brach Ask durch das Unterholz und stürmte auf die Geschwister zu.

„Weg hier!“, schrie er. „Rowan! Sagitta! Schnell weg!“

Müde taumelte Sagitta in die Höhe. Schon hatten Ask und Rowan sie bei den Händen gefasst und stürzten mit der Schwester in der Mitte davon.

„Die Berge!“, keuchte Ask. „Die Dämonen erwachen!“

In wilder Flucht jagten die drei Kinder durch das Laub und wagten es erst nach mehreren Meilen zu verschnaufen.

*

Ask trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Grenoak, der erste der Jungen Dachse, war kaum zwei Sonnen älter als er, doch er ließ den Jüngeren deutlich spüren, wer hier im Jugendbund das Sagen hatte. Der breitschultrige Anführer der jugendlichen Jaran-Dem hatte mit überkreuzten Beinen am Lagerfeuer Platz genommen, hatte die Decke aus Kaninchenfell um sich drapiert wie einer der würdevollen alten Häuptlinge und sog betont langsam an seiner kokelnden Rohrpfeife. Gut fünfzehn junge Waldwohner musterten Ask schweigend, und der einzige Laut, der von Zeit zu Zeit die Stille durchbrach, war das Knacken des Feuers.

„Nun, Ask“, nahm endlich Grenoak das Wort, „hast du den Stein?“

Ask schluckte. Er griff hastig ins Innere seiner Kaninchenfelljacke. Als er die Hand wieder hervorzog, lag ein fast faustgroßer Felsbrocken darin. Schwarzer, harter Nachtstein aus den Dämonenfelsen spiegelte das Zucken der Flammen wider. Damit mochten die Jungen Dachse wohl zufrieden sein.

Mit einem kurzen, stummen Kopfrucken nickte Grenoak zu einem der Jungen hinüber, der sprang auf, nahm Ask den Stein ab und trug ihn zum Feuer. Grenoak wog ihn prüfend in der Hand und ließ ihn im Schein der Flammen aufblitzen. „Ja“, bestätigte er nach einer Weile. „Es ist ein Stein aus den Dämonenklippen. – Emblar?“ Der Angesprochenen erhob sich. „Was hast du uns zu berichten?“

Emblar überragte Ask fast um Haupteslänge. Ask mochte den aalglatten und wieselflinken Unteranführer Grenoaks nicht sonderlich. Und doch durchrieselte ihn ein warmes, freudiges Gefühl, als der Jugendliche neben ihn trat und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Ja, er war da, ich kann es bestätigen“, näselte Emblar.

Eine unsägliche Spannung fiel von Ask ab. Es war geschafft. Nun mussten sie ihn wohl aufnehmen.

„Sprich“, forderte Grenoak den Berichterstatter auf.

„Ich habe getan, wie du mir befohlen hast, Grenoak. Schon am frühen Morgen habe ich am Baumhaus des Häuptlings auf Posten gelegen. Erst kam die alte Linda heim, und bald nach Sonnenuntergang auch Ask, Rowan und Sagitta. Toxaris selbst kam erst zur Zeit des dritten Sterns, er blieb noch bis kurz vor Mitternacht im Türrahmen sitzen und rauchte Pfeife. Er hat Sitang-Kraut geraucht, der Geruch zog bis herüber in die Baumkrone, in der ich mich versteckt hielt. Endlich ging auch Toxaris hinein. Wenig später verlosch das Licht. Es dauerte eine Weile, bis sich im Haus wieder etwas regte.“ Emblar machte eine kurze Pause, deutete dann auf Ask. „Dann habe ich ihn gesehen. Er war sehr leise, im Schleichen ist er schon recht gut. Er ließ sich am Seil auf den Boden hinab, aber dann trat er auf trockenes Laub. Der Kleine tauchte oben im Eingang auf und fing an zu rufen: ‚Ask, wo willst du hin?‘“

Gutmütiges Lachen wurde laut. Viele der Jungen Dachse hatten selbst kleinere Geschwister. Ask errötete.

„Rowan kam also hinterher geklettert“, lachte Emblar. „Und als er am Seil halb nach unten gekommen war, ist auch noch Sagitta wachgeworden und hat gedroht, sie würde das ganze Dorf zusammenschreien, wenn sie nicht mit dürfte.“

Jetzt gab es für die Jungen Dachse kein Halten mehr. „Da ist uns ja eine tolle Mutprobe eingefallen. Nicht einmal Babys haben mehr Angst vor dem Waldalten und seinen schwarzen Klippen“, lachte Grenoak.

„Oh, was das betrifft“, schmunzelte Emblar, „da war Sagitta bestimmt die Tapferste von den dreien. Ihr hättet sie laufen sehen sollen, Ask und Rowan meine ich, als sie wieder aus dem Wald herauskamen. Wie ein Wisent mit einem Kaninchenpfeil im Hintern ist er gelaufen, unser Ask, sein Gesicht war weiß wie Kreide. Wahrhaftig, noch niemals habe ich einen Menschen so schnell rennen sehen. Er ist durchs Unterholz gebrochen, als ob der Waldalte persönlich ihm auf den Fersen war, ich bin kaum hinterhergekommen.“

Gelächter belohnte den humorigen Bericht des Unterhäuptlings. Emblar grinste und blickte aus blitzenden Augen in die Menge, während Ask verlegen auf seine Fußspitzen starrte. „So war es nicht“, murmelte er leise und bohrte mit dem Zeh im weichen Waldboden.

Eine Handbewegung Grenoaks brachte die Jungen zum Schweigen. Er nickte zu einem der Büsche hinüber. „Vielleicht möchte uns Rowan ja auch noch etwas dazu mitteilen“, sagte er mit erhobener Stimme.

Aus dem raschelnden Laub tauchte Rowans zerzauster brauner Wuschelkopf auf. „Ask ist mutig“, stieß der Junge hervor, seine Stimme überschlug sich fast, als er die Worte herausschleuderte. „Sag ihnen, was du gesehen hast, Ask. Sag ihnen, dass die Götter erwacht sind.“

Ask schluckte. Dann nahm er Grenoak fest ins Auge. „Es ist wahr, Grenoak. Ich habe sie gesehen. Die alten Götter sind erwacht.“

Unruhe breitete sich aus, doch Grenoak schnitt die hastigen Flüstertöne mit einer Handbewegung ab.

„Ich habe sie gesehen“, bestätigte Ask noch einmal. „Als ich den schwarzen Stein aus der Wand schlug, öffneten sich ihre Augen. Überall in der Felswand flammten sie auf. Hunderte und Aberhunderte Dämonenaugen. Und alle starrten mich an aus der schwarzen Felswand heraus mit gelben Feueraugen.“

Grenoak schwieg. Niemand am Feuer sprach ein Wort. Nur Asks Herz hämmerte wie die Hirschfelltrommel des alten Schamanen.

Endlich stand Grenoak auf. Er warf die Kaninchenfelldecke ab und kam mit würdigen, feierlichen Bewegungen um das Lagerfeuer herum auf den Jungen zugeschritten. Er nahm einen feuchten, weißen Kreideklumpen und drückte ihn fest gegen Asks Stirn. Kühl ruhte der Stein auf seiner Haut, dann zog Grenoak eine breite Linie vom Haaransatz bis hinunter auf Asks Nasenspitze. „Eine Pfeilspitze für einen Jungen Dachs“, murmelte Grenoak und malte zwei weitere Linien über die Wangen des Jungen, von den Augenwinkeln bis zur Nase. Als er nun die Flächen zwischen den breiten weißen Streifen mit einem Kohlestück einfärbte, bekam Asks Gesicht tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem großen Marder, der der Schutzpatron des Bundes war. „Ask hat uns den Stein gebracht, und die Aufgabe ist erfüllt“, stellte Grenoak fest. „Von nun an ist er einer der unseren. Wer ihn kränkt, wird es mit den Jungen Dachsen zu tun bekommen.“

Aufmunterndes Schulterklopfen und Händeschütteln hieß den Neuling willkommen, als er sich nun ans Feuer zu den anderen niedersetzte. Während Rowan sich davonstahl, schob Grenoak Ask die Rohrpfeife hinüber, die der Junge mit einem mulmigen Gefühl an die Lippen setzte. Tränen schossen ihm in die Augen, als sich das beißende Kraut in seine Lunge hineinfraß. Doch gelang es ihm, den Hustenreiz zu unterdrücken. Dann gab er die Pfeife an Grenoak zurück.

Der Dachshäuptling räusperte sich. „Dinge sind geschehen“, murmelte er. „Dinge, von denen die Jaran-Dem noch nichts gehört haben. Wenn es wahr ist, was Ask sagt, und ein Junger Dachs spricht immer die Wahrheit, dann geht dort an den Dämonenklippen etwas vor sich. Wir müssen nachdenken, was zu tun ist.“

*

Entsetzlich. Ask starrte aus blutunterlaufenen Augen in den Bach, aus dem ihm sein eigenes hohlwangiges Gesicht höhnisch entgegen grinste. Die verwaschene Kohle hatte sich bis weit in seine hellblonden Kraushaare hinauf geschmiert, weiße und schwarze Schlieren hatten sich die Wangen hinuntergezogen und sich mit seinen Tränen zu aschengrauem Schleim vermischt. Wieder krampfte sich sein Magen zusammen. Ein brauner, klumpiger Brei brach sich Bahn durch seinen Rachen und spritzte ins Wasser. Ask wand sich in Krämpfen auf dem Boden, spuckte kräftig hinter dem Erbrochenen her, noch einmal und noch einmal. Nein, wahrhaftig, die Sitang-Pfeife würde er nicht noch einmal anrühren. Erneut ballte sich sein Magen zur Faust. Schmerzhaft zogen sich seine Eingeweide zusammen, vergebens, leer, ganz leer waren sie, und der Brechreiz wollte noch immer nicht aufhören. Nur ein wenig braunes Wasser spie er aus, dann nichts mehr. Entsetzlich, wie das stank.

Schwer atmend presste Ask das Gesicht ins kühle Gras. Dünne Speichelfäden liefen auf die Erde, Tränen rannen ihm die Wangen hinab. Als er sich streckte, tauchten beide Fäuste in den Bachlauf. Das herbstlich kalte Eiswasser tat fast gut. Nein, nie wieder Sitang-Kraut, alles nur das nicht.

Erst nach einer Weile beruhigte sich sein Atem. Das eisige Wasser, das seine Handgelenke zum Erstarren brachte, tat seine Wirkung. Auf dem schweißnassen Rücken tanzten die ersten Sonnenstrahlen.

„Ich gratuliere dem jungen Dachsjäger.“

Wie eine Laubviper schnellte Ask in die Höhe. Im Aufspringen fuhr seine Hand zu dem dünnen Knochendolch, der in seinem Gürtel steckte. Blut schoss ihm in den Kopf. Aber es war nur Tenella, die sich im lautlosen Schritt der Waldwohner genähert hatte.

„Meinen herzlichen Glückwunsch zur Aufnahme in den Bund“, wiederholte die ältere Schwester.

Ask wischte sich unwillig eine Locke aus der Stirn und verschmierte die schwarzen und weißen Linien damit endgültig. Er grinste die junge Frau schief an. „Du weißt ...?“

„Schau dich doch an, du Dreckspatz“, lächelte sie. „Das ist wirklich nicht schwer zu erraten, wo du gestern warst. Außerdem ...“ Sie machte eine kurze Pause. „Außerdem hat gestern Abend zum ersten Mal seit sieben Monden der gute Emblar nicht unter meinem Baumhaus die Flöte gespielt.“

Ask runzelte die Stirn. „Du bist viel zu schade für den“, knurrte er.

Tenella lachte. Wie alle jungen Frauen im heiratsfähigen Alter hatte sie vor einiger Zeit ihr eigenes Baumhaus am Rand des Dorfs bezogen. Ask war stolz auf seine große Schwester. Die schlanke Jägerin mit den sonnenfarbenen Zöpfen war mit Abstand die Schönste aller Jaran-Dem. Sie hatte sich nicht nur als ausgezeichnete Schützin hervorgetan, sondern vor allem auch die Alten als geschickteste Bogenbauerin des Dorfs in Erstaunen versetzt. Der Mann, der die bekam, würde als König der Jäger gefeiert werden, da war Ask sicher. Viel zu schade für eine Ratte wie Emblar.

Der Junge wischte sich hastig die verschmierte Hand an seinem Kaninchenfellschurz ab. Ein taubes Gefühl wallte in seinem Kopf aufwärts und ließ ihn taumeln, doch er fing sich sofort wieder.

„Setz dich“, befahl Tenella. Aus ihrer Gürteltasche kramte sie einige Pfefferminzblätter hervor. „Da, kau das.“ Als sie sich Ask gegenüber ins Gras kauerte, hatte sie bereits ein Töpfchen mit Fett und einen Fellstreifen hervorgezogen. „So, nun wollen wir dich mal wieder zu einem ordentlichen Menschen machen“, lächelte sie.

„Danke“, stieß Ask zwischen zwei Pfefferminzblättern hervor. „Du glaubst gar nicht, wie hundeelend es einem als Junger Dachs sein kann.“

„Ach was“, grinste Tenella. „Was denkst du wohl, haben sie damals mit mir angestellt, als ich zu den Töchtern der Luft kam?“

Tenella hatte ganze Arbeit geleistet, als Ask wenig später im Licht der Morgensonne ins Dorf zurückkehrte. Die Kinder der Waldwohner wichen achtungsvoll vor ihm zurück, und in Rowans Augen glaubte er tatsächlich, so etwas wie Stolz auf den älteren Bruder aufblitzen zu sehen.

Toxaris, der Häuptling des Dorfes, blickte ihm ernst entgegen, als der junge Mann am dünnen Knotenseil ins Baumhaus geklettert kam. Der Jäger hockte gelassen im Eingang der Hütte und schmauchte genüsslich sein Sitang-Pfeifchen. Mit einer einladenden Handbewegung wies er dem Sohn den Platz neben sich zu.

Ask sank schweigend auf die polierten Buchenplanken nieder und hoffte nur, sein Vater würde ihm nicht die Pfeife anbieten. Toxaris schien es zu spüren. Er zwinkerte, und Dutzende von Krähenfüßen zeichneten sich um seine Augen herum ab. „Wenn du dich das nächste Mal in den Bach erbrichst, wähle bitte eine Stelle unterhalb des Dorfes“, mahnte er. „Das Trinkwasser wird dadurch nicht besser.“

Ask senkte den Kopf. „Ich will daran denken.“

„Nun zu gestern Nacht“, fuhr der Häuptling, ernster geworden, fort. „Grenoak hat mir vorhin berichtet. Ich habe ein ernstes Wort mit ihm gesprochen. Mutproben sind wichtig, aber die heiligen Stätten unserer Brüder zu schänden, gehört nicht zu den Aufgaben der Jungen Dachse.“ Er nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife. Ask schwieg betreten und dachte an den Stamm der Haran-Dem, dessen Gebiet an das der Jaran-Dem grenzte. „Zeig mir den Stein.“

Ask zog den Stein hervor. Das faustgroße Felsstück, das auf seinem Handteller ruhte, war vollkommen schwarz. Schwarz wie die Schwinge eines Raben, wie die Augen eines Raben, schwärzer als der Nachthimmel in den mondlosen Zeiten. Die Oberfläche war glatt poliert und glänzte wie schwarzes Blut im Morgenlicht. Ask fuhr mit dem Zeigefinger über die obere Kante des Dreiecksteins, den die Winde von Jahrhunderten blankgeschliffen haben mochten. Die feingerundete Rückenlinie teilte sich an der höchsten Stelle in zwei kürzere, gleichfalls rundpolierte Kanten, die eine wenige Finger breite Fläche umschlossen. Zwei daumenstarke Vertiefungen waren hier in den Stein gegraben worden.

Toxaris nahm den Felsbrocken an sich. Als er ihn in der Hand drehte, fiel Asks Blick auf die Unterseite. Risse, Sprünge, etwas schorfiges Steinmehl, dann die glatte Abrisskante waren zu sehen an der Stelle, an der er den schwarzen Stein aus der Wand geschlagen hatte. Ask schauerte. In dem Moment, als er seine Beute in der Gürteltasche verstaut hatte, waren über ihm die Lichter aufgeflammt. Tausend böse Dämonenaugen, gelb wie Wolfsaugen, hatten zu ihm herab gestarrt.

Toxaris sagte noch immer nichts. Prüfend hielt er den Stein ins Licht, wog ihn in der Hand, als wolle er das Gewicht einer Wisentkeule bestimmen. Sein Gesicht blieb starr wie eine Maske. Nur die Flügel der Nase bewegten sich gleichmäßig bei seinen Atemzügen. Endlich räusperte sich der Häuptling. „Ja, es ist wahr“, sagte er ruhig. „Nur an einem Ort im Gebirge findet man diesen schwarzen Mitternachtsstein.“ Er schwieg. Dann blickte er seinen Sohn ernst an. „Du hast einem ihrer Götter die Nase abgeschlagen, Ask.“

*

Bumm. Bumm. Badumbadumm. Bumm ...

Sein Herz schlug bis zum Halse. Fast meinte er, die Schlagader müsse platzen, so sehr pumpte und rauschte das Blut in ihm. Schweiß brach ihm aus. Wohin? Schatten schienen nach ihm zu greifen. Dunkle Baumriesen drängten sich dichter und dichter an ihn heran wie böse schwarze Geister. Ask zitterte. Kaum wagte er es, einen Fuß zu heben. Stolperte dann unsicher vorwärts über Laub und knackende Zweige. Sein Atem ging rasselnd und keuchend. Stoßweise. Und noch immer dröhnte der Herzschlag in seinen Ohren wie eine dunkle Schamanentrommel. Vorwärts, nur vorwärts, wies er sich selbst zurecht. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schaum vom Mund und hastete weiter durch die Nacht. Raue Baumstämme streiften seine Arme, Dornenranken schlangen sich um seine Füße, doch er riss sich los und stolperte voran.

Wo war das Käuzchen? Schaudernd dachte er an den lautlosen Flügelschlag der unheimlichen Eule. Und doch, wenn es doch nur das Käuzchen wäre, das hinter ihm her war.

Wieder prallte er gegen einen borkigen Stamm. Er stieß einen entsetzten Schrei aus und schlug sich gleich darauf mit der Hand auf den Mund. Hatte der Waldalte ihn gehört? Keuchend fuhr er herum. Nichts. Wieder schrie er auf. Der giftige Atem des Waldalten hatte seinen Nacken gestreift. Er sprang auf und stürzte in irrsinniger Flucht davon, tiefer in den Wald, immer tiefer hinein in das furchtbare Reich ohne Wiederkehr.

Plötzlich lichtete sich das Dickicht. Die Bäume traten auseinander, durch ihre Kronen drang ein dünner Strahl Sternenlicht. Götter! Das Licht machte dies alles nur noch grausiger, böser, verzerrte Schatten waberten heran, sie schienen nach ihm zu greifen. Seine Lunge schlug, als wolle sie zerplatzen. Bumm. Bumm. Badumm. War das sein Herz? Oder schlug der Waldalte die Trommel und hetzte seine grausamen Schatten auf ihn?

Da veränderte sich der Boden unter ihm. Seine Füße traten auf harten, kalten Stein. Scharfkantige Felssplitter stachen in seine nackten Fußsohlen.

Dort. Dort war es.

Als er die Felswand vor sich aufragen sah, wäre er beinahe in die Knie gebrochen. Schwarz und mitleidlos ragte sie in die Unendlichkeit auf, selbst das Sternenlicht wurde von dieser himmelhoch ansteigenden Mauer aus Schwärze geschluckt. Die Dämonenklippen. Er taumelte.

Selbst der furchtbare Waldalte würde sich dereinst den Dämonen der Felsklippe unterwerfen müssen. Ask spürte den mächtigen, bösen Zauber, den diese schwarze Wand ausstrahlte. Tod, Nacht, verflucht bis ans Ende aller Sterne. Er zitterte. So sehr zitterte die Hand, dass er es nicht fertigbrachte, sie nach der verfluchten Wand auszustrecken. Doch dann biss er die Zähne zusammen. Ängstlich, jederzeit den Blitzschlag der bösen Götter erwartend, näherte er sich. Die Lunge pfiff, die Halsschlagader drohte zu platzen, und noch immer schwoll der Rhythmus der Trommel in seinen Ohren an. Dann berührten seine Fingerspitzen die Wand, ertasteten kalten, harten Stein, glatter als Wasser, härter als Hainbuchenholz, kälter als jedes Eis im Winter. Ein Griff ins Antlitz des Dämons. Du bist Stein, flüsterte er beschwörend. Wer sollte das glauben? Er selbst? Der Dämon? Immer noch zitterte seine Hand. Dann straffte sich sein Körper. Ein echter Waldwohner kennt keine Angst, flüsterte er. Er hob einen Stein vom Boden auf. Dann schlug er zu. Einmal. Zweimal. Dreimal. Badumm. Badumm. Krachend sprang ein Stück Nacht aus der Wand. Er griff zu, fing es im Fallen auf. Fast hätte der kalte Stein ihm die Hand verbrannt. In diesem Augenblick ertönte ein lautes Heulen. Tausend gelbe Augen taten sich auf und starrten ihn an. Die Dämonen waren erwacht.

Ask schrie.

Schrie.

Schrie.

Böse gelbe Bernsteinaugen funkelten ihn aus der Fratze des Bärendämons an. Badumm, Badumm, schlug die Trommel noch immer. Der schwere Geruch von Sitang und Blutwurzeln drückte ihn nieder. Bitterkeit breitete sich in seinem Mund aus.

Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel und den beißenden Qualm im Erdbau des Medizinmanns. Das ist Yggr, nur Yggr, der alte Schamane, ermahnte er sich selbst. Kein Bärendämon und Seelenfresser. Doch er glaubte es nicht. Zitternd und schweißüberströmt lag der nackte Junge auf der Felldecke und starrte mit angstweiten Augen auf den Unhold, der vor seinem Lager stand und düstere Beschwörungen sang.

„Ich habe gesehen“, knurrte es dumpf unter dem Bärenschädel. „Ich habe gesehen mit deinen Augen, Ask. Frevel habe ich gesehen. Unheil, das du heraufbeschworen hast. Unheil, das uns alle treffen wird, wenn die Geister nicht versöhnt werden.“ Der Bär brach in ein schrilles Heulen aus. Ask presste sich entsetzt die Hände auf die Ohren. Er schrie auf, als der Bär ihn berührte, heulte und wimmerte im Einklang mit dem dunklen Dämon, der vielleicht Yggr war.

Die Trommel schlug lauter. Immer lauter dröhnte das Holz unter den Händen Emblars, der bei dem Zauberer Hilfsdienste versah.

Der Blick auf den Jungen brachte Ask wieder zu sich. Auf keinen Fall durfte der Schwätzer den Jungen Dachsen erzählen, Ask habe vor Angst gezittert.

„Was ist also zu tun?“, fragte er den Bärengeist mit fester Stimme. „Wie kann ich die Dämonen der schwarzen Klippen wieder versöhnen, welches Opfer fordern sie für meinen Frevel?“

„Tapfer gesprochen, kleiner Jäger“, knurrte es unter dem Bärenschädel hervor. „Das ist gut, denn du wirst alle Tapferkeit brauchen, um die Geister zur Ruhe zu bringen und ihren Zorn von uns abzuwenden.“ Wieder stieß der Bär ein Heulen aus, lauter und durchdringender noch als zuvor. „Lauf! Lauf, kleiner Jäger, und wasche dich. Reinige deinen Körper im Bach. Ich will Zwiesprache mit den Geistern halten und um Gnade für deine Seele bitten. Lauf! Lauf hinaus ins Licht!“

Das musste er Ask nicht zweimal sagen. Der Junge sprang auf und stolperte zur Tür der Erdhütte hinaus. Schweißüberströmt blinzelte er ins Sonnenlicht. Gleißende Mittagssonne fiel auf die Lichtung und drohte ihm die Sehkraft aus den Augen zu brennen. Ask hob schützend die Hand vors Gesicht. Dann stolperte er los.

Ihm war zumute, als habe er tagelang nichts gegessen. Vielleicht war das sogar die Wahrheit. Vielleicht hatte er eine Woche lang in diesem furchtbaren Albtraum in der Medizinhütte gefangen gelegen, wer wusste das schon.

Mühsam schleppte er sich zum Bach. Stromabwärts vom Dorf, wie er sich noch rechtzeitig ins Bewusstsein rief. Er erreichte das Ufer, dann ließ er sich einfach fallen und plumpste bäuchlings in die Gehle Beeke. Das herbstlich kalte Wasser des gelben Bachs rief seine Lebensgeister wieder zurück. In hohem Bogen spuckte er die bittere Blutwurzel aus, die noch immer unter seiner Zunge lag. Fort mit dem Gewächs, das ihm die bösen Träume eingegeben hatte. Ask tauchte tief unter, bis seine Arme und Beine vor Kälte steif zu werden begannen. Erst dann stieg er aus dem Wasser, drehte sich in die Richtung der kühlen Herbstsonne und ließ die letzten Strahlen auf seine Brust glühen. Er schloss die Augen. Rote Wärme durchflutete ihn. Die Sonnentochter, das spürte er, sah mit freundlichem Blick auf die Jaran-Dem. Die Sonnentochter würde ihn vor den Dämonen der schwarzen Klippen schützen, wie sie auch den Waldalten vor dem Bösen gerettet hatte.

Zitternd rieb er sich mit Büscheln von Ufergras ab. Dann schlich er zurück ins väterliche Baumhaus, um seine Kleidung zu holen.

Der Tag des Gerichts brach schneller an, als Ask geahnt hatte. Innerhalb kürzester Frist waren die Abgesandten der anderen Sippen zum Lagerplatz seiner Familie geströmt. Berühmte Häuptlinge wie Arbor und Blutbuche waren gekommen, aber auch weise Frauen wie die hundertjährige Mink, aus deren zahllosen Runzeln ihn sonst immer die Strahlen von hundert Jahren der Sonnentochter angelächelt hatten. Doch jetzt blickte Mink ihn nur ernst und traurig aus ihren nachtschwarzen Augen an.

Arbor war eine besonders eindrucksvolle Erscheinung. Er überragte die meisten Jäger um mehr als Haupteslänge. Seine breite Brust wies fast so viele Narben auf wie Minks Gesicht Runzeln – Erinnerungszeichen an siegreiche Kämpfe mit Bären und Luchsen, denen der Häuptling oft sogar nur mit dem Messer bewaffnet entgegen getreten war. Bereits in jungen Jahren hatte ihm der Rat das Recht zuerkannt, sich mit Wisenthörnern zu schmücken. Die hellen Leggins aus Wisentleder waren an den Nähten mit Fischotterpelz verbrämt, ein nicht alltäglicher Schmuck, denn die scheuen und intelligenten Wassermarder ließen sich gewöhnlich nicht beschleichen und durchschauten Fallen sofort.

Ask seufzte. Im vorigen Jahr war Arbor Gast seines Vaters gewesen und hatte den Jungen einige Ratschläge für die Jagd gegeben. Doch nun würdigte der Jäger ihn keines Blickes. Dabei hätte ihm Ask so gern gezeigt, welche Fortschritte er mit dem Kaninchenbogen gemacht hatte. Doch das wäre nun wohl unangemessen.

Keiner der Ankömmlinge ließ Ask gegenüber auch nur ein Wort des Vorwurfs hören. Und doch war allein ihre Anwesenheit in einer Zeit, da jede Hand für die Jagd gebraucht wurde, Vorwurf genug. Der Herbst neigte sich dem Ende zu, jeder Streifen Dörrfleisch, der in diesen Tagen nicht getrocknet und eingelagert wurde, würde gegen Ende des Winters bitter fehlen.

Am Abend rief Emblars Trommel zum Gericht. Ask stand vor ihnen am Beratungsfeuer in der Mitte des Dorfes. Sich hinzusetzen war ihm in Gegenwart der Häuptlinge versagt. Sie alle hatten ihre Gesichter mit dem gelben Flusslehm bemalt, sodass es unmöglich war, aus ihren Mienen zu lesen. Arbor trug die Wisenthörner-Haube. Toxaris hatte eine Decke aus weißem Hirschfell umgelegt, die er nur zu besonderen Zeremonien trug. Auch die anderen Häuptlinge trugen ihre kostbarsten Auszeichnungen, sodass auch dem letzten klar werden musste: Dies war kein gewöhnliches Gericht.

Mit der rechten Hand tastete Ask nach dem kleinen Beutel aus Kaninchenfell, den er um den Hals trug. Der schwarze Stein war noch da und sandte böse Dämonenkälte in seine Fingerspitzen. Und doch war Ask auf eine seltsame Weise froh, ihn bei sich zu haben. Vielleicht war es gerade die Schuld, die ihm die Kraft zum Dableiben verlieh, dachte er.

Mit lautem Knurren sprang der Bärengeist auf ihn zu. Im flackernden Feuerschein wirkte Yggr noch wilder und bedrohlicher als in der düsteren Medizinhütte. Lodernde Flammen umzüngelten den Kopf des Bären, der ihn aus kalten gelben Augen fixierte. Yggr sprang mit lehmgelben Beinen über das Feuer, schüttelte seinen Rasselstab und stieß wütende Knurrlaute aus. Doch Ask hatte keine Angst mehr vor Dämonen. Er hatte einem von ihnen die Nase abgeschlagen.

„Ja, ich habe es getan, Bärengeist!“, rief er dem Untier entgegen. Er griff in den Fellbeutel und hielt den schwarzen Stein in die Höhe. „Hier ist der Stein. Ich bin bereit, die Geister zu versöhnen.“

Da trat der Bär nahe an ihn heran. Und plötzlich sah Ask unter dem Fell zwei schwarze Augen hasserfüllt funkeln, grausamer als der gelbe Bärenblick jemals sein könnte. „Hüte deine Spötterzunge, Knabe. Niemand fordert ungestraft die Götter heraus!“, zischte Yggr.

Als sei nichts geschehen, tänzelte der Bär weiter um ihn herum, tappte hinüber zu den Häuptlingen und blieb vor Toxaris stehen. Der Rasselstab beschrieb einen Halbkreis und richtete sich dann wie eine Lanze auf Asks Brust.

„Die Götter klagen an!“, schrie der Bärengeist mit schriller, überkippender Stimme. „Der Knabe ist unrein! Unrein! Er hat gefrevelt und die Dämonen herausgefordert. Buße muss er tun, Buße! Sonst wird das Waldvolk ausgelöscht und alles, was mit ihm verwandt ist.“

Unter der Lehmschicht schien sich kein Muskel im Gesicht des Häuptlings zu regen. Ask beobachtete seinen Vater genau. Was mochten er und die anderen denken?

„Das ist der Grund unseres Hierseins, Yggr.“ Toxaris hatte die Stimme kaum erhoben. Arbor und Blutbuche nickten zustimmend.

„So sage uns, Heiliger Mann, was haben die Götter zu dir gesprochen?“, forderte Linda. „Was haben sie verhängt über meinen Enkel?“

Yggr wiegte den massigen Bärenschädel hin und her. Ask spürte, wie der Schamane die Situation genoss. „Die Götter!“, rief er mit heller Fistelstimme, dass Ask ein Schauer über den Rücken fuhr. „Die Götter sind verletzt und erzürnt, wie sie es noch niemals seit Anbeginn des Waldes waren. Nur das größte und mächtigste Tier, nur der stärkste aller Zauber, der heiligste aller Schutzgeister kann den Knaben und uns alle reinwaschen und ihren Zorn besänftigen.“

Unruhiges Gemurmel lief durch die Reihen.

„Was heißt das?“, fragte Toxaris. Ein schmaler Riss entstand auf der rechten Wange des Lehmgesichts. „Erkläre dich, Yggr.“

„Das bedeutet: Nur der Geist des Bären kann Ask noch retten.“

„Das ist doch ...“, brauste Mink auf. Doch der Schamane blitzte sie aus funkelnden Bärenaugen an. „Das ist das Einzige“, zischte er. „Das einzige Mittel, das die Götter bewegen kann, uns zu begnadigen.“

„Ich verstehe noch immer nicht“, sagte Toxaris ruhig. Lehm bröckelte von seiner Oberlippe und von den Nasenflügeln. „Wenn es um eine Bärenbeschwörung geht, nun, so zieh deine Kreise, Yggr, und singe deine Lieder für den Jungen.“

Da lachte Yggr wild und hämisch auf. „Du täppischer Järv! Nicht ich, Ask selbst muss sich dem Bärengeist entgegenstellen. Einen Braunbären soll er erlegen und das Fell und die Zähne den schwarzen Dämonen zum Opfer bringen. Das ist die Sühne für seinen Frevel!“

„Der Junge ist gerade mal vierzehn Sonnen alt!“, begehrte Linda auf.

„Alt genug, um Götter zu verletzen.“

„Und ein Tauschopfer?“, schaltete sich Mink ein. „Was ist mit dem Tauschopfer? Erinnere dich, Yggr, damals in der Hungerszeit vor sieben Sonnen. Als es kein Dörrfleisch gab und die Kinder weinten vor Hunger. Da brachten die Jaran-Dem nur alte Lederstreifen dar, und die Götter waren zufrieden. Es ist gute Tradition, in Zeiten der Not ein minderes Opfer zu geben, das anstelle des guten und wertvollen gelten kann. Wir wollen den Jungen loskaufen.“

Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Arbor und Blutbuche nickten beifällig.

Da trat Yggr so dicht an die alte Mink heran, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. Leise wie Geisterflüstern sprach er. Und doch klangen seine Worte wie Donnerschall über die Versammlung. „Das ist bereits das Tauschopfer.“

Ask taumelte. Erst jetzt begriff er, dass die Götter sein Leben gefordert hatten. Wenn er sich nicht an dem Stein festgehalten hätte, er wäre gestrauchelt.

Toxaris fuhr sich mit der Hand über die Wange. Lehm fiel herab und gab den Blick auf die Haut frei. Sie war kalkweiß. Doch sein Blick war hart und fest, als er sich auf den Medizinmann richtete. „Wenn es so ist, Schamane, dann wird mein Sohn morgen früh ausziehen, um den Bären zu töten. Die Götter werden nicht sagen können, einer von uns habe seine Schuld nicht beglichen.“

Ask hörte dem gleichmütig zu. Er drehte nur den schwarzen Stein in der Hand.

*

„Du gehst den Bären auf keinen Fall mit dem Messer an, hörst du? Bei deiner Größe langst du doch nicht bis zum Herzen hinauf, und alles andere würde ihn nur wütend machen.“

Ask nickte stumm. Arbor gab sich redliche Mühe, ihm die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, derer ein Bärenjäger bedurfte. Doch wie sollte Arbor alles Wissen, das er in den letzten fünfzehn Jahren erworben hatte, in nur einer Nacht in Asks Kopf hineinbekommen? Und von dort aus in Asks Hände und Arme, seine Beine und Augen? Ein Bärenjäger wurde man nicht über Nacht. Schon gar nicht, wenn man bisher nur mit Kinderpfeilen auf Vögel und Kaninchen geschossen hatte.

„Wenn du ihm doch mit dem Messer begegnen solltest ...“ Arbor sah ihn besorgt an. Doch dann ruckte sein Kopf energisch hoch, eine Bewegung, mit der er sich selbst und dem Jungen Mut machen wollte. „Du darfst keine Angst haben. Für jeden ist es irgendwann das erste Mal. Aber egal, was auch passiert: Du darfst niemals weglaufen, niemals, hörst du? Der Braune ist schneller als jeder Mensch, er würde dich schon nach wenigen Sprüngen eingeholt haben. Also, nicht weglaufen, Ask. Und halte dich auf seiner linken Seite, wenn immer es möglich ist. Der Höhlenbär ist Linkshänder, es ist also etwas ungefährlicher, ihn von dieser Seite aus anzugehen, da er mit der Tatze dann nicht weit genug ausholen kann.“ Arbor lächelte ihn mit freundlicher Verzweiflung an. „Auch wenn es bei einem Bären eigentlich keine ungefährlichen Seiten gibt.“

Ask hatte es geahnt. Er umklammerte seinen Brustbeutel, in dem der schwarze Stein ruhte. Ob die Götternase ihm auf der Jagd beistehen würde? Im Interesse der schwarzen Dämonen lag es ja, schließlich ging es um ihr Opfer, um ihre Wiedergutmachung für die Verletzung ihrer Klippe. Oder würden die schwarzen Götter ihn erbarmungslos ins Verderben stürzen lassen und dann seine Seele für immer in der Steinwand gefangen halten? Wer wusste schon, wie es die fremden Götter des Nachbarvolks mit den Menschen hielten?

„Ask, hörst du mir überhaupt zu?“

Ask fuhr schuldbewusst zusammen. Es ging hier nicht um irgendwelche Lehrsätze Yggrs zum Verhalten gegenüber harmlosen Baumgeistern. „Doch, natürlich höre ich zu“, beeilte er sich zu versichern. „Nie weglaufen. Keine Angst haben. Von links zustechen.“

Arbor seufzte. Im Mondschein sah Ask auf die eindrucksvolle Narbe auf der rechten Schulter des Jägers. Arbor hatte ihre Umrisse mit blauem und rotem Beerensaft nachgezeichnet. Mit Bären war nicht zu spaßen.

„Richtig. Niemals weglaufen. Das ist immer die falsche Lösung. Auch wenn der Bär plötzlich vor dir auftaucht und du gar nicht zum Schuss bereit bist und kein Messer bei dir hast. Was tust du dann?“

Ask blickte ihn ratlos an.

„Wenn du wegläufst, holt er dich ein. Wenn du auf einen Baum kletterst, schüttelt er dich herunter. Aber wenn du ganz ruhig mit ihm sprichst, lässt er dich vielleicht leben.“

„Ich soll mit ihm – sprechen?“

Arbor nickte ernst. „Vergiss es nie, dass die Bären und die Jaran-Dem einmal Brüder waren. Der Braune ist nicht wie der Hirsch oder das Wisent, er geht auf zwei Beinen wie wir, er jagt wie wir, und in seiner Seele brennt das Sonnenfeuer wie in den Jaran-Dem. Es ist ein guter Geist, der in dem Braunen wohnt, auch wenn er wild und gefährlich ist. Der Bär ist der einzige Geist, der für einen Menschen gelten kann, Ask. Nur darum kann er bei den Klippendämonen für dich einstehen, vergiss das nie.“

Der Jäger machte eine bedeutungsvolle Pause.

Ein Käuzchen strich über die beiden Waldwohner hinweg.

„Wenn du einen Bären tötest, ist es, als ob du einen Bruder tötest. Und deshalb darfst du ihn niemals angehen, ohne ihm deinen Respekt zu erweisen. Du darfst im Dickicht auf den Hirsch und das Reh lauern, du darfst den Wisent und den Auerochsen beschleichen. Aber den Bären darfst du nie von hinten angreifen. Ihm musst du dich immer zeigen. Wenn du seinen breiten Rücken vor dir siehst, wenn der Pfeil schon in der Sehne liegt, ganz egal, wie gut deine Schussposition ist, du rufst ihn an: ‚Obacht, Bruder Bär!‘ Und dann schießt du.“ Ein dunkler Schatten glitt über das Gesicht des Jägers. „Allerdings nicht mit diesem Kinderspielzeug.“

Er stand auf und griff nach Asks Bogen, drehte ihn verächtlich in der Hand und warf ihn ins Gebüsch. Er stutzte, als er die Waffe nicht niederfallen hörte. Doch dann trat Tenella aus dem Dunkel hervor. In der Hand hielt sie den Bogen, den sie gefangen hatte.

„Da hast du recht, Arbor. Doch mach mir den Bogen nicht schlecht. Er ist ein gutes Gerät. Für Kinder.“

„Tenella!“, rief Ask froh.

Es war gut, die Schwester noch einmal zu sehen, bevor er aufbrach. Und der Bogen in ihrer Hand, nicht der Kinderbogen in ihrer Rechten, sondern der dunkle, größere in ihrer Linken, hatte etwas Tröstliches. Ask hatte gewusst, dass sie ihn nicht mit dem kleinen Kaninchentöter ziehen lassen würde. Auch wenn er als Vierzehnjähriger noch nicht die Kraft hatte, die schweren Jagdbogen der Erwachsenen zu spannen.

Arbor nickte Tenella zu und trat beiseite. Bei den Jaran-Dem wusste man, wann die Familie allein sein wollte.

„Rowan wird sich freuen über den neuen Kaninchentöter“, lächelte Tenella. Ihr blondes Haar leuchtete im Mondlicht, und wieder ärgerte sich Ask, dass das schönste Mädchen der Waldwohner wohl dem Emblar in seine Hütte folgen würde. Arbor hätte er sie eher gegönnt.

„Arbor ist ein guter Bärenjäger“, sagte er und hatte Mühe, den Kloß im Hals herunterzuschlucken. „Er hat mir alles erzählt, was er über den Braunen weiß.“

„In einer halben Nacht?“ Tenella lächelte flüchtig, wurde jedoch schnell wieder ernst. „Ich bin überzeugt, er hat getan, was er konnte.“

Sie hob den Bogen ins Mondlicht. Ask sog den Atem tief ein. Der Bogen war größer als sein Kinderbogen, doch war das Holz gut zwei Handspannen kürzer als bei den Waffen der Erwachsenen. Das dunkle, polierte Holz schimmerte geheimnisvoll, als Tenella es im Licht drehte.

„Er ist wunderschön“, flüsterte Ask.

„Versuch, ob du ihn spannen kannst.“

Der Aufforderung hätte es kaum bedurft. Ask streckte die Hand aus. Seine Finger schlossen sich um das Holz. Es war, als berührten sie etwas Lebendiges. Als ginge ein warmer Lebenspuls von dem Holz aus. Doch nein, eher so, als rauschte sein eigenes Blut in dem Holz, und als sei der Bogen ein Teil von ihm. Ein gutes Gefühl.

Ask streckte den linken Arm von sich. Dann legte er Zeige- und Mittelfinger der Rechten um die Sehne. Ein Erwachsenengriff. Längst griff er nicht mehr mit Daumen und Zeigefinger nach dem Pfeilschaft, wie es Kinder taten. Er spürte die Sehne in den Fingergelenken liegen. Dann zog er sie langsam durch. Langsam und kraftvoll, jeden Fingerbreit auskostend, bis die Hand sein Gesicht berührte, und noch weiter, bis der Pfeil, wenn er einen eingelegt hätte, an seiner Wange geruht hätte. Ungeheure Kräfte ballten sich in diesem Bogen, bereit zum Losschnellen, bereit, den Pfeil fliegen zu lassen bis zu den Sternen. Ask spürte, wie die Kraft des Bogens ihn durchflutete. Noch niemals war er sich so stark und stolz vorgekommen wie in dieser Nacht, als er den neuen Bogen spannte.

„Twäng!“

Der Laut, mit dem die Sehne zurückschnellte, ließ seine Seele vibrieren. Er sah Tenella an. Die nickte zufrieden.

„Ich wusste, du würdest ihn spannen können. Er ist noch nicht ganz so stark wie ein Erwachsenenbogen, aber seine Durchschlagkraft ist doch recht hoch. Ich habe ihn vor ein paar Monden erprobt. Ein Wisentfell durchdringt er ohne Mühe.“

„Vor ein paar Monden schon?“ Ask runzelte die Stirn. „Wie hast du wissen können ...?“

„Ich wusste es nicht. Es war wohl die Sonnentochter, die mich an dem Tag zu der kleinen Eibe geführt hat. Vielleicht sogar der Waldalte selbst. Ich sah den Baum und wusste: Daraus machst du einen Bogen, etwas kleiner als sonst, aber stark genug, einen Bären zu töten. Einen Bärenbogen für einen kleinen Jäger. Und ich hatte recht. Nun wird er gebraucht.“