Ein Riesenthema - Lilli Susann Eth - E-Book

Ein Riesenthema E-Book

Lilli Susann Eth

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Beschreibung

Benjamin, IT-Berater mit einer Vorliebe für schnelle Autos, ist mit seinem Leben ganz zufrieden. Ein Unfall mit seinem roten Flitzer ändert jedoch alles, findet er sich doch plötzlich in Gesellschaft von Engeln und Außerirdischen wieder, die ihn für ein ganz besonderes Projekt an Bord holen. Die Mission ist so simpel wie kompliziert: Liebe und Heilung für die Menschen. Damit dieser kosmische Plan gelingt, muss sich Benjamin der Unterscheidung von Licht und Dunkel stellen und auch selbst von Ängsten entgiftet werden. Dies gelingt am besten in der Außenstelle der sogenannten Quarsianer: in Benjamins Garten. Dass die Fortschritte der Friedensmission vorzugsweise bei einer Flasche irdischen Biers besprochen werden, spricht jedenfalls für den guten Geschmack der Außerirdischen …

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Seitenzahl: 442

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-292-6

ISBN e-book: 978-3-99130-293-3

Lektorat: Dr. Angelika Moser

Umschlagfotos: Psychoshadowmaker; Bulat Silvia | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Danksagung

Für die Unterstützung möchte ich mich bei meinen lieben Freunden Petra und Stefan von Herzen bedanken. Ohne eure Ermutigung gäbe es dieses Buch nicht.

Prolog

Es war zu der Zeit, als es noch Riesen auf der Erde gab, da saß ein Mann mit rötlich knubbeliger Nase unter seinem Baum und beobachtete das Schauspiel einer der untergehenden Sonnen. Die Sonne ergoss ihre tanzenden Lichtstrahlen in das bewohnte Tal, das zwischen ihr und dem Riesen auf der Bank am Berg lag. Nachdem das warme rote Abendlicht in ein bläuliches Dunkel gewechselt hatte, erhob der Riese sich von der Bank. Sein Körper war schwer. Er war ungefähr sechs Meter hochgewachsen und sein Gang war von der harten körperlichen Arbeit gezeichnet wie sein Gesicht vom übermäßigen Genuss des von ihm vorzüglich gekelterten Weines. Im Haus wartete seine Frau auf ihn. Sie stellte ihm das Essen hin und wünschte ihm etwas harsch und wortkarg einen guten Appetit. Sie waren bereits unendlich viele Jahre verheiratet. Einst liebte sie ihn sehr und gebar zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Beide Kinder lebten nun mit den Enkelkindern im Tal. Schon früh in der Ehe hatte ihr Mann mit dem Trinken angefangen. Der Alkohol ließ ihn ungnädig werden. So wurde er zu ihr, aber auch zu den Kindern immer abweisender, wenn er getrunken hatte. Er reagierte ungerecht und weiter wollte sie gar nicht mehr denken. Es war ihr Schicksal, dass es keine Scheidung gab im Land der Riesen – so blieb das Paar in seiner Gemeinschaft verbunden. Die Riesin räumte noch die Küche auf und ging dann nach draußen, wo sich in einem angegliederten Häuschen ein Plumpsklo für die Notdurft und klares Wasser aus dem Brunnen für die körperliche Reinigung befanden. Bald nachdem seine Frau ins Bett gegangen war, folgte der Riese ihr und legte sich schlafen. Mitten in der Nacht fühlte er eine Berührung – es war wie ein sanftes Anstupsen an seinem Arm. Als er die Augen öffnete, stand ein großer weißer Engel vor ihm und sagte: „Komm mit mir, Hubert“, so hieß der Riese nämlich, „du hast es geschafft.“

Hubert folgte dem Engel wie in Trance, er bemerkte kaum, dass er über dem Boden schwebte. Als er sich umsah, beobachtete er verwirrt, dass sein Körper noch im Bett lag, und seine Frau daneben ruhig atmete und fest schlief. Er flüsterte dem Engel zu, dass er nicht gehen könne, solange sein Körper noch im Bett läge. Der große weiße Engel stellte sich nun Hubert als Azrael vor und erklärte ihm, dass er, Hubert, verstorben sei, den Körper nun hier auf der Erde zurückließe und erst mal nach Hause kommen könne. „Ja, aber ich muss mich doch von meiner Frau verabschieden“, wandte Hubert ein. „Sie wird dich wohl nicht hören, sie schläft fest“, antwortete der Engel Azrael sanft. Huberts Geist versuchte noch, seine Frau zu wecken, was ihm aber nicht gelang. Wie aus dem Nichts strahlte eine weiße Lichtsäule ins Schlafzimmer, um den Engel und seinen Schützling in das Seelenzimmer Huberts zu geleiten.

Der Seelenraum war recht dunkel gehalten, braune und graue Töne dominierten das Zimmer und Hubert fühlte sich zu Hause. Den drei Wesen, die dort auf ihn warteten, verkündete er nach herzlicher Begrüßung entschieden: „Glaubt nicht, dass ich noch einmal auf die Erde gehe.“ Ihm hatte die Reise mit seinem Engel durch ein helles weißes Licht bis hierher sehr gefallen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich zuvor so schmerzfrei und leicht gefühlt zu haben. Zwar hatte er einen helleren Raum oder vielleicht einen Garten als Ankunftsziel seiner Reise erwartet und nicht diese düstere Umgebung, aber er fühlte sich hier geborgen. Zufrieden machte er es sich bequem und schaute sich um: War das alles wahr, was er so erlebte, sah und hörte? Wie konnte so etwas sein, wenn er doch tot war?

Der Engel zog einen Vorhang zur Seite und ermöglichte Hubert so, auf einer Leinwand dabei zuzusehen, wie seine Frau aufwachte. Sie stand ganz leise auf, öffnete geräuschlos die Tür und machte Feuer in der Küche. Hubert war sehr berührt davon, wie liebevoll seine Frau nach all den Jahren noch immer den Morgen vorbereitete und fragte sich, wann er aufgehört hatte, ihre Fürsorglichkeit zu bemerken. Nachdem das Frühstück fast fertig war, ging sie zurück ins Schlafzimmer, um ihn zu wecken. Dann erst bemerkte sie, dass er tot war. Hilflos klang ihr Aufschrei, als sie nach den Nachbarn rief.

Er fühlte einen Sog, verwandelte sich in eine weiße Kugel und fand sich im Haus seines Sohnes wieder. Ein Nachbar ließ Georg, seinen Sohn, wissen, dass der Vater gestorben war und er umgehend seine Mutter unterstützen möge. „Ach, der alte Säufer hat das Feld geräumt“, konstatierte sein Sohn nüchtern. Während er ein frisch gegerbtes braunes Ziegenfell für seine Mutter einpackte, bemerkte er gelassen zu seiner Frau: „Die Mini-Mensch-Population wird die Nachricht von seinem Tod richtig feiern. Vielleicht wird nun wieder mehr Frieden und auch Vergebung möglich zwischen den Mini-Menschen und uns.“

Kurz danach war auch die Tochter des Riesens Hubert über seinen Tod informiert und machte sich aus dem Nachbartal auf den Weg zum Elternhaus auf den Berg. Ihre Kinder brachte sie schnell zu guten Freunden und hinterließ ihrem Mann eine Nachricht. Bergauf dachte Charlotte, so hieß die Tochter des Riesen Hubert, an die schönen Situationen mit ihrem Vater und auch daran, wie ihr Vater sein konnte, wenn er zu viel vom Wein getrunken hatte. Die Angst vor seiner Unberechenbarkeit steckte noch heute in jeder Zelle ihres Körpers.

„Dabei hatten sie es doch gut, viel besser als ich, oder nicht?“ Hubert fühlte, wie Wut in ihm aufstieg. Er selbst war in Armut aufgewachsen, Missernten und darauffolgender Hunger ließen seine Eltern verzweifeln. Mutlos wurden sie ihm in einem kalten und lang andauernden Winter nacheinander genommen. Damals zählte er fast noch zu den Kindern, seine Erwachsenenrechte hatte er sich erst noch erkämpfen müssen. Es gab Riesen, die wollten ihm den verkümmerten Weinberg der Eltern wegnehmen und auch die armselige Hütte. Doch seine Mutter hatte ihm das Beten beigebracht und vielleicht war es das, was geholfen und ihm sein Heim erhalten hatte. Wer wusste das schon? Später dann hatte er den Glauben an himmlische Mächte verloren und hin und wieder lieber einen guten Schoppen getrunken. Vielleicht war er ja auch die höchste göttliche Macht gewesen, fragte er sich. Das schien ihm dann aber angesichts der Engel, die ihn geholt hatten, ein Irrtum zu sein. In die eigenen Gedanken versunken kam er bei seiner Hütte an.

Bei der Familienzusammenkunft stand er zunächst betreten schweigend im Raum, während seine Kinder das Begräbnis organisierten. Er schaute zu, wie das Haus trauergerecht gestaltet wurde, die Nachbarn sich von seinem Leichnam verabschiedeten und wie seine liebe Frau versuchte, mit dem für sie Unaussprechlichen umzugehen.

Als Hubert in seinem Seelenraum eine Pause von der Familienzusammenkunft einlegte, erinnerte er sich, wie ihn der Wein immer wieder getröstet hatte und ihm später das Leben nur noch mit einem Glas aus seiner Ernte erträglich schien. Er konnte und wollte sich nicht gleichermaßen hart verurteilen, wie es seine Kinder taten, aber im Tod konnte er sich eingestehen, was ihm zu Lebzeiten unmöglich erschien: Ja, er war süchtig gewesen nach dem gegorenen Traubensaft.

Es schmerzte Hubert, dass seine beiden Kinder sich mehr an ihre Angst vor ihm erinnerten als an Zeiten des gemeinsamen Spielens. Sie hatten doch miteinander Spaß gehabt, oder nicht? Und die Mini-Menschen? Sie hatten ihn doch auch geärgert: Zuerst wollten sie Land, dann mehr Fleisch und schließlich auch Anteile seiner Traubenernte … er fand sie lästig wie Fliegen. Und dennoch wunderte er sich zugleich still, während er sich an Begegnungen mit den Mini-Menschen erinnerte, dass sie ihn derart ablehnten. Auch, so dachte er bei sich, hätten andere Riesen mit den Menschen noch Schlimmeres gemacht als er. Da er bei deren Machenschaften nicht mitmachen wollte, war er auch nie richtig in die Gemeinschaft der wirklich mächtigen Riesen aufgenommen worden. „Na ja“, überlegte er, „und meine Kinder dann ja auch nicht. Hatten die Menschen gar nicht gemerkt, dass es in manch’ einem anderen von einem Riesen beanspruchten Gebiet einiges schlimmer zugehen konnte als unter meinen Fittichen? Man konnte es als Riese auf der Erde auch nicht so wirklich richtig machen“, stellte er schließlich sich selbst bedauernd fest.

Hubert erinnerte sich, wie seine Frau später in der Ehe ihre Leichtigkeit und auch das Vertrauen in ihn verlor, vielleicht sogar die Liebe? Je mehr er sich seine letzten Lebensjahre anschaute, desto hilfloser fühlte er sich. Am liebsten hätte er auf der Beerdigung ein wenig herumgepoltert: die Kränze hochgenommen, gewebte Taschentücher aus den Händen geschnippt oder wenigstens kleine Steine durch die Luft fliegen lassen. Aber sein Engel schaute ihn sehr streng an und so ließ er es bleiben. Nach den Reden an seinem Grab fragte er seinen Engel schließlich nach einem Glas gefüllt mit dem erlösenden Traubenelixier. Reines Wasser sei erst einmal besser für ihn, meinte sein Engel nüchtern und bot ihm eine Aussprache an. Zurückgeworfen auf seine Gedanken und wenig bereit für ein tiefer gehendes Gespräch mit seinen Engeln beschloss er trotzig, nicht auf die Erde zurückkehren zu wollen, in seinem dunklen Seelenraum einfach sitzen zu bleiben und sich weder kleinen Abenteuern noch aufregenden Emotionen aussetzen zu wollen, nicht auf dieser Ebene, nicht auf Erden und auch sonst nirgendwo. So könne er wenigstens kein weiteres Mal in den Augen seiner Kinder und Mitriesen im Leben versagen.

Die Engel sahen sein Leid. Sie erklärten ihm, dass sich außerhalb seines Raumes ein wunderschöner Garten befand, in dem gut für ihn gesorgt würde, und er nur die Türen öffnen müsse. Aber er hielt sie geschlossen. Er fürchtete, dass die strahlende Himmelssonne in einem Garten eine Verlockung sein könnte und er vielleicht sogar Sehnsucht nach den wunderschönen multiplen Sonnenuntergängen der Erde bekäme. Dieser möglichen Selbstverführung wollte er entschieden widerstehen.

Sehr wünschten sich seine Engel, Hubert hätte schon zu Lebzeiten Einsicht und Tiefgang geübt, aber jetzt nahm er alles übermäßig ernst. Sie berieten sich, dass man den Seelen in Riesenkörpern ihre Empfindsamkeit weniger anmerke als den Mini-Menschen und dass der Schaden bei Fehlverhalten der Riesen gegenüber den Mini-Menschen so groß sei wie eben ihre Körpergröße. So verfügten sie, dass es mehr Sinn mache, in künftigen Zeiten die Erde nicht mehr mit Riesen, sondern nur mit Menschen zu bevölkern. Den Seelen der Riesen wurde angeboten, die Erde als Mensch zu besuchen, um ein wenig Abwechslung aus dem himmlischen Paradies und den anderen Ebenen zu bekommen. Die meisten Seelen der Riesen hatten dem Wechsel der Spielregeln zugestimmt und kamen immer mal wieder als Mensch zurück auf den Planeten Erde.

Gefühlte Äonen später also machte die Familie des Riesen Hubert wieder einen Ausflug auf die Erde. Seine Enkelin und ihr Mann hatten sich schließlich für eine glückliche Mini-Mensch-Ehe gefunden und sehnten sich schon einige Jahre nach einem Kind, das sie mit ganzem Herzen lieben wollten. Die Engel sprachen immer wieder mit Hubert, denn er fehlte bei dem erneuten Familientreffen als Mensch. Er sollte schon länger wieder auf der Erde sein, aber er wollte einfach nicht hören und blieb in seinem Seelenraum sitzen, als könne er damit eine Auszeichnung für Stursein gewinnen.

Doch eines Tages fand sein Engel die richtigen Worte bei seinem einsam im Seelenzimmer sitzenden Schützling. Er sagte ihm: „Hubert, es ist nun wirklich Zeit, dass es weitergeht.“ Um ihm Mut zu machen, baute er fingerschnippend eine Heimkino-Leinwand auf und verfügte engagiert: „Film ab!“ Hubert hörte, wie sehr sich seine liebe Enkelin ein Kind wünschte und wie verzweifelt sie war, dass keines zu ihr kommen wollte. Sie und ihr Mann würden es sich so sehr wünschen. Über den Film bekam Hubert einen Eindruck vom Leben der Menschen auf der Erde: Es gab vierrädrige Fortbewegungsmittel, zweiflügelige Flugmaschinen, in vielen Gebieten Häuser statt Hütten und noch so vieles mehr zu sehen. Hubert staunte über all das, was er da anschauen durfte. Sollte er es wagen? „Unbedingt“, rief sein Engel, der die unausgesprochene Frage Huberts lesen konnte. „Sich auf die Erde zu trauen ist die erste Heldentat, zum Siegen bereit zu sein schon die zweite. Und jeder weitere Schritt auf Erden wird für dich von unseren Trompeten begleitet werden. Wir und alle eure Seelen haben viel gelernt durch die Reisen als Riesen und Menschen zur Erde. Wir wissen nun auch, wie schwer und verletzend es dort sein kann. Aber wir wissen ebenso, dass irdische Wälder, Berge und Flüsse, Wüsten und Steppen so wunderbar sind, dass sie dem himmlischen Paradies das Wasser reichen können. Du wirst deinen Frieden finden, wenn du freien Herzens zur Erde zurückkehrst und deiner Familie die Freude machst, wieder dazuzugehören. Gib’ euch allen eine Chance, es diesmal besser zu machen. Weißt du“, fuhr er im begeisterten Engels-O-Ton fort, „auf Erden zu sein ist ein Geschenk: Es ist spannender als hier, du kannst mehr lernen als auf anderen Planeten und ach, die Erde ist ein Wunder.“

Hubert wünschte sich, einmal so ein rotes Auto fahren zu können, wie es ihm gezeigt worden war, und er wollte mit diesen Fluggeräten die Welt bereisen. Er wollte leckere Eiscreme und bunten Kuchen essen. Auch auf dem Meer neben Delfinen zu segeln, wünschte er sich von ganzem Herzen. Da schaute ihm der Engel tief in die Augen und sagte mit leiser Stimme: „Das alles ist möglich, wenn du mit uns zusammenarbeitest.“ Hubert atmete tief durch. Er befürchtete, dass er auf Erden wieder nur auf der Suche verloren gehen könnte und dass die Erde für ihn kein Himmel sein würde. „Sie freuen sich so sehr auf dich. Wenn der Himmel nicht zu dir kommt, traue ich ihnen zu, dass sie ihn diesmal für dich persönlich herunterholen möchten“, scherzte der Engel nunmehr gut gelaunt und lachte seinen Schützling an. Als Hubert immer noch zögerte, schenkte ihm sein Engel ein Muttermal, das die Form seiner zwei Flügel hatte. Hubert betrachtete die Engelsflügel auf seiner Hand und stimmte nun einem neuen Leben auf Erden zu.

So wurde er seiner künftigen Mutter im Schlaf an die Verbindungsschnur zum Göttlichen eingewoben. Von diesem zauberhaft silbrig glänzenden Band sollte er im geeigneten Moment seine Reise als Mensch und Wunschkind auf Erden beginnen.

Das Muttermal

Als Melanie auf den Schwangerschaftstest schaute, konnte sie kaum atmen. Mächtige Emotionen durchfluteten sie: Erst Euphorie, kurz darauf Angst, dann wieder wollte sie vor Aufregung am liebsten in die Sonne beißen. Lange schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, schwanger zu werden. Den Krieg in ihrem Heimatland und ihre Flucht vor der Gewalt und Zerstörung hatte sie als junge Frau als erschöpfend empfunden. Als sie endlich im fremden Land Fuß gefasst, eine weitere Sprache erlernt, einen Beruf ergriffen und mit ihrem Mann ein neues Zuhause aufgebaut hatte, wurde ihnen die Erfüllung des Kinderwunsches versagt. Sie hatte darüber nachgedacht, mit künstlicher Befruchtung ein Kind zu bekommen, aber das Verfahren war noch wenig erforscht und zu teuer für sie beide. Sie wäre auch bereit gewesen, ein Kind zu adoptieren, doch für ein fremdes Baby wollte ihr Mann kein Vater sein.

Ihr Mann hatte sich nach all den Jahren längst damit abgefunden, eine kinderlose Ehe zu führen, so trauerte sie still und gab innerlich nach und nach auf. Als vor zwei Wochen ihre Periode ausblieb, verbot sie sich zunächst den Kauf eines Schwangerschaftstests. Dann hielt sie es nicht mehr aus und ging spontan in die Apotheke. Zu Hause angekommen, zog sie sich sofort auf die Toilette zurück. Als der zweite Strich auf dem Teststäbchen sichtbar wurde, schlug ihr Herz bis in den Hals. Endlich! Sie konnte ihr Glück nicht fassen und wenn doch, ihm zugleich auch nicht vertrauen.

Erst weitere zwei Wochen später, nach ärztlicher Bestätigung, wickelte sie das Teststäbchen gut ein, packte es in einen Karton, auf dem ein Storch abgebildet war, und überraschte damit ihren Mann. Er nahm die Nachricht freudig auf und umarmte sie zärtlich. Er brachte ihr nun häufiger Blumen mit, trug Einkäufe die Treppen zu ihrer Mietwohnung hoch und legte immer mal wieder seine Hände auf ihren Bauch, in der Hoffnung, einen kleinen Fußtritt des Babys spüren zu können. Zugleich brauchte er aber eine Weile, bis es ihm gelang, den zuvor fest angelegten Mantel der Gefühlstaubheit über die langjährige ungewollte Kinderlosigkeit in seinem Inneren abzustreifen.

Melanies Schwangerschaft verlief problemlos und der kleine Junge kam gesund zur Welt. Nach einem ersten Kreißsaal-Schock lag er ruhig in den Armen seiner Mutter und nahm ihre Liebe in sich auf. Auf dem Bändchen an seinem Arm wurde der Name „Benjamin“ notiert. Seine Eltern waren mehr als glücklich über die Geburt des Kleinen. Sie wollten, dass er es gut hat im Leben, und freuten sich darüber, dass er zufrieden schien. Zwar hatte die Hebamme noch besorgt auf die Hand des Babys geschaut. So ein großes Muttermal sah man selten auf der Haut eines Neugeborenen, doch die Ärzte versicherten, dass aus medizinischer Sicht nichts unternommen werden müsse. In seiner Wiege schien Benjamin sich sein Muttermal wie einen Schatz zu betrachten.

Beflügelte Freunde

Es soll hier nur in aller Kürze von der Kindheit Benjamins, der in seinem vorherigen Leben in der Familie als der Riese „Hubert“ bekannt war, berichtet werden. Denn seine eigentliche Mission und Lebensaufgabe wird sich ihm erst zu einem viel späteren Zeitpunkt offenbaren. Nämlich dann, wenn es um die Einlösung seiner himmlischen Absprache geht.

Die Freude über die Ankunft des Babys war groß und zugleich still, was daran lag, dass seine Eltern, insbesondere sein Vater, schon etwas älter waren. Sie waren erleichtert, dass Benjamin keine Geschwister zu vermissen schien. Er konnte als kleines Kind stundenlang allein in seinem Zimmer spielen und war dabei fröhlich und zufrieden. Seinen Eltern fiel auf, dass er sich mit imaginären Freunden unterhielt: Er sah dann so aus, als höre er aufmerksam zu, manchmal erhob er seine noch zarte und unausgebildete Stimmse, um seinen Beitrag in eine unsichtbare Runde zu geben, und dann wieder stocherte er mit seinem Zeigefinger in die Luft, als wolle er seinen Eltern etwas zeigen. Doch sie konnten dort, wohin er zeigte, nur die Einrichtung des Zimmers oder das beständige Grün der Wiese sehen. Jedenfalls war da, wo sein Fingerchen so angestrengt hindeutete, einfach so überhaupt gar nichts Bemerkenswertes für seine Eltern zu erkennen. Als er sprechen konnte, wollte ihr Sohn ihnen erklären, dass die Freunde um ihn nicht imaginär seien, dass vielmehr Menschen sie nur wegen ihrer Blindheit nicht sehen oder hören konnten. Argumenten seiner Eltern, dass es nur gäbe, was man anfassen oder wirklich sehen könne, begegnete er mit kindlicher Fassungslosigkeit und entschiedenem Kopfschütteln.

Da der Junge glücklich und ausgeglichen wirkte, wenn er sich mit seinen unsichtbaren Spielkameraden die Freizeit vertrieb, akzeptierten sie die Marotte ihres Kindes und ließen ihn von seinen imaginären Spielkameraden erzählen, die er seit einem gemeinsamen Besuch der Dorfkirche als Engel bezeichnete. Gerne beschrieb er seinen Eltern die farbige Kleidung seiner Engel und die Form ihrer Flügel. Bei aller Liebe und Toleranz blieb sein Vater aber skeptisch und erzählte jenen, die ein offenes Ohr für ihn hatten: „Ich weiß ja, dass man über Glaubensangelegenheiten nicht diskutieren soll. Aber dass mein Junior so jung dermaßen verbohrt an Engel glaubt …“, nach bedächtigem Luftholen fuhr er dann meist feststellend fort: „Das ist schon Hosenscheißer-Fanatismus!“

Im dörflichen Kindergarten hielt man Benjamin für klug, manchmal ließen ihn seine lieben Kindergärtnerinnen scherzend wissen, dass sie ihn für einen „vorwitzigen Naseweis hielten“. Er zweifelte daran, dass die Äußerung durch und durch freundlich gemeint war, und entschied gleich damals still für sich, dass er den Bemerkungen anderer Erwachsener weniger Beachtung schenken wollte. So war es für ihn einfach, Frieden zu finden.

Als er mit den anderen Kindergartenkindern zum Vatertag die Familie malen sollte, malte er seine Mutter auf der einen Seite, seinen Vater auf der anderen und sich in der Mitte. Eine Sonne, ein Baum und ein Auto kamen noch dazu. Dann, kurz entschlossen, malte er noch zwei Engel in die freien Ecken des Bildes. Seine zwei Betreuerinnen der Kindergruppe lachten beim Betrachten seines Bildes herzlich. Benjamin beobachtete die Kindergärtnerinnen in ihrer amüsierten Stimmungslage genau. Er fühlte, dass sie ihn nicht ernst nahmen, und fasste den stillen Entschluss, im Kindergarten nicht nur zu eigenen Lösungen kommen zu wollen, sondern diese dann auch ganz für sich zu behalten. Sein tiefes Durchatmen fassten die Kindergärtnerinnen als Zustimmung auf und tätschelten gedankenlos seinen Kopf.

Sein Engel nahm ihn bei der Heimfahrt im Auto auf dem Rücksitz fühlbar in die Arme. Eingekuschelt in seine Flügel gelangte Benjamin zur Überzeugung, dass sich die Nähe seines Engels viel besser anfühlte als das amüsierte Lachen der Kindergärtnerinnen beim Betrachten seines Bildes. Als er versonnen aus dem Fenster des Autos schaute, merkte er, wie die sanfte Wärme der liebevollen Umarmung seinen ganzen Körper umhüllte, während ihm langsam seine Augen zufielen.

Zu Hause freute sich sein Vater über das selbst gemalte Bild seines Sohnes – auch wenn es sich bei den Quellen der lebendigen Bilder und Erlebnisse Benjamins in seinen Augen um reine Fantasien und Tagträumereien handelte. Er war sich in Gesprächen mit seiner Frau darüber bewusst geworden, dass er nach den schweren Zeiten, die er schon so jung durchgemacht hatte, die im kindlichen Weltbild seines Sohnes liegende wunderbare Freude und Leichtigkeit als einen Segen ansehen wollte. Daher ließ er sich gegenüber Benjamin nicht mehr anmerken, dass er ein anderes Verständnis der himmlischen Realität hatte. Zudem hatte ihn ein guter Freund erzählt, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass kleine Kinder Engel sehen könnten. Diese Fähigkeit, so hatte er es erklärt, verschwinde aber ganz sicher schon vor der Einschulung.

Nach dem beruhigenden Hinweis seines Freundes war es dem Vater ein Leichtes, Benjamin zu erklären, dass die Freundschaft zu den Engeln wichtig sei, und auch er davon ausginge, dass sie nicht nur Benjamin, sondern die ganze Familie schützen würden. In dem Moment, in dem er dieses tat, hatte die liebevolle Annahme der Welt seines Sohnes, den schrecklichen Erlebnissen aus dem zurückliegenden Krieg mit der anschließenden Flucht ein Schnippchen geschlagen und Raum dafür geschaffen, die Zeit des verlängerten Wochenendes mit seiner kleinen Familie zu genießen.

Benjamin wusste genau, dass weder seine Mutter noch sein Vater seine besten Freunde sehen konnten, aber diese konnten seine lieben Eltern sehen, sie umarmen und bunte Lichtkreise und Spiralen in verschiedensten Größen zu ihnen senden oder gar einen leichten zauberhaft glitzernden Leuchtregen über sie niederregnen lassen. Und es machte Benjamin glücklich, als sein Vater ihm sagte, dass er jedenfalls mit seinen unsichtbaren Freunden spielen darf, solange sie lieb zu ihm seien. Doch seine Freunde verblassten langsam und er spielte häufiger mit anderen, echten Kindern.

Benjamins Eltern fanden ein kleines altes Haus auf dem Land, das sie sich leisten konnten. Es war nah genug für seine Eltern, um Freunde zu besuchen und um nicht die Arbeitsstelle wechseln zu müssen. Zugleich war es weit genug vom städtischen Umfeld entfernt, um Benjamin viel ländliche Freiheit zu ermöglichen. Sie wollten, dass er auch in der Realität eine Kuh von einem Pferd zu unterscheiden lernt, den Geruch von feuchter Erde zu verschiedenen Jahreszeiten erlebt, und außerdem wollten sie sichergehen, dass er immer ein Dach über den Kopf hat. Das Haus war günstig zu erstehen, erforderte allerdings einiges an zeitraubenden Renovierungsarbeiten.

Benjamin ging allzu gerne der Illusion nach, dass er mit seinem Schäufelchen genauso viel Erde im Garten umgrub wie sein Vater mit Schaufel und Schubkarren. Er ging auch von der Annahme aus, dass seine selbst gemalerte Zimmerecke so viel wog wie das gesamte von seinen Eltern frisch gestrichene Haus. Er freute sich immer mehr auf sein neues Zuhause. Im Sommer war das Haus endlich einzugsbereit und der Umzug erfolgte kurz, bevor Benjamin in die Grundschule kam.

Seine Einschulung war ein Festtag und Benjamin hatte sich sehr darauf gefreut. Der Schulranzen war rot und das blaue Mäppchen für die Stifte hatte die Form eines Autos. Auf die Schultüte hatte seine Mutter zuerst Straßen gemalt und auf diese dann viele verschiedene kleine Bilder von Autos geklebt. Sie hatte neben Bäumen und einem Regenbogen sogar einen kleinen Engel in die Schultütencollage eingearbeitet und Benjamin am Morgen erklärt, dass sie ihn gebeten habe, jeden Tag auf ihn aufzupassen. Benjamin war von seiner Schultüte begeistert, nur den Engel fand er kitschig. „Diesmal geht der Engel auf meine Kappe“, lachte ihn seine Mutter an.

Umso enttäuschter war Benjamin, als ihm in der Schule schnell langweilig wurde. Oft schaute er zum Fenster hinaus und träumte sich weg. Er bildete sich ein, dass Akrobaten durch die Luft des Schulhofes flogen, an einem auch für Benjamin nicht sichtbaren Seil balancierten und immer mal wieder vor dem Fenster einen Salto machten und dabei Benjamin zuwinkten. Fast wie in Trance schaute Benjamin den Späßen der Akrobaten zu. Er war in solchen Momenten selbst darüber erstaunt, wie real ihm die Artisten erschienen. Hin und wieder brachte eine Lehrerin oder ein Lehrer seine Aufmerksamkeit mit der Aufforderung, das Träumen bitte sein zu lassen, in das Klassenzimmer zurück.

Zwar lernte er wenig in der Zeit, die er in der Schule selbst verbrachte, doch wenn er sich zu Hause den Lehrstoff angeschaut hatte, war er in wenigen Minuten bereits verinnerlicht. So war die Schule für ihn ein Ort sozialer Begegnungen und das Tor zur Verabredung zu Abenteuern. Seine Noten interessierten ihn wenig. Sie waren auch wirklich nicht herausragend und er segelte schlechter als der Schnitt durch die Schulzeit.

Einzig das auffällige Muttermal schien Kinder mit tendenziell gestörter Kinderstube dazu zu provozieren, Benjamin herabzusetzen. Als er zu Hause davon erzählte, bot ihm seine Mutter an, es entfernen zu lassen. Doch Benjamin sagte in tapferer Überzeugung zu ihr: „Weißt du noch, als ich klein war, dachte ich, dass es die Flügel meines Engels sind. Ich dachte, er hat sie mir auf die Hand gemalt, damit ich mich besser an ihn erinnern kann. Und wenn das stimmt, dann darf ich es doch nicht wegmachen, oder?“ Melanie störte das Muttermal nicht und so blieb es auf Benjamins Hand.

Benjamin war auf der Erde in seiner Welt angekommen. Er hatte Freunde gefunden, die mit ihm spielten und ihn so mochten, wie er war. Seine Mutter backte, wie andere Mütter auch, für die Nachbarskinder und Benjamin Kuchen. Mal waren sie nachmittags bei ihm und mal in einem anderen kinderfreundlichen Haus zum Spielen, Toben und die Welt entdecken.

Zwar nahm die Schule viel Raum in Benjamins Kindheit ein, aber er hatte das Glück, dass es auf dem Land weder ein allzu großes kulturelles Lehrangebot gab noch seine Eltern irgendeinen besonders leistungsbezogenen Ehrgeiz für seine Zukunft hegten. So fand er Zeit, mit den anderen Jungs im Wald umherzustreifen, gemeinsam ins Schwimmbad zu gehen und auf dem dörflichen Bolzplatz Bälle zu schießen. In der Schrauber-Werkstatt des Vaters seines Freundes Florian durfte er sich viele Autos von innen anzuschauen. Manchmal, wenn Florians Vater es zuließ, durften sie beide in einem Auto, das zur Reparatur in der Werkstatt war, sitzen und so tun, als würden sie damit herumfahren.

Benjamin wuchs heran, wechselte ins Gymnasium, lernte Schach spielen und neben seinen Freunden auch seinen Computer und seine Play-Station zu schätzen. Als Teenager machte er, wenn er alleine war, viele Pläne für sein Leben – vor allem dazu, wie er genug Geld für ein rotes, flottes und vorzugsweise möglichst lautes Auto verdienen könne. Auch ein eigenes Haus wollte er haben. Nicht unbedingt das, in das seine Eltern gezogen waren, er stellte sich eines mehr am Rande des Dorfes auf dem Berg direkt am Wald vor, von dem aus er den abendlichen Sonnenuntergang betrachten könnte.

Natürlich hatte er es als Teenager mit den Mädchen versucht. Wie alle anderen hatte auch er sich in eine Mitschülerin verliebt und schwärmte von ihr. Doch sie kam aus einem strengen und kinderreichen Haus und es wollte ihm nicht gelingen, mit ihr anzubandeln. Einmal hatte er versucht, ihr körperlich näher zu kommen. Als sie verschreckt reagierte, fühlte er sich abgewiesen. Benjamin blieb ratlos zurück. Mit seinen Eltern wollte er nicht darüber reden, weil er den Eindruck gewonnen hatte, dass sie den modernen Umgang zwischen Mädels und Jungs nicht recht gutheißen wollten. Und auch wenn er sich mit seinen Freunden sehr gut verstand, beim vorsichtigen Flirt mit dem Mädchen waren sie keine Unterstützung. Nüchtern betrachtet waren sie bei ihren ersten Kontakten mit den Mädels aber auch nicht erfolgreicher. Aus welchem Grunde auch immer, sein Verhältnis mit den jungen Damen sollte von da an schwierig sein.

Zur bestandenen Führerscheinprüfung schenkten ihm seine stolzen Eltern einen älteren Gebrauchtwagen. Der Motor surrte zwar nur leise, doch beschleunigte er gut. Und es dauerte nicht lange, bis Benjamin die Straßenlage seines Autos in den Kurven der dörflichen Umgebung austestete. Nachdem er in morgendlicher Eile auf der Fahrt zur Schule ein Huhn des benachbarten Eierbauern überfahren hatte, war ihm der dörfliche Spott sicher. Seine Mutter legte ihm den Aushang, den sie vom Fenster der Dorfbäckerei unter breitem Grinsen aller Anwesenden abgenommen hatte, kommentarlos auf seinen Schreibtisch:

Leute, sperrt die Hühner ein, Benji hat den Führerschein!

Nach seinem Abitur begann Benjamin ein Informatik-Studium. Und ja, er blieb auch nach dem Abitur noch zu Hause bei seinen Eltern wohnen, hing weiter mit seinen Schulfreunden ab und schätzte die Sicherheit, die ihn sein vertrautes Umfeld bot. Die Prüfungen am Ende eines Semesters fielen ihm, wie schon in der Schule, auch während seines Studiums leicht. Gelegentlich schien es Benjamin, als brachte er gar keine eigenen Gedanken oder Lösungen hervor, es war vielmehr, als seien die Antworten wie aus dem Nichts auf das Papier geflossen. In solchen Momenten fühlte er sich als Teil von etwas Großem und Gutem. Er hatte mit jedem bestandenen Studienabschnitt das Gefühl, der Verwirklichung seiner Träume Schritt für Schritt näher zu kommen.

Das gewählte Studienfach öffnete ihm die Türen in verschiedene Unternehmen und es fiel ihm leicht, Stellen für seine Pflichtpraktika zu finden. Zu Hause galt er bald als „Mister-Eine-Bewerbung“. Während eines Praktikums bemerkte er, dass er die Zusammenarbeit in Teams eher hinderlich fand. Lieber hätte er alleine, ohne Kollegen und Kolleginnen, seine Lösungen gefunden. Noch weniger gefiel es ihm, wenn Vorgesetzte offensichtlich Unsinniges von ihm forderten. Als ihm das Unternehmen, bei dem er seine Diplomarbeit schreiben durfte, die Übernahme in ein Anstellungsverhältnis anbot, überlegte er dennoch, ob er es annehmen sollte: Das Einstiegsgehalt war bemerkenswert und der Konzern groß genug, ihm viele Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten.

Stolz erzählte er seinen Freunden abends beim Billardspielen von dem Angebot. Sein Freund Florian hatte zugehört, während er die angepeilte volle gelbe Kugel mit langer Linie über den Mitteltisch in eines der Löcher versenkte. Er weißte seinen Queue und bemerkte, dass er die alten Motorräder seiner Kunden auch nicht bei ihnen zu Hause repariere, sondern in der Werkstatt, die er von seinem Vater übernommen habe. Abends käme er dann treu mit seinen besten Freunden zusammen und spiele Billard oder Doppelkopf. „Und Benji, zu meinen besten Freunden gehörst auch du“, betonte Florian abschließend, bevor er als Gewinner des Abends eine Runde Radler für seine Freunde ausgab. Benjamin verstand den kumpelhaften Hinweis und beschloss, dass es für ihn besser wäre, eine Berufseinstiegslösung in der Umgebung zu finden.

Nach einigem Hin und Her hatte er statt eines Arbeitsvertrages seinen ersten Auftrag als Freelancer von dem zuvor um seine Anstellung werbenden Unternehmen erhalten.

Lebensglück

Benjamin schaute kurz auf das Mal seiner Hand, während er die Tür zu seinem roten Flitzer öffnete. Schnelle Autos waren sein größter Antrieb im Leben und seine Schwäche zugleich. Während er den finanziellen Grundstock für seinen ersten Flitzer ansparte, hatte er mehrfach Projekte angenommen, die vom Arbeitsaufwand stark an der Grenze dessen waren, was ein IT-Berater alleine schaffen konnte. Doch die mögliche Anschaffung eines hubraumstarken Gefährts motivierte ihn und so erwarb er sich nach und nach einen guten Ruf auf dem Markt. Der wirtschaftliche Erfolg, wenn er renommierte Kunden gewann, die seine zwischenzeitlich durchaus stattlichen Preisvorstellungen akzeptierten, lösten ein Gefühl der Zufriedenheit in ihm aus. Und mit jeder Rechnung, die er seinen Kunden stellte, kam er seinem Traum vom rassigen und lauten roten Flitzer mit potenten Pferdestärken unter der Haube näher.

Diese Zufriedenheit war ihm in jenem Moment präsent, als er seinen Wagen zum Öffnen der Tür berührte. Er war davon überzeugt, himmlische Unterstützung bei der Umsetzung seines Planes erhalten zu haben. Und er nahm das Zeichen auf seiner Hand als Beleg für seine Überzeugung. Auch wenn seine unsichtbaren Freunde für ihn nicht mehr da waren, der Glaube an ihn wohl gesonnene himmlische Mächte, an Engel mit Flügeln, die die Form seines Muttermals hatten, war ihm geblieben. Er redete nur nicht darüber.

Politischen Diskussionen, Autos wie seinen Sportwagen zu verbieten und in seinen Ohren wunderbar klingende, lautröhrende Motoren gegen leise elektrische auszutauschen, wollte er sich gar nicht erst aussetzen. Er hatte, so dachte er, alle Argumente bereits gehört: Seine Autos mochten vielleicht aus der Zeit gefallen sein, für ihn waren sie aber in jedem Fall bewundernswerte Beweisstücke der Ingenieurstechnik. Und wenn sein Wagen in wenigen Sekunden eine berauschende Geschwindigkeit aufnahm, fühlte er sich lebendig. Kein noch so modernes Cockpit oder gefälliges Design der Karosserie eines der neuen E-Autos konnte in ihm ein vergleichbares Gefühl von Freiheit auslösen.

Benjamin fuhr schnell und sicher durch die waldreiche Landschaft und genoss den Augenblick. Er wollte noch auf einen Sprung bei seinen Eltern vorbeischauen. Er dankte ihnen die glückliche Kindheit mit liebevoller Fürsorge.

Benjamins Eltern waren zwischenzeitlich alt geworden. So hatte er ihnen versprochen, die beim Händler für sie bereitgestellten Einkäufe abzuholen, um sie bei ihnen vorbeizubringen. Natürlich gab es noch kleinere Handgriffe in ihrem Häuschen zu erledigen: Hier war der Müll zu leeren, da sollte er einen größeren Blumentopf verstellen und zum Abschluss erhielt er dann eine Packung Kekse. Es war seine Lieblingssorte: Zitronen-Vanilleplätzchen. Er war dankbar, dass dieser Konditor auch im Sommer Einnahmen brauchte.

Benjamin führte ein ruhiges, vielleicht sogar langweiliges Leben. Unter seinen Freunden galt er als „Nerd“, also als ein computeraffiner Sonderling. Doch das machte nichts, seine Freunde wurden im Allgemeinen von außen ebenfalls als Nerds wahrgenommen. So sehr man ihnen auch soziale Defizite nachsagte, untereinander verbanden sie sich über die gleiche Sprache und eine ähnliche Verweigerung des Lebens, die in eine Art von selbst gewählter Anspruchslosigkeit mündete. So wollte Benjamin auch keine Verantwortung für eine junge Familie übernehmen. Sein Beruf, seine Hobbys und seine Eltern genügten ihm für sein Lebensglück.

Sorge dich nicht

Im Sommer, am Ende eines Juni-Tages, passierte es: Er hatte an einem Treffen seines Auto-Clubs teilgenommen und wollte zügig nach Hause fahren. Der unzulässige Warner über Geschwindigkeitskontrollen gab piepsend Auskunft über Radarfallen und sein Navigationsgerät präzise Anweisungen zum Weg. Dann sah er aus dem Nichts einen weißen Hirsch auf der Landstraße stehen. Das Ausweichmanöver brachte sein Auto ins Schleudern. Seine Fahrtrainings hatten ihn auf solche Situationen vorbereitet und trotzdem ließ sich der Sportwagen nicht von ihm einfangen. Er musste sich den physikalischen Gesetzen beugen. Wie in Zeitlupe sah er einen Baum näherkommen. Er hörte noch den Aufprall, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Es dauerte nicht lange, bis er ein helles Licht um sich sah. Benjamin fühlte sich absolut leicht und schmerzfrei, als er aus geringer Höhe von oben beobachtete, wie Feuerwehrleute ihn mit der Rettungsschere aus dem flachen Auto schnitten und der Notarzt mit Rettungssanitätern seinen Körper in den Krankenwagen verlegte.

Als er auch in den Krankenwagen springen wollte, um seinen Körper nicht alleine zu lassen, wurde er aufgehalten. Da war er wieder, sein Engel und hielt ihn zurück: „Du kannst später wieder in deinen Körper, aber erst müssen wir mit dir reden“, sagte er. In seiner Seele hin- und hergerissen, aber letztlich ohne Wahl wurde er in einen hellen Raum hineingesogen, der wie ein edles Besprechungszimmer wirkte, lichtdurchflutet und mit eher diffusen Wänden. Ihm wurde freundlich bedeutet, sich auf einen Stuhl am ovalen Besprechungstisch hinzusetzen. So außergewöhnlich dieser Raum auch war, so vertraut schien es ihm, in einem Besprechungszimmer platziert zu werden und auf unbekannte Gesichter zu treffen. Unzählige Male in seinem Leben hatte er ähnliche Situationen im geschäftlichen Umfeld erlebt.

Er schaute auf einen Bildschirm im Raum, dessen Bild ihn verfolgen ließ, wie sein Körper in das Krankenhaus eingeliefert und ein Operationssaal für ihn vorbereitet wurde. Schließlich wurde sein Körper, der an verschiedenen Schläuchen und Gerätschaften hing, operiert. Währenddessen füllte sich der helle Besprechungsraum mit beflügelten Engeln und verschiedenen Wesen, die ihm unbekannt erschienen. Die Ankommenden nahmen einer nach dem anderen Platz am Tisch, nachdem er von ihnen zuvor freundlich, ja fast kameradschaftlich, begrüßt und jeweils kurz vom Bildschirm abgelenkt worden war.

Am Tisch wurde über die Situation auf der Erde gesprochen. Aus Sicht der Engel und sonstigen Wesen lief da vieles schief und er hatte die Brisanz der Weltenmisere im Angesicht seines laufenden Tagesgeschäftes wohl verschlafen: Kriege, Hungersnöte, Machtgier, Gewalt und Manipulation – es gab aus Sicht der Engel und auch der anderen Teilnehmer so einiges zu berichten. Sie erklärten ihm, dass die Erde in ihrer momentanen Situation Hilfe von außen benötige, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Im Gesagten lag ein ganzer Sturm an Hilfsbereitschaft und Fürsorge.

Benjamin fragte höflich und fast ein wenig abweisend nach, warum sie ihm das erzählten. Er konnte nicht damit aufhören, immer mal wieder auf den Bildschirm zu schauen und den Verlauf seiner Operation zu verfolgen. Am liebsten hätte er seine in der Krankenhaushalle wartenden Eltern in den Arm genommen und ganz festgehalten. Für ihn gäbe es doch offensichtlich ganz andere Themen, erklärte er im eher nüchternen Ton den freundlichen Anwesenden. Mit warmer Stimme antwortete sein in einem Hauch von rotgoldenem Glitzerpartikeln eingehüllter Engel: „Lieber Benjamin, sorge dich nicht! Im Operationsraum läuft alles nach Plan, du kannst bald in deinen Körper zurück und deine Verletzungen werden heilen.“ Es klang so tröstlich, dass Benjamin sich in das ihm entgegengebrachte Mitgefühl wie in einen weichen Mantel hineinkuschelte. Sein Panzer aus Logik und zur Schau gestellter Arroganz schmolz im Meer vorhandener Sanftmut dahin.

Eines der Wesen mit goldschimmerndem Haar, bei dem Benjamin aber keine Flügel sah, lehnte sich vor und sprach ihn an: „Benjamin, du hast dich gut auf der Erde entwickelt und einen bemerkenswerten Inkarnationsswitch gemeistert. In Windeseile hast du dich an die neuen Gegebenheiten auf der Erde angepasst, ohne die göttliche Bindung zu verlieren. Alles in allem und insbesondere damit hast du eine einzigartige Entwicklung durchlaufen und außerordentliche Fähigkeiten deiner Seele unter Beweis gestellt. Mit deinem Hintergrund bietest du für unser Projekt ein interessantes Erfahrungsspektrum.“

Im Blick des Wesens lag eine ungewöhnliche Intensität. Seine braunen Augen wirkten größer als die der anderen flügellosen Wesen. Es waren die Augen eines Engels in einem muskulösen Körper mit irritierender, dunkelorangener und samtig wirkender Haut. Es faszinierte Benjamin, dass er immer mal wieder klitzekleine Flämmchen in der Hand seines Gesprächspartners entdecken konnte, und er wunderte sich, dass ihn das Feuer nicht zu schmerzen oder stören schien.

„Du bist ein Mensch mit der Seele eines Riesen, Benjamin. Weißt du, die Geschichte der Bevölkerung auf der Erde ist vielfältiger, als du denkst. Die in der Evolutionstheorie aufgezeigten Typen zur Entwicklung des Menschen, wie wir ihn heute kennen, reichen nicht aus, um den Genpool des Menschen zu erklären.“ Benjamin registrierte, dass das, was zunächst wie die Beförderungsansprache eines Vorgesetzten klang, nun in eine Erklärung von Weltmythen mündete. Von Benjamins reserviertem Gesichtsausdruck unbeirrt fuhr das Wesen fort, zu erklären, dass nicht nur Neandertaler, Homo erectus und Homo sapiens die Erde bevölkert hätten, sondern auch weitere Lebensformen als Folge der Einbettung der Erde in den Kosmos dort Fuß gefasst hätten.

„In der Zeit vor der Zeit gab es auch Riesen auf eurem wunderschönen Planeten. Sie genossen hohes Ansehen, doch es mangelte ihnen sowohl an Demut als auch an Einsicht“, fuhr ein anderes Wesen ähnlicher Gestalt mit gleichermaßen orangener Haut, aber dichten weißen Haaren mit den Ausführungen fort: „Zwar ergab es sich, dass die Riesen mit abnehmender Population den Menschen gegenüber sanftmütiger auftraten, doch wurden sie letztlich zum Verlassen der Erde genötigt. Eine Art ausbeutender Intention der Schöpfer der Riesen blieb allerdings dort zurück. Es ist an der Zeit, den Umstand, der einer Gefangennahme des menschlichen Geistes gleicht, zu klären.“

Das weißhaarige Wesen lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bevor er mit einer bestimmten sowie zugleich flehentlichen Stimme weitersprach: „Und sieh, deswegen wurdest du zu uns gerufen: Eine Seele wie deine, also die einsichtige Seele eines Riesen mit der Bereitschaft als Mensch zu leben, kann die Menschheit dabei unterstützen, ihre gespeicherte Angst aus der Zeit der Riesen loszulassen. Über die Veränderung werden die Menschen wieder an ihre Herzensenergie kommen. Deine Seele findet dabei im gleichen Maße Heilung wie die ihre.“

Benjamin schaute gebannt auf die rötlichen Lichtreflexe, die die Worte seines weißhaarigen Gegenübers begleiteten. Computerspiele hatten ihm den Blick für vielerlei Fantasien geöffnet und für einen Moment hatte er das Gefühl, er sei in ein solches hineingefallen. Doch er wollte sich nicht vom Inhalt des Gesprächs ablenken lassen. „Wo und wann soll ich mal Riese gewesen sein“, sinnierte er. „Ich mache doch meine IT-Beratung nur, weil ich es kann und weil es supergut honoriert ist. Das hat doch mit all dem hier nichts zu tun.“ Niemand schien auf seine Skepsis verratende Mimik eingehen zu wollen. Leise sagte er, wohl mehr zu sich selbst als zu den Anwesenden: „Meine Seele hat sich mir noch nicht vorgestellt.“

Unbeirrt ergriff der rot gekleidete Engel in seiner Glitzerwolke mit seiner sanften Stimme nochmals das Wort: „Auch bringst du die Erfahrung mit, wie es sich anfühlt, wenn man sich Veränderungen verweigert, und kannst auf einer höheren Ebene Verständnis für den Zustand der Menschheit aufbringen.“ Während der Engel zu ihm sprach, lösten sich weitere rotgoldene Glitzerteilchen aus seinen Flügeln, stiegen in Spiralen auf und verteilten sich im Raum, um langsam als Leuchtregen auf die Anwesenden niederzurieseln. Verstärkt wurde der Leuchtregen durch einen trockenen goldenen Nebel, den die übrigen Engel leise aus ihren Flügeln zu den Spiralen hinauf gewedelt hatten.

Benjamin hatte nicht im Geringsten das Gefühl, sich Veränderungen im Leben verweigert zu haben, und schaute den Engel mit entsprechendem Unverständnis an. Von Benjamins Verwirrtheit unberührt, führte das weißhaarige Wesen mit den sich hin und wieder zeigenden roten Lichtreflexen um den Körper seine Überlegungen weiter aus: „Du kannst uns bei dem nunmehr anstehenden irdischen Wandel in der Menschheitsfamilie außerordentlich hilfreich sein, Benjamin. Deswegen möchten wir, dass du Teil unseres Teams wirst.“

Der Engel am Tisch, eingetaucht in den Hauch von rotgoldenem Glitzer, lächelte Benjamin sanft an, als er zu ihm sprach: „Erinnere dich, dir wurde im Himmel vor deinem Leben als Benjamin gesagt: Wenn du mit uns zusammenarbeitest, ist alles möglich in deinem Universum, das auch unseres ist.“

Benjamin versuchte, sich zu konzentrieren: Wenn man von Wiedergeburt oder Seelenvereinbarungen ausginge, so hatte er vielleicht eine Vereinbarung mit Engeln, dann aber nicht mit den anderen am Tisch sitzenden Wesen. Er betrachtete die Wesen mit der samtig wirkenden, dunkelorangen Haut. Kaum erkennbar, glaubte er hinter dem Wesen mit dem goldschimmernden Haaren zarte, geradezu transparente, Flügel zu erkennen. Er wollte sich durch die Fülle an Unbekanntem nicht vom Wesentlichen ablenken lassen und überlegte weiter: Hier waren Engel am Tisch und wenn er sich auch an keine vorherige Vereinbarung erinnerte, so wurde jetzt zu einer eingeladen – von einem Engel. Das konnte er nicht ablehnen. Schweigend ergab er sich der Situation.

Jemand stellte Benjamin eine Tasse mit einer goldenen Flüssigkeit auf den Tisch und der Engel im roten Kleid bedeutete ihm, dass er trinken solle. Erst da bemerkte er seinen Durst. Er nahm mehrere Schlucke aus der Tasse, die sich ständig selbst nachzufüllen schien, und überlegte: Schnelligkeit war eine Qualität, die er in der Tat in diesem Leben neu gewonnen hatte.

Benjamin erinnerte sich, während sich ein erstes Lächeln auf seinem Gesicht andeutete, an seine beschleunigungsstarken, schnellen und schnittigen Autos und seine Vorliebe für das Fliegen in ferne Länder. Ihm kamen seine beruflichen Projekte in den Sinn, die von Effizienz geprägt und dem Changemanagement angegliedert waren. Er war sich auch seiner Zuverlässigkeit und Konstanz bewusst. Das war hier noch gar nicht zur Sprache gekommen. Aber damit, so dachte er, war er für außerordentliche Projekte sicherlich ein Gewinn.

Unwohl fühlte er sich allerdings bei dem erwähnten Umstand, dass er schon mal als Riese auf der Erde gewesen sein soll. Diese schienen sich bei den hier im Raum Anwesenden unbeliebt gemacht zu haben. Er beschloss, diesen Teil der Ausführungen vorerst zu ignorieren. Nach einem weiteren Schluck aus seiner Tasse fragte er mit banger Entschlossenheit: „Also, was kann ich für euch tun?“

Das flügellose Wesen mit den roten Lichtreflexen und den weißen Haaren blieb ernst: „Hilf uns, eine Sinfonie zu kreieren, die deinen Seelenreichtum den Menschen zuspielt. Über die Schwingungen deiner Seelenmusik können wir so viele Menschen erreichen. Deine Erkenntnisse können Menschen als Brücke zur Überwindung ihrer Ängste und Schuldgefühle dienen. So lautet der kosmische Plan.“

„Ich verstehe noch nicht ganz“, hakte Benjamin nach. Als niemand seinen Kommentar aufnahm, wagte er einen Blick auf das Geschehen im OP. Die Stimmung des Operationsteams schien lockerer zu werden. Er sah, wie der federführende Chirurg zuversichtlich in die Runde um den Operationstisch schaute und einem jüngeren Arzt das Verschließen einer großen Wunde überließ.

Als Benjamins Aufmerksamkeit in das helle Besprechungszimmer zurückgezogen wurde, blickten alle zu ihm. Er bemerkte, dass sich die Augen der Wesen mit der orangenen Haut beim Blinzeln von den äußeren Augenwinkeln aus nach innen schlossen. Der Fülle seiner Eindrücke zum Trotz machten seine Gesprächspartner einen sehr entspannten Eindruck.

Das Wesen mit den weißen Haaren wagte eine klärende Zusammenfassung: „Menschen treffen unter derzeitigen Verhältnissen lebensfeindliche Entscheidungen. Der Kosmische Rat sieht sich veranlasst, einzugreifen. Meine Truppe ist bereit, im Auftrag des Kosmischen Rates mit dir zusammenzuarbeiten.“ Das Wesen schaute ihn an. Er hatte sein Anliegen vorgebracht und gab den Raum zum Sprechen für andere frei.

„Und wer seid ihr, du und deine Truppe?“, hörte Benjamin sich in das Gesprächsvakuum hinein fragen. Er fragte, obwohl er gar nicht reden wollte, und war selbst darüber erstaunt. „Wir kommen vom Planeten der heißen Winde. Ihr Menschen haltet uns gelegentlich für Marsianer. Doch der Rote Planet eures Universums ist bedauerlicherweise unbewohnt. Sonst gäbe es von dort schon längst Unterstützung für die Erdbewohner. Wir wehen hierhin und dorthin, so sind wir Spezialisten in Freiheitsangelegenheiten.“ Kleine rote-orange gemusterte Schmetterlinge kamen aus dem Nichts und flogen im Spiralflug vom Tischzentrum nach oben. Sie verschwanden, wie sie gekommen waren: im Nichts der watteweißen Decke des Besprechungszimmers. Dessen ungeachtet fuhr das Wesen mit seinen Erklärungen fort: „Freiheit ist eine Urkraft des Lebens und damit der Liebe. Es geht um Mut, Motivation und Stärke. Der Gegenpol unserer Kraft ist die Gefangennahme, Zerstörung, ja gar die Vernichtung von Seelen.“

„Ihr seid Außerirdische“, stellte Benjamin nüchtern fest. Die Wesen wogen ihre Köpfe bedächtig hin und her. „Aus menschlicher Perspektive kann man das so sehen“, sagte ein Wesen mit rötlichem Haar und einer technisch klingenden Stimme, das sich damit erstmals in das Gespräch einbrachte. „Wir sehen uns allerdings eher als Bewohner des Kosmos“, fuhr das zuvor so zurückhaltende Wesen fort. Benjamin beschloss nach dem marsianischem Bezug, die für ihn nunmehr ganz offensichtlich Außerirdischen künftig als Quasi-Marsianer bezeichnen zu wollen oder, was ihm dann noch besser gefiel als „Quarsianer“.

Der quarsianische Kollege mit dem goldenen Schimmer im Haar übernahm die weiteren Ausführungen: „Die Menschen sind mangelernährt und voller Gift: Gift im Essen, in der Luft und im Wasser. Sogar Gift in ihren Gedanken können wir sehen. Und die Angst ist dabei das Schlimmste. Der Kosmische Rat wünscht sich statt des vielen Giftes lebensbejahende Kräfte auf Erden. Dazu braucht es geistige Alchemie, denn diese verwandelt das Gift in heilende Elixiere.“

Während der Quarsianer vom Gift gesprochen hatte, loderten seine Flämmchen in der Hand auf wie das Licht einer Fackel. Benjamin hatte befürchtet, dass der Erzählende in solchen Momenten selbst in Brand geraten könnte. Doch war nichts dergleichen passiert. Irritiert schaute er in seine Tasse mit dem goldenen Elixier, das er trank, und dann auf die goldschimmernden Haare des Quarsianers. Der Außerirdische hatte Benjamins Blick von der Tasse zu seinen Haaren mitverfolgt und legte daraufhin eine Pause ein. Er spürte Benjamins Zögern, mehr vom Elixier zu trinken. So lenkte das Wesen mit den goldschimmernden Haaren Benjamins Blick auf seine kleinen Flämmchen in der linken Hand.

Die Flamme hatte sich beruhigt und beide schauten eine Weile gemeinsam in das nunmehr kleine Handfeuer. „Feuer reinigt, Feuer schmiedet zusammen, Feuer ist die Basis geistiger Alchemie“, bemerkte der Außerirdische sanftmütig. Als er seinen Blick hob, folgte ihm Benjamin in der Bewegung und sie schauten einander in die Augen. „So schöne Augen“, dachte Benjamin und nahm einen tiefen Atemzug.

Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte das Wesen seine Ausführungen fort: „Die Menschen zu entgiften, dass sie von selbst die allumfassende Liebe zum Leben als unabdingbare Kraft anerkennen, ist der kosmische Wunsch. Dazu schicken wir eine Abordnung auf die Erde.“ Benjamin schien, als könne man die Stille im Raum anfassen. Bei einem Gespräch auf Geschäftsebene hätte er sie durchbrochen, doch er hatte den Eindruck, als sei hier seine Aufgabe, möglichst gut zuzuhören.

„Es geht um viel“, unterstützte der weißhaarige Quarsianer seinen Mitstreiter. „Die Menschheit darf lange schon über sich hinauswachsen, stattdessen fallen sie zurück. Sie überwinden ihre Begrenzungen nur schwer. Ihre Angst ist ihr Gefängnis und das menschliche Verständnis von Schuld wirkt als Fessel der menschlichen Seele. Die Menschheit bedarf der Befreiung von beidem.“ Rote nach oben abgehende Spiralen begleiteten die Worte „Angst“ und „Schuld“ und schienen ihnen die Macht zu nehmen. „Nur in der Freiheit kann dem Menschen sein Recht auf freie Entscheidung gewährt werden. Nur wenn er sich frei fühlt, kann er seine Engelsflügel entfalten.“

Benjamin nahm die aufsteigenden Spiralen wahr und schaute ihnen nach, bis sie von der diffusen Decke aufgesogen waren. Dann schaute er das ihn zuvor direkt ansprechende Wesen mit verwunderten Augen an: „Ihr klingt wie Freigeister oder gar Geister der Befreiung?“, purzelte sein letzter Gedanke als Frage an die Außerirdischen aus ihm heraus.

Die roten Lichtreflexe, die die Worte des orangenen Wesens mit den weißen Haaren begleiteten, explodierten geradezu, als er Benjamins Frage lachend kommentierte: „Wir sind Freigeister und haben den Auftrag zur Befreiung des humani spiritui. Wer weiß, nach einem erfolgreichen Einsatz auf Erden sind wir für dich vielleicht auch unirdische Befreiungsgeister. Wir, als Spezialisten in Freiheitsangelegenheiten, nehmen die Challenge an.“

Benjamin spürte, dass er sich beruhigt hatte. Über die Dauer des Gesprächs hatte er den Schock über die Ereignisse verwunden, dachte er sich. Zu seinem Erstaunen war er völlig schmerzfrei, selbst unterschwellige Schmerzen, die er im täglichen Leben wegdrückte, konnte er hier nicht spüren. Im Gegenteil, sein ganzer Körper fühlte sich zwischenzeitlich wohlig, warm und entspannt an. Der situationsbedingte anfängliche Schock war gewichen und hatte dem Gefühl, angenommen und geliebt zu sein, Platz gemacht. „Hier ist so viel Sanftmut und Liebe im Raum, am liebsten würde ich so im Licht sitzen bleiben und gar nicht mehr zurückgehen“, dachte er.

Das laute Fiepen der Geräte im nächsten Moment und die Kommandos des Arztes, die den Einsatz des Defibrillators begleiteten, kamen nur gedämpft über den Bildschirm im Zimmer an. Dennoch schauten alle Anwesenden dem hektisch gewordenen Geschehen im Operationssaal zu: Das Operationsteam kümmerte sich aufgeregt um die Wiederbelebung von Benjamins Körpers. Die Besprechungsteilnehmer sahen, wie sein Körper sich aufbäumte und dann wieder zusammensackte. „Er ist zurück“, sagte kurz darauf der Arzt und die Situation im Operationssaal beruhigte sich wieder.

Eine Engelin, die erst vor Kurzem den Raum betreten hatte, breitete ihre Flügel aus und wedelte eine rosa Wolke aus ihnen heraus, bevor sie sich an Benjamin wandte: „Ja, Benjamin, es ist sehr verlockend, hier im Himmel bleiben zu wollen. Aber deine Zeit auf der Erde ist noch nicht abgelaufen. Dein Leben bis hierhin war nur die Vorbereitungszeit für das, was kommt.“

„Benjamin, unsere Mission mag alles andere als einfach sein, gerade weil Veränderungen für die Menschheit eine große Herausforderung sind“, ergriff das Wesen mit dem goldschimmernden Haar nochmals das Wort. „Dessen ungeachtet wird es ein Abenteuer werden. Und für diese möchten wir dich als Menschen in unserem Team haben. Du kannst uns das Tor zur menschlichen Empfänglichkeit für unsere Frequenzen öffnen. Wir brauchen jemanden, der keine Angst vor unseren roten, schnellen und schicken Fortbewegungsmitteln hat, die ihr Ufos nennt. Wir brauchen einen Menschen, der sich in Projektarbeit auskennt und familiär nicht zu sehr verpflichtet ist. Eine gewisse Klarheit des Verstandes ist von Vorteil und das Wissen um die Existenz der göttlichen Heerscharen essenziell. Du siehst, warum die Engel dich in diesen Saal gerufen haben und auf die Erde zurückschicken werden.“ Das Wesen mit den goldschimmernden Haaren hatte sich während seiner Ansprache an Benjamin leicht vornübergebeugt und schien seinen Aussagen dadurch mehr Gewicht zu verleihen, dass sich hin und wieder das Feuer in seiner linken Hand zeigte.

„Es lohnt sich, für dieses Projekt zu leben, Benjamin“, sagte die Engelin, die an einer Art Tor zum Besprechungszimmer stand und im Begriff war, das Zimmer mitsamt ihrer Feuerflämmchen an den Rollschuhen zu verlassen.

Ein Teil von Benjamin versuchte, den Bildschirm nach dem Notfalleinsatz im Blick zu behalten. Der Anteil, der sich im weißen Raum so gut aufgehoben gefühlt hatte, dass er am liebsten geblieben wäre, war für ihn noch spürbar, hatte aber nach den Worten der Engelin akzeptiert, dass es für ihn auf der Erde weitergehen wird. Und ein dritter Teil in ihm betrachtete die Projektdarstellung mit den nüchternen Augen eines Geschäftsmannes. Dieser dritte Part war die Basis seines Verständnisses für ihr Anliegen.