Ein schönes Ausländerkind - Toxische Pommes - E-Book

Ein schönes Ausländerkind E-Book

Toxische Pommes

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Beschreibung

Der Debütroman von Toxische Pommes: »Diese Geschichten sind Pointen der Rührung, des Absurden, der politischen Erzählung. Und als Gesamtbild ein großes Glück.« Saša Stanišić

»Was hat uns das neue Leben gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich?«
Vor dem Krieg in Jugoslawien flüchtet die Familie in ein Einwanderungsland, das keines sein möchte. Dieses Buch erzählt von der Beziehung zwischen einer Tochter, deren einziger Lebenssinn darin besteht, die perfekte Migrantin zu werden, und ihrem Vater, der sich bei dem Versuch, ihr das zu ermöglichen, selbst verliert.
Erstmals gibt es die großartig lakonische Toxische Pommes in Romanform. Seit der Corona-Pandemie ist sie in den sozialen Medien mit satirischen Kurzvideos über die schönen und hässlichen Seiten der Gesellschaft erfolgreich, und seit kurzem steht sie mit ihrem Kabarettprogramm auch auf den analogen Bühnen.

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Das ist das Cover des Buches »Ein schönes Ausländer kind« von Toxische Pommes

Über das Buch

Der Debütroman von Toxische Pommes: »Diese Geschichten sind Pointen der Rührung, des Absurden, der politischen Erzählung. Und als Gesamtbild ein großes Glück.« Saša Stanišić»Was hat uns das neue Leben gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich?«Vor dem Krieg in Jugoslawien flüchtet die Familie in ein Einwanderungsland, das keines sein möchte. Dieses Buch erzählt von der Beziehung zwischen einer Tochter, deren einziger Lebenssinn darin besteht, die perfekte Migrantin zu werden, und ihrem Vater, der sich bei dem Versuch, ihr das zu ermöglichen, selbst verliert.Erstmals gibt es die großartig lakonische Toxische Pommes in Romanform. Seit der Corona-Pandemie ist sie in den sozialen Medien mit satirischen Kurzvideos über die schönen und hässlichen Seiten der Gesellschaft erfolgreich, und seit kurzem steht sie mit ihrem Kabarettprogramm auch auf den analogen Bühnen.

Toxische Pommes

Ein schönes Ausländerkind

Roman

Paul Zsolnay Verlag

Za mamu i tatu

Liebe ist ein Teller voll frisch geschnittenem Obst.

PROLOG

An einem schwülen Freitagnachmittag beschloss ich, unter meinem Schreibtisch ein Bett zu bauen. Mein Chef war in einer Besprechung, und die Kollegin, mit der ich das Büro teilte, hatte sich den Tag frei genommen. Ich war müder als sonst — vermutlich lag das an dem Burger, den ich in der Mittagspause verschlungen hatte (freitags war in der Kantine Burgertag). Während ich versuchte, so weit wie möglich in das verpixelte Foto zu zoomen, um herauszufinden, ob die inserierte Prada-Tasche auf willhaben.at auch wirklich echt war, nickte ich fast ein.

Das fettige Rindfleisch in meinem Magen ließ mich an keinen vernünftigen Grund denken, warum ich den Raum unter meinem Bürotisch nicht endlich für etwas Sinnvolles nutzen sollte. Ich fing daher an, zwischen Staubkugeln und Computerkabeln auf dem Parkettboden einen Kopfpolster aus gelben Kodizes*1 und Papierzetteln zu bauen. Davon stapelten sich in meinem Zimmer mehr als genug — um den Anschein der Vollbeschäftigung zu vermitteln, druckte ich in regelmäßigen Abständen willkürlich ausgewählte Dokumente aus, die ich dann nie wieder anschaute. Ich glitt von meinem Bürosessel und kauerte mich unter den Tisch in mein improvisiertes Bett.

Ich musste etwas an meinem Leben ändern.

Ich war Vertragsbedienstete in einer Behörde, die offenbar wichtig genug war, um in einem schönen Altbaugebäude in der Wiener Innenstadt untergebracht zu sein. Man betrat das Foyer durch ein großes hellblaues Eisentor, das zwei imposante griechische Säulen flankierten. Dort wurde man von einem lebensmüden Portier empfangen, den man mit einem selbstbewussten »Mahlzeit« (idealerweise im Wiener Dialekt ausgesprochen) davon abhalten konnte, lästige Fragen zu stellen. Ich war mir sicher, dass man es mit diesem Losungswort sogar bis ins Büro des österreichischen Bundespräsidenten schaffen konnte.

Das Foyer führte in ein marmornes Stiegenhaus, in dessen Mitte sich ein hölzerner Lift befand, der mehr an einen mittelalterlichen Folterkäfig als an einen Fahrstuhl erinnerte. Er hatte beide Weltkriege überlebt und blieb mehrmals am Tag stecken, was jedoch keinen der tüchtigen Beamten davon abhielt, ihn für jeden Amtsweg zu nutzen, der ein Stockwerk überstieg. Vom Erdgeschoss kam man zuerst in den ersten Halbstock, dann in den zweiten Halbstock, dann ins Zwischengeschoss, dann ins Mezzanin, bis man endlich im ersten Stock landete, wo sich mein Büro befand.

Was man im Foyer an Kosten nicht gescheut hatte, wurde bei den Zimmern der Beamten wieder eingespart. In der Mitte des kahlen Raumes befanden sich zwei Bürotische, die so positioniert waren, dass man einander gegenübersaß, während man acht Stunden am Tag um die Wette daran arbeitete, sein Leben wegzuschmeißen. Die Wände zierten lediglich ein paar leere senfgelbe Pinnwände und eine Uhr, die 47 Minuten vorging und so weit oben aufgehängt war, dass man eine Leiter gebraucht hätte, um sie richtig einzustellen. Die gab es jedoch nur beim technischen Dienst, den man wiederum nur im Wege eines Anforderungsscheins rufen konnte, der zuerst wochen- und monatelang durch mehrere Hierarchien gehen musste, um letztendlich bewilligt zu werden. Darauf hatte natürlich niemand Lust, und so ließ ich mich lieber jeden Tag von der Wanduhr enttäuschen, die mir vorgaukelte, meine Arbeitszeit wäre bereits um.

Meine Zimmerkollegin war Mitte zwanzig, hatte eine zarte Stimme und eine feine schwarze Hornbrille aus der Brillenmanufaktur, wie sie gerne betonte. Sie wirkte stets bestens gelaunt. Obwohl wir ähnliche Aufgabenbereiche hatten, war sie jeden Morgen vor mir im Büro und ging jeden Abend nach mir. Sie schien offenbar genug zu tun zu haben, um mit ihren kleinen kräftigen Fingern von früh bis spät freudig-munter in die Tastatur zu tippen, während ich mich durch jeden Tag quälte, bis ich endlich pünktlich um 17:00 Uhr (oder eher 17:47 Uhr) am Schalter ausstechen konnte.

Meine restlichen Kollegen sah ich in der Regel zweimal am Tag: einmal um 12 Uhr zum gemeinsamen Mittagessen im Besprechungszimmer und einmal um 10:30 Uhr, wenn sie gegenseitig an ihre Türen klopften, um zu fragen, wer am gemeinsamen Mittagessen teilnehmen würde. Der wesentliche Zweck dieser Zusammenkünfte bestand darin, die Speisen des jeweils anderen zu bewerten: Selbstgekochtes wurde hoch gelobt, sofern es Safran-Sauce oder ähnlich hochwertige Zutaten enthielt. Alles, was in zu viel Plastik verpackt oder nicht zumindest von Ja! Natürlich war, wurde kritisch beäugt. Wer sich nur ein kleines Weckerl vom Supermarkt geholt hatte, erntete hingegen ehrfürchtige Blicke. Zu groß war der Respekt (und die Angst) vor den Beamten, denen vor lauter Arbeit nicht einmal die Zeit für ein ordentliches Mittagessen blieb. Sie gehörten zu den wenigen, welche die Behörde am Leben erhielten, und waren der Grund, warum den anderen ausreichend Zeit blieb, um nach einer ausgiebigen Mittagspause wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren und auf Facebook Familienfotos zu sortieren.

Nicht nur meine Zimmerkollegin, auch alle anderen Mitarbeiter waren sehr nett: Montags fragten sie, wie man das Wochenende verbracht hatte, und freitags, was man am Wochenende vorhatte. Wer nach einem längeren Krankenstand wieder ins Büro kam, wurde mit freudigen Willkommensgrüßen empfangen und liebevoll nach seinem gesundheitlichen Zustand ausgefragt. Das war natürlich ein bisschen unangenehm, wenn man seinen Krankenstand nur vorgetäuscht hatte, doch auch nicht weiter schlimm, denn mit dem Konzept des E-Card-Urlaubs war hier jeder bestens vertraut. Immer wieder stellte jemand einen Marmorkuchen oder eine Packung Merci zur freien Entnahme in die Gemeinschaftsküche, und es gab eine große Auswahl an bunten Tassen mit lustigen und frechen Sprüchen. Vorsicht war allerdings bei einer großen schwarzen Tasse mit der Aufschrift »Bevor ich mich jetzt aufrege, ist es mir lieber egal« geboten. Sie gehörte der Chefassistentin. Wer dabei erwischt wurde, seinen Morgenkaffee aus dieser Tasse zu trinken, und sei es aus Versehen, wurde den restlichen Tag über mit kleinen passiv-aggressiven Vergeltungsakten bestraft.

Meine Tage begannen für gewöhnlich mit einer ausgiebigen Internetsuche nach Designertaschen und anderen gebrauchten Gegenständen, die ich nicht benötigte. Dies hielt mich jedoch nie davon ab, die Verkaufspreise endlos herunterzuhandeln, nur um dann irgendwann einmal nicht mehr auf die Nachfragen der Inserenten zu reagieren. Zwischen diesen Nachrichten steuerte ich immer wieder zur Toilette am Ende des Gangs, um mir eine kleine Pause von den anstrengenden Verhandlungsrunden zu gönnen. Die Toiletten waren immerhin die spannendsten Orte im Haus: Nicht nur traf ich dort hin und wieder auf die einzigen anderen migrantischen Mitarbeiter auf meinem Stockwerk. Am Klo starrte ich auch gerne so lange auf die schriftlichen Anleitungen an der Wand, die in fünfzehn verschiedenen Sprachen erklärten, wie man die Toiletten korrekt benutzt, bis jeder einzelne Tropfen Wasser aus mir draußen war, den ich zuvor aus Langeweile zu mir genommen hatte.

Besonders schlimm waren die Sommertage. Nicht nur, weil sich das Bürozimmer auf ungefähr fünfzig Grad Celsius erhitzte, sondern auch, weil mir an diesen Tagen am deutlichsten bewusstwurde, wie sehr ich diesen Job hasste. Während ich mir vorstellte, wie andere in der Alten Donau schwammen, sich auf dem Steg sonnten, ein Brickerl von der Imbissbude aßen und unvergessliche Erinnerungen mit ihren Freunden schufen, saß ich auf einem unbequemen grauen Bürosessel, der die stillen Fürze unzähliger Beamter konserviert hatte, die hier vor meiner Zeit an ihrem Bandscheibenvorfall gearbeitet hatten.

A hyperrealistic photograph of a taxidermied baby lamb staring into the void

Ich weiß nicht, wie ich an diesen Punkt gekommen war. Ich hatte doch immer alles richtiggemacht.

Ich hatte meinen Teil des Integrationsversprechens eingehalten. Ich hatte den Ausländer in mir erfolgreich wegintegriert. Ich war weiß, christlich und aß gerne Schweinefleisch. Ich hatte immer nur gelernt oder gearbeitet, war nie krank gewesen, hatte ein Semester unter Mindestzeit studiert, einen Doktortitel und Schlafprobleme, seit ich fünfzehn war. Ich war nie viel fortgegangen, hatte nie einen Freund mit nach Hause genommen oder andere Schwierigkeiten gemacht. Während meine Schulkameraden ihre Nachmittage im Park mit Dosenbier und selbstgerollten Zigaretten verbracht hatten, war ich lieber zu Hause geblieben, um über meinen Schulbüchern zu brüten. Die einzige Abwechslung war das tägliche Schwimmtraining im Hallenbad gewesen; für Olympia hatte es zwar nie gereicht, dafür aber zumindest für die österreichischen Staatsmeisterschaften.

Ich hatte immer die richtigen Entscheidungen getroffen. Ich hatte Schulen besucht, in denen ich das einzige Ausländerkind gewesen war. Ich hatte sogar Rechtswissenschaften studiert, das ideale Studium für leidenschaftslose Menschen, die sich in ihrem Leben nichts verbauen wollten. Ich hatte eine Mitgliedskarte für das Fitnesscenter, trug helle Blusen und lackierte meine Fingernägel in sanften Pastelltönen. Ich beteiligte mich zwar an Wahlen, doch weil ich so beschäftigt war, vergaß ich manchmal auch einfach hinzugehen. Das machte aber nichts, ich hatte sowieso gelernt, mich über nichts aufzuregen und nichts zu verlangen. Lieber zahlte ich in Frieden meine Steuern und hatte einfach keine Meinung. Außerdem wollte ich meine Zeit nutzen, um zu beweisen, dass ich es auch wirklich verdient hatte, in Österreich zu leben.

Und das hatte ich. Ich hatte es geschafft. Ich hatte alles erreicht, wofür meine Eltern und ich ein Leben lang hart gearbeitet hatten. Ich war perfekt. Ich war Vertragsbedienstete in einer angesehenen Behörde im ersten Wiener Gemeindebezirk. Und einen besseren Arbeitgeber als den österreichischen Staat konnte man sich nicht vorstellen: ein sicherer Job, auch in unsicheren Zeiten, feste Gehaltsstufen und klare Hierarchien. Ich hatte genug Geld, um mir gebrauchte Designertaschen zu kaufen und in Therapie zu gehen, wo ich jede Woche von einem anderen Problem erzählen konnte, das mich eigentlich kaum beschäftigte. Und trotz alledem fühlte ich mich innerlich tot.

Wenige Wochen nach meinem Bettenbauprojekt unter dem Tisch endete mein Arbeitsverhältnis. Irgendwie war auch zu meinem Chef durchgedrungen, dass ich in Wirklichkeit nicht arbeitete. Wir einigten uns auf eine einvernehmliche Kündigung.

Teil 1

PUTZAM I ČEKAM

PUTZEN UND WARTEN

Velika Srbija (Großserbien)

»Ubit ću sve što nije hrvatsko« (»Ich werde alles umbringen, was nicht kroatisch ist«), zischte Ante meiner Mutter ins Ohr. Sein Atem roch nach Schnaps. Ante war unser Nachbar, er wohnte auch im zwanzigsten Stock, gleich neben uns. Als er sich meiner Mutter zuwandte und sie mit seinen blauen Augen fixierte, fiel ihr zum ersten Mal auf, wie groß er war. Sie senkte den Kopf und versuchte sich so weit von ihm zu entfernen, wie es der begrenzte Raum im Aufzug erlaubte. Während sie sich in die Ecke nächst der geschlossenen Tür drängte, presste sie mich fester an ihre Brust, schloss die Augen und betete, dass wir bald ankamen. Der Aufzug blieb zum Glück unerwartet im achten Stock stehen. Eine andere Nachbarin hatte die Ruftaste gedrückt, weil sie ins Erdgeschoss wollte. Sie war Kroatin, meine Mutter hatte sich öfter mit ihr im Stiegenhaus unterhalten. Sie stürzte an ihr vorbei aus dem Lift, bevor sie in Tränen ausbrach.

Wir waren gerade von unserem täglichen Spaziergang zurückgekehrt. Jeden Nachmittag legte mich meine Mutter in den pastellrosa Kinderwagen und machte sich mit mir gemeinsam auf den Weg zum Hafen. Der Wagen war ein Geschenk meiner Taufpaten gewesen, sie hatten ihn meinen Eltern aus Triest mitgebracht, als ich auf die Welt gekommen war. Auch heute noch strahlt der goldene Aufkleber mit der Aufschrift Made in Italy stolz auf dem ausgebleichten Kinderwagensitz am Dachboden meiner Taufpatin. Triest liegt zwar nur einen Katzensprung entfernt von Rijeka, doch wenig konnte ein Geschenk damals so aufwerten wie dieser Schriftzug.

Am Hafen sank ich meistens von der salzigen Meeresbrise (oder vom Schiffsdiesel) betäubt in einen tiefen Schlaf. Doch manchmal wollte ich meiner Mutter nicht einmal diese kurze Verschnaufpause gönnen, sondern ließ mich lieber von ihr in meinem italienischen Kinderwagen herumchauffieren. Wie ein kleiner Herrscher in einer Sänfte zeigte ich mit meinem rosigen Finger auf alles, was sich bewegte. Ich liebte diesen Zaubertrick, denn immer, wenn ich auf etwas deutete, bekamen die Dinge plötzlich einen Namen: »Brod! Galeb! Puška!« (»Schiff! Möwe! Gewehr!«), rief dann meine Mutter. Die Begeisterung in ihrer Stimme war so groß, als würde auch sie gerade zum ersten Mal hören, wie schön diese Wörter klingen.

Manchmal blies der Wind in Rijeka so, dass man in weiter Ferne noch das leise Regnen von Gewehrschüssen hören konnte. Dann begann meine Mutter ganz sanft (und ganz falsch*2) zu singen:

Sve ptičice iz gore, sve ptičice iz gore,

spustile se na more.

Samo jedna ostala, samo jedna ostala,

koja nam je pjevala,

o nesretnoj ljubavi.*3

Kroatisches Volkslied

Ich hatte gerade meinen zweiten Geburtstag gefeiert. Von diesem Moment gibt es eine Aufnahme in einem der zahlreichen Fotoalben meiner Mutter: Darauf zu sehen bin ich, am Tischende vor einer kleinen Torte sitzend und auf eine blaue Kerze in ihrer Mitte blickend. Ich scheine nicht besonders begeistert von meinem Geschenk zu sein, umso breiter ist das Lächeln meiner Mutter, die neben mir sitzt und gerade in ihre Hände zu klatschen scheint. An meiner rechten Seite erkennbar sind außerdem die zwei Trauzeugen meiner Eltern, Slavica und Zoran. Sie waren die ältesten gemeinsamen Freunde meiner Eltern, mit denen sie unzählige ausgelassene Abende an der Strandpromenade verbracht und bis in die späten Nachtstunden Tränen gelacht hatten.

Nicht lange nachdem dieses Foto entstanden war, warf Slavica meinem Vater bei einem gemeinsamen Abendessen vor, er wäre ein Landesverräter. Er solle sich freiwillig beim kroatischen Militärdienst melden und an die Front gehen, um seine Loyalität zu Kroatien zu beweisen. Andernfalls sei er in diesem Land nicht mehr willkommen. »Pa kako ne vidiš da tvoji pokušavaju da naprave Veliku Srbiju? Pogledaj šta su uradili u Vukovaru! A šta u Sarajevu! Šta rade u Kosovu!« (»Siehst du nicht, dass deine Landsleute ein Großserbien wollen? Schau dir mal an, was sie in Vukovar*4 veranstaltet haben! Oder in Sarajevo! Was sie in Kosovo machen!«), fügte Slavica hinzu. In den letzten Jahren hatte sich immer deutlicher abgezeichnet, dass Serbien seine bestehende Vormachtstellung in Jugoslawien noch ausweiten wollte. Nachdem sich vor allem unter Slobodan Milošević großserbische Bestrebungen breitgemacht hatten und es bereits zu Gewaltakten gekommen war, hatten mehrere Teilrepubliken, unter anderem auch Kroatien, ihre Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärt. Im Zuge dessen versuchten diverse serbische Truppen (mit Unterstützung der JNA) vor allem die kroatischen Grenzgebiete zu Serbien und Bosnien (Krajna) zu erobern und die dort lebende nichtserbische Bevölkerung gewaltsam zu vertreiben.

Slavica hatte mit einem Schlag alle am Tisch zum Verstummen gebracht. Niemand wusste, was er sagen sollte. Plötzlich stand mein Vater auf, ergriff Slavicas Hand und rief: »Hajde, Slavica, idemo zajedno!« (»Los, Slavica, gehen wir gemeinsam an die Front!«) Seit diesem Abend haben sie nie wieder miteinander gesprochen.

Auch mit ihrem Nachbarn Ante hatten meine Eltern vor dem Krieg gute nachbarschaftliche Beziehungen gepflegt. Da wir ein Telefon besaßen und er nicht, war er vor dem Kriegsausbruch noch regelmäßig in unsere Wohnung herübergekommen, um mit seiner Familie in Slawonien*5 zu telefonieren. Ante wiederum hatte uns noch vor gar nicht so langer Zeit Nachbarschaftshilfe geleistet, nachdem mein Vater uns alle aus der Wohnung aus- und mich im Auto eingesperrt hatte. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade mal drei Tage alt gewesen, mein Vater hatte meine Mutter und mich soeben aus dem Krankenhaus abgeholt. Nachdem er auf dem Parkplatz vor unserem Wohnblock meiner Mutter aus dem Auto geholfen hatte, dürfte er wohl für einen kurzen Augenblick vergessen haben, dass er seit neuestem Vater war. Doch nicht nur seine neugeborene Tochter, auch seinen Schlüsselbund hatte er im Auto liegen gelassen. Das war ihm allerdings erst aufgefallen, nachdem er den Verriegelungsstift nach unten gedrückt und die Tür ins Schloss hatte fallen lassen. Da der offene Balkon der einzige Weg in unsere versperrte Wohnung war, hatte ihm Ante beim waghalsigen Manöver geholfen, aus seiner benachbarten Wohnung heraus über das Geländer auf unseren Balkon im zwanzigsten Stockwerk zu klettern und die Ersatzschlüssel zu holen.

Freunde und Nachbarn waren zu Ethnien und Religionen geworden. Wo noch vor kurzem Fotos von Tito gehangen waren, prangten nun gewaltige Porträts von Franjo Tuđman an der Wand. Auch meine Eltern hatten mittlerweile ihre Jobs verloren, sie waren gekündigt worden, weil sie keine Kroaten waren — sie stammten ursprünglich aus Serbien und aus Montenegro und waren zum Studieren nach Kroatien gezogen. Beide kamen aus einfachen Verhältnissen, ihre Angehörigen waren ihr Leben lang Fabrikarbeiter gewesen, hatten am Feld oder im Stahlwerk gearbeitet, und sie waren die Ersten in ihren Familien, die ein Studium begonnen hatten. Sie hatten Tür an Tür gelebt, bevor sie schlussendlich in ein Zimmer zusammengezogen waren; vermutlich hatten sie sich bei einem ihrer zahlreichen Lästergespräche über die gemeine Vermieterin, die ständig die Miete erhöhte, ineinander verliebt. Ihre gemeinsame Beziehung hielten sie jedoch jahrelang geheim, genau genommen so lange, bis der Hochzeitstermin am Standesamt endgültig feststand. Meine Mutter stammte nämlich aus einer sehr konservativen Gegend in Montenegro, und mein Vater war ihr erster und letzter Freund gewesen. Auch heute noch schimpft Baba Hajdana*6, ihre Mutter und meine Großmutter, wenn Besuch kommt und ich mit kurzer Sommerhose am Sofa sitze. »Sakrij te noge, stigao ti je ujak! I śedi kao čovjek!« (»Bedeck diese Beine, dein Onkel ist da! Und sitz wie ein Mensch!«), faucht sie dann wild mit ihren Händen fuchtelnd in meine Richtung, bevor sie zum Gaskocher eilt, um frischen Kaffee aufzusetzen.

Meine Eltern glaubten anfangs nicht, dass der Krieg auch nach Rijeka kommen würde — oder wollten es nicht glauben. Wie die Geschichte gezeigt hat, sollten sie zwar auch recht behalten; nachdem sie damals jedoch alle paar Tage mit mir im Arm die Stiegen hinunter in den Keller stürmten, weil wieder einmal Bombenalarm ausgerufen worden war, begannen sie irgendwann, an diesen Annahmen zu zweifeln. Und so wagten sie eines Nachmittags zu überlegen, als sie wieder einmal stundenlang mit den anderen Bewohnern des Wohnblocks im feuchten Keller festsaßen, wie sie am besten das Land verlassen könnten.

Nach tagelangen Diskussionen blieben am Ende Kosovo, die USA und Österreich als ernsthafte Optionen, die sie für ein neues Zuhause in Erwägung zogen. Nach Serbien oder Montenegro wollten sie nicht: Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, welche Dimensionen der Krieg annehmen würde; doch vor allem befürchteten sie, mein Vater würde dort sofort zum Militär eingezogen werden. Für einen kurzen Moment stand allerdings Kosovo im Raum: Meine Mutter hatte dort sowohl einen Job angeboten bekommen sowie einige nahe Verwandte, die bereit gewesen wären, uns eine Unterkunft zu organisieren. Letztlich haben sich meine Eltern jedoch auch dagegen entschieden — angesichts des damals auch dort nahenden Krieges waren wir im Nachhinein alle recht froh darüber. Auch den Gedanken, in die USA auszuwandern, ließen sie schlussendlich fallen: Meine Mutter wollte nicht, dass sie ein Ozean von ihrer Familie in Montenegro trennte.

Somit blieb nur noch Österreich übrig. Snežana, eine Cousine meiner Mutter, war in den achtziger Jahren dorthin ausgewandert und erzählte immer davon, wie schön Wien und Schönbrunn doch seien. Sie kannte eine österreichische Familie in Wiener Neustadt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Wien, die immer wieder Auswanderer und Geflüchtete kostenlos bei sich aufnahm und ihnen Starthilfe in Österreich gab. Im Gegenzug dafür müssten meine Eltern lediglich im Haushalt und bei der Betreuung ihrer zwei Kinder helfen, damit wären sämtliche Wohnkosten abgegolten. Auch Snežana hatte mit ihrem Mann ein paar Jahre bei dieser Familie gelebt, und wir würden ja selbst sehen, wie gut es ihr jetzt in Österreich ging. Sie müsste nur bei ihnen anrufen, und schon könnten wir uns auf den Weg machen. Meine Eltern zögerten nicht lange.

Am Sonntag hatten meine Eltern entschieden, Kroatien zu verlassen, am Donnerstag schlossen sie zum letzten Mal die Wohnungstür hinter sich ab. Sie hatten nur das Nötigste mitgenommen: Reisepässe, Geld, etwas Kleidung, die Fotokamera meines Vaters, mich und sich.

Meine einzige Erinnerung an Kroatien bleibt ein großer, roter Luftballon.

Nachbar in Not

Renate Hell lebte mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in einem weiß gestrichenen Einfamilienhaus mit einer großen braunen Eingangstür im Zehnerviertel nahe der Autobahnausfahrt Wiener Neustadt-West.

Jeder in der Nachbarschaft kannte Renate als Frau Doktor Hell. Sollte jemandem irrtümlich der Fehler unterlaufen, Renate nicht mit ihrem korrekten Namen anzusprechen, ermahnte sie denjenigen rasch und erinnerte daran, dass ihr Ehemann Gerhard eine Dissertation über Computer verfasst hatte und an der Fachhochschule Wiener Neustadt Informatik unterrichte. Besonders stolz war Renate auf ihren Sohn Sebastian, der ganz nach dem Vater kam und bereits mit fünf Jahren wusste, wie man einen Computer bedient.*7

Die Thujen in Renates Garten waren so präzise geschnitten, dass man sich an ihren Kanten vermutlich einen Zahn ausschlagen konnte. Die Sprinkleranlage, welche die ganze Nacht lang kräftig Wasser pumpte, sorgte dafür, dass das Gras auch im trockensten Sommer strahlend grün leuchtete. Der Rasen erinnerte mehr an ein Fußballfeld als an eine Wiese, auf der Familienväter sonntags mit ihren Kindern ein wenig Ball spielten, um für ihre sonstige Abwesenheit aufzukommen. Im grünlichen Sud des kleinen Biotops schwammen das ganze Jahr über dicke rote Goldfische, und an wärmeren Tagen konnte man manchmal sogar die amerikanische Schmuckschildkröte dabei erwischen, wie sie sich am Ufer sonnte.

Renate erzählte gerne, dass die Grundstückspreise im Zehnerviertel die höchsten in ganz Wiener Neustadt waren. Das stimmte zwar so nicht ganz, war aber auch nicht weiter wichtig, denn immerhin lebte die Schwester der Bürgermeisterin nur zwei Häuser weiter. Außerdem war der Fischapark, das größte und beliebteste Einkaufszentrum Wiener Neustadts, das jeden Samstag von einkaufshungrigen Burgenländern überrannt wurde, nur wenige Schritte von Renates Haustür entfernt.

Das Grundstück, auf dem ihr Haus stand, hatte einst Renates Mutter gehört. Diese hatte darauf nicht nur jenes Haus gebaut, in dem Renate und Gerhard nun wohnten, sondern daran angrenzend noch ein zweites, das sie bis zu ihrem Tod selbst bewohnte. Dank einer eingebauten Verbindungstür zwischen den beiden Häusern konnte Renate immer schnell zu ihrer alten Mutter hinübereilen, falls diese etwas von ihr benötigte. Umgekehrt konnte die Mutter zu jeder Tages- und Nachtzeit bei Renate und Gerhard vorbeischauen, wenn es ihr in ihrem großen Haus zu einsam wurde.

Renate rauchte jeden Tag dreißig Zigaretten in einer kleinen Kammer in ihrem Keller. Ich bin mir sicher, dass auch nur wenige Atemzüge in diesem Raum die Wahrscheinlichkeit erhöhten, an einem Lungenkarzinom zu erkranken. In diesem kleinen Kämmerchen konnte man nicht nur schwer atmen, man konnte sich auch kaum bewegen, weil es vorwiegend als Lagerstätte für Feuerholz und Walnüsse genutzt wurde. Umgeben von Holzscheiten, Nussschalen und dicken Rauchschwaden, saß Renate so jeden Tag allein auf einem wackeligen Hocker, während sie auf denselben Fleck an der vergilbten Wand starrte und sich wünschte, sie wäre jemand anders.

Renate war sich immer schon sicher gewesen, für mehr als für dieses Leben bestimmt zu sein. Sie wollte nach Wien ins Theater, französischen Beaujolais trinken und träumte von einem Ferienhäuschen in der Toskana. Sie wollte einen Swimmingpool, eine südseitig ausgerichtete Terrasse und wichtige Freunde. Sie sehnte sich nach einem Ehemann, der öfter, und nach Kindern, die seltener zu Hause waren.

Noch mehr als ihre türkischen Nachbarn, die unlängst in ihre Gasse gezogen waren und angeblich die Grundstückspreise minderten, hasste Renate ihren Teilzeitjob als Hauptschullehrerin. Jeder wusste, dass diese Hauptschule nur zwei Arten von Schülern beherbergte: Ausländer, deren Deutschkenntnisse — egal ob vorhanden oder nicht — automatisch mit einer Lernbehinderung gleichgesetzt wurden, sowie österreichische Kinder, die das Pech hatten, keine angesehene Familie mit genug Geld hinter sich zu haben, die ihnen dieses Schicksal ersparte.

Renate hatte sich schon immer eine Haushälterin und ein Kindermädchen gewünscht, doch leider ließ ihr der Job an der Hauptschule ausreichend Freizeit, um sich selbst um Haus und Kinder zu kümmern. Gerhard war keine Hilfe, er kam an Wochentagen spät heim und war dann meist auch nicht zu mehr willig, als sich mit einer Flasche Grünem Veltliner auf das weiße Ledersofa von Leiner zu setzen, bis er zu den Fernsehklängen von »Knight Rider« oder »Raumschiff Enterprise« sanft zu schnarchen begann. Er konnte nicht verstehen, wozu sie jemanden teuer bezahlen sollten, um die Aufgaben zu übernehmen, für die Renate ohnehin genügend Zeit hatte — das wäre reine Geldverschwendung. Und so blieb es dabei, dass sie weiter die Böden wischte, Schnee schaufelte und mit den Kindern Hausaufgaben löste.

Nach dem Tod ihrer Mutter stand das Nachbarhaus lange Zeit leer. Gerhard und Renate hatten zuerst überlegt, es zu vermieten, doch die Suche nach Mietern hatte sich als schwieriger herausgestellt, als sie erwartet hatten. Nicht nur waren beide Häuser durch die dünne Holztür miteinander verbunden, die Renates Mutter einst so gerne genutzt hatte; die Häuser teilten sich außerdem den großen Garten mit dem Biotop, auf den Renate um keinen Preis verzichten wollte. Für die neuen Nachbarn wäre ein intimes Verhältnis mit Renate und Gerhard somit nur schwer zu vermeiden gewesen.

Fast schon hätten Renate und Gerhard ihren Plan aufgegeben, als Renate einen genialen Einfall hatte: Die Idee war ihr eines Abends gekommen, als sie neben ihrem eingenickten Ehemann die Spät-ZiB verfolgte und der Nachrichtensprecher wieder einmal von den Unruhen in Jugoslawien berichtete, die immer mehr Menschen dazu trieben, ihre Heimat zu verlassen.

Bečki Novi Grad

Wir kamen spätabends in Wiener Neustadt an. In der kühlen Luft lag schon ein herbstlicher Duft, und es nieselte leicht vom graublauen Nachthimmel herab. Die schwachen Straßenlaternen tauchten die einsamen Straßen des Zehnerviertels in einen schaurigen Nebel. Hinter den meisten Fenstern waren die dicken Kunststoffjalousien bereits heruntergelassen, sodass man nicht ins Hausinnere blicken konnte, und hinter den wenigen offenen Fenstern schien kein Licht mehr zu brennen. Die Bewohner schliefen wohl schon tief und fest, und unser Renault 4 dürfte das Einzige gewesen sein, was sie aus ihrem Schlaf reißen könnte. Weit und breit war kein offenes (oder geschlossenes) Restaurant zu sehen, niemand spazierte mit einem Eisbecher vergnügt den Corso entlang, wie es meine Eltern aus Rijeka gewohnt waren. Hier schien es nicht einmal einen Corso*8 zu geben.

Als mein Vater vor Renates Haus eingeparkt und den Motor abgestellt hatte, wurde er von der drückenden Stille ergriffen. Das Einzige, was man in der Ferne hören konnte, war das gespenstische Rauschen der Autobahn, von der wir gerade noch abgefahren waren. Meinen Eltern war es schlagartig unangenehm geworden, in Sprechlautstärke miteinander zu reden, und so beschränkten sie ihre Debatte darüber, ob sie nicht umdrehen und wieder nach Kroatien zurückfahren sollten, auf wenige Worte.

Sie hatten sich ihr neues Zuhause anders vorgestellt. Die Cousine meiner Mutter hatte von Wiener Neustadt immer als »Bečki Novi Grad« erzählt, was auf B/K/M/S*9 übersetzt »Wiener neue Stadt« bedeutet. Meine Eltern hatten schon lange davon geträumt, eines Tages Wien zu besuchen, durch die historische Altstadt zu spazieren und eine Sachertorte in Schönbrunn zu essen. Als sie zum ersten Mal von »Bečki Novi Grad« gehört hatten, war ihnen daher weniger eine ausgestorbene Vorstadt im niederösterreichischen Industrieviertel in den Sinn gekommen, als vielmehr so etwas wie eine kleinere und bessere (weil neuere) Version von Wien. Das einzig Historische an Wiener Neustadt waren jedoch — neben dem römisch-katholischen Dom im Stadtzentrum — die alten Frauen in der Fußgängerzone, die ihre Malteserhunde an sich zerrten und ihre Handtaschen näher an ihre Körper drückten, sobald sie meine Eltern sprechen hörten.

Dafür, dass die Menschen in Wiener Neustadt bis auf »Chen’s Cooking«, den All-you-can-eat-Chinesen am Stadtrand, so gut wie alles zu hassen schienen, was aus dem Osten kam, sahen ihre Gebäude jenen im Ostblock verdächtig ähnlich. Da Wiener Neustadt wegen seiner starken Luftrüstungsindustrie eine tragende Rolle für die deutsche Luftwaffe gespielt hatte, war ein Großteil der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden — daher hat man dort, wo früher Altbauten standen, nach Ende des Krieges schlecht isolierte Wohnblöcke mit mikroskopisch kleinen Fenstern hingebaut oder die Bewohner mit architektonischen Experimenten der 1970er beglückt. Diese klassischen sozialistischen Bauten waren aber auch das Einzige, was meine Eltern an ihre alte Heimat erinnerte.

Der Nussknacker

Der Deal mit Familie Hell lautete: Meine Mutter putzt, kocht und passt auf die Kinder auf, während sich mein Vater um den Garten und allfällige Reparaturen kümmert. Im Gegenzug durften wir in das alte Haus von Renates Mutter einziehen und dort mietfrei wohnen. Außerdem boten Gerhard und Renate an, meinen Vater dabei zu unterstützen, in einem der umliegenden Betriebe eine Anstellung zu finden.

Dass zumindest einer von ihnen rasch einen festen Job fand, war nämlich entscheidend dafür, ob wir dauerhaft in Österreich bleiben konnten. Meine Eltern waren zwar vor dem Krieg geflohen, jedoch nicht als Asylwerber, sondern als Gastarbeiter. Freilich war die Überlegung im Raum gestanden, in Österreich um Asyl anzusuchen, sie hatten sich dann aber schlussendlich dagegen entschieden und ein Arbeitsvisum beantragt — ein Luxus, der nur den allerwenigsten Menschen auf der Flucht zugutekam. Meine Eltern hatten schon zu viele Geschichten von Menschen gehört, die mitten in der Nacht in Autobusse gesteckt und in eine Heimat zurückverfrachtet worden waren, die sie nicht mehr wiedererkannten. Durch die Beantragung eines Arbeitsvisums anstelle von Asyl wollten sie ebendieses Risiko vermeiden, nach Ende des Krieges in ein zerrüttetes Land abgeschoben zu werden. Sie wollten sich in Frieden ein neues Leben aufbauen, das ihnen nach ein paar Jahren nicht wieder genommen werden würde. Der Verlust einer Heimat reichte ihnen für ein Leben.

Ich weiß nicht, wie meine Mutter und Renate sich anfangs verständigten — die einzige Fremdsprache, die meine Mutter als Kind in der Schule gelernt hatte, war nämlich Russisch. Dass sich später einmal nicht Russisch, sondern Englisch zur Weltsprache entwickeln würde, damit hatte sie im sozialistischen Jugoslawien (zumindest in Montenegro) nicht gerechnet. Zusammen mit diversen Handgesten schienen ihre Sprachkenntnisse allerdings auszureichen, um jeden Abend mit Renate einen Putzplan für den nächsten Tag zu erstellen. Nachdem sie die Reste des Abendessens von den Tellern gewaschen hatte, setzte sie sich an den großen hölzernen Esstisch im Wohnzimmer, wo sie Renate bereits vor einem leeren Blatt Papier mit einem Rotstift in der einen und einem koffeinfreien Kaffee in der anderen Hand erwartete.

Renate wohnte mit ihrer Familie auf insgesamt 250 Quadratmetern, die sich über zwei Stockwerke erstreckten. Dazu kamen noch ein großzügiger Keller sowie der Dachboden. Ihr Haus bot somit nicht nur ausreichend Fläche für Hausstaub, Spinnweben und hartnäckigeren Dreck, sondern auch mehr als genug Platz für die zahlreichen Erinnerungen mehrerer Generationen und Familien, die sich über die Jahre hier angesammelt hatten. Die deckenhohen Schränke quollen über von den alten Kleidern ihrer Großmutter, kratzigen Handtüchern in allen Farben und Größen sowie Wolldecken, die vermutlich ein ganzes Flüchtlingsheim hätten warm halten können. In jeder dunklen Ecke stolperte man über Kisten voller Fotoalben und Spielsachen aus dem vergangenen Jahrhundert, alte Perserteppiche oder unausgepackte Haushaltsgeräte, lugte man hinter einen Vorhang, wurde man manchmal sogar von einem ausgestopften Dachs oder einem Hirschgeweih überrascht (Renates Großvater war Jäger gewesen). Sogar die Speisekammern waren zum Bersten voll mit Mehl, Zucker und allem, was in einem Glas Essig eingelegt mehrere Jahre überdauern konnte.