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Zschokke liest Proust. Ein hoch komischer und intelligenter Kampf mit 5000 Seiten Weltliteratur und mit sich selbst. Wie kann man sich selbst Schriftsteller nennen, aber eines der ganz großen Werke der Weltliteratur nicht gelesen haben?! Wird man nur mitleidig belächelt, wenn man gestehen muss, die »Suche nach der verlorenen Zeit" nicht zu kennen? Matthias Zschokke stellt sich diesem Mammutunternehmen: Wild entschlossen, voller Neugier und diszipliniert will er dem Geheimnis dieses Werkes auf die Spur kommen. Schnell werden Zweifel wach. Vielleicht liegt es nur an der deutschen Übersetzung? – Und das französische Original würde jeden Leser sofort in einen Rausch versetzen? Zschokke müht sich redlich, sich dem Werk gewachsen zu erweisen, aber er liest eben wie ein Autor, der sich um jedes Detail Gedanken macht. Immer ist er bereit, die Ursachen für Missmut und Unverständnis erst einmal bei sich selbst zu suchen. Beistand und Hilfe findet er etwa bei einem berühmten Proustübersetzer (und -kenner), dem er unverdrossen Fragen stellt, wenn er etwas unlogisch oder verlogen findet. Dessen Erklärungen machen den Autor zuweilen dankbar staunen, aber zugleich lädt er ihm doch immer wieder seine Klagen auf. »Der fünfte Band hat mir mit seinem hysterischen Gezicke in Endlosschleife den letzten Rest gegeben." Trotzdem: Durchhalten ist Pflicht! Ein wunderbar amüsantes Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 74
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Matthias Zschokke
Ein Sommer mit Proust
Umschlag
Titel
Ein Sommer mit Proust
Impressum
Anfang Juni begann ich, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu lesen. Nach den ersten paar Seiten berichtete ich meiner französischsprachigen Übersetzerin von meinem Lektürevorhaben. In der Annahme, sie sei eine Kennerin des Werks – da man es im frankophonen Raum bestimmt mit der Muttermilch aufnehme –, hoffte ich, von ihr dazu beglückwünscht und – falls meine Lesekräfte unterwegs schwinden sollten – dann und wann zwischendurch angefeuert zu werden.
An die französischsprachige Übersetzerin,
vor ein paar Tagen war ich endlich verzweifelt genug – ich wusste nichts mehr zu dichten, nichts mehr zu trachten, nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu träumen –, um mich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben, die man ja wohl einmal in seinem Leben gelesen haben sollte. Ob ich die Disziplin aufbringen werde, alle dreizehn Bände durchzuackern, weiß ich noch nicht. Auf Deutsch ist es anstrengend. Die Sprache kommt mir akademisch vor. Ich frage mich, ob Proust im Original auch so klingt, ob er sich nicht leichter, eleganter, fließender liest? Ich könnte mir vorstellen, dass die Opulenz auf Französisch einen rauschhaften Zustand auslöst im Leser, eine Benebelung wie Opium, man wird von ihr überwältigt? Auf Deutsch muss man einen glasklaren Kopf behalten, um folgen zu können.
Was ich jetzt schon sagen kann: Sehr, sehr viele Wörter. Mir würden weniger oft besser gefallen.
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Die Gefahr, dass ich dem Proustfieber verfallen werde, scheint mir klein zu sein. Ich fürchte, das ist mir insgesamt alles zu bildungsbürgerlich eloquent (Konversation auf höchstem Niveau, aber Konversation; Smalltalk, in Platin gefasst). Manch betörend schöne Passage finde ich, manche umarmenswerte Charaktere, manche Weisheiten, Einsichten, Erkenntnisse, Beobachtungen, die behaltenswert sind, aber insgesamt viel zu viel schönes Geschwätz um des schönen Geschwätzes willen. Über weite Strecken langweilig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eigenständig denkende, unabhängige Köpfe, wie ich sie mag, enthusiastische Proustleser waren oder sind. Seine Brillanz und seine eiserne, ja diamantene Schreibdisziplin sind bewundernswürdig, aber hinschmelzen lassen mich andere.
Ich nehme mir vor, alles zu lesen, sonst werde ich bis zum Grab immer denken, ich hätte mich vor einem wirklich Großen gedrückt.
An einen Romanistikprofessor und Proustspezialisten,
endlich ist es so weit. Ich habe mit Prousts Suche nach der verlorenen Zeit angefangen. Unabhängig vom respekteinflößenden Umfang bin ich im ersten Band einem Problem begegnet, das mich irritiert. Ich lese ihn in der »werkausgabe edition suhrkamp, 75. und 76. Tausend«. Auf den ersten zweihundertfünfzig Seiten bin ich über mindestens zwanzig Druckfehler gestolpert. Mal ein und anstelle eines uns, mal ein was anstelle eines war, mal dolch statt solch, mal lähme statt lähmte, vermommen statt vernommen usw. Zum einen verblüfft mich das, weil ich in meinem Verlag erfahren habe, dass echte Leser in der ersten Auflage Fehler entdecken und sie dem Verlag melden, worauf der sie für die zweite Auflage korrigiert. Wenn es eine dritte gibt, sind weitere Fehler eliminiert usw. Gerade Proustleser sollten doch eigentlich auf orthographische Fehler empfindlich reagieren und dieses Jahrhundertwerk besonders sorgfältig hegen und begleiten?
An sich ist es natürlich keine Katastrophe, ein Und anstelle eines Uns lesen zu müssen. Man korrigiert das automatisch für sich und denkt, na ja, bei solch einem Mammutunternehmen kann der eine oder andere Flüchtigkeitsfehler schon mal passieren. Doch ist die Lektüre ja nicht ganz einfach. Die Sprache ist fein ziseliert. Man muss hellwach sein und Wort für Wort lesen, um dranzubleiben und zu kapieren, worum’s geht. Jeder Fehler bringt den Lesefluss jedoch für einen Moment zum Stocken, und – schlimmer – ich realisiere, dass dadurch Unsicherheit in mir wächst: Ich lese wie auf Nadeln, in der permanenten Furcht, bald einer nächsten Unsauberkeit zu begegnen, und ich steigere mich in den Zweifel hinein, vielleicht eine hingehudelte Volksausgabe gekauft zu haben, etwas für Studenten, von denen man annimmt, sie würden sowieso nur kursorisch lesen, weswegen es für sie allemal ausreiche.
Als unangenehme Nebenerscheinung davon beginne ich aber auch der Übersetzung als solcher zu misstrauen.
Die Suche nach der verlorenen Zeit ist nicht gerade für den Plot berühmt. Niemand greift zu Proust, wenn er wissen will, ob Comte Rodolphe die Marquise de la Motte kriegt oder nicht. Es ist nicht die Neugier danach, wie es weitergeht, die einen durch die Seiten zieht. Man will bei Proust erfahren, wie der Comte duftet und welche eingebildete körpereigene Ausdünstung er mit seinem Vetiver-Parfum zu überdecken sucht, man will erfahren, wie die Marquise ihm ihre rechte Hand hinzuhalten pflegt und warum sie parallel dazu mit ihrem linken Daumen und Zeigefinger am eigenen Ohrläppchen zupft. Man will spüren, wie zart ihre Haut ist. Man will das alles Satz für Satz, Wort für Wort schmecken, riechen, empfinden. Die Sprache ist der Inhalt. Wenn da steht Stuhl, dann will der Leser sich auf ihn setzen können. Es geht um jedes noch so kleine Detail, um jeden Augenaufschlag, alles mikroskopisch genau.
Ich stelle mir das Original sinnlich betörend, fast hypnotisch vor, von laborhafter Präzision, die keinen noch so kleinen Flüchtigkeitsfehler duldet. Durch solche uns/und-Verwechslungen beginne ich jedoch im Unterbewusstsein an der Sauberkeit des ganzen Experiments zu zweifeln. Ich frage mich, ob die Übersetzung, die ich lese (Eva Rechel-Mertens), vielleicht nicht allzu sorgfältig gemacht wurde? Ich frage mich beispielsweise, ob sie vielleicht eine Spur zu akademisch ist, da ich von ihr vor allem zerebral gefordert und nicht unbedingt sinnlich entführt werde. Ein Beispiel:
»… in der alten Herberge zum ›Oiseau Flesché‹, aus dessen Kellerfenstern ein Küchengeruch aufsteigt, der noch manchmal genauso intermittierend und warm in meiner Erinnerung wiederkehrt …«
Erstens wusste ich nicht, was intermittierend heißt. Musste nachschlagen. Nun kann man sagen, Proust habe eben nicht für Dummerchen, sondern für gebildete Leute geschrieben. Das akzeptiere ich. Doch vermute ich, dass er eher von so etwas wie beispielsweise »warmen Schwaden« geschrieben hat, die »aus der Erinnerung heranwehen«. Intermittierend mag im Französischen ein geläufiges Wort sein, auf Deutsch ist es ein theoretisches, wissenschaftliches. Ich frage Dich, weil ich fürchte, dass ich vielleicht an der Übersetzung scheitern könnte und gar nicht an Proust? Werde ich von der Übersetzerin dazu gezwungen, das Bildungsbürgerross zu besteigen und auf diejenigen herabzuschauen, die prunefarben nicht verstehen (zu denen gehöre ich immerhin nicht, kann ich stolz vermelden, frage mich aber, ob es nicht ebenso gut pflaumenfarben heißen könnte) oder die nach jedem dritten Satz verwundert ausrufen, hä?, was hat er gesagt?, versteh ich nicht … und irgendwann das Werk entnervt weglegen, nicht weil es ihnen zu hoch ist, sondern weil es in ein zu hohes Deutsch übersetzt ist?
Bevor ich nun dauernd an dieser Frage herumnage, wollte ich sie Dir stellen, weil ich denke, dass sie alt ist und von Dir leicht beantwortet werden kann. Danach werde ich Dich in Ruhe lassen.
Unabhängig davon habe ich bereits auf diesen ersten zweihundertfünfzig Seiten schöne Passagen gelesen und umarmenswerte Charaktere kennengelernt und habe den Eindruck, Proust habe einen feinen Humor und denunziere die Zeitgenossen nicht, die er abschreibt. Ich glaubte immer, die Arroganz, Verachtung und giftige Ironie, die eingeschworene Proustleser ausströmen, hätten sie bei ihm abgeschaut; doch er scheint unschuldig zu sein daran; er hat wohl bloß das Pech, die falschen Leser anzuziehen. Wobei ich, je älter ich werde desto mehr, den Verdacht habe, dass jeder von uns selbst verantwortlich ist für die Anhänger, die er um sich schart.
Zum Beispiel wäre James Joyce längst zu einem Autor geworden, an dem ich mir die Zähne ausgebissen hätte, wenn er vom Pech verfolgt worden wäre, die gleichen mitleidlosen Bildungsbürger anzuziehen wie Proust. Doch das tat und tut er nicht. Mir übrigens unbegreiflich, dass beide immer in einem Atemzug genannt werden, wenn es darum geht, die Geburtsstunde der sogenannt neuen oder modernen Literatur festzulegen, da Proust meines Erachtens mit keiner Silbe neu ist – im Gegenteil, er steht für die auf die Spitze getriebene und bis ins Extrem verfeinerte Konvention –, während Joyce im Ulysses tatsächlich Regeln brach und wohl als radikal bezeichnet werden kann. Mindestens habe ich das damals, als ich ihn las, so empfunden.
An einen Freund,
die ersten beiden Bände habe ich inzwischen gelesen. Ich fürchte, ich werde nicht durchhalten. Das ist mir alles viel zu mastig. Eine Perle an die andere gereiht; Perlendünnpfiff.
Ich kann mir vorstellen, dass man als Leser niederkniet vor einem solch bravourösen Umgang mit Sprache, dass man sich benebeln lässt von der Parfumwolke und dem schwülen Bombast, in denen das alles daherkommt. Doch ich fürchte, ich habe mich schon an den ersten zwei Bänden überfressen und kriege das triefend süße Zeug nicht bis zum letzten Band runter.
Aber noch gebe ich nicht auf. Ich will so lange weiterlesen, bis ich entweder kapiere, warum Leute, auf deren Urteil ich sonst baue, dieses Werk durch sämtliche Böden hindurch verteidigen, oder bis ich für mich formulieren kann, was mich an ihm stört.