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Matthias Zschokke schreibt vom scheinbar Alltäglichen, entdeckt daran das Einzigartige, Schöne, Traurige und Komische und erzählt ganz nebenbei eine diskrete Liebesgeschichte. Tragisch oder komisch? Abgründig oder banal? Alltäglich oder außergewöhnlich? Der Roman balanciert zwischen diesen Gegensätzen ebenso wie sein Protagonist, von dem man nur gerade erfährt, dass er zwei Augen hat und eine Nase, und der in einer Selbstbeschreibung von sich sagt: »Ich komme im Mantel, in einem sandfarbenen, und in der linken Hand halte ich voraussichtlich einen kleinen sandfarbenen Koffer. Ich bin durchschnittlich groß, habe durchschnittlich kurzes, sandfarbenes Haar, und rechts von mir wird eine Frau gehen, die etwa ein Kopf kleiner ist als ich, und die Sie sich der Einfachheit halber am besten auch gleich sandfarben vorstellen – wir werden einander bestimmt nicht verpassen." Ob in den Cafés und auf den Straßen, beim Zusammentreffen mit Fremden und Bekannten, ob auf Reisen oder zu Hause bei der Frau, die der Mann mit den zwei Augen vor vielen Jahren beim Chorsingen kennen und lieben gelernt hat, ob bei Rosaura, die ihm in ihrem Etablissement die merkwürdigsten Freuden zuteil werden lässt – Zschokke ist ein Meister darin, die Dinge und Ereignisse im Erzählen zu drehen und zu wenden, bis sie in einem fremden Licht ihre Selbstverständlichkeit verlieren und uns staunen machen.
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Seitenzahl: 332
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Matthias ZschokkeDer Mann mit den zwei Augen
Matthias Zschokke
Roman
Eine rumänische Pflegerin hob den Hörer ab und gab ihn weiter an die Frau im Liegestuhl. Die murmelte: »Io dormo, io dormo.« Der Mann mit den zwei Augen lachte und sagte: »Seit wann können Sie Italienisch? Ich bin’s, hören Sie? Sie schlafen nicht, Sie telefonieren mit mir.« Daraufhin bekam sie einen Hustenanfall, und er verabschiedete sich. Io dormo, io dormo waren ihre letzten Worte gewesen. Am Abend starb sie. Einen Tag vorher war auch ihre einundzwanzigjährige Katze gestorben. Das hatte der Mann ihr eigentlich mitteilen wollen.
Die Katze war ihr als halbwüchsiges, verwildertes Tier zugelaufen und blieb bis zuletzt schmal und scheu. Sie hatte auffallend große, fast durchsichtige Ohren und machte nur selten, völlig unerwartet, zwei, drei Schritte auf Menschen zu, um sich dann ohne übertriebene Eile wieder von ihnen zu entfernen. Den Mann mit den zwei Augen hatte sie grundsätzlich nicht beachtet. Nur ein einziges Mal hatte sie sich ihm vorsichtig genähert, war ihm ums rechte Bein gestrichen und danach mit senkrecht erhobenem Schwanz davongegangen. Wie es dazu gekommen war, lässt sich nicht rekonstruieren. Er freute sich jedenfalls sehr darüber und dachte, nun hätte er sie für sich gewonnen.
Als junges Tier hatte sie eine porzellanzarte, rosarote Nase. Manchmal vergaß sie, die Zungenspitze ins Maul zurückzuziehen. Den Ausdruck ihres Gesichts hätte man dann als leicht besorgt umschreiben können. Sie erweckte ihr ganzes Leben lang den Eindruck, schwere Verantwortung zu tragen zu haben. Was für ein Ernst! Was für ein zierlicher Körper! Was für kühle, weiche Pfoten! Wer keine Katzen mag, wird verständnislos den Kopf schütteln über diese Zeilen. Der Mann mit den zwei Augen konnte nicht anders, ihm gefielen Tiere. In deren Umgebung war ihm wohl, und die Freude, am Leben zu sein, flammte jeweils kurz in ihm auf. Von Pferden zum Beispiel wusste er, dass sie schlecht schlafen, wenn man sie nachts allein draußen lässt. Pferde bewachen wechselseitig ihren Schlaf. Dies zu wissen beglückte ihn.
Es ist am besten, das Boot nur dann auszuschöpfen, wenn es nötig ist. Das war die einzige Weisheit, welche die Frau, die im Liegestuhl verstorben war, gekannt hatte. Sie zitierte sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, so oft, bis schließlich auch der Mann mit den zwei Augen anfing, sie zu zitieren. Er hatte sich mit den Jahren an die Frau gewöhnt. Er liebte es, an ihrer linken Seite durch die Straßen zu gehen und ihre Hand zu halten. Dann fiel ihm aber meistens nichts zum Sagen ein. Wie der Frieden und das Glück hatten sie beide nicht allzu viele Worte und Geschichten zu ihrer Verfügung. Wenn sie den Satz mit dem Boot sagte, dachte er jeweils für sich: Wie recht sie hat; am besten ist es, das Boot nur dann auszuschöpfen, wenn es nötig ist.
Nun war sie also tot. Freiwillig aus dem Leben geschieden, wie die offizielle Bezeichnung dafür lautete. Er wünschte sich nicht, Gottes Blitz möge in all jene fahren, die ihr das Leben verleidet hatten. Der Blitz war viel zu rein dazu. Würde er in sie fahren, würde er zeitlebens stinken, der Blitz, weil er mit diesem Bastardgezücht in Berührung gekommen wäre, mit diesen siechen Hämlingen, die alles niedermachen, was in die Höhe träumt.
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