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Er weiß nicht mehr, was er erlebt hat, was er in diesem Zug macht. Der Vollmond steht tief über dem Horizont, eine graue Scheibe. Er sieht die Krater, die sandigen Meere. Er erinnert sich nicht mehr, wer er ist. Der Mond, er ruft ihm etwas ins Gedächtnis. Die Wolken. Den Wind. Er erinnert sich nicht. Er erinnert sich nicht an die Geschichte.
Ein junger Mann wird in einem unterirdischen Raum irgendwo in Ostafrika vernommen. Noch vor Kurzem sollte er Kampfpilot in der ugandischen Luftwaffe werden. Er studierte an der entsprechenden Akademie in Athen, er marschierte in einer weißen Uniform, er entfernte sich von einer Kindheit voller Gewalt und war auf dem Weg in eine Zukunft in den Wolken. Doch dann, wenige Monate vor seinem Examen, kommt es in Uganda zum Staatsstreich. Idi Amin ergreift die Macht. Sein Regime wird zu einem der blutigsten des afrikanischen Kontinents werden. Und genau in diesem Moment trifft der junge Mann eine folgenschwere Entscheidung: Er wird nicht zurückkehren ins mörderische Uganda, obwohl es ihm befohlen wird. Seine Sehnsucht zu fliegen führt ihn später dennoch nach Afrika zurück und damit geradewegs auf eine Wanderung durch die Hölle. Er wird zu einem Vertriebenen, einem Flüchtling, dessen Leben auch in Schweden, wohin es ihn zum Schluß verschlägt, durch Einsamkeit und Heimatlosigkeit gezeichnet ist.
Johannes Anyuru hat einen fesselnden, berührenden Roman über seinen Vater geschrieben – und darüber, wie ein Mensch von den Stürmen der Geschichte erfasst und gezwungen werden kann, alles zu riskieren, um dem Tod zu entfliehen. Es ist ein Buch über persönlichen Mut, das zeigt, wie eine einzige Entscheidung ein ganzes Leben verändern kann. Es erzählt von der Tragik eines Menschenlebens, das exemplarisch für das Leben so vieler Getriebener und Vertriebener im 20. Jahrhundert steht.
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Seitenzahl: 358
Zum Buch
Er weiß nicht mehr, was er erlebt hat, was er in diesem Zug macht. Der Vollmond steht tief über dem Horizont, eine graue Scheibe. Er sieht die Krater, die sandigen Meere. Er erinnert sich nicht mehr, wer er ist. Der Mond, er ruft ihm etwas ins Gedächtnis. Die Wolken. Den Wind. Er erinnert sich nicht. Er erinnert sich nicht an die Geschichte.
Ein junger Mann wird in einem unterirdischen Raum irgendwo in Ostafrika vernommen. Noch vor Kurzem sollte er Kampfpilot in der ugandischen Luftwaffe werden. Er studierte an der entsprechenden Akademie in Athen, er marschierte in einer weißen Uniform, er entfernte sich von einer Kindheit voller Gewalt und war auf dem Weg in eine Zukunft in den Wolken. Doch dann, wenige Monate vor seinem Examen, kommt es in Uganda zum Staatsstreich. Idi Amin ergreift die Macht. Sein Regime wird zu einem der blutigsten des afrikanischen Kontinents werden. Und genau in diesem Moment trifft der junge Mann eine folgenschwere Entscheidung: Er wird nicht zurückkehren ins mörderische Uganda, obwohl es ihm befohlen wird. Seine Sehnsucht zu fliegen führt ihn später dennoch nach Afrika zurück und damit geradewegs auf eine Wanderung durch die Hölle. Er wird zu einem Vertriebenen, einem Flüchtling, dessen Leben auch in Schweden, wohin es ihn zum Schluss verschlägt, durch Einsamkeit und Heimatlosigkeit gezeichnet ist.
Johannes Anyuru hat einen fesselnden, berührenden Roman über seinen Vater geschrieben – und darüber, wie ein Mensch von den Stürmen der Geschichte erfasst und gezwungen werden kann, alles zu riskieren, um dem Tod zu entfliehen. Es ist ein Buch über persönlichen Mut, das zeigt, wie eine einzige Entscheidung ein ganzes Leben verändern kann.
Zum Autor
JOHANNES ANYURU, geboren 1979, gilt als einer der wichtigsten jüngeren Autoren Schwedens. Er debütierte 2003 mit einer viel beachteten und hoch gerühmten Gedichtsammlung (Det är bara gudarna som är nya/Nur die Götter sind neu). Für »Ein Sturm wehte vom Paradiese her«, eine autobiografisch geprägte Annäherung an das Schicksal seines Vaters, bekam er zahlreiche Preise verliehen. Der Roman wurde für den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Augustpreis, nominiert. Er erhielt den Literaturpreis von Svenska Dagbladet und Aftonbladet, stand auf Platz 1 der Kritikerliste von DagensNyheter und wurde für den Preis des Nordischen Rates nominiert. Er ist in sieben Sprachen übersetzt.
JOHANNES ANYURU
Ein Sturm wehte vom Paradiese her
ROMAN
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Luchterhand
Er öffnet die Augen. Der Boden bebt. Das Gefühl, dass der Raum eben noch voller Stimmen und Gelächter war. Vielleicht hat er das auch nur geträumt. Er liegt zwischen zwei Sitzbänken. In einem Fenster über ihm bewegen sich, ganz langsam, Sterne. Er liegt in einem Zugabteil, steht auf und lässt sich auf einen der Sitze fallen. Sein Körper schmerzt, die Glieder sind steif. Er blickt auf seine Hände, die Knöchel, die schlanken Finger herab, dreht den Kopf und versucht, in der Scheibe sein schemenhaftes Spiegelbild zu sehen. Er weiß nicht mehr, was geschehen ist, was er in diesem Zug macht. Der Vollmond steht tief am Horizont, eine graue Scheibe. Er sieht die Krater, die Sandmeere. Er erinnert sich nicht mehr, wer er ist. Der Mond, er ruft ihm etwas ins Gedächtnis. Die Wolken. Den Wind. Er erinnert sich nicht. Er erinnert sich nicht an die Geschichte.
I
»Warum sind Sie zurückgekehrt?«
P sitzt auf einem Stuhl, hatte das Kinn auf den Brustkorb gesenkt, schaut nun aber auf und erwidert über den Tisch hinweg den Blick des anderen. »Darauf habe ich Ihnen schon geantwortet«, sagt er.
Das Zimmer hat kein Fenster, und obwohl die Männer mehrere Knöpfe an ihren Hemden geöffnet haben, schwitzen sie stark und haben große, feuchte Flecken am Rücken und unter den Armen. Der Vernehmungsleiter spreizt die Finger und lässt die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinander trommeln.
Der Mann ist um die vierzig. Sein Hemd ist olivgrün, ein Uniformhemd ohne Rangabzeichen. Eine einsame Glühbirne hängt an einer Fassung über dem Tisch. »Sagen Sie mir die Wahrheit, dann dürfen Sie nach Lusaka zurückkehren.«
P blickt wieder auf den Boden herab. Der Beton sieht so körnig und trostlos aus, wie man es von Fotos von der Mondoberfläche kennt.
»Mir wurde eine Stelle bei einem Unternehmen in der Nähe von Lusaka in Aussicht gestellt.« P begreift nicht, warum sie ihn festhalten, warum sie ihn überhaupt hierher gebracht haben. »Ich soll dort Sprühflugzeuge fliegen.«
»Sie sollen Sprühflugzeuge fliegen.« Die Männer führen ihr Gespräch auf Kiswahili. Der Vernehmungsleiter blättert in den Papieren auf seinem Tisch. Er hat einen drahtigen Körper und ein fleischiges und grobschlächtiges Gesicht, sein Schnurrbart ist graumeliert, er ist fast glatzköpfig. Sein Mienenspiel ist amüsiert, brutal, gelegentlich bemüht freundlich. »Ein ausgebildeter ugandischer Kampfpilot reist von Rom nach Sambia, um mit Sprühflugzeugen über Obstplantagen zu fliegen?«
P wischt sich den Schweiß aus der Stirn. Sie haben ihn direkt vom Flughafen hierher gebracht, und er hat den ganzen Tag weder etwas gegessen noch getrunken. Er ist müde und hat das Gefühl, einen viel zu langen Traum zu träumen, unter Wasser zu schwimmen, außerhalb seiner selbst zu sein. Die Wände des Raums sind blau. Streifen nackten Zements treten überall dort hervor, wo die Farbe abblättert. Sie sehen aus wie Kontinente auf einer Karte aus einem anderen Zeitalter, einer anderen Welt.
»Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie mich ja nach Rom zurückschicken.«
In der linken Ecke des Raums, hinter Ps Rücken, steht ein Wärter, seine Anwesenheit ruft sich durch das Scharren von Schuhen auf dem Fußboden in Erinnerung. Der Vernehmungsleiter wechselt die Sitzhaltung, stützt das Kinn in die Hand, legt nachdenklich einen Zeigefinger auf seine Lippen. Er weigert sich zu glauben, dass jemand zu diesem zerfleischten Kontinent zurückkehren würde, ohne andere Ziele zu verfolgen als die von P gebetsmühlenartig angegebenen: Er habe fliegen wollen, die einzige Chance dazu habe sich in einem kleinen Unternehmen ergeben, das nahe Lusaka in Sambia Obstplantagen mit Propellermaschinen aus der Kolonialzeit besprühe.
P kneift die Augen zu und spürt die Müdigkeit in seinem Kopf aufsteigen wie weißes Rauschen. Ihm ist schlecht.
»Sie müssen so langsam einsehen, dass Sie nicht zu Ihrem Kontaktmann in Rom zurückkehren dürfen.«
»Meinem Kontaktmann?«
Der Vernehmungsleiter schlägt mit der flachen Hand krachend auf den Tisch. »Wer hat Sie nach Sambia geschickt? Für wen arbeiten Sie?« Der Wärter hinter Ps Rücken bewegt sich, seine Schuhe scharren über den Boden. »Also gut. Wie sollen wir Sie denn nach Rom zurückschicken können? Offiziell sind Sie von Lusaka aus doch schon dorthin zurückgekehrt, nicht wahr? Den Ausweisungsbescheid haben Sie doch selbst unterschrieben.« Der glatzköpfige Tansanier zeigt auf ein Dokument und zieht anschließend ein weiteres Blatt heraus, das er auf den Tisch legt. »Hier haben Sie eine Bescheinigung unterschrieben, nach der Sie von hier aus nach Lusaka zurückgeschickt worden sind.«
P starrt vor sich hin und versucht, sich etwas einfallen zu lassen, was er darauf erwidern könnte. Er ist zwar bisher nicht misshandelt worden, aber die Gewalt liegt in der Luft.
»Sie sollten vielleicht ein bisschen besser aufpassen, was Sie so alles unterschreiben. Sie existieren überhaupt nicht mehr. Es wird höchste Zeit, dass Sie unsere Fragen beantworten.«
Viele der Papiere, die bereits auf dem Tisch verteilt liegen, gehören P: sein Pass, seine Flugtickets. Der Vernehmungsleiter zupft ein weiteres Dokument aus einer Mappe, betrachtet es und gibt sich nachdenklich. Er legt es auf den Tisch und schiebt es zu P hinüber, der es in die Hand nimmt.
P betrachtet die griechischen Buchstaben. Sein Name und sein Rang. Die Insignien der griechischen Luftwaffe: ein Mann mit Flügeln, weiß auf himmelblauem Grund. Seine Examensurkunde.
»Sie wurden an der Griechischen Luftstreitkraftakademie in Dekelia bei Athen ausgebildet, dann sind Sie nach Rom gereist und von dort nach Sambia. Warum?«
»Ich wollte fliegen.« Der Satz klingt selbst in seinen eigenen Ohren wie eine Lüge. Am liebsten würde er schreien, aufspringen und den Tisch umkippen, schreien, dass er nur fliegen wollte. Er streicht mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Er wollte nur fliegen. Vor seinem inneren Auge flattert ein Bildstreifen vorbei, eine Erinnerung, die sich anfühlt, als hätte sie sich in einem anderen Leben abgespielt: Er steht an einem Maschendrahtzaun und betrachtet Düsenjets, die aus dem Himmel herabsinken, es ist der erste Herbst in Griechenland, die Blätter hängen noch an den Bäumen, aber die Baumkronen auf dem Schulhof haben eine Farbe bekommen wie Karton, er und die anderen angehenden Flugkadetten aus der Dritten Welt lernen auf engen Holzbänken sitzend Griechisch, wiederholen den ganzen Tag lang Verben und Substantive, aber eines Nachmittags sind sie von einem Bus abgeholt worden, durch die Absperrungen um die Luftstreitkraftakademie gefahren und an diesem Maschendrahtzaun herausgelassen worden, hinter dem das Flugfeld liegt, und dann stehen sie dort und schauen auf die Flugzeuge, die sie zu fliegen lernen werden, später, wenn der Sprachkurs abgeschlossen ist – die schlanken Mördermaschinen, die sich in der Ferne über die Start- und Landebahn bewegen, langsam und schwankend wie Sturmmöwen.
»Möchten Sie eine Zigarette?«
P zuckt mit den Schultern, ohne von dem Dokument in seinen Händen aufzublicken. Der Vernehmungsleiter muss dem Wärter ein Zeichen gegeben haben, denn dieser tritt einen Schritt vor und hält ihm eine Schachtel filterlose Zigaretten hin. P nimmt sich eine, steckt sie in den Mundwinkel, der Wärter zündet sie an und weicht anschließend wieder in die Schatten zurück. P legt seine Examensurkunde auf den Tisch zurück, wartet auf eine Frage, oder die Gewalt, oder darauf, freigelassen zu werden, auf irgendetwas, raucht.
»Was halten Sie von Obote?«
»Von Obote?« Er lässt den Rauch durch die Nasenlöcher hinausschlängeln. »Ich wünschte, er wäre Ugandas Präsident. Er ist vom gleichen Stamm wie ich.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist, als Obote im Frühjahr neunundsechzig Ihr Heimatdorf besucht hat.«
»Neunundsechzig war ich in Griechenland.« P weiß, wovon der Vernehmungsleiter spricht. John hat ihm in einem Brief davon erzählt.
»Frühjahr Neunzehnhundertneunundsechzig.« Der Mann spricht die Jahreszahl betont langsam aus, Silbe für Silbe, als könnte P sie falsch verstanden haben. »Im Frühjahr Neunzehnhundertneunundsechzig reiste Milton Obote, Ihr Präsident, durch die Provinz und hielt Reden auf dem Land. Es war eine Kampagne, um das Volk nach dem Aufstand des Königreichs Buganda zu einen. Das ist Ihnen bekannt?«
»Ich war in Griechenland.«
»Als er in Ihr Heimatdorf kam, wurde er von einem Mob angegriffen, der das Podium niederriss, das Mikrofon zerbrach und ihn in die Flucht schlug.«
»Ich war in Griechenland.«
»Aber Sie haben die Neuigkeit von Ihrer Familie gehört, nicht wahr? Sie waren gegen Obote.« Der Vernehmungsleiter zeigt bei diesen Worten auf P, als stünde dieser hinter der Unzufriedenheit mit Obotes Art, vom Präsidentenpalast aus seine eigene Familie, seinen eigenen Clan zu begünstigen. P schnaubt, ascht auf den Fußboden, schüttelt den Kopf.
»Mein Leben wurde durch den Militärputsch in einen Scherbenhaufen verwandelt.« Er wartet auf eine Frage, die nicht kommt, versucht, sich zu erinnern, was er gesagt und was er nicht gesagt hat, welche Lügen, Auslassungen und Geständnisse die Grenzen für dieses Gespräch abstecken. Die drei Männer schweigen, nur ihre Atemzüge und das dumpfe Säuseln eines Belüftungsschachts sind zu hören, und weit entfernt, außerhalb des Raums, von Zeit zu Zeit das Geräusch von Schritten. Der Vernehmungsleiter zieht ein Fotoalbum aus einem Karton auf dem Fußboden. P erkennt es, wie die Dokumente auf dem Tisch haben sie es aus seinem Gepäck gefischt.
Neunzehnhundertneunundsechzig war er in Griechenland und flog Schulflugzeuge. Neunzehnhundertsiebenundsechzig war er in Griechenland und lernte Griechisch und sah die Schulflugzeuge starten und landen, und an den Abenden kam eine Kälte, wie er sie in Uganda nie erlebt hatte und die ihn die olivgrüne Trainingsjacke enger um den Körper ziehen und frösteln ließ, und an manchen Tagen kam ein Wind vom Meer, der riesige Mengen Sand herantrug und durch die schmalen Gassen in Dekelia wehte, Sand so weiß wie Perlensplitter, oder weiß wie Bruchstücke des Himmels, Sand, der sich in üppigen Dünen an den Bürgersteigkanten und Häuserwänden sammelte. An den Wochenenden fuhr er manchmal mit einer zivilen Buslinie ans Meer, die in den Sommermonaten Touristen transportierte, deren Wagen im Herbst, Winter und Frühling dagegen nahezu leer waren. Er ging alleine in der Dünung spazieren, die Schuhe in den Händen tragend und mit hochgeschlagenen Hosenbeinen, und spürte, dass etwas aus seiner Kindheit, irgendein finsteres Ding, von Dunkelheit verschluckt wurde, und von Vergebung vielleicht. Damals, am Meer, kam ihm manchmal der Gedanke, dass alle, die existierten, eines Tages verschwinden, Kalkstein auf dem Grund eines anderen Meeres werden würden.
Der Vernehmungsleiter zieht ein Foto aus einer der Plastiktaschen und schiebt es über den Tisch. Ein junger afrikanischer Mann in Pilotenkleidung steht auf einer T-37 an das große, graue Leitwerk gelehnt, das fast doppelt so hoch ist wie ein Mensch.
»Das sind Sie.«
»Nein«, entgegnet er schnell, ohne zu wissen, warum er lügt.
»Das sind nicht Sie?«
Das Foto ist körnig, und das Gesicht auf dem Bild liegt im Schatten des Pilotenhelms und ist unscharf. Es könnte jemand anderes sein. Das Verhältnis zwischen Tansania und Uganda ist äußerst angespannt. Das ugandische Militär schießt Granaten über die Grenze. Amin behauptet, ugandische Guerillakämpfer, die sein frisch etabliertes Regime stürzen wollten, verfügten über Ausbildungslager in Tansania.
»Das ist jemand anderes.« Er hätte nicht lügen sollen, aber nun hat er gelogen und muss bei seiner Lüge bleiben. Er beugt sich herab und drückt die Zigarette an seiner Fußsohle aus. Auf dem Boden liegen bereits zwei Kippen von Zigaretten, die er vorher geraucht hat. Wie lange sitzt er hier eigentlich schon? »Das ist einer meiner Klassenkameraden.«
»Sie halten stur an Ihren Lügen fest.« Der Vernehmungsleiter schüttelt den Kopf, setzt eine enttäuschte Miene auf, faltet die Hände auf dem Bauch und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber das spielt keine Rolle. Wir fangen noch einmal von vorne an. Der Mann auf dem Foto sind Sie. Sie gehörten zur zweiten Generation ugandischer Kampfpiloten. Sie wurden zur Griechischen Luftstreitkraftakademie in Dekelia bei Athen geschickt, wo seit den frühen sechziger Jahren Kampfpiloten für eine ganze Reihe afrikanischer Länder ausgebildet worden sind.«
Als sie das alles zum ersten Mal durchgingen, weigerte sich P, irgendetwas von dem zu bestätigen, was die Tansanier sagten, aber die irrationale Loyalität, die er den beiden Staaten gegenüber empfand, die ihn nun verraten hatten, verschwand mit zunehmender Müdigkeit völlig. Er schließt die Augen und nickt bedächtig, es stimmt, dass er nach Griechenland geschickt wurde, um zum Kampfpiloten und Offizier in der ugandischen Luftwaffe ausgebildet zu werden. Er sitzt da, mit gesenktem Kinn und geschlossenen Augen, und erinnert sich an die immer kühler werdenden Herbsttage und die Rufe auf Arabisch und Französisch und das Gedränge in den Fluren, wenn sie gemeinsam auf den Hof hinausrannten, alle gleichzeitig, um sich gegenseitig anzurempeln und mit den Militärausbildungen ihrer Heimatländer und den Maschinen zu prahlen, die sie bereits während des Auswahlverfahrens geflogen hatten. Er entsinnt sich dieser Tage. Besonders gut ist ihm jener Tag im Gedächtnis geblieben, an dem sie mit einem Bus zum Flugfeld fuhren und durch den Zaun starrten, und wie sich ihre Augen weiteten, als die Nachbrennkammern einer T-37 gezündet wurden, so dass aus den Austrittsdüsen langsam schweißflammenblaue Kometenschwänze wuchsen, und wie ein Ruck durch die Maschine ging und sie davon und himmelwärts stürzte, und dass man in diesem Augenblick das Gefühl bekam, es sei tatsächlich möglich, neu anzufangen, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, ihr zu entkommen. Als gäbe es die Geschichte nicht.
Uganda hatte erst kürzlich seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft erlangt, und man hatte begonnen, eine nationale Luftwaffe aufzubauen, indem man Israel Flugzeuge des Typs MIG-21 abkaufte. Eine erste Generation ugandischer Piloten war von israelischen Sicherheitsberatern ausgebildet worden, diese Flugzeuge zu fliegen, aber während die Israelis weiterhin ugandische Piloten ausbildeten, schickte man gleichzeitig kleine Gruppen junger Männer zur Griechischen Luftstreitkraftakademie. Man wollte, dass sie sich dort mit amerikanischen und französischen Kampfflugzeugen vertraut machten, und vor allem Offiziere wurden, gedrillt in einem militärischen Lebensstil, Gentlemen, Anführer. Während man die ugandischen Piloten, die in ihrem Heimatland ausgebildet wurden, nur ein gutes halbes Jahr trainierte, sollten die Ugander, die nach Griechenland reisten, drei Jahre an der Luftstreitkraftakademie studieren, um danach das Fundament und die Speerspitze der neu formierten Luftwaffe zu bilden.
Sie schliefen in Etagenbetten und verwahrten ihre wenigen Habseligkeiten in grauen Metallschränken, sie waren die Begabtesten ihrer Generation, die zukünftigen Himmelsgötter ihres Landes. Zeternde Vögel fraßen aus Mülltonnen, wenn sie von ihrer Unterkunft zu den Räumen der Sprachenschule gingen. P ging in eine Klasse, die vor allem aus Libyern, Ägyptern und Tunesiern, aber auch aus Schülern von der Elfenbeinküste und einem jungen Mann aus dem Tschad bestand.
Er bekam Briefe von John, seinem ältesten Bruder, die er auf der Bettkante sitzend las. Er sehnte sich danach, endlich den Sprachkurs absolviert zu haben, damit er seine militärische Ausbildung beginnen durfte, um schließlich fliegen zu lernen. Nachmittags joggte er, langsam, und spürte, wie sein Herz schlug und seine Lunge sich weitete, zusammenzog, weitete, er fuhr ans Meer, beugte sich vor und wusch sich das Gesicht in dem Wasser, das salzig schmeckte und nicht süß wie das Wasser an den Ufern des Viktoria-Sees. Nicht wie daheim.
An jenem Tag, an dem sie vor dem Zaun gestanden hatten, mit weit aufgerissenen Augen, damit der ganze Himmel Platz in ihnen fand, der Himmel, der bald ihnen gehören würde, war das Geräusch der Flugzeugmotoren wie Donner gewesen, und als die Maschinen sich herabsenkten, hatten sie die einzelnen Landungen benotet, ihren zukünftigen Kollegen zwei von zehn Punkten gegeben, oder drei, oder manchmal auch nur einen Punkt, und daraufhin schrie natürlich irgendwer von ihnen, null, um die Sache auf die Spitze zu treiben, auf Griechisch, zero. Sie hatten einander geboxt und gelacht. Das war am Anfang gewesen. Als Kind hatte er ein Vogel sein wollen.
»Was haben Sie gesagt?«
Der Vernehmungsleiter hat etwas gesagt, was P nicht gehört hat. P sitzt da, die Stirn in die Hände gelegt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Seine Augen sind noch immer geschlossen. In seinem Inneren das Bild und das Geräusch von hunderten rüttelnden Vögeln.
»Ich habe gesagt, dass ich aus einem Dokument der Luftstreitkraftakademie zitiere.« Der Vernehmungsleiter hält ein weiteres Blatt in der Hand, faltet es zusammen, faltet es wieder auseinander, liest: »›Seit man im Jahre Neunzehnhundertzwölf begann, Flugzeuge in Kriegsoperationen einzusetzen, hat die Luftwaffe den Himmel unseres Landes gegen jede Bedrohung beschützt, und so wenden wir uns mit tiefem Respekt den erbrachten Opfern und den Heldentaten zu, die es Griechenland und seinem Volk ermöglicht haben, in den Genuss von Freiheit und Demokratie sowie des Fortschritts der Zivilisation zu kommen.‹«
P begreift nicht, worauf der Mann hinauswill. Er liest die Worte in einem hohlen Tonfall, der sie leer und lächerlich wirken lässt. »Erkennen Sie das wieder? ›Griechenlands Piloten haben sich aufgeopfert und nehmen eine herausgehobene Position unter den bekannten und unbekannten Helden unseres Landes ein.‹« Der Mann legt das Blatt auf den Tisch, glättet es mit der flachen Hand und gibt vor, sich in Gedanken zu verlieren. Er streicht sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart, sein Blick geht ins Leere, er trommelt mit dem Zeigefinger gegen die Lippe. Dann sagt er, scheinbar spontan: »Sind Sie Faschist?«
Der Wärter hinter Ps Rücken lacht.
»Ich möchte nicht in die Politik hineingezogen werden.«
»Sie möchten nicht in die Politik hineingezogen werden.«
»Ich möchte nicht in den Krieg hineingezogen werden.«
»Welchen Krieg?«
»Zwischen Ihnen und Amin. Zwischen Tansania und Uganda.«
»Sie meinen, dass Uganda sich im Krieg mit uns befindet? Sehen die das so?«
»Wer?«
»Ihre Auftraggeber.«
»Lassen Sie mich nach Rom zurückkehren. Ich wollte nur fliegen.«
Der Mann erwidert nichts. Er liest von dem Blatt ab, fasziniert, als läse er sich selbst etwas vor, anfangs murmelt er fast:
»›Die Griechische Luftstreitkraftakademie gibt die Wissenschaft des Fliegens an ihre Kadetten weiter, entwickelt ihre militärischen Tugenden und militärische Disziplin und formt den Offizier zu einem Mann mit perfektem militärischen und flugtechnischen Bewusstsein, einem hohem Ausbildungsstandard sowie sozialem, kulturellem und politischem Verständnis und gutem Benehmen und bietet ihm ein umfassendes professionelles und wissenschaftliches Trainingsprogramm.‹ Würden Sie sagen, dass dies zutrifft? Haben Ihre Freunde gehalten, was sie hier versprechen?«
»Nein.«
»Es stimmt also nicht? Sie sind nicht zum Piloten ausgebildet worden? Was haben Sie denn dann in Griechenland gemacht?«
»Sie waren nicht meine Freunde.«
»Und das sind nicht Sie auf dem Bild?« Der Vernehmungsleiter zeigt auf das Foto, auf dem P am Leitwerk seines Schulflugzeugs steht.
»Ich erinnere mich nicht.«
»Sie beharren auf Ihren Lügen. Der Mann auf dem Foto, das sind Sie. Sie haben die Kampfpilotenausbildung der Luftstreitkraftakademie durchlaufen und behaupten jetzt, dass Sie nach Afrika zurückgekehrt sind, um Ihr – mal sehen, wie stand es da noch –, Ihr ›perfektes militärisches und flugtechnisches Bewusstsein‹ und Ihr ›umfassendes professionelles und wissenschaftliches Trainingsprogramm‹ zu nutzen, um Sprühflugzeuge zu fliegen?«
P presst Daumen und Zeigefinger gegen seine Schläfen. Er hat gelernt, wie man mit Verhörsituationen zurechtkommt, wie man aus Gefängnissen ausbricht, wie man Folter widersteht. Man soll an einem Ort jenseits des eigenen Körpers sein. Man soll überhaupt nicht da sein.
»Kann ich bitte noch eine Zigarette bekommen?« Die kahlen Zementwände des Raums lassen alle Geräusche schneidend und blechern klingen.
Der schlanke, drahtige Mann, der den Kurs zum Thema Gefangenschaft und Folter leitete und wahrscheinlich von der griechischen Geheimpolizei kam, meinte, sobald man alles preisgegeben habe, was man wisse, werde das eigene Leben wertlos, und deshalb, und nicht aus Loyalität oder Nationalismus, solle man es unterlassen, bei einer Vernehmung zu reden. P nimmt das Foto in die Hand. Es ist im letzten Jahr seiner Ausbildung entstanden. Der Vernehmungsleiter wartet darauf, dass er etwas sagt.
Über die politische Lage in Griechenland hat er niemals nachgedacht, obwohl sie als Hintergrundrauschen ständig präsent war: dass erst kürzlich drei Armeegeneräle einen Militärputsch angezettelt hatten und König Konstantin nach dem gescheiterten Versuch, den Putschisten die Macht zu entreißen, außer Landes geflohen war. Kommunisten und Anarchisten sprengten in Athen Autos in die Luft, die Zeitungen waren voller Artikel über die degenerierte, atheistische Jugendkultur und die demokratische Parteipolitik, die um ein Haar die Linksextremisten an die Macht gebracht hätte. P interessierte sich nicht dafür. Das waren bloß Worte in Schlagzeilen. Im Laufe der Zeit sollte er dann erfahren, dass die Luftwaffe genau wie die Flotte, jedoch im Gegensatz zur restlichen Armee, royalistisch eingestellt war und den Versuch des König unterstützt hatte, Ende Neunzehnhundertsiebenundsechzig die Macht zu übernehmen. Dies wurde ihm später von den griechischen Kadetten nervös zugeflüstert, und aus den späteren Jahren, während er das eigentliche Flugtraining durchlief, ist ihm zudem ein tiefer, an Furcht grenzender Respekt in Erinnerung geblieben, mit dem ihm und seinen Klassenkameraden begegnet wurde, wenn sie in Uniform unterwegs waren. Ihm gefiel das Leben beim Militär, ihm gefiel, dass sein Leben zum ersten Mal überschaubar war und es Regeln gab, ein System. Er dachte nicht an Politik. Sein Blick flackert. Die Glühbirne an der Decke surrt ganz kurz. Sie werden es nie verstehen können. Er erinnert sich an die weiße, kurzärmelige Sommeruniform der griechischen Luftwaffe. Er musste einfach wieder fliegen. Deshalb war er nach Lusaka gereist.
»Bevor Sie zum Piloten ausgebildet wurden, gingen Sie in eine Sprachenschule?«
»Ja. Wir haben Griechisch gelernt«, antwortet er. Und ihr Sprachlehrer versuchte ständig, ausgerechnet die Afrikaner zu Bordellen mitzuschleppen, weil es offenbar das war, was sich die farbigen Amerikaner von den Flugzeugträgern, die gelegentlich in Piräus anlegten, wünschten. Er sagte eiste pala kaidia, »ihr seid gute Jungen«, sie nannten ihn Sturmmöwe, er hatte Strähnen weißer Haare, die er ständig mit der linken Hand glättete.
Auch füreinander hatten sie Spitznamen. Hussein sollte zum Hubschrauberpiloten ausgebildet werden und war in der Schule nur angenommen worden, weil mehrere seiner Verwandten hohe Posten in der ugandischen Armee bekleideten, und sie sagten, dass er lerne, wie man eine Mücke, einen Quirl, was noch, eine Libelle fliege, sie rangen im Kies miteinander und lachten.
Damals war P erst ein einziges Mal geflogen, während des Auswahlverfahrens in Uganda. Er hatte in der kleinen Propellermaschine zusammen mit einem israelischen Fluglehrer gesessen, der bewerten sollte, ob ihn sein Gleichgewichtssinn, seine räumliche Orientierungsfähigkeit und sein Koordinationsvermögen befähigten, Pilot zu werden, und als er die Erlaubnis erhielt, das Flugzeug für einige Sekunden selbst zu steuern, hatte er den Steuerknüppel mit beiden Händen umklammert und war durch Schichten aus Licht geglitten und hatte es als Freiheit empfunden, als einen verwandelnden Wechsel zwischen Welten. In Griechenland dachte er oft daran, damals, zu Anfang, als er Verben konjugierte und Dialoge übte und mit dem Fingernagel im lackierten Holz des Schulpults ritzte und auf die Wolken hinausschaute. Daran, wieder zu fliegen.
»Der Sprachkurs dauerte ein Jahr?«
»Ein halbes Jahr.« Ein halbes Jahr lang saß er abends in der Mannschaftsunterkunft und schnitt Bilder von Flugzeugen aus griechischen und amerikanischen Zeitungen aus, die frühere Schüler dort zurückgelassen hatten. Die F-86, die von den Griechen geflogen wurden und deren Lufteinläufe wie offene Münder unter den Nasen hingen, die T-37 in Diamantformation tief fliegend über einem Küstenstreifen, im grellen Sonnenlicht – kreuzförmige Silhouetten vor brechenden Wellen. Seine Sehnsucht verwandelte ihn, verlieh ihm gänzlich neue Konturen. An den Wochenenden gingen er und die anderen Afrikaner aus seinem Jahrgang von Bar zu Bar, legten einander die Arme um die Schultern und grölten so laut, dass ihre Stimmen zwischen den Häusern widerhallten, und die Kellner gossen griechischen Schnaps in ein großes Glas und mischten ihn mit Wasser, so dass er ganz weiß wurde, wie ein Winterhimmel. Und der Winter kam und das Licht über Dekelia wurde weiß, und er trug seine Schulbücher unter dem Arm und drehte das Gesicht in den Wind, und seine Zukunft war wie das weiße Licht aus dem Himmel.
Wenn er die Hand in den Wind streckte, hob sie sich, sachte.
»Nach dem Sprachkurs wurden Sie in die Luftwaffenschule verlegt?«
»Ja. Zur eigentlichen Flugstreitkraftakademie.«
»Dann begannen Sie also irgendwann Anfang Neunzehnhundertachtundsechzig zu fliegen?«
»Nein. Im Sommer neunundsechzig.«
»Der Sprachkurs begann im Herbst siebenundsechzig und dauerte ein halbes Jahr?«
P geht in Gedanken die Jahreszahlen und Daten durch, um nicht verwirrt zu werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde lügen. Er schluckt. Er sagt:
»Die militärische Grundausbildung begann im Frühjahr achtundsechzig. Sie dauerte ein Jahr. Im Mai neunundsechzig begannen wir mit dem Flugunterricht.«
Der Vernehmungsleiter bekommt eine tiefe, bekümmerte Falte zwischen den Augenbrauen. Während der Vernehmung hat er sich mit einem schwarzen Kugelschreiber Notizen in einem kleinen Büchlein gemacht, in dem er nun blättert. Er sagt mit freundlicher, amüsierter Stimme:
»Hatten Sie nicht schon in Uganda eine militärische Grundausbildung absolviert?«
Nichts von all dem ist ein Geheimnis, es gibt nichts, was die Tansanier nicht schon wissen, nichts davon ist es wert, ihnen vorenthalten zu werden.
»Das ist richtig.«
»Trotzdem haben Sie in Griechenland eine militärische Grundausbildung durchlaufen? Stimmt es, dass Sie das behaupten?«
»So lief das da ab.«
»So lief das da ab.« Und daraufhin zitiert der Vernehmungsleiter erneut, auf Englisch, aus einem Papier in der Mappe: »›Die militärische Ausbildung entwickelt die militärische Kompetenz des Flugkadetten, indem seine Ausdauer in langen Trainingseinheiten genauso gesteigert wird wie seine Fähigkeit, unter Druck korrekt zu handeln und konsequent zu denken. Dies geschieht durch geeignete Übungen im Umgang mit Waffen, Überlebenstraining und eine Ausbildung in militärischer Organisation und Vorgehensweise.‹«
P fragt sich, wie sie an diese Dokumente gekommen sind. Er hatte sie jedenfalls nicht dabei. Möglicherweise handelt es sich um offizielle Beschreibungen, die von der Akademie benutzt werden, um Schüler aus der Dritten Welt anzulocken. »Erzählen Sie mir von den griechischen Kadetten. Wo standen sie politisch.«
»Politisch?«
»Waren sie Faschisten wie die Amerikaner und die griechische Regierung?«
Faschisten? Sie kamen im September in die Akademie, dreißig junge Griechen, die man unter tausenden ausgewählt hatte. Sie stiegen aus einem Militärbus, warfen ihre dunklen Haarmähnen und tuschelten untereinander, als sie an den ausländischen Sprachstudenten vorbeikamen, die vor den Unterkünften saßen. Die Sprachkurse waren abgeschlossen, lange Schatten fielen auf den Kasernenhof, es war Vormittag, die griechischen Männer verschwanden in der Turnhalle, P saß da und betrachtete sie gemeinsam mit seinen Klassenkameraden, er rauchte, und er weiß noch, wie ihm der Gedanke kam, dass er einer von ihnen hätte sein können, dass er in einem ganz anderen Land hätte sein können und er dann einen anderen Körper, einen anderen Namen, ein anderes Leben gehabt hätte, wie seltsam, jetzt erinnert er sich wieder, als er die angehenden griechischen Kadetten musterte, öffnete sich für Sekunden sein Leben vor ihm, und er sah die Willkür in allem, dass er in Uganda als Sohn einer Frau geboren wurde, die ihn fortschickte, und eines Mannes, der sehr jung starb, dass er P hieß und in Griechenland war, weil einer seiner Freunde eines Tages mit seinem Fahrrad vorbeigeschlittert war und ihn gebeten hatte, ihn zum Auswahlverfahren für die ugandische Luftwaffe zu begleiten, dass er mitgekommen war und die Tests zunächst eher spaßeshalber, dann aber natürlich mit immer größerem Ernst durchlaufen hatte – sein Freund war aussortiert, P dagegen gebeten worden, über Nacht zu bleiben. Anschließend hatte man ihn losgeschickt, um weitere Auswahlverfahren in einer Kaserne im Norden Ugandas zu durchlaufen. Er zeichnete mit seinem Turnschuh im Kies.
Er ertappt sich dabei, die Bewegung mit seinen Lackschuhen auf dem Zementboden zu wiederholen. Er hält inne. Er schließt die Augen.
Eine halbe Stunde später kamen die Griechen wieder heraus, in einer Reihe, in schlecht sitzenden Felduniformen, die Haare bis zu den unebenen, bleichen Köpfen abrasiert. Manche von ihnen reagierten apathisch darauf, dass man ihnen ihre langen Mähnen abgeschnitten hatte, andere brachen regelrecht zusammen. P und die anderen, die dort saßen und warteten und diese Prozedur zunächst in ihren Heimatländern und später ein zweites Mal in Griechenland erlebt hatten, lachten über sie. In jener Nacht, nachdem die Griechen in den Mannschaftsräumen einquartiert worden waren, die sich innerhalb der Umzäunung befanden, an deren Außenseite sie einst gestanden hatten, waren sie alle geweckt und nur in Unterhosen in eine Turnhalle gescheucht worden, wo eine Gruppe von Schülern aus dem Abschlussjahrgang sie geknufft und bespuckt und verhöhnt und psarades, Kaulquappen, genannt hatte. Das Ganze war ein Teil der Tradition, der Verwandlung, der Wissenschaft vom Fliegen.
»Ich war ein griechischer Kadett«, sagt P.
ENDE DER LESEPROBE
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »En storm kom från paradiset« bei Norstedts, Stockholm
Die Übersetzung wurde vom Swedish Arts Council gefördert.
Der Verlag bedankt sich dafür.
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2012
Norstedts, Stockholm
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: buxdesign/München
Umschlagmotiv © Carla Nagel
Lektorat: Regina Kammerer
Redaktion: Martin Mittelmeier
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-11404-6
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