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Es ist ein ganz gewöhnliches Datum, doch für Christa Wolf war es über fünfzig Jahre lang ein besonderes: Seit 1960 beschrieb sie Jahr für Jahr ihren 27. September, fasziniert von der »Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen«. Als sie dann 2003 Ein Tag im Jahr. 1960-2000 veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend: »Eine unvergleichliche Chronik unserer Gegenwart« (Berliner Zeitung), »ein monumentales Tagebuch … eines ihrer wichtigsten Werke« (Der Spiegel). Auch im neuen Jahrhundert setzte Christa Wolf diese Arbeit fort und ging dem Zusammenspiel von Privatem, Subjektivem und großen zeitgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund. Sie erzählt von Deutschland nach dem 11. September 2001, von der eigenen Arbeit etwa an ihrem letzten großen Werk Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, aber auch von der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit dem Altern. Eine persönliche Chronik und gleichzeitig ein einzigartiges Dokument der Zeitgenossenschaft: Christa Wolf führt mit der ihr eigenen präzisen Reflexion und mutigen Offenheit die Aufzeichnungen ihres großartigen Tagebuchs Ein Tag im Jahr fort.
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Seitenzahl: 189
Es ist ein ganz gewöhnliches Datum, doch für Christa Wolf war es über fünfzig Jahre lang ein besonderes: Seit 1960 beschrieb sie Jahr für Jahr ihren 27. September, fasziniert von der »Bedeutung, die ein durchschnittlicher Tag bekommt, wenn man wahrnimmt, wie viele Lebenslinien in ihm zusammenlaufen«. Als sie dann 2003 Ein Tag im Jahr. 1960-2000 veröffentlichte, war die Resonanz überwältigend: »Eine unvergleichliche Chronik unserer Gegenwart« (Berliner Zeitung), »ein monumentales Tagebuch … eines ihrer wichtigsten Werke« (Der Spiegel). Auch im neuen Jahrhundert setzte Christa Wolf diese Arbeit fort und ging dem Zusammenspiel von Privatem, Subjektivem und großen zeitgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund. Sie erzählt von Deutschland nach dem 11. September 2001, von der eigenen Arbeit etwa an ihrem letzten großen Werk Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, aber auch von der kräftezehrenden Auseinandersetzung mit dem Altern.
Eine persönliche Chronik und gleichzeitig ein einzigartiges Dokument der Zeitgenossenschaft: Christa Wolf führt mit der ihr eigenen präzisen Reflexion und mutigen Offenheit die Aufzeichnungen ihres großartigen Tage-Buchs Ein Tag im Jahr fort.
Christa Wolf
Ein Tag im Jahr
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4505
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlagabbildung: Martin Hoffmann, nach einem Foto von Helga Paris
Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig aber, daß man es nicht ertappen kann. Es entwischt dem beobachtenden Auge, auch der fleißig notierenden Hand und hat sich am Ende – auch am Ende eines Lebensabschnitts – hinter unserem Rücken nach unserem geheimen Bedürfnis zusammengefügt: gehaltvoller, bedeutender, spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger. Es gibt zu erkennen, daß es mehr ist als die Summe der Augenblicke. Mehr auch als die Summe aller Tage. Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln diese Alltage sich in gelebte Zeit. In Schicksal, im besten oder schlimmsten Fall. Jedenfalls in einen Lebenslauf.
Der Aufruf der Moskauer Zeitung »Iswestija«, der 1960 an die Schriftsteller der Welt erging, hat mich sofort gereizt: Sie mögen einen Tag dieses Jahres, nämlich den 27. September, so genau wie möglich beschreiben. Das war eine Wiederaufnahme des Unternehmens »Ein Tag der Welt«, das Maxim Gorkij 1935 begonnen hatte, das nicht ohne Resonanz geblieben war, dann aber nicht weitergeführt wurde. – Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960.
So weit, so gut. Aber warum beschrieb ich dann auch den 27. September 1961? Und alle darauf folgenden 27. September, bis heute – dreiundvierzig Jahre lang, nun schon mehr als die Hälfte meines erwachsenen Lebens? Und kann damit nicht aufhören? – Nicht alle Gründe dafür sind mir bewußt, einige kann ich nennen: Als erstes meinen Horror vor dem Vergessen, das, wie ich beobachtet habe, besonders die von mir so geschätzten Alltage mit sich reißt. Wohin? Ins Vergessen eben. Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens: Immer wieder wurde (und werde) ich mit dieser unheimlichen Erscheinung konfrontiert. Gegen diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein wollte ich anschreiben: Ein Tag in einem jeden Jahr wenigstens sollte ein zuverlässiger Stützpfeiler für das Gedächtnis sein – pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten beschrieben, was heißt: dem Zufall überlassen und ausgeliefert. Was diese zufälligen Tage mir zutrieben, konnte und wollte ich nicht steuern; so stehen scheinbar belanglose Tage neben »interessanteren«, Banalem durfte ich nicht ausweichen, »Bedeutendes« nicht suchen oder gar inszenieren. Mit einer gewissen Spannung begann ich darauf zu warten, was dieser Tag des Jahres, wie ich ihn bald nannte, mir in dem laufenden Jahr bringen würde. Die Aufzeichnungen wurden zu einer manchmal genußvollen, manchmal lästigen Pflichtübung. Sie wurden auch zu einer Übung gegen Realitätsblindheit.
Als schwieriger erwies es sich schon, auf diese Weise Entwicklungen einzufangen. Alle diese einzelnen Tagesprotokolle können ja nicht beanspruchen, für die vierzig Jahre zu stehen, aus denen sie, inselhaft, herausgepickt wurden. Doch hoffte ich: Indem ich punktuell, in regelmäßigen Abständen, einen Befund erhob, mochte sich mit der Zeit eine Art Diagnose ergeben: Ausdruck meiner Lust, Verhältnisse, Menschen, in erster Linie aber mich selbst zu durchschauen. Ich notierte – oft am gleichen Tag beginnend, meistens noch bis in die nächsten Tage hinein –, was ich an jenem Tag erlebt, gedacht, gefühlt hatte, Erinnerungen, Assoziationen – aber auch die Zeitereignisse, die mich in Bann hielten, politische Vorgänge, die mich betrafen, den Zustand des Landes, in dem ich bis 1989 Anteil nehmend lebte, und – das war nicht vorhersehbar gewesen – die Phänomene des Zusammenbruchs der DDR und die des Übergangs in eine andere Gesellschaft, einen anderen Staat. Und natürlich spiegeln sich meine manchmal jäh, häufiger aber allmählich sich verändernden Einstellungen zu all diesen komplexen, komplizierten Vorgängen: Konflikthafte, angreifende Auseinandersetzungen. In diesem Sinne sind diese Aufzeichnungen mehr als nur Material, sie wurden – wenn auch keineswegs vollständig – auch ein Beleg für meine Entwicklung. Der Versuchung, frühere Fehlurteile, ungerechte Einschätzungen aus heutiger Sicht zu korrigieren, mußte ich widerstehen.
Diese Tagebuchblätter unterscheiden sich deutlich von meinem übrigen Tagebuch, nicht nur in ihrer Struktur, auch inhaltlich und durch stärkere thematische Gebundenheit und Begrenztheit. Aber auch sie waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt, wie etwa jene anderen Texte es von vorneherein waren, die den Ablauf eines Tages zum Anlaß für ein Prosastück nehmen: »Juninachmittag«, »Störfall«, »Was bleibt«, »Wüstenfahrt« – Beweisstücke für meine Faszination von dem erzählerischen Potential in beinahe jedem beliebigen Tag. Dagegen bedurfte es eines ausdrücklichen Entschlusses, diese Aufzeichnungen zu publizieren, in denen das »Ich« kein Kunst-Ich ist, sich ungeschützt darstellt und ausliefert – auch jenen Blicken, die nicht von Verständnis und Sympathie geleitet sind.
Warum tut man das. Meine Erfahrung ist: Von einem bestimmten Zeitpunkt an, der nachträglich nicht mehr zu benennen ist, beginnt man, sich selbst historisch zu sehen; was heißt: eingebettet in, gebunden an seine Zeit. Ein Abstand stellt sich her, eine stärkere Objektivität sich selbst gegenüber. Der selbstkritisch prüfende Blick lernt vergleichen, wird dadurch nicht milder, vielleicht etwas gerechter. Man sieht, wieviel Allgemeines auch in Persönlichstem steckt, und hält für möglich, daß das Bedürfnis des Lesers, zu urteilen und zu richten, ergänzt werden kann durch Selbstentdeckung und, im günstigsten Fall, Selbstwahrnehmung.
Subjektivität bleibt wichtigstes Kriterium des Tagebuchs. Dies ist ein Skandalon in einer Zeit, in der wir mit Dingen zugeschüttet und selbst verdinglicht werden sollen; auch die Flut scheinbar subjektiver schamloser Enthüllungen, mit denen die Medien uns belästigen, ist ja kühl kalkulierter Bestandteil dieser Warenwelt. Ich wüßte nicht, wie wir diesem Zwang zur Versachlichung, der bis in unsere intimsten Regungen eingeschleust wird, anders entkommen und entgegentreten sollten als durch die Entfaltung und auch durch die Entäußerung unserer Subjektivität, ungeachtet der Überwindung, die das kosten mag. Das Bedürfnis, gekannt zu werden, auch mit seinen problematischen Zügen, mit Irrtümern und Fehlern, liegt aller Literatur zugrunde und ist auch ein Antriebsmotiv für dieses Buch. Es wird sich zeigen, ob die Zeit für ein solches Wagnis schon gekommen ist.
Aber der ausschlaggebende Grund dafür, diese Blätter zu publizieren: Ich denke, sie sind ein Zeitzeugnis. Ich sehe es als eine Art Berufspflicht an, sie zu veröffentlichen. Unsere jüngste Geschichte scheint mir Gefahr zu laufen, schon jetzt auf leicht handhabbare Formeln reduziert und festgelegt zu werden. Vielleicht können Mitteilungen wie diese dazu beitragen, die Meinungen über das, was geschehen ist, im Fluß zu halten, Vorurteile noch einmal zu prüfen, Verhärtungen aufzulösen, eigene Erfahrungen wiederzuerkennen und zu ihnen mehr Zutrauen zu gewinnen, fremde Verhältnisse etwas näher an sich heranzulassen …
Christa Wolf hat die Aufzeichnungen zu ihrem 27. September, wie sie seit 2003 als Buch vorliegen (»Ein Tag im Jahr. 1960-2000«), fortgeführt. Zunächst, um sie getreulich zum eigenen Selbstverständnis festzuhalten, wobei sie schon für das erste Jahr 2001 von diesem Vorhaben Abstand nahm, als sie das Manuskript bei einem Treffen vorlas, das Bundeskanzler Gerhard Schröder am 23. Januar 2002 mit Schriftstellern im Kanzleramt veranstaltete (veröffentlicht wurde der Text in der »neuen deutschen literatur«, Heft 543, Berlin 2002, und im Band »Mit anderem Blick«, Frankfurt/M. 2005).
Die Texte sind hier nach den Maßgaben abgedruckt, wie sie die Autorin selbst festgelegt hat, nach den Fassungen, die als Ausdrucke aus ihrem Computer, also gewissermaßen von ihr zunächst autorisiert, zur Verfügung standen. Wir weichen in zwei Fällen, in denen uns nur die ersten handschriftlichen, also unbearbeiteten Manuskripte vorlagen, von diesem Ausgabeprinzip ab: 2008 konnte Christa Wolf die Ereignisse des Tages nicht sofort aufzeichnen, weil sie nach Operationen im Krankenhaus dazu nicht fähig war und nur in dieser handschriftlichen, nicht korrigierten Fassung später ihrer Pflicht nachkommen wollte, des Tages zu gedenken. 2011 schließlich hat sie auch dazu nicht mehr die Kraft. Am 27. September bricht sie mitten im Schreiben ab. Um von diesen Handschriften authentisch in Kenntnis zu setzen, werden sie auch als Faksimiles abgedruckt.
Gerhard Wolf, November 2012
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