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Zehnmal besucht Christa Wolf die Sowjetunion, zum ersten Mal 1957 als junge Frau, zuletzt im Oktober 1989. Sie fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki, trifft in Gagra am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse, die die Freundschaft verfolgter Dissidenten wie Lew Kopelew gewinnt. In den Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im persönlichen Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Begleittexte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.
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Seitenzahl: 323
»Moskau! … Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns. … Ich konnte hier einige Zeit leben und würde mich nach und nach heimisch fühlen.« So beginnen Christa Wolfs Aufzeichnungen über eine Stadt, die sie 1957 zum ersten Mal besucht. Im Oktober 1989, mitten in den Wochen des Umbruchs in der DDR, tritt sie ihre letzte Reise in die Sowjetunion an. Insgesamt zehnmal ist sie dort, von den Sicherheitsdiensten der UdSSR wie der DDR beobachtet.
Sie folgt als Touristin zusammen mit Dostojewskis Enkel den Spuren des großen Russen in Sankt Petersburg. Fährt mit Max Frisch auf der Wolga nach Gorki. Trifft am Schwarzen Meer eine schlagfertige Moskauer Rechtsanwältin und steht in Komarowo am Grab Anna Achmatowas. Vor allem aber ist sie eine scharfe Beobachterin der sozialen und politischen Verhältnisse.
In ihren Tagebuchnotizen entsteht ein facettenreiches Bild des Großen Bruders, eines Riesenreichs im Wandel, bis hin zu den Tagen des dramatischen Endes, und gleichzeitig erleben wir Christa Wolf im Dialog mit sich selbst und den russischen Freunden wie Lew Kopelew. Ergänzt werden ihre Aufzeichnungen durch Texte ihres Mannes Gerhard Wolf sowie durch Briefe, zeitgenössische Fotos und Dokumente.
Christa Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Büchner-Preis sowie dem Thomas-Mann- und dem Uwe-Johnson-Preis. Sie starb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Aus dem Nachlaß erschienen unter anderem Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001-2011 (2013) sowie die Erzählungen August (2012) und Nachruf auf Lebende.
CHRISTA WOLFMOSKAUER TAGEBÜCHER
WER WIR SIND UND WER WIR WAREN
Reisetagebücher, Texte, Briefe, Dokumente 1957-1989
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:
Erste Auflage 2014
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlagabbildungen: Archiv Gerhard Wolf
Gerhard Wolf: Wer wir sind und wer wir waren
ERSTE REISE 1957
In Moskau und Armenien mit einer Delegation von DDR-Autoren, 1. bis 23. Juni 1957
Gerhard Wolf zur ersten Reise
ZWEITE REISE 1959
In Moskau und Kiew zum III. Schriftstellerkongreß der UdSSR, 17. bis 29. Mai 1959
Christa Wolf: Über Otto Gotsche (2010)
Gerhard Wolf zur zweiten Reise
Tagesordnung des Schriftstellerkongresses
Christa Wolf an Wladimir Steshenski, 3. September 1960
Wladimir Steshenski an Christa Wolf, 14. September 1960
DRITTE REISE 1963
In Moskau mit Brigitte Reimann, 7. bis 16. Oktober 1963
Gerhard Wolf zur dritten Reise
Aus Brigitte Reimanns Tagebuch, 8. bis 16. Oktober 1963
Arkadi Jerussalimski an Christa Wolf, 26. Mai 1965
Christa Wolf an Frau Jerussalimskaja, 3. Dezember 1965
VIERTE REISE 1966
Über Moskau nach Gagra am Schwarzen Meer, 10. Oktober bis 12. November 1966
Gerhard Wolf zur vierten Reise
Wladimir Steshenski an Christa Wolf, 20. Dezember 1967
Christa Wolf an Wladimir Steshenski, 15. Juni 1969
Christa Wolf über Juri Kasakow: Das Eigene (1966)
Christa Wolf über Vera Inber: Der Sinn einer neuen Sache (1967)
FÜNFTE REISE 1968
Auf der Wolga nach Gorki und über Moskau nach Leningrad und Vilnius, 17. Juni bis 3. Juli 1968
Aus Max Frischs Tagebuch, 17. bis 22. Juni 1968
Gerhard Wolf zur fünften Reise
Christa Wolf: Begegnungen. Max Frisch zum 70. Geburtstag (1981)
Christa Wolf an Lew Kopelew, 28. November 1969
Lew Kopelew an Christa Wolf, 29. August 1973
Christa Wolf an Lew Kopelew, 15. September 1973
SECHSTE REISE 1970
In Leningrad und im Schriftstellerwohnheim Komarowo, 14. bis 29. Juli 1970
Christa Wolf: Erinnerung an Efim Etkind (2010)
Gerhard Wolf zur sechsten Reise
Lew Kopelew an Gerhard Wolf, 12. Dezember 1971
SIEBTE REISE 1973
In Moskau zur Majakowski-Ausstellung, 14. bis 29. Juli 1973
Gerhard Wolf zur siebten Reise
Christa Wolf: Fragen an Konstantin Simonow (1973)
Christa Wolf: Donnerstag, 27. September 1973
Lew Kopelew: Wahrheitsmuster. Über einen Roman von Christa Wolf (1988)
ACHTE REISE 1981
In Moskau, 1. bis 5. Dezember 1981
Gerhard Wolf zur achten Reise
NEUNTE REISE 1987
In Moskau und Riga, 5. bis 25. Juni 1987
Gerhard Wolf zur neunten Reise
Auszüge aus einem Gespräch der Übersetzer Nina Fjodorowa und Albert Karelski mit Jewgenija (Shenja) Kazewa (1988)
ZEHNTE REISE 1989
In Moskau, 9. bis 14. Oktober 1989
Christa Wolf: Abschied von Moskau (2010)
Gerhard Wolf zur zehnten Reise
MEMORIAL
Gerhard Wolf: Zur Erinnerung an Efim Etkind und Lew Kopelew
Christa Wolf: Von dem multiplen Wesen in uns. Briefwechsel mit Efim Etkind (1992)
Efim Etkind: Der Kern des Kerns oder »Lob des Gedächtnisses« (1994)
Efim Etkind: Die Freiheit. Für Gerhard Wolf, in memoriam unserer ›sozialistischen‹ Vergangenheit (1998)
Lew Kopelew: Dichterin unter geteiltem Himmel – Christa Wolf (1993)
Christa Wolf: Mit dem absoluten Sinn für Toleranz. Totenrede für Lew Kopelew (1997)
Editorische Notiz
Quellennachweis
Abbildungsnachweis
Wer wir sind und wer wir waren,Wer weiß, wo kamen wir herGerüchte blieben nur von jenen Jahren,Wir aber sind nicht mehr.Boris Pasternak
IN WIRKLICHKEITUnd dieser Spiegel, da in Wasser klarDein Ich für dich erkennbar war.Fort ist die Zeit und fort ist der Raum …Doch helfen kannst auch du mir kaum.Anna Achmatowa
IM TRAUMSchwarze Trennung, immerwährend, trageIch mit dir gemeinsam. Ach, du weinst?Gib mir lieber deine Hand und sage,
»Eine Reihe von Gesichtern taucht vor mir auf, Moskauer, Leningrader, Menschen, mit denen du offen und rückhaltlos reden konntest … So daß du eine Zeitlang dachtest, da seien doch so viele kluge kritische Menschen, dieses Riesenreich von innen her zu reformieren … ›Utopie‹, sagt man heute mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln. Du sahst ihre müden, entschlossenen Gesichter …, in denen auf einmal ein anderer Geist wehte. Kaum einer von denen ist noch da …«
Christa Wolf, »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«
Christa Wolf hat seit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg immer ein persönliches Tagebuch geschrieben (ihr Jugendtagebuch hatte ihre Mutter vor der Flucht aus dem heimatlichen Landsberg verbrannt), einfach um festzuhalten, was ihr geschah und wie sie darüber dachte. Sie sah dies später aber nie als Teil ihres eigentlichen literarischen Schaffens an, anders als etwa Max Frisch, der seine Tagebuchprosa als eigenes Genre auffaßte. Eine Ausnahme bilden die Texte in »Ein Tag im Jahr« und »Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert«, die sie von 1960 bis zu ihrem Tod kontinuierlich verfaßte, auch mit der Absicht einer späteren Veröffentlichung. Überraschend und einmalig ist es nun, Max Frisch und Christa Wolf bei ihrer ersten Begegnung auf einer Wolga-Fahrt in ihren zeitgleichen Aufzeichnungen und in ihrer Korrespondenz kennenzulernen.
Christa Wolfs vorliegende Journale ihrer und unserer gemeinsamen Reisen nach Moskau und in die Sowjetunion von 1957 bis 1989 fanden sich neben ihren persönlichen Tagebucheintragungen in ihrem Nachlaß. Es sind Notate, manchmal akribisch, ausführlich, manchmal nur Momentaufnahmen, die mit unbestechlichem Blick festhalten, was sie sieht und erlebt, erfährt und denkt. Die oft unerwarteten und später auch geplanten Treffen und Bekanntschaften mit Menschen, skeptischen Literaturbeamten, Übersetzern ihrer Texte und Autoren, geben ihr neben den öffentlichen Verlautbarungen und eigenen Wahrnehmungen Einblick in den inneren Zustand und die Geschichte der Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt. Aus einigen Begegnungen entwickelt sich eine langjährige Freundschaft.
Christa Wolfs Reisen sind deshalb auch Ausgangspunkt für Betrachtungen zur Literatur russischer Schriftsteller. Einige von ihnen kennt man heute kaum noch, die Bücher von anderen konnten nur im Westen erscheinen, manche wurden damals des Landes verwiesen und ausgebürgert.
3. Juni 57
Moskau!
1 Der Rote Platz
Ich hatte mich vorher gefragt, was wohl in Moskau mich am ersten beeindrucken würde: Es kamen der Flugplatz, die Begrüßung (Steshenski, Ashajew, Michalkow, Medwedew u. a.), die Fahrt: Große neue Bauten am Rande der Stadt. Und plötzlich überholte uns ein »Pobeda«, und in ihm sah ich das Profil eines ganz jungen, vielleicht 14-15jährigen Mädchens: blonde Haare, zum Kranz gesteckt, grüner Pullover, klares, sinnendes Gesicht.
Das rührte mich an.
Und am nächsten Tag: Majakowskis Totenmaske. So ruhig, gelöst. Ganz anders als sein letztes Bild, kurz vor seinem Tod: Verkrampft, trotzig, erbittert. Aber nun: Er hatte abgeschlossen, er war zu einem Ende gekommen.
Sehr angenehm die beiden Führerinnen im Majakowski-Museum: Junge Frauen oder Mädchen (die eine erwartete ein Kind), sehr bescheiden, würdig und sicher. Nichts von anbiedern. (Ich muß noch versuchen, mit ihnen zu sprechen.)
Majakowskis »Wanze«: Ein überraschendes Stück. Nach viel Altmodischem, auch Kitschigem, das man allenthalben trifft, plötzlich etwas ganz Modernes, von einer großen Zuschauermenge begeistert beklatscht (viel Jugend, darunter entzückende Liebespaare). Dieselben Zuschauer, die am Abend vorher auch mit Beifallsstürmen auf die ziemlich mäßige tatarische Oper »Musa Dshalil« reagiert hatten, weil ihr Inhalt erschütternd und progressiv ist (Musa Dshalil wurde in Moabit von den Nazis umgebracht).
Das ist überhaupt etwas Auffallendes. Es gibt hier keinen Snobismus, in keiner Sache. In der Landwirtschaftsausstellung sitzen Bauern und Bäuerinnen lange vor den einzelnen Tafeln, lassen sich von den Führern alles erklären und machen sich unbeholfene, aber genaue Notizen. Sie sind von ihren Kolchosen als die besten Arbeiter zur Ausstellung nach Moskau geschickt worden und müssen dafür natürlich etwas geben. Ein großer Ernst, der an den Sinn des Fleißes glaubt, herrscht überall.
Und das ist ja wohl das Wichtigste.
Leider gibt es wenig, das stimmt, und die Auslagen sind gar nicht verlockend. (Im GUM waren wir noch nicht.) Kleider sehr altmodisch (gestern allerdings in dem neuen Bahnbrecher-Film sah man auch modernere, vielleicht will man sie propagieren).
Gestern abend unterhielt ich mich längere Zeit über den Dolmetscher mit unserer Serviererin Assja. Eine ausgesprochen reizvolle, hübsche Frau in meinem Alter, mit Charme, sehr lebhaft, intelligent, lebendige Augen. Sie überwand bald die erste Verlegenheit und erzählte freimütig von sich: Sie verdient 600 Rubel und mit Prämien für Planerfüllung meistens tausend. Ihr Mann arbeitet als Mechaniker: Ihr 5jähriges Kind heißt Евгений [Jewgeni]. Assja arbeitet seit ihrem 14. Lebensjahr, zuerst als Dreherin, dann in einer Gießerei, seit drei Jahren hier im Hotel. Sie besucht während ihrer Arbeitszeit Sprachkurse für Deutsch, um dann »Administrator« zu werden. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Sie ist seit 6 Jahren Parteimitglied und ist stolz darauf.
Über die Jugendfragen in Moskau: Seit einigen Monaten gibt es ein Gesetz, welches festlegt, daß schon ein Randalieren auf der Straße zu 2 Wochen Arrest führt. Da werden sie dann mit unbezahlten Arbeiten beschäftigt. Im Hotel waren auch zwei Fälle. Über sie hat das Freundschaftsgericht, dem auch Assja angehört, beschlossen, sie als Komsomolmitglieder zu verwarnen und in ihrer Arbeit um eine Stufe zu degradieren.
Assja ist sehr literaturinteressiert. Sie bezieht gesammelte Werke von Puschkin, Lermontow, Gogol usw. Mit ihrem Mann, der auch viel liest, streitet sie sich über Literatur. Sie selbst stellte sich mit ihrem Namen gleich als eine Turgenew-Gestalt vor.
Unsere Problematik Ost- und Westberlin war ihr unfaßlich.
11. 6.
Nachdem in den ersten Tagen bei mir absolute Gedankenarmut herrschte, strömen jetzt die Gedanken, ausgelöst durch die Eindrücke, auf mich ein; ausgelöst auch durch Diskussionen mit Helmut und Igor.
2 Foto der Delegation bei einem Spaziergang vor MoskauVon links: Zwei sowjetische Funktionäre, dann Wolfgang Joho, Christa Wolf, Eduard Zak, Peter Huchel, Monica Huchel
Von Igor kann man einiges lernen, den Blick fürs Wesentliche und Festigkeit. Der Blick fürs Wesentliche bedeutet oft: Vereinfachung. Aber anscheinend ist diese Vereinfachung oft nötig und keineswegs unzulässig.
Über die Diskussionen, die nach dem XX. Parteitag bei uns stattfanden, wußte er fast besser Bescheid als wir. Offenbar begleitet er unsere Delegation nicht von ungefähr. – Er war anderer Ansicht als wir zunächst, daß nämlich die »liberalen« Strömungen unter der Intelligenz bei uns unwesentlich gewesen seien, daß sie keine Chance hatten, etwa solche Formen wie in Ungarn oder Polen anzunehmen. Er hielt die Strömungen für stark genug, daß sie in einer Zeit, da gewisse Kreise führende Köpfe suchten, durchaus gefährlich hätten werden können. Allerdings spricht Igor, als Diplomat, nicht völlig offen mit uns, wenn er uns auch mehr vertraut als den anderen. Diesen Wall zu durchbrechen, wird uns nicht gelingen; auch bei Стеженский [Wladimir Steshenski] nicht, der mir immer sympathischer wird, seit ich weiß, daß er nach 1945 Kulturoffizier in Berlin war. Ich glaube, sowohl er als auch Igor beobachten uns alle sehr genau und machen sich im stillen ihre Gedanken über uns. Das kann nicht immer gerade zum besten unserer Delegation ausfallen, da z. B. Huchel [XXX] ein eitler Fratz ist. Und M. Zimmering, der Leiter, ist von einer atemberaubenden Plattheit. Joho hat auch seine Ressentiments, aber er weiß sie selbst einigermaßen witzig abzuschätzen. Zak ist noch der Vernünftigste.
Igor war sehr böse auf einen Artikel Kunderas in der Nationalzeitung, wo er schrieb, daß nun endlich nicht mehr »Volkstümlichkeit und Einfachheit« die höchsten Kriterien in d. Kunst seien. Schön und gut: so ausgedrückt ist es auch nicht richtig, wenn man nicht mit Einfachheit Primitivität und mit Volkstümlichkeit falsche Popularität meint. Und das meint man hier, glaube ich, immer noch manchmal.
Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns. Es fehlt der üble Spießersnobismus, der es mir unmöglich macht – eben gerade, weil er auch in mir steckt – frei heraus zu sagen: Ich liebe mein Volk. Das Volk hier ist wirklich »Volk«: Arbeiter und Bauern, arbeitende Menschen beherrschen das Straßenbild. Ich könnte hier einige Zeit leben und würde mich nach und nach heimisch fühlen.
Aber der »Geschäftsgeist« ist immer noch nicht ausgestorben: Manche Leute verdienen sich ihren Lebensunterhalt damit, daß sie für andere bei der Kontrolle ihrer Autovoranmeldung Schlange stehen und dafür 3 Rubel verlangen. – Auf dem schwarzen Markt ist Benzin billiger als im Normalverkauf, weil die Prämien für Einsparung v. Benzin den Fahrern nicht soviel einbringen wie der Verkauf desselben Benzins auf dem schwarzen Markt.
3 Postkarte von Christa an Gerhard Wolf. Motiv: Lomonossow-Universität in Moskau
Sozialistisches Bewußtsein für die Masse ist erst bei weitgehender Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erreichen. Mit Ideen allein geht es nicht.
17. 6. 57
Inzwischen liegt auch Armenien hinter uns. Ein sehr fremdes Land, sehr fremde Menschen. Große, interessante Eindrücke.
21. 6. 57
Morgen Abreise
Kann man schon resümieren?
Mir scheint, die wichtigsten Ergebnisse dieser Reise werden die indirekten sein, diejenigen, von denen man nicht einmal genau weiß, wie sie zustande kommen: Ich habe wieder richtige Lust, zu arbeiten, zu schreiben. Es scheint sich wieder zu lohnen.
Man muß einmal untersuchen: Welches sind die Kriterien für »Menschlichkeit« in unserer Zeit? Was ist es denn, was den Menschen zum Menschen macht? Was ist also der Grundstein für die bessere Gesellschaft? Das sind Fragen, bei denen wir heute schon besser abschneiden würden. Das sind Fragen für die Literatur.
Ein anderer Entschluß steht fest: Ich werde Russisch lernen.
Und ich werde viel lesen, mehr als bisher. Zu verdanken habe ich das vor allem Wladimir, das und manches andere …
Eine Geschichte spukt mir im Kopf herum, vielleicht die Fabel zu einem seit langem – genauer, seit drei Jahren – in mir lagernden Stoff. (Seit der Zeit, da ich Pawel kennenlernte, dessen Bild jetzt endgültig und für immer für mich ungefährlich geworden ist.):
Eine junge Frau (etwa 25) zwischen zwei Männern: Mit dem einen ist sie verheiratet, er ist Direktor einer Schule; der andere ist sein Freund, Lehrer an dieser Schule; die Frau selbst arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Institut. Sie haben ein Kind, einen 3jährigen Jungen. Der Freund des Mannes ist auch verheiratet, hat eine sehr aparte, liebenswerte Frau, auch ein kleines Kind.
Der Mann etwa Just-Typ: Egozentrisch, aber klug und kann verwirren. Die Frau wenig Lebenserfahrung, er ist ihr erster Mann, sie läßt sich von ihm jahrelang gefangennehmen und liebt ihn. Zur Zeit, da die Handlung einsetzt, beginnt aus ihrer Ehe schon eine Gewohnheit zu werden, was aber beiden nicht bewußt wird.
Der Konflikt entsteht, als der Freund des Mannes in eine Lage gerät, da er Menschen brauchte, die zu ihm stehen, da es aber etwas Mut kostet, zu ihm zu stehen. Der Mann der Frau wendet sich von ihm ab, mit guten, klugen Gründen. Die Frau aber beginnt den Freund zu lieben. Und er sie auch.
4 Die Delegation vor dem Sewan-See bei Eriwan. Zweiter von links ist Wolfgang Joho, daneben Wladimir Steshenski, Christa Wolf und Max Zimmering. In der Mitte Peter Huchel, ein armenischer Teilnehmer, dann Eduard Zak und Monica Huchel, ganz rechts Helmut Hauptmann
Es müßte damit enden, daß die Frau ihren Mann verläßt, dessen Stellung äußerlich unerschütterlich bleibt, da er sich rechtzeitig revidiert. Aber die Ehe des Freundes wird trotz schwerster Gefährdung nicht angetastet, die Frau verläßt mit ihrem Kind die Stadt und findet einen anderen Arbeitsplatz.
Sicher würde ich das nicht schaffen. Was mich daran so reizt, das sind die Liebesbeziehungen zwischen der Frau und dem Freund des Mannes. Dauer d. Geschichte: Etwa 4 Wochen.
Christa Wolf konnte als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes der DDR an einer Delegation von Autoren teilnehmen, die Moskau und Armenien besuchte und einen Freundschaftsvertrag zwischen dem Schriftstellerverband der Sowjetunion und dem der DDR unterzeichnete. An der Delegation nahmen der Dichter Peter Huchel mit seiner Frau Monica, die Schriftsteller Helmut Hauptmann, Wolfgang Joho, Eduard Zak und Max Zimmering teil. Sie wurden empfangen von Funktionären des sowjetischen Schriftstellerverbandes wie Wassili Ashajew (1915-1968), Autor des stalinistischen Produktionsromans »Fern von Moskau« (1948), und Sergej Michalkow (1913-2009), einem vielgelesenen Lyriker, überdies Autor von Kinderbüchern in Millionenauflage und Autor der Hymne der Sowjetunion; wir begegneten ihm 1968 bei einer Wolgafahrt wieder.
Christa Wolf lernte ferner Wladimir Steshenski (1921-2000) kennen. Er war Germanist und Übersetzer, u. a. der Bücher von Franz Fühmann, Max von der Grün und Wolfgang Koeppen. 1945 diente er als Kulturoffizier der Sowjetarmee in Berlin und wurde später Leiter der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes; mit Anna Seghers stand er in Briefwechsel. Wir trafen Steshenski nahezu bei jedem Moskau-Aufenthalt wieder und freundeten uns auch mit seiner Familie, seiner Frau Irina und der bei ihnen wohnenden Tochter, an. Als loyaler Literaturbeamter nahm er an internationalen Friedenstreffen, wie 1982 in Den Haag, teil und vertrat immer die offizielle Meinung. Natürlich sah ihn ein Dissident wie Lew Kopelew nur kritisch, und er verglich ihn mit Tschitschikow, der Hauptfigur aus Gogols »Toten Seelen«.
Die erste Begegnung mit Moskau regte Christa Wolf zu ihrer »Moskauer Novelle« an, die 1961 erschien, aber in russischer Übersetzung nie veröffentlicht wurde. Auch ein Film nach der Novelle, den Konrad Wolf als Regisseur drehen wollte, scheiterte am Einspruch der sowjetischen Zensur gegen das Drehbuch. Christa Wolf hat die »Moskauer Novelle« später in dem Aufsatz »Über Sinn und Unsinn von Naivität« (1974) kommentiert.
5 Besuch beim Katholikos, dem Oberhaupt der armenischen Katholiken, in Eriwan
Daß Peter Huchel zur Zeit der Reise bereits in großen Schwierigkeiten war, weil er als Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form« abgesetzt werden sollte, war Christa Wolf sicher nicht bekannt; wie sie, die bis dahin nur Kritiken und Rezensionen veröffentlicht hatte, wohl kaum von Huchel beachtet wurde – daher die distanzierende Bemerkung in den Notizen.
17. 5. 59
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