Ein Viscount per Annonce - Emily Alveston - E-Book

Ein Viscount per Annonce E-Book

Emily Alveston

5,0

Beschreibung

Wenn die Vernunft entscheidet - kann die Liebe siegen? Um ihren Bruder vor dem Schuldturm und ihre Schwester vor einer arrangierten Vernunftehe zu bewahren, beschließt eine junge Lady, die anonyme Heiratsannonce eines reichen Gentlemans zu beantworten ... *** England 1815. Nach dem Tod ihrer Eltern bleiben der junge Baronet Matthew Ruthercombe und seine beiden Schwestern hoch verschuldet zurück. Um dem Schuldturm zu entgehen, will Matthew die jüngere und hübschere seiner Schwestern per Heiratsannonce mit einem möglichst reichen Gentleman verheiraten. Doch Catherine möchte ihre Schwester vor dem Schicksal einer lieblosen Vernunftehe retten und beantwortet selbst eine der anonymen Anzeigen. Hinter der Annonce verbirgt sich niemand Geringerer als der unattraktive Viscount Rickenham. Obwohl dieser offensichtlich Gefallen an ihr findet, sieht Catherine sich außerstande, Sympathie oder gar Zuneigung für den unansehnlichen Mann zu empfinden. Kurz darauf lernt Catherine einen charmanten jungen Gentleman kennen und steht vor einer schwierigen Entscheidung: Soll sie auf ihr Herz hören? Oder soll sie den reichen Viscount heiraten und damit ihren Bruder vor dem Schuldturm und ihre Schwester vor einer lieblosen Vernunftehe bewahren? *** Der historische Liebesroman "Ein Viscount per Annonce" ist eine traditionelle Regency Romance mit Romantik, Humor und Liebe zum historischen Detail. Tauchen Sie ein in die Welt von Jane Austen: in eine Geschichte um finanzielle Nöte, falsche Entscheidungen und unverhoffte Liebe im England des frühen 19. Jahrhunderts! Genre: Historischer Liebesroman, Clean & Sweet Regency Romance (keine erotischen Szenen)

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Die wichtigsten Personen

Catherine Ruthercombe

Isabella Ruthercombe, Catherines Schwester

Sir Matthew,9th Baronet Ruthercombe, Catherines Bruder

Lord Richard Theophilus Aston, 7th Viscount Rickenham

Lady Agnes Doresleigh Lady Ruth Ploughton Mrs. Abigail Merrick

Lord Rickenhams Schwestern

David Merrick, Lord Rickenhams Neffe

Lady Standham, Lord Rickenhams Tante

Lord und Lady Elmsborough

William Buckland, Geologe, und seine Hyäne Billy

Mr. Ellister

Mrs. Kendell

Mr. Morrison, früherer Verehrer von Catherine

Mrs. Morrison

Mr. Peacock

Mr. und Mrs. Shelling

Mr. Tanner, Juwelier, Besitzer von Tanner‘s Clocks and Jewels

Mr. Wilkins, Bibliothekar

Mary, Catherines Zofe

Weitere Personen

Mr. Abelman, Pfandleiher

Mrs. Allen, Konditorin, Besitzerin des Tea & Sweets

Louisa Ashcroft, Isabellas beste Freundin

Dorothy Harthorpe, örtliche Klatschbase

Lady Clementia Lynnville, Baroness

Melina, Cousine von Catherine und Isabella

Mary Anning, Fossiliensammlerin

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Epilog

Anhang

EINS

An einem kalten, verregneten Novembermorgen betrat Miss Catherine Ruthercombe, die Kapuze ihres dunkelblauen Wollumhangs über ihre kastanienbraunen Locken tief ins Gesicht gezogen, an der Seite ihrer jüngeren Schwester Isabella die Familiengruft auf dem Belcot Cemetery. Im Zwielicht der Grabkammer erkannte sie die marmorne Gedenktafel, die ihr Bruder nach Mamas Begräbnis neben jener von Papa hatte anbringen lassen. Unterhalb des kleinen, kunstvoll gearbeiteten Konterfeis ihrer Mutter zeigte es jenen Text, den Catherine gemeinsam mit Isabella und Matthew entworfen und der Steinmetz innerhalb weniger Tage in feinen, gleichmäßigen Buchstaben eingemeißelt hatte:

In Erinnerung an

Lady Amanda Ruthercombe

Tochter von Sir George Heresford, 11th Baronet

Ehefrau von Sir Redmund Ruthercombe, 8th Baronet

Sie verließ dieses Leben am 23. November 1814 im Alter von 51 Jahren nach langer Krankheit, die sie mit der Geduld und der Hoffnung einer gläubigen Christin ertrug.

Die Güte ihres Herzens, die Sanftmut ihres Wesens und die außergewöhnlichen Begabungen ihres Verstandes gewannen den Respekt und die wärmste Liebe aller, die sie kannten.

Gäbe es nur wenige ihres Herzens und Verstandes, diese irdische Welt würde bereits zum erhofften Himmel werden.

Catherine holte die Talgkerze, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, aus ihrem Umhang hervor, steckte sie in den Kerzenständer und zündete sie an. Sogleich warf die kleine Flamme einen zarten Lichtschein in das Halbdunkel der Gruft.

„Ich vermisse sie so sehr“, sagte Isabella leise, den Blick auf das steinerne Miniaturbildnis ihrer Mutter gerichtet. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie bemühte sich vergebens, ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Ich kann nicht glauben, dass seit Mamas Tod schon ein ganzes Jahr vergangen ist. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen!“

Catherine legte tröstend einen Arm um sie. „Ich weiß, Täubchen. Sie fehlt mir auch.“

Eine Weile standen sie schweigend Arm in Arm vor der Gedenktafel. Beinahe schien es Catherine, als könne sie im muffigen Geruch der Gruft jenen feinen, würzig-süßen Duft der Rosmarinzweiglein wahrnehmen, die sie und Isabella damals anlässlich der Vorbereitungen für die Trauerfeierlichkeiten mit schwarzen Seidenbändern zu Sträußlein gebunden und am Tag des Begräbnisses an die Trauergäste verteilt hatten.

„Lass uns gehen“, sagte Catherine schließlich. „Das Frühstück wird bestimmt bald aufgetragen, und Matthew kann es nicht leiden, wenn er auf uns warten muss.“

Als sie kurze Zeit später vor Belcot House aus der Chaise stiegen, fiel aus den raumhohen Fenstern des Frühstückszimmers bereits der Schein tanzender Kerzen in das trübe Herbstwetter. Rasch liefen sie durch den Regen die Stufen zum Eingang empor und betraten die Eingangshalle. Ein in eine rote Livree gekleideter, hochaufgeschossener junger Mann mit weißgrauer Perücke nahm die beiden nassen Wollumhänge entgegen.

„Danke, James“, sagte Catherine. Oder war es John? Sie hatte die beiden hochgewachsenen Lakaien in ihren altmodischen Uniformen, die einander beinahe wie Zwillinge ähnelten, noch nie unterscheiden können. Der Lakai verbeugte sich mit einem höflichen Lächeln und entfernte sich mit den Umhängen.

Catherine folgte Isabella die breite Treppe in den ersten Stock hinauf. In ihrem Zimmer angekommen, legte sie ihre pelzbesetzte Pelisse aus dunklem Wollstoff ab, streifte ihre durchnässten Lederhalbstiefel und Strümpfe von den klammen Füßen und schlüpfte in frische Strümpfe und trockene Slipper, bevor sie die Treppe hinunter ins Frühstückszimmer eilte. Um ihre nassen Halbstiefel würde sich Mary, ihre Zofe, in der Zwischenzeit kümmern.

Matthew saß bereits bei Tisch und wärmte seine Hände an einer heißen Tasse Kaffee. Das Glas Ale hatte er offensichtlich bereits ausgetrunken.

„Ihr kommt spät“, brummte er mit ungehaltener Miene. „Wo ist Isabella?“

„Sie kommt bestimmt gleich“, erwiderte Catherine und verspürte wieder einmal den Drang, Matthew ob seines äußerst fragwürdigen Kleidungsstils zu tadeln. Diese gelben Pantalons, ein Lieblingsstück ihres Bruders, fand sie grässlich, ganz besonders in Kombination mit den Goldknöpfen der dunkelblauen Jacke, die er trug. Dazu der übertrieben gestärkte Hemdkragen, dessen weit aufragende Spitzen beinahe bis zu den Wangenknochen reichten und die Bewegungsfreiheit des Kopfes auf geradezu lächerliche Weise einschränkten. Ganz zu schweigen von der eigenwilligen Drapierung seines Halstuchs, die Matthews eigene stolze Erfindung war. Was ein Beau Brummell konnte – nämlich eine neue Mode kreieren – das würde Sir Matthew Ruthercombe von Belcot House doch schon lange können! Zu dumm nur, dass niemand außer Matthew selbst seinen erlesenen Modegeschmack zu schätzen wusste. Trotz jahrelanger intensiver Bemühungen um neue Frisuren und selbsterdachte Halstuchknoten war es ihm bislang nicht gelungen, in den erlesenen Kreis jener Dandys vorzustoßen, die sich eines selbst erschaffenen Modestils rühmen durften.

Verstohlen lächelte Catherine in sich hinein und setzte sich an den Tisch, auf dem ein Korb mit getoasteten Brotscheiben, Butter, kleine Schälchen mit Orangen-, Johannisbeer-, Pflaumen- und Quittenmarmelade, eine Platte mit Käse und kaltem Fleisch sowie eine Schüssel mit hartgekochten Eiern standen, dazu Kaffee, Tee und heiße Schokolade.

Catherine griff nach einer Scheibe Brot und strich etwas Butter darauf.

„Wir waren an Mamas Grab.“

„Bei diesem Wetter?“ Matthew zog seine Augenbrauen hoch.

„Wir wollten es nicht verabsäumen, sie an ihrem ersten Todestag zu besuchen. Du warst noch nicht wach, sonst hätten wir dich gefragt, ob du uns begleiten möchtest.“

Sie warf Matthew einen entschuldigenden Blick zu. Da war etwas in seinem Gesicht, ein Ausdruck, den sie nicht recht deuten konnte und der sie zutiefst beunruhigte.

„Du wirkst besorgt.“ Catherine sah ihren Bruder forschend an. „Hatte Mr. Paterson schlechte Neuigkeiten?“

Catherine wusste, dass sich Matthew vor dem Frühstück stets mit dem Verwalter des Anwesens, Mr. Paterson, über dringende Angelegenheiten und Erledigungen rund um die Pflege und Instandhaltung der Gebäude, Viehställe und Umzäunungen auf den weitläufigen Ländereien sowie über die Pachteinnahmen austauschte.

Matthew schwieg und starrte missmutig auf das angebissene Stück Toast auf seinem Teller.

„Wir werden etwas sparen müssen“, sagte er schließlich und trank einen Schluck Kaffee.

„Sparen?“, fragte Catherine verwundert, nahm ein hartgekochtes Ei aus der Schüssel und schnitt es auf ihrem Teller in zwei Hälften. „Weshalb?“

„Ich werde die Kutsche und die Barouche verkaufen“, entgegnete ihr Bruder, ohne ihre Frage zu beantworten. „Wahrscheinlich auch den Curricle.“

„Nicht die Barouche!“, rief Isabella, die in diesem Moment das Zimmer betrat, entsetzt. Catherine warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Wenn Matthew sogar in Erwägung zog, seinen Curricle zu verkaufen, mussten sie tatsächlich in eine missliche finanzielle Lage geraten sein.

„Hochwertig gearbeitete und verzierte Wagen wie unsere Kutsche und die Barouche sind teuer in der Erhaltung“, versuchte Catherine, etwas Verständnis bei ihrer Schwester zu wecken. „Und das für Wagen und Pferde zuständige Personal muss bezahlt werden. Außerdem haben wir noch die Chaise.“

„Das ist doch nicht das Gleiche!“ protestierte Isabella und nahm neben ihrer Schwester Platz.

Insgeheim musste Catherine ihrer Schwester beipflichten. Die kleine zweisitzige Chaise war mit der komfortablen viersitzigen Barouche, die von einem eleganten Zweiergespann kupferroter Bays gezogen wurde, nicht vergleichbar.

Catherine wandte sich wieder zu Matthew. „Wie kommt es, dass wir kein Geld mehr haben? Papa hatte doch Ersparnisse!“

Matthews Gesichtszüge verfinsterten sich. Catherine, die bislang gehofft hatte, dass ihre schlimmsten Befürchtungen nicht eintreten würden, beschlich ein beklemmendes Gefühl.

„Matthew“, sagte sie eindringlich, „was ist mit den Ersparnissen?“

„Es gab keine.“

Catherine verschlug es die Sprache.

„Keine… keine Ersparnisse?“, brachte sie schließlich hervor und starrte ihren Bruder ungläubig an. „Papa hat doch oft von den guten Einnahmen und den hohen Rücklagen gesprochen, und dass Isabella und ich einige Tausend Pfund an Mitgift erhalten würden. Mama war so stolz auf ihn!“

Catherine erinnerte sich noch gut daran, dass ihre Mutter immer davon geträumt hatte, eines Tages wenigstens eine ihrer Töchter mit einem Baron oder gar einem Viscount verheiraten zu können, wofür es einer möglichst hohen Mitgift bedurfte. Beinahe wäre ihr dies auch gelungen – wäre Henry, Catherines Verlobter, damals nicht in der Schlacht von Albuera gefallen. Papa hatte wochenlang damit gehadert, wie ein Baron nur derart dumm sein könne, seinen erstgeborenen Sohn zum Militär gehen zu lassen, nur weil jener sich dies in den Kopf gesetzt hatte. Zugegeben, Baron Guerresley hatte vier Söhne und dachte sich wohl, es gäbe noch andere potentielle Erben, sollte dem ältesten Sohn etwas zustoßen. Böse Zungen unterstellten ihm sogar Absicht dabei, auf diese Weise die Chance seines Zweitgeborenen auf den Titel zu erhöhen, denn es war ein offenes Geheimnis, dass dieser sein Lieblingssohn war.

Papa jedenfalls hätte Matthew niemals ein Offizierspatent gekauft. Wie hatte Matthew ihren Verlobten darum beneidet, den Militärdienst antreten zu können! Aber in dieser Hinsicht war Papa unerbittlich gewesen. Matthew war sein einziger Sohn, und er wollte die Gefahr nicht eingehen, seinen Erben zu verlieren. Catherine waren die zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Matthew und ihrem Vater nicht entgangen – jeder auf seine Weise stur und nicht bereit, die Seite des anderen zu verstehen.

„Eben“, riss Matthews Stimme Catherine aus ihren Gedanken. „Das ist der Grund, warum ich stets versucht habe, Papas Schulden vor Mama und euch geheim zu halten.“

„Schulden?“ Isabella riss entsetzt ihre Augen auf und hustete. Der Bissen, den sie soeben von ihrem mit Quittenmarmelade bestrichenen Brot genommen hatte, war ihr vor Schreck offenbar förmlich im Hals steckengeblieben.

„Das ist die bittere Wahrheit. Papa hat uns nach seinem Tod hohe Schulden hinterlassen.“

Catherine und Isabella blickten sich bestürzt an.

„Wie hoch?“, erkundigte sich Catherine, obwohl sie sich vor der Antwort beinahe fürchtete.

„Mehrere Zehntausend Pfund.“

„Oh!“ Isabella schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

Catherine beschlich ein schrecklicher Verdacht. „Was ist mit der Mitgift? Für Isabella und mich?“

Matthew schüttelte wortlos den Kopf, was seine à la Brutus getragene Haarpracht hin- und herwippen ließ.

„Du lieber Himmel“, stieß Catherine tonlos hervor. „Wo kam das ganze Geld denn hin?“ Soweit sie sich erinnern konnte, hatten die jährlichen Einnahmen aus dem Landgut zu Lebzeiten ihres Vaters etwa achttausend Pfund betragen. Offenbar hatte Papa diesen Betrag nicht nur ausgegeben, sondern weit überzogen. Doch wofür? Sie konnte sich an keinerlei hohe Anschaffungskosten oder sonstige Ausgaben erinnern – abgesehen von Papas Faible für repräsentable Wagen. Doch selbst die kostspielig ausgestattete Kutsche und die elegante Barouche einschließlich der benötigten Pferde konnten doch unmöglich so viel gekostet haben.

„Er hat es verspielt.“

„Nein!“, rief Isabella entrüstet. „Das kann nicht sein! Papa war kein Spieler. Er hätte niemals die ganzen Ersparnisse verspielt, am allerwenigsten unsere Aussteuer. Er hat Mama sogar versprochen, den Betrag noch zu erhöhen, um uns gut verheiraten zu können!“

„Das hat er versprochen, in der Tat“, erwiderte Matthew. „Er wollte nicht, dass Mama sich Sorgen machte. Aber er hielt sein Versprechen nicht. Es war nichts übrig, als ich das Erbe übernommen habe. Ich hatte gehofft, mit den Einnahmen die Schulden abbezahlen zu können, sodass Mama und ihr nichts davon erfahren müsstet. Doch die Einnahmen sind seit Jahren rückläufig.“

Rückläufig, dachte Catherine, so konnte man es natürlich auch nennen. Matthew bemühte sich zwar, so gut er konnte, gemeinsam mit Mr. Paterson die Ländereien zu verwalten. Es war jedoch nicht zu leugnen, dass er sich für die Gutsverwaltung nie interessiert hatte. Viel zu gerne wäre er zum Militär gegangen. Die Verwaltung der Ländereien dagegen war ihm nicht mehr als eine lästige Pflicht. Auch wenn er diese nicht direkt vernachlässigte, so erbrachte er doch nur das nötigste Mindestmaß an Einsatz. Catherine wusste, dass Mr. Paterson tat, was er konnte, um die Ländereien bestmöglich zu verwalten, doch letztendlich lagen die wesentlichen Entscheidungen bei Matthew, und Mr. Paterson waren die Hände gebunden.

Die jährlichen Einnahmen waren seit dem Tod ihres Vaters auf etwa dreitausend Pfund gesunken, die Ausgaben für Haushalt, Dienstboten, Pferde und Kutschen jedoch annähernd gleich geblieben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Matthew bei den hohen laufenden Kosten und vergleichsweise niedrigen Einnahmen in der Lage gewesen sein sollte, einen Teil von Papas Schulden zurückzuzahlen. Vielleicht hatte er sogar neue Schulden gemacht, um Mamas gewohnten Lebensstil aufrecht erhalten zu können, so dass diese nichts von den finanziellen Problemen merkte.

„Nach Mr. Patersons Bericht zu urteilen, steht es derzeit schlimmer denn je“, fuhr Matthew trocken fort. „Ich kann Papas Schulden unter diesen Umständen nicht abbezahlen, ja nicht einmal alle nötigen Investitionen in den Erhalt der Ländereien tätigen. Wir werden unseren Lebensstil etwas einschränken müssen.“

„Wir sind also arm“, stellte Catherine nüchtern fest. Isabella schluchzte laut auf.

„Ich verkaufe die zwei Wägen und den Curricle“, erklärte Matthew bestimmt, ohne auf Catherines Bemerkung einzugehen. „Ebenso die Bays. Für ein derart prächtiges Zweiergespann bekomme ich in London bestimmt an die zweitausend Pfund, und ohne Barouche haben wir keine Verwendung mehr für sie. Ich werde auch die Kutschpferde und zwei meiner Jagdpferde verkaufen. Das alles zusammen mit der Entlassung des Kutschers und jener Stallmitarbeiter, deren Dienste wir ohne Wagen und Pferde nicht mehr benötigen, wird einige Ausgaben einsparen und auf der anderen Seite Geld einbringen, mit dem wir einen Teil der Schulden bezahlen und etwas für eure Aussteuer beiseitelegen können.“

„Die Leute werden reden“, wandte Isabella vorsichtig ein. „Das ganze Parish wird merken, dass wir Wagen und Pferde verkaufen, und über die Gründe spekulieren.“

„Was die Leute denken und reden, ist mir völlig gleichgültig!“, brauste Matthew auf, und Isabella zuckte zusammen.

„Das sollte es aber nicht“, widersprach ihm Catherine. „Denke daran, dass du zwei ledige Schwestern hast. Du gefährdest möglicherweise nicht nur den Ruf unserer Familie, sondern auch unsere Aussichten auf eine gute Heirat.“

Matthew schwieg und schenkte sich noch Kaffee ein.

„Wenn wir unsere Wagen und Pferde tatsächlich verkaufen müssen“, überlegte Catherine, „geben wir am besten vor, die vor vielen Jahren von unseren Eltern angeschafften Wagen und Gespanne loswerden zu wollen, um uns im Frühjahr neue, modische Kutschen zu kaufen.“

„Dann werden sie spätestens im Frühjahr bemerken, dass dem nicht so ist“, erwiderte Isabella.

„Bis dahin haben wir noch etwas Zeit. Uns wird schon eine Lösung einfallen.“

Catherine nahm gedankenverloren einen Schluck Tee. Wie konnten sie bloß den Verkauf der Kutschen und Pferde verhindern und dennoch die dringendsten Schulden decken?

„Entschuldigt mich bitte“, wandte sie sich an ihre Geschwister. „Mir schwirrt der Kopf. Ich muss mich hinlegen.“

Sie verließ das Frühstückszimmer und stieg gedankenverloren die Treppe in das obere Stockwerk empor. In ihrem Zimmer angekommen, setzte sie sich auf das Sofa, lehnte sich in den weichen Kissen zurück und schloss die Augen.

Wenn Papa ihre Aussteuer verspielt hatte und die familiären Geldnöte erst einmal bekannt wurden, würden Isabella und sie möglicherweise keinen Ehemann mehr finden. Jedenfalls keinen, der ihrem familiären Stand angemessen wäre. Welcher Baronet, Baron oder gar Viscount – wie Mama sich ausgemalt hatte – würde eine Frau ohne Mitgift ehelichen?

Ohnedies war sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren schon beinahe zu alt für den Heiratsmarkt, und ohne Aussteuer standen die Aussichten noch schlechter. Sie würde bestimmt als alte Jungfer enden. Und Isabella? Isabellas erste Saison in London, die im vergangenen Frühjahr hätte stattfinden sollen, hatten sie aufgrund der Trauerzeit nach Mamas Tod auf das kommende Jahr verschoben – doch unter diesen Umständen konnten sie sich eine Saison bestimmt nicht leisten. Dabei hätte zumindest Isabella mit ihrem hübschen herzförmigen Gesicht, ihrer zarten Figur und ihrem sanften Wesen gute Aussichten, auch ohne Mitgift eine passable Partie zu machen! Sie würde mit Matthew darüber reden müssen, beschloss Catherine.

ZWEI

Mayton Grove, so behaupteten jene, die sich selbst für besonders gut informiert hielten, war einer der schönsten Herrensitze der Grafschaft Essex. Die weitläufige Anlage konnte nicht nur mit einem der artenreichsten Rosengärten Englands aufwarten, der in sämtlichen Reiseführern eine besondere Erwähnung fand, sondern bezauberte im Frühling und Sommer mit einem Meer aus farbenprächtigen exotischen Blumen, zwischen denen weiße und blaue Pfaue hoheitsvoll einherstolzierten. Nicht weit des Herrenhauses befand sich ein Seerosenteich, in dem Lord Rickenham zur Kurzweil von Zeit zu Zeit zu fischen pflegte.

Doch nicht nur der weitläufige Park selbst, auch das Herrenhaus lohnte eine Besichtigung, wenn der Viscount vorübergehend in seinem Londoner Stadthaus residierte und sein Landsitz interessierten Besuchern offenstand. War die Fassade im gotischen Tudorstil als solches noch nicht außergewöhnlich, so wiesen die zahlreichen Erker und hohen Spitzbogenfenster einen fein gearbeiteten Detailreichtum auf, der die Architektur des Bauwerks von den meisten anderen derartigen Gebäuden unterschied. Die achteckigen Flankierungstürme beiderseits der Fassade bildeten einen malerischen, wenn auch etwas wuchtigen Rahmen für die prunkvolle Stirnseite des Hauses.

Doch konnte weder die elegante Fassade noch die weitläufige Parkanlage, deren Blumenbeete zurzeit von einer funkelnden Schneeschicht bedeckt waren, darüber hinwegtäuschen, dass der jetzige Viscount Rickenham ebenso wie seine beiden Vorgänger bislang nicht viel Glück in seinem Leben hatte.

Die mysteriösen Umstände seines Verschwindens vor dreizehn Jahren hatten zu den abenteuerlichsten Gerüchten geführt und waren noch nicht vergessen, als er zehn Jahre später wieder auftauchte und das Erbe seines älteren Bruders antrat, der unverheiratet und kinderlos verstorben war.

So war Richard Theophilus Aston, fünfter Viscount Rickenham, zwar unverhofft von einem Phantom zu einem wohlhabenden Mann von Rang und Namen aufgestiegen, traf bei seinen Mitmenschen jedoch eher auf höfliche Distanz bis unverhohlene Abneigung denn auf freundliches Entgegenkommen und Wohlwollen.

Und so kam es, dass Lord Rickenham an jenem vierundzwanzigsten Dezember des Jahres 1815 wie auch die Jahre zuvor als einzige Gäste zur Weihnachtsfeier seine beiden jüngeren Schwestern, Lady Ruth Ploughton und Lady Agnes Doresleigh, mit deren Familien empfing. Wie jedes Jahr waren diese bereits vor Mittag angereist, um mit den von Mr. Nash, dem Gärtner, vorsorglich bereitgestellten Efeuranken, Stechpalmen- und Lorbeerzweigen den Silbernen Salon von Mayton Grove vor dem Dinner weihnachtlich zu schmücken und die abendlichen Kinderspiele vorzubereiten.

Zu Lord Rickenhams Ärgernis pflegten seine Schwestern neben dem alljährlichen Dekorieren des Salons allerdings noch eine weitere, durchaus eigentümliche Weihnachtstradition, die sie noch zu Lebzeiten ihres älteren Bruders eingeführt hatten. Und diese verlief in etwa so:

„Hast du schon ein nettes Mädchen gefunden?“

„Hast du denn wenigstens versucht, ein nettes Mädchen zu finden?“

„Möchtest du denn nicht heiraten?“

„Denkst du nicht, dass es langsam Zeit wird, für einen Stammhalter zu sorgen?“

Traditionsgemäß hatte bereits Thomas jede dieser Fragen mit ‚Nein‘ beantwortet, und Richard hatte diesen Brauch bislang pflichtbewusst fortgesetzt.

Bei Thomas waren Agnes und Ruth mit ihrer alljährlichen Fragerei auf taube Ohren gestoßen, was beinahe zur Folge gehabt hatte, dass ihr eingebildeter Geizhals von einem Onkel das Erbe ihres Vaters antrat – hätte Richard damals nicht im letzten Moment den Plan von Onkel Titus, ihn wegen seiner langen Abwesenheit für tot erklären zu lassen, durch seine plötzliche Rückkehr nach England in völlig lebendigem Zustand vereitelt. Doch was, wenn ihm wie Thomas unerwartet etwas zustoßen sollte?

„Willst du denn, dass Onkel Titus das Familienoberhaupt wird?“, stichelte Agnes daher, während sie eine Efeuranke um das Holzgestell schlang, an dem später die Früchte für das Apfelbeißen aufgehängt werden sollten. Richards Nichten und Neffen liebten dieses Spiel.

„Gott bewahre!“ Richard, der bis dahin in einem Buch gelesen hatte, hob den Kopf und warf seiner Schwester vom Sofa aus einen entrüsteten Blick zu.

„Dann heirate endlich!“

„Wir haben keinen weiteren Bruder mehr, der aus dem Nichts auftauchen könnte!“, kam Ruth, die am Salontisch saß und vor sich Blätter, Zweige, Äste und Bänder ausgebreitet hatte, ihrer Schwester zu Hilfe und betrachtete den soeben fertig gewundenen Lorbeerkranz prüfend.

„Jedenfalls keinen, von dem wir wissen“, fügte Agnes neckisch hinzu. „Und der Jüngste bist du auch nicht mehr!“

„Vielen Dank, geliebte Schwester!“ Richard wandte sich wieder seinem Buch zu und betrachtete die Diskussion damit wohl als beendet.

Doch dieses Jahr hatten Agnes und Ruth beschlossen, nicht so schnell aufzugeben. Sie mussten ihren starrköpfigen Bruder endlich zur Vernunft bringen. Thomas hatten sie nicht rechtzeitig davon überzeugen können, sich zu verheiraten – wohl auch, weil sie nicht damit gerechnet hatten, dass ihm etwas zustoßen könnte, und sie daher zwar jedes Jahr aufs Neue, jedoch nie mit ernsthaftem Nachdruck auf das Thema Eheschließung zu sprechen gekommen waren. Bei Richard würde ihnen dieser Fehler nicht noch einmal unterlaufen.

„Worauf ich hinaus will ist, dass Thomas auch siebenunddreißig Jahre alt war, genau wie du jetzt, als er … als er von uns gegangen ist.“

„Mag sein.“ Ohne aufzublicken, fuhr Richard unbeirrt mit dem Lesen fort. „Aber im Gegensatz zu Thomas fahre ich nicht in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit dem Curricle um die Kurven, um meine Freunde zu beeindrucken – in einem Alter, in dem man eigentlich bereits vernünftiger sein sollte.“

„Weil du keine Freunde hast“, entfuhr es Agnes.

„Agnes!“ Ruth sah ihre Schwester entsetzt an.

„Ja.“ Richard ignorierte Ruths Einwurf, legte das Buch beiseite und blickte Agnes herausfordernd an. „Weil ich keine Freunde habe. Und jetzt erinnern wir uns kurz daran“, seine Stimme wurde schneidend, „warum das so ist. Denn möglicherweise ist dies auch die Erklärung dafür, warum sich die Mütter der hiesigen jungen Damen nicht gerade begeistert zeigen bei dem Gedanken, mir ihre Töchter zur Ehe zu geben.“

„So habe ich es nicht gemeint“, sagte Agnes in entschuldigendem Tonfall, schnappte sich den Apfelkorb und setzte sich neben ihrem Bruder auf das Sofa. Sie nahm den ersten Apfel sowie eine der Schnüre, die ebenfalls im Korb lagen, und umwickelte den Apfelstiel damit.

„Sind die Gerüchte denn immer noch so präsent? Auch nach all den Jahren, in denen du in Frankreich warst?“ Sie legte den Apfel zurück in den Korb, nahm den nächsten sowie eine Schnur und umwickelte auch diesen.

„Sie wären es vermutlich nicht, wenn Lord Elmsborough sie nach meiner Rückkehr nicht wieder befeuert hätte.“

„Also steckt der Earl dahint… Au!“, rief Ruth entrüstet aus und zuckte zusammen. Vor Aufregung hatte sie sich an einem der Stechpalmenzweige gestochen, mit denen sie gerade ihren Lorbeerkranz dekorierte.

„Es ist wohl seine Art der späten Rache“, erwiderte Richard und lächelte bitter. „Anders kann er mir nun, da ich den Titel geerbt habe, dank der damit verbundenen rechtlichen Privilegien nicht mehr schaden.“

„Wie kann man nur so nachtragend sein“, bemerkte Agnes kopfschüttelnd. „Zu dumm, dass er noch am Leben ist. Er muss doch mittlerweile steinalt sein!“

„Agnes! Man wünscht doch niemandem den Tod!“, tadelte Ruth ihre jüngere Schwester, steckte vorsichtig noch einen letzten Stechpalmenzweig in den Kranz und betrachtete ihr Werk zufrieden. Die roten Beeren der Stechpalme harmonierten hervorragend mit den blauschwarzen des Lorbeers.

„Steinalt trifft es ziemlich genau, würde ich sagen“, bestätigte Richard.

„Hast du sie denn wiedergesehen? Marianne? Ich meine“, verbesserte sich Agnes rasch und legte den letzten Apfel zurück in den Korb, „Lady Elmsborough?“

„Wir sind uns ein paar Mal begegnet“, antwortete Richard ausweichend.

Doch so rasch ließ seine Schwester, die schon als Kind schrecklich neugierig gewesen war, nicht locker. Sie erhob sich vom Sofa und ging zum Holzgestell, das sie zuvor mit Efeu geschmückt hatte. Während sie einen Apfel nach dem anderen an den Querbalken hängte, fuhr sie fort:

„Habt ihr euch heimlich getroffen?“

Ihr Bruder sah sie missbilligend an. „Nein, das haben wir nicht. Weder heimlich noch öffentlich. Es gab keinerlei Verabredungen zwischen uns.“

„Aber würdest du sie gerne wieder treffen?“

„Herrgott, Agnes, lass es gut sein!“, fuhr Richard sie unwirsch an. „Das ist über dreizehn Jahre her. Man könnte meinen, du liest immer noch diese romantischen Gruselgeschichten, nach denen du als junges Mädchen so verrückt warst. Ich bin keiner deiner verträumten Romanhelden, die sich den Rest ihres Lebens vor Liebeskummer verzehren.“

„Entschuldige bitte.“ Agnes fühlte sich ertappt. Sie las tatsächlich insgeheim noch immer mit Vorliebe Schauerrromane, auch wenn sie dies niemals zugeben würde. „Ich meinte ja nur – sie ist doch bestimmt auch heute noch sehr schön!“

Richard verdrehte die Augen. „Also gut, weil du ja doch keine Ruhe gibst: Ja, sie ist noch immer sehr schön, und sie ist mit einem alten, abscheulichen Ekel verheiratet. Zufrieden?“

Agnes war gerade dabei, den letzten Apfel aufzuhängen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und drehte sich dann, den Apfel noch in der Hand, abrupt zu Richard um.

„Jetzt verstehe ich!“, rief sie.

Richard sah sie irritiert an. „Was verstehst du jetzt?“

„Warum du nicht heiraten willst!“

„Ach, ja?“ Amüsiert zog Richard eine Augenbraue hoch.

„Du wartest auf sie.“

„Auf Marianne? Unsinn.“

„Doch, natürlich!“ Agnes ließ sich nicht beirren. „Du wartest darauf, dass der alte Earl endlich stirbt, damit du sie heiraten kannst. Deshalb willst du dir keine Ehefrau suchen!“

„Ist das wahr?“ mischte sich Ruth wieder in das Gespräch ein, die inzwischen ihren zweiten Lorbeerkranz fertiggestellt und mit Stechpalmenzweiglein dekoriert hatte – diesmal, ohne sich in den Finger zu stechen.

„Nein, es ist nicht wahr.“ Ihr Bruder verlor langsam die Geduld.

„Beweise es! In dieser Gegend wird es doch bestimmt einige junge Damen geben, die in Frage kämen?“, wollte Agnes wissen.

„Und wenn nicht, hast du immer noch dein Haus in London. Für die Saison“, ergänzte Ruth und schüttelte einige herabgefallene Lorbeerblätter und Beeren von dem Stofftuch, das sie sich während der Arbeit an den Kränzen zum Schutz ihres weißen, mit feinen hellroten Blumenranken bestickten Hauskleids auf den Schoß gelegt hatte.

Richard runzelte die Stirn. „Erstens habe ich keinerlei Lust, mich wochenlang in Partys und gesellschaftliche Vergnügungen zu stürzen, und zweitens würde das nichts nützen, denn Lord Elmsborough hat ohne Zweifel bereits dafür gesorgt, dass der Ton und damit jede Mutter einer möglichen Ehefrau die abenteuerlichsten Gerüchte über mich kennt. Weder würde man mich auf die wichtigen Veranstaltungen einladen – von einem Voucher für Almack’s ganz zu schweigen – noch fände ich dort eine Gemahlin. Ich zähle nicht zu denen, die man gemeinhin als ‚gute Partie’ bezeichnet, und ich werde mich bestimmt nicht lächerlich machen, indem ich vergebens junge Dinger hofiere, deren Mütter alles daran setzen werden, ihre Töchter von mir fern zu halten.“

„Aber du bist wohlhabend und ein Viscount“, wandte Ruth ein. „Die eine oder andere weniger wohlhabende Familie, und seien es Barone oder meinetwegen nur Baronets, wäre doch bestimmt froh, wenn ihre Tochter reich heiraten könnte!“

„Du müsstest dich eben eher nach unten orientieren“, pflichtete ihr Agnes eifrig bei. „Dann findest du bestimmt eine Familie, die dir ihre hübsche junge Tochter zur Ehe gibt!“

„Nach unten orientieren?“, wiederholte Richard und schlug seine langen Beine, die in maßgeschneiderten, enganliegenden hellen Pantalons und einem Paar eleganter, auf Hochglanz polierter schwarzer Lederstiefel steckten, übereinander. „Ihr meint also, ich soll mir eine Ehefrau aus verarmter Familie ‚kaufen’, der mein Ruf weniger wichtig ist als mein Geld?“

„Wenn du es so ausdrückst, klingt es natürlich … unschön“, erwiderte Ruth, während sie aus den vor ihr liegenden Stechpalmenzweigen vorsichtig die kleinsten aussuchte und zur Seite legte. „Ich meinte, ein derartiges Arrangement wäre für beide Seiten von Vorteil, und es gibt doch bestimmt die eine oder andere Familie, die diesen Vorteil zu schätzen wüsste.“

„Da bin ich sicher“, stimmte Richard ihr zu. „Ich werde mich gleich morgen auf eine Tour zu allen Baronen und Baronets der Grafschaft begeben und mich erkundigen, ob sie verarmt seien und eine hübsche Tochter für mich hätten.“

Agnes brach in schallendes Gelächter aus, und auch Ruth, die selten ihre Fassung verlor, prustete los.

„Ihr seht selbst, dass das ganz und gar unmöglich ist“, sagte Richard und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„So geht das natürlich nicht!“, lachte Agnes mit Tränen in den Augen. Sie holte ihr Taschentuch aus ihrem Retikül und tupfte sich die Tränen weg. „Wir müssten uns zweifellos etwas anderes einfallen lassen.“

„Ich höre?“ Richard sah seine Schwestern abwechselnd erwartungsvoll an. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen.

Einige Augenblicke herrschte nachdenkliches Schweigen. Erleichtert atmete Richard auf. Doch wenn er gedacht hatte, die Angelegenheit habe sich damit erledigt, weil seinen Schwestern eben nichts anderes einfiel, irrte er sich gewaltig.

„Du könntest eine Heiratsanzeige in der Morning Post inserieren“, schlug Ruth vor. Agnes warf ihr einen überraschten Blick zu und musste sich eingestehen, dass sie selbst niemals auf diese ausgezeichnete Idee gekommen wäre.

„Das ist so ziemlich das Letzte, was ich täte“, erwiderte Richard trocken, der die Idee offenbar nicht ganz so ausgezeichnet fand wie seine jüngste Schwester. „Ich werde doch nicht mein letztes bisschen Ansehen, so ich nach all den Vorfällen und Geschichten um meine Person überhaupt noch etwas davon besitze, durch eine Heiratsannonce aufs Spiel setzen.“

„Oh ja! Eine Heiratsanzeige!“ Agnes war begeistert und ignorierte den Einwurf ihres Bruders gekonnt.

„‚Reicher, unansehnlicher Viscount sucht arme, schöne Ehefrau. Muss Tochter eines Barons oder Baronets sein.’ So in etwa?“, machte Richard sich über sie lustig.

„Du bist doch nicht unansehnlich!“, protestierte Agnes pflichtbewusst, obwohl sie zugeben musste, dass die schiefe Nase, die er sich vor vielen Jahren bei einer Schlägerei zugezogen hatte, sein ohnedies nicht besonders attraktives Gesicht noch zusätzlich entstellte.

„So wird das nichts! Komm, Agnes“, sagte Ruth und legte die rote Seidenborte, mit der sie gerade Sträuße aus den vorsortierten Stechpalmenzweiglein gebunden und diese in kleinen Glasvasen drapiert hatte, beiseite. Sie nahm das Stofftuch von ihrem Schoß, stand vom Tisch auf und ging zum Sekretär, der an der gegenüberliegenden Wand stand. „Wenn die Anzeige erfolgreich sein soll, müssen wir das wohl selbst in die Hand nehmen.“

Sie setzte sich auf den Stuhl und zog ein Blatt Papier aus der obersten Lade des Sekretärs.

Agnes, die durch das Gespräch so abgelenkt gewesen war, dass sie vergessen hatte, den letzten Apfel aufzuhängen, befestigte diesen rasch am Querbalken und trat dann zu Ruth an den Tisch.

„Sie muss aus einer wohlgeborenen Familie stammen. Schreib auf!“

Ruth griff zur Feder, tauchte die Spitze in das Tintenfass und begann zu schreiben.

„Und einen untadeligen Ruf besitzen“, fügte Agnes hinzu.

„Sie soll klug sein.“ Ruth setzte ein Wort an das andere.

„Von einnehmendem Wesen …“

„… und ebenmäßiger Gestalt!“

„Mit vorzüglichen Umgangsformen.“

„Unbedingt! Sowie kultivierter Lebensweise.“

„Mit exzellentem Kunstsinn … “

„… und erlesenem Musikgeschmack!“ Ruth beeilte sich, alles zu notieren.

„Nicht zu vergessen Anmut.“

„Und Grazie!“

„Höflich, gebildet und bescheiden muss sie sein.“

„Und natürlich hübsch!“

So ging es noch eine ganze Weile, bis Ruth den unteren Rand des Papierbogens erreicht hatte. Zufrieden las sie den Text nochmals, brachte einige kleine Korrekturen an, streute zum Trocknen der noch feuchten Tinte etwas Schreibsand auf das Papier und reichte es ihrer Schwester. Agnes überflog den Text kurz, faltete das Blatt zusammen, ging zum Sofa und hielt Richard das Papier mit triumphierendem Blick entgegen.

Ihr Bruder machte keine Anstalten, das Blatt an sich zu nehmen. „Euch ist hoffentlich klar, dass ich diese Anzeige niemals inserieren werde.“

„Du kannst sie ja umformulieren. Es ist nur ein Entwurf.“

„Darum geht es nicht. Ich werde keine Anzeige aufgeben. Ich suche doch nicht über eine Zeitung nach einer Ehefrau!“

„Richard.“ Agnes setzte sich wieder neben ihrem Bruder auf das Sofa und sah ihn eindringlich an. „Du musst heiraten, sonst bekommt eines Tages alles Onkel Titus!“

„Wenn du der Meinung bist, hier oder in London keine Gemahlin zu finden, dann musst du eben in den anderen Grafschaften suchen“, erklärte Ruth. „Irgendwo in England gibt es bestimmt jemanden, der dich nicht kennt oder dem die Gerüchte gleichgültig sind. Was wäre einfacher, als diese Person über eine Annonce zu finden? Du kannst schließlich nicht durch ganz England auf Brautschau fahren.“

„Versuch’ es doch wenigstens!“, bedrängte ihn Agnes. „Was hast du zu verlieren? Wenn du das Inserat anonym aufgibst, erfährt niemand, dass du hinter der Anzeige steckst. Und wer weiß – vielleicht findest du die große Liebe?“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Richard lachte. „Ganz bestimmt. Ausgerechnet über diese Heiratsanzeige!“

Agnes hielt ihm demonstrativ das Papier unter die Nase. „Ich sage nur: Onkel Titus!“

Kopfschüttelnd nahm ihr Richard den Zettel aus der Hand.

„Ihr zwei seid unmöglich“, stellte er mit ernster Miene fest, doch seine Mundwinkel zuckten verräterisch. „Das ist das letzte Mal, dass ich euch zu Weihnachten eingeladen habe!“

„Sobald du verheiratet bist, werden wir aufhören, dich zu ärgern, versprochen“, grinste Ruth.

„Genau“, pflichtete ihr Agnes bei. „Dann haben wir ja auch keinen Grund mehr dazu!“

Seine Schwestern sahen ihn erwartungsvoll an.

„Nun gut“, entgegnete Richard resigniert. „Ich werde nach den Feiertagen eine Anzeige aufgeben. Anonym. Und damit ist dieses Thema für die restlichen Weihnachtstage erledigt.“

„Einverstanden“, antworteten seine Schwestern wie aus einem Munde.

Er sah missbilligend von einer zur anderen. „Sollte ich je heiraten, dann nicht Onkel Titus oder eines Stammhalters oder gar der Liebe wegen, sondern einzig und allein, damit ihr zwei mich endlich in Ruhe lasst!“

DREI

Trotz der morgendlichen Kälte hatte Isabella beschlossen, vor dem Frühstück in der Barouche eine Rundfahrt im Park von Belcot House zu machen, und Catherine gebeten, ihr Gesellschaft zu leisten. Die offene Barouche war eigentlich ein Gefährt für sommerliche Tage, doch Matthew hatte mit ihrem Verkauf auf Isabellas Bitten hin so lange wie möglich zugewartet. Und so nutzte Isabella jede Gelegenheit zu einer Ausfahrt, solange die Barouche ihr noch zur Verfügung stand.

In ihren warmen Wollumhang gehüllt, die Hände tief in ihren Pelzmuff vergraben und mit einem dicken Schafsfell zugedeckt, fuhr sie neben ihrer Schwester an den mit Raureif bedeckten Beeten und Hecken vorbei, die in den Strahlen der aufgehenden Sonne glitzerten. Ende Dezember besaß die Morgensonne keine wärmende Kraft, doch wenigstens war es windstill, sodass lediglich der Fahrtwind Isabella ins Gesicht blies.

„Unsere Ausfahrten werden mir fehlen“, seufzte sie. „Ganz besonders im Frühjahr, wenn es wieder wärmer wird. Zwischen all den Frühlingsbeeten und unter den blühenden Bäumen hindurchzufahren! Oh, Cat, denkst du nicht, dass wir Matthew überreden könnten, die Barouche doch zu behalten?“

Catherine schüttelte den Kopf.

„Nein, Täubchen, das denke ich nicht. Wir benötigen das Geld. Die Pachteinnahmen zu Michaelis waren schlecht, und wie du weißt, befürchtet Matthew, dass sie auch diesmal ähnlich gering ausfallen. Mr. Paterson ist gerade bei ihm und wird ihm über den gestrigen Pachteinnahmentag sicherlich Bericht erstatten. Wir werden gewiss nach unserer Rückkehr erfahren, wie die Dinge stehen.“

Isabella machte ein trauriges Gesicht, und Catherine legte tröstend den Arm um sie.

„Was ich aber denke, Täubchen, ist, dass du in diesem Frühjahr ohnedies deine Zeit in London verbringen wirst“, sagte Catherine in aufmunterndem Tonfall. „Du wirst so viel erleben, dass du die Barouche und die Ausfahrten in unserem Park bestimmt rasch vergessen hast!“

Isabella stieß überrascht einen leisen Schrei aus und sah Catherine mit großen Augen an.

„Oh, Cat! Heißt das, ich kann zur Londoner Saison? Hat Matthew das gesagt?“

„Ja, Liebes“, erwiderte Catherine lächelnd. „Ich habe mit ihm darüber gesprochen, und er versicherte mir, dass deiner ersten Saison diesmal nichts im Wege steht.“

„Wie wundervoll!“

„Doch genau deshalb wird Matthew auch die Barouche verkaufen müssen“, sagte Catherine in bedauerndem Tonfall. „Denn eine Londoner Saison ist sehr kostspielig. Wir müssen ein Haus in der Stadt anmieten und das dazugehörige Personal bezahlen. Darüber hinaus wirst du neue Kleider, Schuhe und Schmuck benötigen, und auch der Besuch der Theater- und Opernhäuser sowie die Subskriptionsgebühren für Almack’s müssen bezahlt werden.“

„Almack’s!“, rief Isabella mit leuchtenden Augen. „Oh, Cat, denkst du denn, die Patronessen werden mir einen Voucher ausstellen?“

„Darüber kann gar kein Zweifel bestehen, Täubchen. Die Patronessen mögen in ihrer Auswahl der jungen Damen und Herren sehr streng sein, doch wohlerzogene und liebreizende junge Damen, wie du eine bist“, sie stupste neckisch Isabellas vor Kälte gerötete Nasenspitze, „erhalten immer Zugang!“

Isabella lachte.

„Aber ich könnte doch einfach meine besten Kleider und Juwelen tragen? Dann müsste Matthew die Barouche vielleicht doch nicht verkaufen?“

„Völlig ausgeschlossen, Liebes“, rief Catherine, „das ist ganz und gar unmöglich. Stell‘ dir nur vor, wie die Leute reden würden, wenn du nicht a la mode gekleidet wärst. Als könnte Matthew als dein Vormund sich keine neue Ausstattung für dein Debüt leisten! Und du möchtest doch sicherlich nicht, dass man über dich erzählt, du kämst aus einer verarmten Familie.“

„Aber wir sind doch verarmt, oder nicht?“

„Das sind wir in gewisser Weise, Liebes, aber es würde deine Chancen auf dem Heiratsmarkt außerordentlich schmälern, kämen derlei Gerüchte in Umlauf.“

„Dann … dann machen wir den Leuten also etwas vor?“ Isabella fühlte sich bei diesem Gedanken mehr als unbehaglich, denn sie verabscheute Unehrlichkeit.

„Ja, Täubchen, das werden wir wohl müssen, um eine gute Partie für dich zu finden.“

„Aber das ist unredlich!“, rief Isabella entrüstet.

„Da stimme ich dir zu“, erwiderte Catherine. „Aber mach‘ dir darüber jetzt keine Gedanken. Vielleicht ist alles nicht so schlimm und die Pachteinnahmen dieses Quartals sind doch höher als erwartet. Wir werden Matthew gleich nach unserer Rückkehr darüber befragen.“

Als die Barouche in die Straße einbog, die durch die Parkanlage zu Belcot House führte, kam ihnen Mr. Green, einer von Matthews Pächtern, entgegen. Isabella und Catherine grüßten ihn freundlich, doch Mr. Green schien sie nicht wahrzunehmen. Geistesabwesend und mit missmutigem Gesicht, den wärmenden Umhang fest um sich gezogen und den abgegriffenen Hut tief im Gesicht, eilte er schweren Schritts an ihnen vorbei. Verwundert sah Isabella ihre Schwester an. Sie kannte Mr. Green als höflichen und gern gesehenen Besucher auf Belcot House, doch heute schien etwas nicht zu stimmen. Catherine zuckte ratlos mit den Schultern.

Kaum vor dem Haus angekommen, öffnete sich die Eingangstür. Einer der beiden Lakaien, der ihre Ankunft offenbar bemerkt hatte, begrüßte sie mit einer Verbeugung. Rasch eilte Isabella durch die Kälte hinter ihrer Schwester die Stufen hinauf in die Eingangshalle. Sie übergab John – oder war es James? – den Umhang und ihren Muff und genoss es, wie die wohlige Wärme ihren Körper umfing. In der Barouche war es fürchterlich kalt gewesen, trotz der wärmenden Felldecke, die Catherine und sie für ihre winterlichen Fahrten immer dabei hatten. Catherine winkte Isabella, ihr zu folgen. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Matthew.

Sie fanden ihren Bruder schließlich hinter seinem Schreibtisch in der Bibliothek. Matthew sichtete gerade einige Papiere und machte keinen gut gelaunten Eindruck.

„Was ist passiert?“, fragte Catherine ohne Umschweife und nahm auf dem gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. „Wir trafen gerade Mr. Green, und er wirkte sehr verdrossen.“

„Kein Wunder“, brummte Matthew in verärgertem Tonfall. „Auch bei den Greens gab es diesen Herbst einen vollständigen Ernteausfall.“

„Wegen des verregneten Sommers?“, erkundigte sich Isabella, setzte sich auf das altmodische Sofa neben Matthews Schreibtisch und strich die Falten an ihrem cremefarbenen Baumwollkleid glatt. Trotz des Feuers im Kamin fröstelte sie. Gleich nachher musste sie aus ihrem Zimmer ein wärmendes Schultertuch holen. Es wäre doch äußerst unangenehm, sich eine Erkältung zuzuziehen!

„Die Greens sind bereits die vierten, die den gestern fälligen Pachtzins nicht bezahlen konnten“, antwortete Matthew. „Wie die Munchins, Heards und Blackwells. Bei den anderen Pächtern steht es nicht besser. Der Regen und die Kälte haben praktisch alles verdorben – Getreide, Obst, Gemüse, alles.“

„Also hatten wir dieses Jahr kaum Einnahmen“, fasste Isabella zusammen. Sie erinnerte sich, dass Catherine ihr während der Spazierfahrt von den geringen Pachteinnahmen zu Michaelis erzählt hatte.

„So ist es.“ Matthew legte die Papiere zur Seite und sah seine Schwestern ernst an.

„Wie steht es bei den Ashcrofts?“, erkundigte sich Catherine nach ihren Nachbarn auf dem an Belcot House angrenzenden Landsitz.

„Ebenso schlecht. In der gesamten Grafschaft sieht es nicht anders aus, ach, was rede ich, in ganz England!“ Er deutete auf einen Zeitungsartikel der vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Morning Post. „Der Kontinent ist auch betroffen.“

„Oh nein“, stöhnte Catherine und griff nach der Zeitung. Beunruhigt beobachtete Isabella, wie sich das Gesicht ihrer älteren Schwester verfinsterte, während sie die Zeilen überflog.

„Wenn auch nur die Hälfte von dem eintritt, was hier steht, wird der restliche Winter … schwierig.“

Catherine reichte ihrer Schwester die Zeitung, und Isabella warf einen neugierigen Blick darauf. Ein ganzseitiger Artikel befasste sich mit den Folgen der seit Monaten anhaltenden Schlechtwetterperiode für die europäische Landwirtschaft. Im schlimmsten Fall wurden Hungersnöte vorausgesagt, sollten die weitreichenden Ernteausfälle nicht durch Nahrungsmittellieferungen aus anderen Regionen und Ländern ausgeglichen werden können. Da der Sommer und Herbst jedoch auch auf dem Kontinent viel zu kalt und regnerisch gewesen war, standen die Möglichkeiten schlecht, in absehbarer Zeit aus anderen Ländern Hilfe zu erhalten, da diese mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten.

„Wenn die Ernteausfälle, wie es scheint, nicht regional begrenzt waren, sondern ganz England und den Kontinent betreffen, werden kaum genügend Lebensmittel für die kommenden Wochen und Monate vorhanden sein“, bestätigte Matthew Catherines Vermutungen, noch während Isabella den Artikel zu Ende las.

„Und die Preise für jene, die noch zu haben sind, werden in die Höhe schnellen“, führte Catherine den Gedanken fort.

„… und wer kein Geld hat, wird sich kein Essen leisten können. Vielleicht nicht einmal Brot“, fügte Matthew hinzu.

Isabella sah erschrocken von Matthew zu Catherine. Vielleicht mussten sie den Erlös aus dem anstehenden Verkauf der Barouche für Lebensmittel verwenden, und es blieb nichts übrig für ihre Saison!

„Wir haben noch die Rücklagen vom letzten Jahr“, wandte Catherine ein. „Wir haben doch Rücklagen, Matthew, oder?“

Matthew schüttelte langsam den Kopf.

„Was ist mit dem Geld für die Kutsche und das Gespann? Und den Curricle und deine zwei Jagdpferde?“

Wieder schüttelte Matthew den Kopf.

„Matthew!“, rief Catherine entsetzt. „Wo ist all das Geld denn geblieben? Der Verkaufserlös muss doch bestimmt mehrere Tausend Pfund betragen haben!“

„Ich musste einige von Papas drängendsten Schulden zurückzahlen. Manche der Gläubiger werden bereits ungeduldig. Und mir steht der Sinn nicht nach Schuldturm.“

„Du lieber Himmel! So schlimm steht es, dass dir der Schuldturm droht?“ Isabella sah ihren Bruder entgeistert an.

„Noch nicht“, brummte Matthew. „Deshalb habe ich den Erlös aus dem Verkauf der Kutschen und Pferde benötigt, um die Gefahr des Schuldturms fürs Erste abzuwenden.“

Isabella wagte kaum, die nächste Frage zu stellen, da sie die Antwort bereits kannte.

„Ich kann also auch dieses Frühjahr nicht nach London zur Saison?“

Tränen stiegen ihr in die Augen, obwohl sie mit aller Kraft versuchte, sie zu unterdrücken. Doch es gelang ihr nicht. Eine Träne lief über ihre Wange, und dann noch eine.

„Hör auf zu weinen!“, fuhr Matthew sie gereizt an. „Wir haben derzeit wirklich andere Sorgen als deine Partys!“

„Da hast du bestimmt Recht“, griff Catherine beschwichtigend ein, setzte sich neben die schluchzende Isabella und nahm sie tröstend in den Arm. „Doch Isabella hat sich schon so darauf gefreut und ist jetzt enttäuscht, das verstehst du doch. Außerdem hattest du mir zugesagt, dass sie diesmal an der Saison teilnehmen kann. “

„Ich kann das Geld dafür nun einmal nicht herbeizaubern! Wir haben nicht nur kein Geld, sondern auch noch Papas Schulden. Ich bin heute mit Mr. Paterson die Zahlen durchgegangen. Die Ausfälle der Pachteinnahmen aus den letzten beiden Quartalen haben die Lage noch verschlimmert. Selbst mit dem Verkauf der Wagen und Pferde kann ich keine Saison bezahlen.“

„Wenn Isabella nicht zur Saison nach London gehen kann, wird es für sie schwierig werden, einen geeigneten Ehemann zu finden“, gab Catherine zu bedenken. „In unserer Gegend kommen nicht viele junge Männer in Betracht, und sollte unsere finanzielle Lage bekannt werden, hätte sie kaum noch Aussichten auf eine gute Partie.“

„Ich heirate auf gar keinen Fall Mr. Warde!“, rief Isabella rasch. „Oder Mr. Preston! Er ist so … seltsam. Und sein andauerndes Gekicher ist unerträglich!“

„Keine Sorge“, beruhigte Matthew sie. „An Warde und Preston dachte ich nicht.“

Erleichtert atmete Isabella auf.

„Sie sind nicht besonders wohlhabend“, fuhr Matthew fort.

Isabella wurde hellhörig. „Ich soll also einen möglichst reichen Mann heiraten, geht es darum?“

„In der Tat.“

„Du denkst, ein reicher Schwager könnte dir bei der Rückzahlung von Papas Schulden helfen?“, warf Catherine ein.

„Nun“, Matthew zögerte einen Moment, „er würde wohl die Familie seiner Ehefrau nicht darben lassen, oder? Wie sähe es aus, wenn er es zuließe, dass der Bruder seiner Ehefrau im Schuldturm landet!“

Catherine schüttelte den Kopf. „Du willst also einem reichen Gentleman vormachen, dass er die Schwester eines wohlhabenden Baronets mit erwartungsgemäß hoher Aussteuer heiratet, und nach der Eheschließung dann mit der Wahrheit herausrücken und ihn unter dem Druckmittel, dass nicht nur dein, sondern auch sein gesellschaftlicher Ruf Schaden nehmen könnte, würdest du im Schuldturm landen, zur Zahlung von Papas Schulden veranlassen? Das ist Betrug!“

„Das lass nur meine Sorge sein“, entgegnete Matthew mit verbissenem Gesichtsausdruck.

Isabella ahnte, was nun folgen würde. Schon damals, als sie noch Kinder gewesen waren, hatte Catherine ihrem Bruder stets unverblümt ihre Meinung gesagt, wenn er wieder einmal auf eine ihrer Ansicht nach unangebrachte oder gar verrückte Idee verfiel. Was hatten sich die beiden oft gestritten!

Obwohl Catherine und Matthew nun, da sie erwachsen waren, besser miteinander auskamen als in ihrer Kindheit, gab es für Isabellas Geschmack immer noch viel zu oft heftig ausgetragene Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden. Isabella fühlte sich nie wohl, wenn sie in einen Streit zwischen ihren Geschwistern geriet, und im Moment schien es wieder einmal so weit zu sein.

„Wie also soll Isabella einen sagenhaft reichen Ehemann finden, wenn wir uns keine Saison leisten können?“, fragte Catherine in sarkastischem Tonfall. „Der einzige reiche, unverheiratete Gentleman in unserer Gegend ist Mr. Blackmore, der vor Kurzem zu seiner Grand Tour durch Europa aufgebrochen ist. Und dann wäre da noch Admiral Worsley, der allerdings die meiste Zeit über auf See ist.“

„Mr. Blackmore ist überheblich und eingebildet, den will ich nicht heiraten!“, warf Isabella ein. „Und Admiral Worsley ist mir zu alt!“

„Beide werden wohl ohnedies nicht in absehbarer Zeit zurückkehren und kommen daher nicht in Frage“, entgegnete Catherine. Zu Matthew gewandt, fuhr sie fort: „Wie willst du für Isabellas Mitgift aufkommen, wo Papa doch alles verspielt hat und wir keinerlei Ersparnisse haben? Den Betrag wirst du im Ehevertrag entsprechend hoch ansetzen müssen, damit unser reicher Schwager in spe nicht vorzeitig Verdacht schöpft. Oh, ich vergaß“, unterbrach sie sich selbst, „du willst ja auch noch die Barouche verkaufen!“

„Ich ‚will‘? Du denkst, ich will das?“ Matthew sprang auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Seine Feder, einige Blatt Papier und die Morning Post landeten auf dem Teppich. Catherine sprang erschrocken auf und konnte gerade noch verhindern, dass das umkippende Tintenfass sie traf. Einige Spritzer bekam ihr elfenbeinfarbenes Hauskleid dennoch ab.

„Matthew, bitte!“, stieß Catherine hervor, während Isabella hilfsbereit mit dem Taschentuch, mit dem sie gerade eben ihre Tränen getrocknet hatte, die noch feuchten Flecken auf Catherines Kleid abtupfte und sich gleichzeitig weit weg wünschte.

„Von wollen kann keine Rede sein!“, fuhr Matthew seine Schwester an, ohne das Missgeschick, das er verursacht hatte, zu beachten. „Es bleibt mir nichts anderes übrig. Und daran bist du nicht ganz unschuldig!“

„Wie bitte?“ Catherine warf ihm einen entrüsteten Blick zu. „Ich soll dazu beigetragen haben, dass du kein Geld für Isabellas Saison hast und Papas Schulden nicht zurückzahlen kannst?“

„Hättest du damals Morrison geheiratet, dann hätte ich bereits seit Jahren keine Ausgaben mehr für dich tätigen müssen. Und Morrison wäre bestimmt bereit gewesen, den einen oder anderen Betrag bei Papas Gläubigern zu begleichen. Papa hätte dir niemals erlauben dürfen, ihn abzuweisen!“

Catherine schnaubte. „Du wirfst mir vor, dass ich damals, kurz nach Henrys Tod, nicht umgehend einen anderen Mann heiraten wollte? Mr. Morrison mag reich sein, aber ich hatte meine Gründe, weshalb ich seinen Antrag ablehnte! Du könntest doch selbst eine reiche Erbin oder Witwe heiraten, statt zu versuchen, Isabella reich zu verheiraten. Hättest du Miss Liza damals nicht mit deinen alles andere als diskreten Eskapaden kompromittiert und sie damit zur Auflösung eurer Verlobung gebracht, wärst du selbst reich verheiratet!“ Ihre Augen blitzten wütend auf. „Wenn man sich allerdings einen Ruf als Frauenheld erworben hat, der es nicht ernst meint, bleibt einem eben nichts anderes übrig, als seine Schwestern an den Meistbietenden zu verkaufen.“

„Es ist genug.“ Matthew machte eine abwehrende Handbewegung und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Diese Angewohnheit kannte Isabella nur zu gut. Sie besagte, dass er seiner Meinung nach den eigenen Standpunkt klar genug dargelegt hatte und nicht bereit war, länger darüber zu diskutieren. Ihr war sofort klar, dass er etwas im Schilde führte. Auch Catherine schwieg abwartend.

„Henry ist vor über vier Jahren gefallen. Es wäre längst an der Zeit, dich zu verheiraten. Noch dazu, da du die ältere bist. Doch seien wir ehrlich“, er warf Catherine einen boshaften Blick zu, „Isabella ist jünger – und die hübschere von euch beiden. Du bist zu dünn, und bereits dreiundzwanzig Jahre alt. Und diese roten Haare … “

„Meine Haare sind nicht rot!“, rief Catherine entrüstet. Isabella sah, wie Matthew grinste. Er wusste nur zu gut, wie sich Catherine über eine Anspielung auf den rötlichen Schimmer in ihren kastanienbraunen Haaren ärgerte, da sie ihn selbst zutiefst verabscheute.

„Der Verkauf der Kutschen und Pferde reicht nicht aus“, fuhr Matthew fort, „um euch beide mit einer ansehnlichen Mitgift auszustatten und auf wohlhabende Interessenten zu hoffen. Isabella hat mit ihrem hübschen Gesicht, ihrer zierlichen Figur und ihren blonden Haaren bessere Aussichten auf passende Bewerber.“

„Und wo sollte sie diese finden, wenn nicht bei der Londoner Saison?“, fragte Catherine.

Matthew beugte sich zu Boden und hob die Morning Post auf. „Hier.“ Er klopfte mit einem Finger gegen die Blätter der Zeitung.

„Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief Catherine, während Isabella noch überlegte, was Matthew wohl damit meinen könnte. „Du willst Isabella über eine Heiratsannonce einen Ehemann suchen?“

„Nein!“, entfuhr es Isabella entsetzt. Matthew konnte doch nicht von ihr erwarten, dass sie eine Vernunftehe einging – mit einem wildfremden Mann! Wo sie aus all den Schauerromanen, die sie mit Begeisterung las, doch wusste, wie herrlich romantisch eine Liebesheirat war!

„Vielleicht haben wir Glück, und es ist ein passender Kandidat dabei“, entgegnete Matthew, ohne auf Isabellas Einwurf zu achten. „Wenn nicht, werde ich selbst eine Anzeige schalten.“

Mit diesen Worten zog er eine Schublade in seinem Schreibtisch auf und holte einige weitere Ausgaben der Morning Post hervor.

„Du hast die Zeitungen aufgehoben?“, fragte Catherine verwundert. „Also hast du das schon länger geplant.“

„Ich denke schon länger darüber nach, ja“, nickte Matthew, während Catherine ungläubig den Kopf schüttelte. „Aber ich wollte noch zuwarten, bis wir über die Pachteinnahmen zu Weihnachten Gewissheit haben. Wären sie besser ausgefallen als zu Michaelis, hätten wir möglicherweise noch etwas zuwarten können. Doch so, wie es ist, müssen wir rasch handeln. Je länger wir noch warten, desto höher ist die Gefahr, dass jemand unsere finanzielle misère erfährt.“

Matthew wandte sich an Isabella und hielt ihr den Zeitungsstapel auffordernd entgegen. „Ich erwarte, dass du dir einige Anzeigen aussuchst. Ich werde die Inserenten kontaktieren und prüfen, ob einer der Herren in Frage kommt. Wenn dir keine Anzeige genehm ist, wähle ich selbst einige aus. Ich werde versuchen, die Verhandlungen möglichst rasch zu führen, sodass die Hochzeit in den nächsten Wochen stattfinden kann.“

Isabella nahm die Zeitungen mit zitternden Händen entgegen. Ihr Bruder verlangte tatsächlich von ihr, sich aus einer Handvoll anonymer Annoncen ihren zukünftigen Ehemann auszusuchen! Dabei fand er es offenbar noch großzügig, ihr die Auswahl der Anzeigen zu überlassen. Wieder traten Tränen in ihre Augen. Wortlos eilte sie aus der Bibliothek die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und begann hemmungslos zu weinen.

VIER

Leise klopfte Catherine an die Tür zu Isabellas Schlafzimmer. Von drinnen hörte sie herzzerreißendes Schluchzen. Noch einmal klopfte sie, diesmal etwas stärker.

„Ich bin es, Täubchen. Darf ich hereinkommen?“, fragte sie laut durch die geschlossene Tür.

„Ja“, hörte sie Isabellas bebende Stimme. Die alte Messingklinke quietschte leise, als Catherine die schwere Eichentür öffnete und den Raum betrat. Isabella setzte sich in ihrem Bett auf und sah ihr mit geröteten Augen entgegen.

„Ach, Täubchen.“ Catherine setzte sich neben ihr auf die Bettkante.

„Hier.“ Sie zog ein Taschentuch hervor und reichte es ihrer Schwester. Isabella trocknete ihre feuchten Wangen und schnäuzte sich, konnte die Tränen aber nicht lange zurückhalten. Eine nach der anderen lief über ihre Wangen und tropfte von ihrem Kinn.

Catherine nahm sie in die Arme.

„Wenn Matthew sich wieder etwas beruhigt hat, wird er bestimmt mit sich reden lassen“, sagte sie tröstend. „Du kennst ihn doch. Er regt sich immer schrecklich auf, aber meist wird er danach ja doch wieder vernünftig.“ Sie lächelte Isabella aufmunternd zu. „Er wird bestimmt einsehen, dass es eine dumme Idee war.“

Isabella schnäuzte sich ein zweites Mal und versuchte tapfer, ihre Fassung wiederzuerlangen.

„Und wenn nicht?“, sagte sie mit immer noch zitternder Stimme. „Wenn ich wirklich einen fremden Mann aus der Zeitung heiraten muss? Er ist bestimmt alt und hässlich. Sonst müsste er nicht inserieren, um eine Frau zu finden!“

Catherine lachte. „Das wird sicherlich auf den einen oder anderen Inserenten zutreffen. Aber es gibt gewiss auch viele andere Gründe, um über eine Annonce einen Ehepartner zu suchen. Sieh dich an – angenommen, du würdest einen Ehemann suchen. Dann müsstest du vielleicht auch inserieren, denn von den wenigen akzeptablen jungen Männern in unserer Gegend hast du vorhin drei bereits kategorisch ausgeschlossen! Da bleiben nicht mehr viele übrig. Und das liegt nicht etwa daran, dass du alt und hässlich bist, oder?“

„N-nein“, schniefte Isabella und musste lachen.

„Nun stell dir vor, auf einem entlegenen, verwunschenen Schloss in einer entfernten Grafschaft wohnt ein schöner und reicher junger Lord. Um den uralten, grausamen Familienfluch zu brechen, muss er ein junges Mädchen mit reinem Herzen finden, das gewillt ist, ihn zum Mann zu nehmen.“

Sie wusste, dass Isabella Schauerromane ebenso sehr liebte wie sie selbst, dabei jedoch wesentlich romantischer veranlagt war. Wie oft hatte sie ihre Schwester geneckt, mehr als reine Unterhaltung in diesen Geschichten zu sehen! Doch heute kam ihr Isabellas verträumte Weltsicht zugute. Vielleicht konnte sie ihre Schwester mit einer derartigen Geschichte dazu bringen, über Matthews Vorschlag nachzudenken.

„In seiner Gegend gibt es unter den unverheirateten Frauen nur alte Hexen, eitle Gänse und lästernde Klatschweiber“, fuhr sie fort. „Wie sollte dieser Gentleman nun eine geeignete Frau finden? Er kann nur hoffen, dass eine kluge, hübsche junge Dame auf seine anonyme Annonce antwortet und ihn rettet.“

„Du meinst, wie in Lord Vanderbilts Fluch?“, fragte Isabella. „Aber Lord Vanterbilt gab keine Anzeige auf, sondern ließ über einen Herold in allen Grafschaften nach einem Mädchen suchen, auf das seine Beschreibung passte.“

„Nun ja, das war eben die mittelalterliche Variante einer Heiratsannonce“, erwiderte Catherine lächelnd.

Lord Vanderbilts Fluch