Ein Wesen "Mensch" genannt - Ralf Peter Jünger - E-Book

Ein Wesen "Mensch" genannt E-Book

Ralf Peter Jünger

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Beschreibung

"Da habe ich sie nun gefunden, meine alten Tagebücher. Schäbig sehen sie aus. […] Sie sind immerhin schon fast vierzig Jahre alt. Als ich sie schrieb, war ich gerade zwanzig. Der erste Eintrag ist vom Mittwoch, dem 17.8.1960, dem Tag, an dem wir aufbrachen zu einer wohl ungewöhnlichen Reise." So beginnt der erste Band um die Reise vier junger Berliner, die sie zunächst bis nach Ägypten führt – und das ohne Geld und auf ihrer "Penelope", dem störrischen Tandem für vier. Was als romantisiertes Abenteuer startet, wird schnell zur harten Realität: schlechtes Wetter, ständige Reparaturen am Rad, Krankheit, aber vor allem der Essens- und Geldmangel erschweren ihr Vorhaben. Lichtblick und Motivation für Shorty, den Ich-Erzähler, ist seine Freundin Romy, die zuhause auf ihn wartet.

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Seitenzahl: 662

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INHALTSVERZEICHNIS

IMPRESSUM 2

EINLEITUNG 3

ERSTER TEIL - Ein Wesen „Mensch“ genannt 5

ZWEITER TEIL – Sklaven des eigenen Willens 269

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-182-0

ISBN e-book: 978-3-99130-183-7

Lektorat: Mag. Carmen Reitinger

Umschlagfoto: Emin Ozkan | Dreamstime.com, Ralf Peter Jünger, Presse-Bilder-Dienst, Kortokraks & Ließ, Ludwigstr. 67–69

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Ralf Peter Jünger

www.novumverlag.com

EINLEITUNG

Teilnehmer

Ralf und Jörn Jünger

Wolfgang Möller

Michael Auctun

Autor und Herausgeber

Ralf Peter Jünger

Gesamte Reisedauer

vom 17.08.1960 bis zum 18.01.1962

ERSTER TEIL:Ein Wesen „Mensch“ genannt

Tagebuch Band 1

für die Zeit vom 17.08.1960 bis zum 24.12.1960

von Berlin bis Alexandria in Ägypten

ZWEITER TEIL:Sklaven des eigenen Willens

Tagebuch Band 2

für die Zeit vom 25.12.1960 bis zum 31.05.1961

am Nil entlang bis vor Kampala in Uganda

DRITTER TEIL:Menschenwille oder Menschenwahn

Tagebuch Band 3

für die Zeit vom 01.06.1961 bis zum 18.01.1962

weiter zum Kilimandscharo und ins südliche Afrika

Ausgabe: April 2022

ERSTER TEIL - Ein Wesen „Mensch“ genannt

Tagebuch Band 1

für die Zeit vom 17.08.1960 bis zum 24.12.1960 von Berlin bis Alexandria in Ägypten

Im Jahr 1998,Vorwort

Da habe ich sie nun gefunden, meine alten Tagebücher. Schäbig sehen sie aus. Soll ich sie wegwerfen? Nein, ich sollte sie noch mal durchblättern. Sie sind immerhin schon fast vierzig Jahre alt. Als ich sie schrieb, war ich gerade zwanzig. Der erste Eintrag ist vom Mittwoch, dem 17.8.1960, dem Tag, an dem wir aufbrachen zu einer wohl ungewöhnlichen Reise, die für mich irgendwann im Februar 1962 endete.

Seit dieser Zeit habe ich die Bücher zwar aufgehoben und sie irgendwo verstauben lassen, aber sie nie wieder gelesen. Damals gab ich dem Buch den Titel: „EIN WESEN ‚MENSCH‘ GENANNT“. Was wollte ich damit sagen? Ich weiß es nicht mehr. Meinte ich mit dem Wesen mich selbst, bestimmt durch meine Gedanken, Gefühle oder Handlungen im Zusammenleben mit meinen Kameraden? Ich glaube, ich meinte auch die Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, denen wir auf unserer geplanten Weltreise mit dem Fahrrad begegnen würden. Aber gewiss hatte ich auch Befürchtungen, dass wir auf das Wesen „Mensch“ treffen könnten, das zum Tier wird. Sei es in uns selbst oder in der Begegnung mit anderen. Früher hatte ich öfter mal den Gedanken, ein Buch zu schreiben. Aber das ist lange her. Davon bin ich weit entfernt. Ich habe zu vieles vergessen aus dieser, meiner an Erlebnissen reichen, Jugendzeit. Jetzt bin ich alt. Ich habe viel Zeit. Bin arbeitslos oder, wie man so schön sagt, im Vorruhestand, und das schon seit zwei Jahren. Der Gedanke, die Tagebücher nicht nur zu lesen, sondern sie in den Personal Computer zu tippen, tauchte in mir beim Durchblättern dieser auf. Mich noch einmal damit zu befassen. Ganz bestimmt werde ich mich dabei wieder an Situationen erinnern, die ich bereits vergessen hatte. Sicher werde ich auch wieder an Erlebnisse erinnert, die ich verdrängt hatte, da sie mir vermutlich auch peinlich sind. Doch da diese Erlebnisse vor langer Zeit geschahen, werde ich auch diese ungeschminkt wieder aufschreiben. Ich werde wohl auch Eintragungen über erlebte Handlungen, über Gedanken und Gefühle finden, die ich heute mit meiner Lebenserfahrung so nicht mehr akzeptieren kann, geschweige denn wiederholen würde. Aber was soll’s? Ich schreibe diese Tagebücher einfach nur für mich ab. Schließlich sind die Bücher in keinem so guten Zustand. Zum Teil vom tropischen Wetter aufgeweicht und wieder getrocknet kann man sie bald nicht mehr lesen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass diese Aufzeichnungen es wert sind, einmal gedruckt zu werden. Möglicherweise findet auch mal ein Enkel oder Urenkel diese Abschriften, liest sie und macht sich seine eigenen Gedanken über das Leben, so wie es früher einmal war. Oder sagt mir mein Unterbewusstsein, nun da ich alt geworden bin, dass ich etwas hinterlassen sollte, was an uns und unsere verrückte Reise erinnert? Möchte ich Spuren aus einem Teil meines vergangenen Lebens einem Fährtensucher hinterlassen, die dieser lesen soll?

Sind die Bücher erst einmal auf der Festplatte gespeichert, kann ich sie ausdrucken. Auch kann ich sie dann meinen Kameraden von damals, soweit sie es wünschen, zur Verfügung stellen. Sie haben nämlich keine Tagebücher geschrieben. So wie ich haben auch sie vieles vergessen. Bestimmt haben sie auch einiges mit anderen Augen gesehen und damit auch anders beurteilt. Aber was soll’s? Jeder hat seinen Standpunkt und damit einen anderen Blickwinkel. Mit der Höhe des eigenen Standpunktes nehmen die Sichtweite, aber auch die Abstände zu. Mit größer werdenden Abständen lassen sich Details immer schwerer erkennen. Aber gerade Erkenntnisse verknüpft mit Wissen, Glauben, Trieben und Gefühlen bilden einen großen Teil der Gedanken, die ihrerseits das Handeln bestimmen. Ich jedenfalls möchte diese Reise als wichtigen Teil meiner eigenen Vergangenheit noch einmal im Geiste erleben. Tag für Tag, mit allen Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen. Jedoch ohne alle Strapazen, ohne Hunger und Durst möchte ich diese Abenteuer noch einmal in Gedanken erleben, mit dem Wissen, dass Abenteuer zumeist nur eine Kette von Entbehrungen sind, die es zu überleben gilt.

17.08.60:START IN BERLIN AM MITTWOCH

Eigentlich ist es ein Tag wie jeder andere. Jedoch ist es für uns ein ganz besonderer Tag. Ich sagefür unsund meine mich und meine drei Freunde, von denen der eine mein Bruder ist. Etwa um fünf Uhr morgens rasselt der Wecker. Wir kriechen aus unseren Schlafsäcken und stellen mit Erstaunen fest, dass nach Wochen wieder mal die Sonne scheint. Trotz der großen Freude, die ich an diesem Morgen empfinde, bin ich doch etwas bedrückt. Soll ich mich doch an diesem Tag, vielleicht für immer, von Eltern und vor allem vom geliebten Hund verabschieden. Es mag lächerlich klingen, aber meine Zuneigung zu Pluto, so heißt unser Boxer, ist riesig. Nachdem wir gebadet und gefrühstückt haben, werden die Packarbeiten vom vergangenen Abend vollendet. Pünktlich um sieben Uhr erscheint ein Herr vom Fernsehen. Er filmt alles, was es überhaupt zu filmen gibt.

Damit außenstehende Personen, die gegebenenfalls mal dieses Buch finden werden, überhaupt wissen, wen ich mit „uns“ meine, werde ich erst einmal eine kleine Erklärung abgeben, und da der Esel ja bekanntlich immer vorangeht, werde ich mit meiner Person beginnen:

Meine Freunde nennen mich „Shorty“ und ich bin gute zwanzig Jahre alt. Eigentlich wollte ich schon am fünfundzwanzigsten Februar, meinem Geburtstag, mit diesem Buch beginnen. Zu dieser Zeit arbeitete ich in Düsseldorf als Fernmeldemonteur, mein erlernter Beruf. An diesem Tag war ich jedoch so besoffen, dass ich in diesem Zustand keinen vernünftigen Satz zu Papier bekommen hätte. Ich bin kein Trinker und empfinde sogar große Abscheu für Menschen, die sich ständig betrinken und dann nicht mehr wissen, was sie tun. Doch war es passiert. Warum war ich betrunken? Ich weiß es selber nicht mehr. Ich vertrage den Alkohol nicht. Ein Glas zu viel und mir wird zum Erbrechen übel. Einsamkeit war es nicht, da ich in Düsseldorf ein Mädel kennengelernt hatte, welches wohl in meinem Leben einmal eine wichtige Rolle spielen wird.

An jenem Tag holte ich sie von der Arbeit ab. Vermutlich war sie über meinen Zustand nicht erfreut, aber ich riss am laufenden Meter neue Gags. In ihrer Wohnung – wir waren gerade beim Essen – klingelte es an der Tür. Ich sprang auf und rief ganz erregt: „Das ist mein Bruder!“ Er hatte nicht geschrieben und kein besonderes Zeichen beim Klingeln benutzt und doch wusste ich, dass nur er da gekommen sein konnte. Erstaunlich ist, dass ich schon des Öfteren etwas aussprach, von dem ich noch nichts wissen konnte. War es Intuition? Ich glaube, ich habe vor Freude geheult. Mein Bruder ist ein prima Kerl, auch wenn ich auf ihn zeitweise verdammt wütend bin. Er ist ein kameradschaftlicher Typ, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann. Wenn er etwas versprochen hat, dann hält er es. Ob sein ihn in nichts aus der Ruhe bringender Gleichmut und seine bei Kleinigkeiten ausbrechenden Wutanfälle mit dem Sternzeichen, in dem er geboren ist, zusammenhängen, vermag ich nicht zu sagen. Er wurde am 30.4.1941 in Berlin geboren und ist somit Stier. Er ist ein Jahr jünger als ich, aber an Gestalt etwas größer und breiter. Daher auch mein Spitzname „Shorty“, der Kleine, obwohl der Größenunterschied nur zwei Zentimeter beträgt. Ich mag den Namen, zumal in meinem Pass eine Körpergröße von einhundertachtzig Zentimetern eingetragen ist. Mein Bruder Jörn, den man zumeist „Jonny“ ruft, und ich, wir haben in unserem Leben fast alles gemeinsam unternommen und auch bekommen. Bei dem Wort „bekommen“ denke ich hauptsächlich an Strafen und den damit verbundenen „Hintern voll“. „Hintern voll“, das waren Schläge mit dem Rohrstock, der bei uns der „grüne Heinrich“ genannt wurde. Waren Strafen angesagt, so wurden sie in Runden bemessen. Das heißt, dass „Blitzkurt“, unser Stiefvater Kurt, uns an einer Hand im Kreis führte und mit der anderen auf uns einschlug. Striemen in den Farben gelb, rot und blau zierten dann unsere Schenkel, Arschbacken und Rückenteile. Wer schrie, bekam noch mehr. So lernten wir, Schmerzen zu ertragen, nach dem Motto: „Was dich nicht umbringt, macht dich hart.“

Noch jung an Jahren haben mein Bruder und ich eine Radtour von Berlin aus ins Rheinland unternommen. Er war gerade fünfzehn Jahre alt. Es war nicht meine erste Tour. Ein Jahr zuvor bin ich mit dem Fahrrad durch die Lüneburger Heide zur Nordsee gefahren. Schon damals auf der Rheinland-Tour verbohrte sich in uns eine fixe Idee: Sobald wir ausgelernt hätten, würden wir eine Radtour um die Welt machen. Nun, nach fünf Jahren, ist es so weit. Wir starten. Aber nicht zu zweit. Sondern zu viert auf einem Fahrrad, also auf einem Doppeltandem mit Anhänger. Über unsere beiden anderen Kameraden vermag ich nicht viel zu berichten. Ich kenne sie kaum. Da ist „Querkopf“, der mit richtigem Namen Wolfgang Möller heißt. Wir lernten ihn vor etwa einem Jahr beim Baden am Strand in Tegel kennen. Bei Gesprächen am Lagerfeuer waren er und „Hilde“ von unserem Vorhaben so begeistert, dass sie sich entschlossen, an unserer Fahrt teilzunehmen. Hilde ist zwar ein Junge so wie wir, hatte aber keinen so standhaften Willen. Er ist im Laufe der Zeit abgesprungen, da er sich in ein Mädchen verliebt hat. Vielleicht hat er das Richtige gemacht, aber nur vielleicht. Das werde ich aber erst nach beendeter Fahrt beurteilen können, sollte das Ende nicht der Tod sein. Im Augenblick hab’ ich keine Angst vor dem Tod, kann er uns doch auch hier erwischen. Es würde mir auf jeden Fall leidtun, denn ich möchte meine geliebte Romy, mein Mädel aus Düsseldorf, wiedersehen. Auch ich habe mit dem Gedanken gespielt, abzuspringen und bei ihr zu bleiben, um eine stinknormale Familie zu gründen. Aber ich hab’ mich anders entschieden. Wird sie warten, so wie sie es versprochen hat? Ich weiß es nicht. Ich würde es mir wünschen. Diese Trennung soll eine Prüfung für unsere Liebe sein. Na ja, da unser Freund Hilde absprang, entschlossen wir uns, einen Arbeitskollegen meines Bruders mitzunehmen. Keiner von uns kannte ihn vorher. Er heißt Michael Auctun, doch wir nennen ihn „Mike“ oder „Meik“. Er ist von Gestalt groß und sehr breit. Beim Gehen wackelt er ein wenig. Es sieht so aus, als hätte er ein Hüftleiden. Auch glaube ich nicht, dass in ihm große Kräfte verborgen sind, wie man ansonsten aus seinen Körpermaßen und den sehr breiten Schultern schließen könnte. Also, wir vier wollen zusammengeschweißt mit unserem Doppeltandem die Erde umfahren.

Dieses und einiges mehr berichten wir dem Herrn vom Fernsehen, der uns bis zur Zonengrenze in Staaken begleitet. Es ist eine erste spannende Erfahrung – wir im Fernsehen und dann diese beinahe Pleite, dokumentiert auf dem Film. Nach den Kontrollen, als der Schlagbaum hinter uns wieder runtergelassen wird, schaffe ich es beinahe nicht, auf meinen Sattel zu springen. Meine Aufgabe, der ich auf dem hintersten Sitz fahre, ist es, unser Gefährt beim Anfahren anzuschieben, damit sich nicht wieder meine Tretlagerwelle verbiegt, so wie es bereits bei Probefahrten der Fall war. Bisher hatte ich damit noch keine Probleme. Ist es Unaufmerksamkeit? Ich habe wohl zu lange geschoben. Oder haben die anderen drei zu kräftig in die Pedalen getreten? Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls haben wir schon zu viel Schwung und ich muss mehrere Sprünge machen, bis ich auf meinem Sattel lande. Die Ostzone von Berlin bis Lauenburg, und das sind über zweihundert Kilometer, müssen wir an einem Tag durchqueren. Was unter normalen Umständen und ohne viel Gepäck auch zu schaffen ist.

Die Menschen, die uns sehen, staunen und amüsieren sich. Selbst bei den in der Ostzone stationierten Russen erregen wir großes Aufsehen. Die freuen sich genauso wie die Kinder der Bauern. In Friesack, einem Ort etwa achtzig Kilometer von Berlin entfernt, da passiert es: Mit etwas erhöhter Geschwindigkeit rollen wir gerade einen Berg hinab ins Dorf hinein. Unser Anhänger fängt an zu schleudern und kippt schließlich, nachdem noch ein Rad in ein Schlagloch gerät, ganz einfach um. Wir schleudern mächtig hin und her, können aber unser Fahrzeug halten, ohne selber umzukippen. Alle amüsieren sich köstlich. Sie können sich vor Lachkrämpfen beinahe nicht mehr halten. Bin ich zu ernst? Ich lache auch gern. In diesem Moment hätte ich alles andere tun können, aber nicht in Gelächter ausbrechen. Die Kupplungsstange ist gebrochen. Nachdem der Anhänger in einer Dorfschmiede repariert wird, geht die Fahrt weiter. Bereits nach etwa zehn Kilometern bricht die Kupplung ein zweites Mal. Doch diesmal haben wir Pech, da keine Ortschaft in der Nähe ist. Auch wollen wir nicht zurückschieben. Viel Zeit ist bereits vergangen und eine Werkstatt, sollten wir eine finden, wäre bestimmt auch schon geschlossen. Also entschließen wir uns, einen Lastwagen anzuhalten, um nach Lauenburg zu gelangen, der ersten Stadt in Westdeutschland. Gerade um diese Zeit sehen wohl Tausende von Berlinern im Fernsehen unseren Start. Wir jedoch sitzen mit einer Panne in der Ostzone fest und kommen nicht mehr weiter. Nach langen, vergeblichen Versuchen, einen Lastwagen anzuhalten, unterstützen uns schließlich Volkspolizisten der DDR, auch „Vopos“ genannt. Sie sind sehr nett zu uns und begeistert von unserem Vorhaben. So ganz nebenbei machen sie Andeutungen, dass sie sich auch des Öfteren das westliche Fernsehen anschauen, obwohl dies in der DDR strikt verboten ist. Nachdem die „Vopos“ für uns einen Lastwagen angehalten haben und den Fahrer auffordern, uns mitzunehmen, erreichen wir Lauenburg etwa um Mitternacht. Unser Zelt bauen wir dann im Dunkeln in der Nähe der Jugendherberge auf.

18.08.60:ANHÄNGER REPARIERT IN LAUENBURG

Geschlafen haben wir in dieser ersten Nacht recht gut. Am nächsten Tag regnet es und wir reparieren den Anhänger zum zweiten Mal. Also am zweiten Tag, zum zweiten Mal. Wenn das so weitergeht, haben wir nicht viel zu lachen. Der Tag vergeht. Wir essen Kartoffelklöße aus der Packung und liefern uns am Abend noch eine Wurfschlacht mit den missglückten „Pfanni Bratkartoffeln“, die eigentlich Kartoffelpuffer werden sollten. Mit dem Kochen klappt es noch nicht so gut.

19.08.60:AUF DEM WEG NACH CELLE

Am Freitag geht die Fahrt weiter über Lüneburg und Uelzen in Richtung Celle. Das Wetter ist stürmisch und es regnet wieder. Bei einer Pause, die wir zum Kacken einlegen mussten, entdecken wir im Wald sehr viele Pilze. Zweifelnd, ob wir es wagen können, da niemand von uns ein Pilzkenner ist, sammeln wir einige, um sie am Abend zu essen. Celle erreichen wir an diesem Tag nicht mehr. Wir sind verdammt müde. In einem Dorf, etwa fünfzehn Kilometer vor Celle, bauen wir unser Zelt auf der Liegewiese eines Schwimmbades auf. Die Pilze und Kartoffeln, die wir tagsüber gesammelt haben, können wir am Abend aber nicht mehr zubereiten.

20.08.60:ZIGEUNERLAGER IN HANNOVER

Es regnet in Strömen. Also bereiten wir erst einmal das Essen zu. Uns allen hat es geschmeckt und an den Pilzen haben wir uns auch nicht vergiftet. Da wir weiterwollen, müssen wir das Zelt – so nass, wie es ist – einpacken. In Celle angekommen, kaufen wir Proviant ein. Während Jonny versucht, eine kleinere Übersetzung an unser Tandem anzubauen, gehe ich mit Mike Lebensmittel einkaufen. Hab’ mich über Mike mächtig geärgert. Jeder von uns soll außer einigen Keksen auch einen halben Liter Milch bekommen. So haben wir es beschlossen und abgesprochen. Er hat so einen riesigen Durst, dass er doch tatsächlich versucht, mich zu überreden, für uns beide noch extra etwas zu trinken zu holen. Ich hab’ es abgelehnt und ihn, so glaub’ ich, ganz ordentlich angepflaumt. Es scheint ihm aber egal zu sein. Nachdem wir gegessen und unser vergeblich auseinandergenommenes Rad wieder fahrbereit haben, geht die Fahrt weiter nach Hannover. In der Stadt angekommen werden wir von einem Reporter, der zuständig für die Tageszeitung ist, interviewt. Außerhalb der Stadt suchen wir nach einem Platz zum Zelten. Wir finden ein Zigeunerlager mit Wasseranschluss. Auf unsere Frage, ob wir unser Zelt auch hier aufbauen dürfen, antwortet eine alte Zigeunerin einfach lapidar: „Wer viel fragt, geht viel verkehrt.“ Also bauen wir das noch nasse Zelt hier auf.

Jonny und ich, wir bekommen uns mächtig in die Haare. Der Anlass dazu ist Opas morgiger Geburtstag. Warum nur mache ich ihm Vorwürfe, dass er nicht geschrieben hat? Vorschriften kann ich ihm keine machen, doch mehrfach habe ich ihn daran erinnert und er hatte auch zugesagt, dass er schreiben wird. Ich hatte mich darauf verlassen, doch hätte ich es selbst machen sollen. Soweit ich mich erinnern kann, ist dieser Geburtstag unserer Großeltern der erste, den wir nicht gemeinsam feiern. Wir lieben unsere Großeltern sehr. Sie waren immer für uns da, und das nicht nur in Notfällen. Opa war eigentlich gegen unsere geplante Reise. Sein Motto war immer: „Bleibe im Lande und ernähre dich redlich.“ Jedenfalls wurde mein Bruder patzig und zwar in einer Art, in der ich unbedingt eine Herausforderung sehen musste. Ich empfinde seine Sprüche und seinen Ton als frech und anmaßend. Eigentlich sind diese Sprüche nur auswendig gelernte Redensarten, mit denen er jeden anderen mundtot machen will. Die anderen empfinden sie als Gag und amüsieren sich. Ich ärgere mich und knalle ihm ein paar vor den Latz. Er schlägt zurück und so haben wir unseren ersten Kampf und das schon nach so wenigen Tagen. Es ist kein schöner Kampf, aber Grenzen müssen abgesteckt werden. Eigentlich will ich ihm auch nichts tun. Vielleicht muss es aber sein, damit ein freundschaftliches Zusammenleben auf engstem Raum, nämlich Tandem und Zelt, möglich ist. Und das geht nur, wenn man sich hundertprozentig aufeinander verlassen kann und sich nicht unnötig ärgern muss. Mit anderen Worten: Man muss sich verstehen. Auf jeden Fall ist es kein Kampf, wie im Tierreich üblich, um die Vorherrschaft. Wir hatten uns bereits abgesprochen, dass keiner von uns als Führer fungiert. Alle Entscheidungen werden mehrheitlich getroffen. Jeder entscheidet nur mit seiner eigenen Stimme. Bei einem Stimmengleichstand von zwei zu zwei wird so lange weiterdiskutiert, bis eine Mehrheit von drei zu eins oder Einigkeit entsteht.

21.08.60:TRETLAGERWELLE GEBROCHEN

Den Streit beendet, fahren mein Bruder und ich am nächsten Morgen direkt ins nahegelegene Dorf und geben bei der Post ein Geburtstagstelegramm an Opa auf. Nur zu zweit und ohne Anhänger fährt sich unser Tandem bedeutend leichter. Zurück ins Lager gekommen, haben die anderen das Geschirr abgewaschen und bereits das Zelt abgebaut. Es ist Sonntag und das Wetter ist wieder etwas wärmer. Oder kommt es uns nur so vor? Die Landschaft ist hügelig und wir müssen oft bergan schieben. Immer wieder muss ich beim Anfahren die anderen drei Freunde anschieben und keuche mir dabei fast die Lunge aus dem Hals. Kurz vor Hameln, unserem Tagesziel – wir kneten gerade mal wieder einen Berg hinauf –, da bricht meine Tretlagerwelle. Ich bewundere nur den nichts aus der Ruhe zu bringenden Gleichmut der anderen drei Kameraden. Sie können über alles lachen. Beim Reparieren kloppe ich mir mit dem Hammer auf meinen Daumen. Es liegt wohl eine riesige Komik in dieser Situation, wie ich so umherspringe und mir den schmerzenden Daumen halte. Querkopf ist verdammt schadenfroh und pisst sich fast ein vor lauter Lachen. Kurzerhand greife ich in eine Pfütze und werfe eine Hand voll Dreck nach ihm. Sein Glück, dass er über einen Seesack stolpert und der Länge nach hinfliegt. So kann er wenigstens meinem Wurf ausweichen. Mit einer neuen Welle erreichen wir Hameln und bauen das Zelt auf einem Campingplatz an der Weser auf. Am Schlagbaum des Platzes sind wir einfach vorbeigefahren, ohne uns anzumelden.

22.08.60:PANNEN IN HAMELN

Sowie wir hineingefahren sind, fahren wir auch wieder hinaus. Somit brauchen wir nichts zu bezahlen und das ist sehr wichtig für uns. Da jeder von uns nur zweihundertfünfzig Mark in die Reisekasse getan hat, müssen wir so sparsam sein, wie es nur irgend möglich ist. Der Tag fängt schon ganz toll an. Wir sind kaum gestartet, da verliere ich laufend ein Pedal. Nach der Reparatur, wir sind gerade wieder angefahren und kneten einen mäßigen Berg hinauf, da trete ich mit meinem Tretlager ins Leere. Noch sind wir nicht aus Hameln hinaus, da ist schon die nächste Reparatur fällig. Bin verdammt sauer, da ich dachte, es wäre wieder meine Tretlagerwelle. Zum Glück hat sich nur ein Keil überdreht. Gedanken gehen mir durch den Kopf und ich frage mich, ob es überhaupt sinnvoll ist, mit diesem Pannengerät weiterzufahren. Oder sollte ich mir lieber ein einzelnes Fahrrad kaufen? Es wäre aber wohl zu einfach gewesen, wenn alles ohne Probleme geklappt hätte. Wir kneten die Berge hoch und es kommt uns so vor, als würden wir sie auch wieder runterkneten. Wir haben das Gefühl, als würden wir zu langsam vorankommen. Nach einer Reifenpanne am Anhänger nehmen wir auch die schlackernden Radlager auseinander. Der „dicke Peter“, ein guter Freund in Berlin, hatte zu viele Kugeln in die Radlager gepresst, als er uns half, alles herzurichten. Nachdem wir die Höhen des Teutoburger Waldes überwunden haben, geht die Fahrt zügig weiter bis nach Paderborn. Ein freundlicher Mann bringt uns noch Obst zum Zeltplatz, obwohl wir ihn zuvor leicht angepflaumt haben. Bei Dunkelheit beobachten wir am Himmel den amerikanischen Echoballon.

23.08.60:AUF EINEM LASTWAGEN NACH DORTMUND

Nach einem guten Start bei kalt-feuchtem Wetter streikt wieder unser Anhänger. Fast die Hälfte aller Speichen ist gerissen. Genügend Ersatzspeichen sind nicht vorhanden. Also halten wir einen Lastwagen an. Wir verladen alles, uns eingeschlossen, auf die offene Ladefläche. Dem kalten Fahrtwind ungeschützt ausgesetzt, frieren wir erbärmlich. Aber dafür kommen wir schnell nach Dortmund. Auf dem Weg zu einem großen Fahrradhändler interviewt uns ein Reporter der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“. An unserem Tandem stellen wir einen Rahmenbruch fest, den wir sofort in einer Werkstatt schweißen lassen. Damit nicht genug bricht auf einer Straßenkreuzung wieder die Kupplung des Anhängers. Das Ding ist schrottreif und wir entschließen uns, einen neuen Anhänger zu kaufen. Diesen Schrotthaufen hat übrigens mein Bruder nach seiner praktischen Gesellenprüfung vom Gelände der Firma, bei der er die Prüfung absolvierte, mitgehen lassen. Sicher wäre es wohl besser gewesen, wir hätten gleich einen neuen Anhänger gekauft und uns damit einigen Ärger erspart. Was versucht man nicht alles, um Kohle zu sparen. Wir sind sehr froh, dass uns der Fahrradhändler „Witthoff“ einen neuen Anhänger für fünfzig Mark verkauft. Der Anhänger ist gefedert und sollte ursprünglich hundertachtundachtzig Mark kosten. Der Rahmenbruch wurde schlecht geschweißt und wir versuchen nochmals, bei einer Tankstellenreparaturwerkstatt diesen Bruch schweißen zu lassen. Da die Werkstatt bereits geschlossen ist, gelingt es uns nach vielem Hin und Her, den Chef zu überreden, uns in einer leeren Garage übernachten zu lassen. Als die Frau des Garageninhabers uns besucht, können wir es beinahe nicht fassen: Sie schenkt uns zwei Flaschen Bier, Konserven und einige Würste. Mit einer sagenhaften Figur, ähnlich der des Ritters von der traurigen Gestalt, erscheint auch noch ihre Tochter. Irgendwie erregt, schlägt sie mit der Peitsche andauernd an ihre Reitstiefel und redet abgehackt. Wir verarschen sie mit diversen Komplimenten, aber sie merkt es nicht. Als Jonny beim Aufblasen seiner Luftmatratze eine noch fast volle Flasche Bier umkippt, kann man sich vorstellen, was da für ein Gestank in der Garage herrscht. Ein Wunder, dass wir diese Nacht in diesem Luftgemisch aus Benzin, Öl, Bier und unseren unvermeidbaren Darmgasen überlebt haben.

24.08.60:GELD EINTREIBEN IN WATTENSCHEID

Das Wetter ist gut, und gut ist auch der Garagenbesitzer. Für dieses luxuriöse Hotelzimmer und die Reparatur brauchen wir nichts zu bezahlen. In Wattenscheid fahren Jonny und Mike zu den Eltern eines Jungen, der ursprünglich, anstelle von Mike, an unserer Fahrt teilnehmen wollte. Er hatte aber gekniffen und von Jonny neunzig Mark mitgehen lassen. Querkopf und ich warten in der Zwischenzeit auf einer Bank am Stadtrand. Plötzlich zischt es. Es ist der Reifen unseres neuen Anhängers, der in der Sonne geplatzt ist. Wir flicken ihn und warten weiter auf die anderen.

GEDANKEN BEZÜGLICH TRIEBEN UND SUCHT

Ich werde langsam nervös und eigenartige Gedanken gehen mir durch den Sinn. Wollte ich doch unbedingt noch an diesem Tag nach Düsseldorf kommen. Die Sehnsucht nach meiner geliebten Romy treibt mich und macht mich unruhig. Es ist schon eigenartig, dass wir Menschen immer von irgendwelchen Trieben gesteuert werden. Einer der stärksten Triebe ist wohl der Sexualtrieb, ohne den ein gutes Zusammenleben zwischen Mann und Frau gewiss nur schlecht funktionieren würde. Viele Menschen in unserer Gesellschaft werden von dem Trieb nach viel Geld, Geltung und Macht beherrscht. Der Trieb ist ein Motor, der Menschen zu hohen Leistungen antreiben kann. Bei vielen erfolgreichen Menschen sind jedoch einer oder mehrere so stark ausgeprägt, dass sie total von ihnen abhängig, gierig und gar krankgemacht werden. Sie werden süchtig nach Arbeit, Geld, Sex, Geltung, Macht, Drogen und so weiter. Die Sucht steckt im Zentrum des Denkens und jede hat ihr eigenes Verhaltensmuster. Der Befallene wird angetrieben, seine Sucht, die ihm auch immer einen gewissen Kick gibt, zu befriedigen. Ein streit-, nikotin-, alkohol-, heroin-, macht- oder eifersüchtiger Mensch wird alles versuchen, seinen Kick zu bekommen, um so seine Sucht immer wieder zu befriedigen. Das heißt, die Befriedigung eines Triebes oder einer Sucht ist gleichzeitig die momentane Befriedigung einer Lust. Das wiederum hat zur Folge, dass ein Betroffener gerne seiner Lust nachgibt. Er tut alles, um sie zu steigern. Muss man nicht daraus folgern, dass Menschen in ihrer Arbeitswelt und ihrem Umfeld durch Angehörige der eigenen Familie, durch Vorgesetzte und durch gewählte Politiker, somit auch sehr oft von Suchtkranken gelenkt und regiert werden? Ich glaube, es ist so. Viele der überaus Erfolgreichen wollen im Mittelpunkt stehen. Sie wollen in der Gesellschaft etwas gelten, über andere Macht ausüben und sich an ihnen bereichern. Sie können einfach nicht genug bekommen in ihrer Selbstsucht, die dazu führt, dass andere Menschen unterdrückt und ausgebeutet werden.

Welcher Trieb aber treibt uns vier an, auf Arbeit und Einkommen zu verzichten? Gibt es einen Reisetrieb oder einen Trieb, Unbekanntes erleben zu wollen? Es gibt eine Reiselust. Aber diese zu befriedigen, das alleine kann es nicht sein. Ich hätte viel Geld verdienen können, wenn ich nicht gekündigt hätte. Schließlich hatte ich ein Angebot der Firma „Siemens“ zum Einsatz in Südkorea. Ich glaube, es ist die Neugier und damit der gleiche Trieb, der Menschen auf die höchsten Berggipfel oder in die entlegensten Ecken unserer Erde auf Entdeckungsreisen treibt. Denen es egal ist, ob sie Anstrengungen, Strapazen, gesundheitliche Risiken oder gar den Tod dafür in Kauf nehmen. Irgendein Lust- oder Glücksgefühl muss schon dabei sein, das man befriedigen möchte. Ich glaube das schon. Neues entdecken kann nur der, der auch bereit ist, über Grenzen und neue Wege zu gehen. Mit Grenzen meine ich nicht nur die Landesgrenzen, sondern auch die eigenen körperlichen und geistigen Grenzen. Nur so waren bisher Entdeckungen und Fortschritt möglich.

EIN WIEDERSEHEN IN DÜSSELDORF

Endlich kommen die zwei Kameraden. Sie haben das Geld nicht bekommen. So fahren wir weiter. Wieder unterwegs haben sie keine richtige Lust mehr zur Weiterfahrt. Aber mir zuliebe, oder weil ich Druck mache, kneten sie weiter. So schaffen wir es schließlich doch noch. Auf der Rheinwiese bei Oberkassel bauen wir das Zelt auf. Ich springe mal kurz in den Rhein, um mich im Rheinwasser chemisch zu reinigen, und ziehe endlich, nach einer Woche, mal saubere Wäsche an. Es ist schon neun Uhr abends, als ich endlich vor Romys Haustür stehe. Zweifel überkommen mich. Mein Herz klopft wie wild. Soll ich klingeln? Würden wir enttäuscht sein nach nur zehn Tagen der Trennung? Oder würden gar unsere Gefühle so übermächtig sein, dass ich mich entschließen könnte, nicht mehr weiterzufahren? Als ich die Treppe hinaufkomme, steht Karin, ihre Schwester, bereits an der Tür. „Shorty“, sagt sie nur, dann fliegt, schattengleich, Romy an ihr vorbei und mir um den Hals. Ich bin gerührt. Alle freuen sich riesig. Das kann man spüren. Ach, endlich wieder bei meiner geliebten Romulus. Ihren schlanken Körper umarmen und ihre Wärme spüren. Sie schmiegt sich so zart an mich. Wir sind glücklich in diesem Moment. Ach, wie lange ist es her, dass wir uns umarmt haben. Ich habe das Gefühl, als würde es nur uns beide geben auf der Welt. Alles andere zählt nicht.

Karin erinnert mich daran, dass ich doch erst mal ihre Mutter begrüßen solle. Diese sehr kranke, ja fast halbtote Frau, kann doch recht nett sein. Es ist gut, dass sie sich mit mir vertragen hat. Sie hat mich früher richtig gehasst. Wahrscheinlich hat sie in mir nur einen bösen Verführer gesehen, der, wie alle Männer, nur das Eine will, dann ihre Tochter schwängert und schließlich abhaut. Sie wurde auch verlassen, als sie krank wurde, von dem Vater ihrer Kinder. Welche Dramen müssen sich da abspielen, wenn ein Vater seine Familie für eine andere Frau im Stich lässt? Ist es wieder nur der verdammte Geschlechtstrieb, der Freude auf der einen Seite und Elend auf der anderen erzeugt? Sie hasst wohl vieles auf der Welt, insbesondere Männer. Hass, geboren aus Enttäuschung, verlassen vom Partner, den man einst geliebt hat. Viele Ehen werden geschieden. Liebe stirbt und verwandelt sich in Hass. Es sind zwei riesige Gefühle in ihrer Gegensätzlichkeit. Etwas Positives verwandelt sich ins Negative. So wie das Schöne ins Hässliche, das Gesunde zum Kranken und eine Geburt zum Tod. Die Zeit dazwischen ist das Leben. Jeder macht etwas anderes daraus. Macht er das wirklich oder wird jeder Einzelne gelenkt von einer Macht, die man Vorsehung oder vielleicht Gott nennt? Ich weiß es nicht. Die Zukunft wird zeigen, was aus unserem Leben wird.

Ich bekomme zu essen. Habe bereits einen riesigen Kohldampf. Übliche Fragen werden beantwortet. Dann verziehen wir uns, Romy und ich, ins Wohnzimmer. Wir trinken wie früher unseren Tee. Plaudern über uns sowie über die unmöglichsten beziehungsweise natürlichsten Dinge dieser Welt. Ich spüre ihre Nähe und die zärtliche Wärme ihres Körpers. So aneinandergeschmiegt, küssen wir uns stürmisch. Schnell ist es spät geworden. Ich bin müde. Aber wir können uns nicht hinlegen. „Weißt du noch damals?“ „Schrecklich, wenn ich daran denke!“ „Es war Sonntag!“ „Der Mutter ging es nicht gut!“ „Eigentlich wollten wir ins Kino gehen!“ „Wir blieben ihretwegen zu Hause!“ „Es war noch in der alten Wohnung in Oberkassel!“ „Auch damals tranken wir Tee und aßen einige Schnitten!“ „Weißt du noch, wie sie dich angegiftet hat, für mich nichts zu essen zu machen?“ „Wir blätterten in alten Zeitschriften und plauderten wie heute.“ „Nur legten wir uns dabei hin.“ „Wir hätten gut dabei sitzen können.“ „Aber es war ja so viel gemütlicher.“ „Auf einmal ging die Tür auf. Im Türrahmen stand ein Gerippe im Nachthemd.“ „Deine Mutter fluchte auf mich, als hätte ich Wunder was verbrochen. Noch mehr verfluchte sie dich. Sie betitelte dich als ‚Nutte‘.“ Mit ihren dürren knochigen Armen versuchte sie, meine vollkommen verstörte Romy zu kratzen und zu schlagen. Es war schrecklich, mitansehen zu müssen, mit welcher Wut und von Hass verzerrtem Gesichtsausdruck diese kranke Mutter versuchte, mit ihren Armen, die eher den Gliedmaßen einer Spinne glichen, ihrer Tochter ein Leid anzutun. Ich versuchte, dazwischenzugehen, konnte mich aber doch nicht an so einer schwachen Person vergreifen. Romy wollte damals ihre Familie verlassen. Was wäre wohl aus unserer Fahrt geworden? Wenn sie es getan hätte und wir gemeinsam eine Wohnung genommen hätten? Oftmals entscheiden Situationen wie diese über ein zukünftiges Leben. Was ist es, das einen Menschen dazu veranlasst, diese oder jene Überlegung oder Entscheidung zu treffen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb Romy bei ihrer Familie. Ich aber durfte mich bei ihr zu Hause nicht mehr sehen lassen. Bis eines Tages der Umzug in die neue Wohnung anstand. Von den vielen Freunden der Familie kam nicht einer, um zu helfen. Für mich war es eine große Genugtuung. Ich wollte mich nicht wieder in den engeren Familienkreis einschleimen. Nur helfen wollte ich, und Zeit und Möglichkeit nutzen, die letzten Wochen vor meiner Abreise so oft wie möglich mit Romulus verbringen zu können. Sie hätte keine Zeit für mich gehabt, denn beide Wohnungen mussten renoviert werden. Danny, ihr Bruder, und ich übernahmen alle Transport-, Maler- und Tapezierarbeiten. Die beiden Mädels halfen uns selbstverständlich, wo sie nur konnten. Die Mutter wurde immer netter zu mir. Anfangs hatte ich den Eindruck, ihre Freundlichkeit wäre nur gespielt. Aber nun, so glaube ich, hat sie mich doch akzeptiert. Die Zeit vergeht und es wird Mitternacht. Romy baut mir ein Bett auf dem Sofa, gibt mir noch einen langen Gutenachtkuss und schwirrt ab in ihr Zimmer.

25.08.60:ZWEITER TAG IN DÜSSELDORF

Ein zarter Kuss weckt mich. Ich denke erst, ich träume. Aber nein, ich liege nicht im Zelt, sondern in einem Bett. Mein liebes „Fraueli“, wie ich sie auch manchmal nenne, da sie diesen Begriff mag und ihn selber aus der Schweiz mitgebracht hat, sitzt wirklich da und küsst mich wach. Langsam komme ich zu mir. Ich träume wirklich nicht. Sie erklärt mir, dass sie heute ihre Arbeit schwänzen wird, um mit mir diesen ganzen Tag zu verbringen. Es ist erstaunlich, dass ihre Mutter nichts dagegen hat. Nach dem Frühstück fahren wir drei, Romy, Karin und ich, mit den Fahrrädern zur Redaktion der „Rheinischen Post“. Anschließend dann zur Rheinwiese, zum Zelt und den Kameraden. Schnell vergeht der Tag mit Reparatur des Fahrzeugs, Wäsche waschen und Essen kochen. Am Abend fahren wir drei wieder nach Hause. Dort bekomme ich zu essen und bin recht froh, dass ich mir nicht den versalzenen Gemüseeintopf runterzwingen muss, den meine Kameraden gekocht haben. Ich war ganz verrückt nach Romulus, doch leider muss ich mich beherrschen, da sie ausgerechnet zurzeit ihre Tage hat. Aber sexuell befriedigen kann man sich auch ohne Geschlechtsverkehr.

26.08.60:NOCH EIN TAG IN DÜSSELDORF

Es ist noch recht früh, als mich Romulus wieder auf die schon bekannte Art weckt. Sie muss wieder ins Büro und frühstückt daher an meinem Bett. Bald muss sie jedoch gehen und ich schlafe noch einige Stunden. Da wir uns verabredet haben, hole ich sie zur Mittagspause von ihrer Arbeit, einem Architektenbüro, ab. Gemeinsam, Hand in Hand, schlendern wir durch die Altstadt und kehren in eine alte Konditorei ein. Schon des Öfteren waren wir hier, als ich noch in Düsseldorf arbeitete. Für uns ist diese Einkehr schon fast zu einer kleinen Tradition geworden. Warum eigentlich? Ausgesprochen schön ist der Laden nicht. Er ist aber auch nicht so stinkvornehm, wie so mancher Laden auf der „Kö“, also der Königsallee, der Prachtstraße in Düsseldorf, und damit auch nicht so teuer. Wir essen jeder ein Stück Apfelkuchen mit Sahne und trinken heißen Kakao dazu. Schon alt ist die Frau, die uns bedient. Doch sie kennt uns noch. Alt ist auch der Kuchen, den wir zum halben Preis bekommen. Wir fühlen uns wohl, doch leider hat Romy nur eine halbe Stunde Mittagspause. Die Zeit ist bereits überschritten und schließlich muss sie zurück ins Büro.

GEDANKEN ÜBER ERKENNEN UND DENKEN

Ich gehe über die Oberkasseler Brücke auf die andere Rheinseite und will zum Zeltplatz zu meinen Kameraden. Es ist schon eigenartig: Immer, wenn ich über diese Brücke gehe, muss ich an den Jungen denken, der vor einigen Wochen dort auf der Straße lag und verblutete. Ich sah, wie er mit dem Fahrrad fuhr. Ein Lastwagen überholte und streifte ihn. Erst schwankte und dann stürzte er und geriet unter die Hinterräder des Anhängers. Warum nur stürzte er nicht auf die andere Seite zum Gehweg hin? Es war sein Schicksalstag. Was veranlasst mich, an dieses Ereignis zu denken? Die Bilder sind in mein Gehirn eingebrannt. Im Geiste sehe ich diesen Jungen, er war etwa zehn bis zwölf Jahre alt, noch auf der Fahrbahn liegen. Diese riesige, klaffende Wunde. Sein Oberschenkel war total aufgeplatzt. Der Knochen war zu sehen. Doch seltsamerweise blutete diese riesige Wunde nicht. Dafür aber sprudelte sein Blut, sein Lebenssaft, stoßweise aus seinem Mund. Ein Mann setzte sich auf die Straße. Er legte den Kopf des Jungen auf seinen eigenen Schenkel. Er streichelte die Wangen und das Haar. Mehr konnte er in dieser Situation auch nicht tun. Wer oder was veranlasst, dass es dem einen gut und dem anderen schlecht geht? Ist alles nur Schicksal oder steckt hinter allem ein Plan, eine Vorsehung? Ich glaube, niemand kann dies beantworten. Eines scheint mir aber sicher. Man sagt nicht umsonst: „Das Leben hängt oft am seidenen Faden.“ Von einem Moment zum anderen kann sich alles verändern und gegebenenfalls kann alles vorbei sein. Nur im Bruchteil eines Momentes wird entschieden, ob und wie man weiterlebt. Richtiges Erkennen, zu jedem Zeitpunkt, ist verdammt wichtig. Sei es mit dem Auge, mit dem man sieht, mit dem Ohr, mit dem man hört, mit der Nase, mit der man riecht, mit dem Mund, mit dem man schmeckt, oder mit dem Gefühl, mit dem man die unterschiedlichsten Dinge ertasten kann. Auch lassen sich sehr schnell gefährliche Temperaturen, die von außen auf den Körper einwirken, erkennen. Schmerz und Fieber bei diversen Krankheiten wirken als Alarmsignale und sollen den Körper und damit das Leben schützen. Alle diese Sinne sind so wichtig für unser Überleben. Diese Sinne sind es, unsere Sensibilität, die über die Fähigkeit entscheiden, die unterschiedlichsten Dinge und Empfindungen überhaupt wahrzunehmen. Nicht alles, was man erkennt, speichert man auch ab. Es wäre zu viel. Doch vieles, was man wahrnimmt, kann zu Erkenntnissen führen, die im Gehirn verarbeitet und gegebenenfalls auch gespeichert werden. So wie erlerntes Wissen kann man daher diese visuellen Bilder immer wieder abrufen. Die Fähigkeit, zu Erkenntnissen zu gelangen, ist daher sehr wichtig. Im Gehirn werden sie wie Wissen verarbeitet. In den Denkprozessen, die Handeln und die Reaktion eines Menschen bestimmen. Die Fähigkeit, sein Umfeld richtig und schnell zu erkennen und darauf zu reagieren, wird damit zur existenziellen Lebensaufgabe. Wie man so schön sagt, entscheidet oftmals nur ein kurzer Augenblick, in dem man seine Sinne nicht beisammenhat, über ein langes Leben oder einen frühen Tod. Aber auch mit den besten Sinnen ausgestattet, führt am Tod kein Weg vorbei. Ständig entsteht und vergeht etwas auf der Welt. Alles, was sich verbraucht, wandelt sich vom Plus ins Minus, vom Überschuss zum Mangel, vom Gewinn zum Verlust, vom Gesunden zum Kranken, vom Schönen zum Hässlichen; aus Vertrauen wird Misstrauen und aus Liebe wird oft Hass. Auch das Leben, das sich verbraucht, wandelt sich von der Geburt über Stärke zur Schwäche bis hin zum Tod.

Am Zeltplatz angekommen, krümmen sich meine Kameraden vor Lachen. Ach wie ist es lustig! Gerade hat die Dicke, die auch in einem Zelt hier auf der Rheinwiese lebt und es als Liebeslaube nutzt, ein Kotpaket entdeckt. Sie vermutet, dass einer ihrer Freier ihr dieses Geschenk gemacht hat. Sie ahnt nicht, dass es einer von uns war, und zwar der liebe Querkopf, der sich diesen Spaß erlaubte.

Ich koche das Essen für uns vier und fahre anschließend zur „Rheinischen Post“. Dort hole ich das Honorar für den Artikel, den sie über uns geschrieben haben, ab. Im Hofgarten warte ich auf einer Bank sitzend, bis meine „Mösch“ kommt. Eine „Mösch“ ist ein Spatz und ein gebräuchlicher Kosename im Rheinland für eine Geliebte. Alles ist wie früher. Pünktlich um zwanzig Minuten vor sechs kommt sie um die Ecke gefegt und wir schlendern gemeinsam über die Brücke zum Zeltplatz. Die anderen Kameraden haben in der Nähe eine Kleingartensiedlung entdeckt. Jonny, Querkopf und ich gehen dorthin und „organisieren“ diverse Möhren, Kartoffeln sowie Rosen- und Wirsingkohl. Romy hat die Idee und will daraus für uns ein Abschiedsessen bereiten.

Der Entschluss ist gefasst, morgen geht es weiter. Einer von uns muss beim Zelt bleiben. Also haben wir ausgelost und Mike hat verloren. Romys Mutter hat sich über das viele Gemüse gefreut, zumal sie knapp bei Kasse ist. Auch Danny, Romys Bruder, bekam übers Wochenende frei. Er hat Ausgang von der Bundeswehr. Mit seiner Freundin Gisela, die immer nur von sich selber erzählt und somit versucht, sich in den Mittelpunkt eines Gespräches zu rücken, kommt auch er zum Essen. Wir haben reichlichen Gesprächsstoff und sehr viel zu lachen. Wie üblich wird auch vieles bequatscht, was wir schon einige Male durchgekaut haben. Romy ist traurig, müssen wir uns doch morgen wieder trennen. Mir ist auch zum Heulen zumute. Wir gehen beide ins Nebenzimmer, um ungestört zu sein. Warum nur tut Abschiednehmen so weh? Wir haben uns so gern und wollen auch zusammen leben. Mir kommen wieder Zweifel. Wäre es nicht besser, bei ihr zu bleiben, zu arbeiten und eine Familie zu gründen, so wie es jeder normale Mensch tun würde? Vielleicht, aber ich wäre nicht froh geworden und das weiß sie. Ich hätte immer das Gefühl gehabt, nur ein normaler Spießbürger zu sein, der dem Geld nachjagt, Bier trinkt, Fernseher und Auto kauft und seine Zeit hauptsächlich damit verbringt, sie mit Arbeiten zu verschwenden. Sie jedenfalls will auf mich warten. Uns treu zu bleiben, das ist unser Traum. Für unsere Liebe wird dies eine harte Probezeit, die wir beide bestehen wollen. Nur aus Liebe würde ich nicht heiraten. Ich glaube auch, dass Liebe etwas Alltägliches ist. Leicht nutzt sie sich ab, verbraucht sich selbst und wird zu Hass. Die vielen Ehen, die in Liebe geschlossen werden mit dem Schwur „Bis dass der Tod euch scheidet“, um doch nur vor dem Scheidungsrichter zu enden, sind ein Beweis dafür. Die Tatsache ist, dass man sich immer wieder verlieben kann, wenn man es will. Damit ist Liebe ein großes Gefühl und doch nichts Besonderes. Sie wird erst wertvoll durch Treue. Und Treue sollte belohnt werden. Wenn uns das Schicksal jemals wieder zusammenführt, wird unsere Liebe viel wertvoller und schöner sein, als sie es wohl ohne diese harte Prüfung geworden wäre.

27.08.60:ABSCHIED VON ROMY IN DÜSSELDORF

Der Tag des Abschieds ist gekommen. Wird dies der letzte Tag unserer Gemeinsamkeit sein? Irgendwie sind wir beide sauer. Nach dem Frühstück fahre ich hinaus zum Zeltplatz. Wir packen, werfen der Dicken noch einen toten Fisch vor das Zelt und fahren noch mal zu Romy in die Wohnung. Aus dem geernteten Rosenkohl haben sie für uns noch ein gutes Essen bereitet. Nach dem Mittagessen nehmen wir zum letzten Mal Abschied voneinander. Sie drückt mir noch eine Fotografie und einen kleinen Stoffhund in die Hand. Der kleine Hund soll mich an Pluto erinnern und mich beschützen. Ich bin gerührt und kann auch einige Tränen nicht unterdrücken. So müssen sich die Männer gefühlt haben, wenn sie Abschied nahmen, um an die Front zu fahren. Mit einem Bild ihrer Liebsten, das ihnen oft in Kampfpausen und in Gefangenschaft die Hoffnung und Kraft zum Überleben gab. Warum heule ich wie ein Schwächling? Ist es Trauer? Niemand ist gestorben und doch ist diese große Traurigkeit in mir. Ich denke, es ist keine Schande, wenn ein junger zwanzigjähriger Mann, der um die Erde reisen will, beim Abschied von seiner großen Liebe ein paar Tränen vergießt und damit seine Gefühle zeigt. Die Widmung auf der Rückseite des Bildes kann ich jetzt in diesem Augenblick und in dieser Verfassung nicht mehr lesen. Sie würde mir die Trennung noch schwerer machen. Die anderen sitzen schon wartend auf ihren Sätteln. Mit sanfter Gewalt reiße ich mich los, schiebe unser Tandem an, springe auf und schon wird die Distanz zwischen uns immer größer. Wir winken und treten in die Pedalen. Meine Tränen kann sie nun nicht mehr sehen. Ich lass’ sie einfach laufen. Nur gut, dass meine Freunde hinten keine Augen haben. So können sie nicht sehen, wie sie mir über meine Wangen kullern, bis sie schließlich runtertropfen oder vom Fahrtwind getrocknet werden. Ach, wie gerne wäre ich noch geblieben, und dennoch trete ich kräftig, um fortzukommen. Was für ein Widerspruch! Man möchte das eine tun und tut genau das Gegenteil. Kein Kommandeur gibt uns Befehle und doch sind wir nicht frei in unseren Entscheidungen. Eine große Kraft treibt uns weiter. Wir fahren wieder und immer habe ich das Bild und ihre traurigen Augen vor mir. Wir erreichen Köln und fragen uns zum Fernsehstudio durch. Direkt am Hauptbahnhof bricht die Welle an Mikes Tretlager. Wir sind sauer. Nichts wird aus der geplanten Fernsehübertragung, die wir bereits verabredet haben. Unser Vehikel schieben wir zum Campingplatz. Da morgen Sonntag ist und wir somit keine Ersatzwelle bekommen können, habe ich eine Idee: Morgen in der Früh werde ich zurück nach Düsseldorf trampen. Meine Sehnsucht ist groß und ich sehe in dieser Situation einen Wink des Schicksals. Aber mein lieber Bruder macht mir einen Strich durch die Rechnung. Er baut das defekte Lager aus und die beiden vorderen Lager immer um eins nach hinten. So müssen die letzten Drei treten und der Erste vorn nur lenken, und es geht weiter.

28.08.60:NUR ZU DRITT KNETEN WIR NACH BONN

Man kommt ja vom Fleck, wenn nur drei Mann treten, aber nur sehr langsam. Ein mächtiges Unwetter zieht auf und wir müssen uns vor dem Regen schützend unterstellen. Das ist ein Regen! Die Gullys können das viele Wasser nur langsam schlucken. Immer wieder müssen wir auf der Weiterfahrt durch große Pfützen fahren und werden von überholenden Autos nass gespritzt. Einen „Pepsi-Cola“-Hersteller versuchen wir als Sponsor zu gewinnen. Wir hoffen auf finanzielle Unterstützung und wollen für „Pepsi“ Reklame fahren. Daraus wird leider nichts, aber wir bekommen wenigstens kostenlos einige Getränke. Bei Bonn müssen wir mit der Autofähre über den Rhein setzen. Der Kassierer ist sich nicht im Klaren, welchen Preis er für unser Fahrzeug berechnen kann. Wir haben Glück. Er wird von uns so lange bequatscht, bis er zugeben muss, dass dieses Ding ein Fahrrad mit zwei Rädern ist, auch wenn es etwas zu lang geraten ist. In der „Reservehauptstadt“ Bonn müssen wir uns noch ein zweites und ein drittes Mal vor starken Regenfällen schützend unterstellen. In Bad Godesberg schlagen wir unser Zelt auf einer Wiese vor einem Campingplatz direkt am Rhein auf. Dort ist der Boden nicht so aufgeweicht. Was noch viel wichtiger ist: Wir müssen für diesen Platz nichts bezahlen. Zum Abendessen braten wir uns Fische, die natürlich wieder versalzen sind. Wie sagt man so schön? Der Koch muss ja schrecklich verliebt sein. Der Koch bin ich.

29.08.60:WIR BEKOMMEN KOSTENLOS ERSATZTEILE

Im Schneckentempo kneten wir weiter bis Sinzig, denn wir haben die Information erhalten, dass hier eine Fabrik für Fahrradersatzteile sein soll. Wir müssen eine Reifenpanne flicken und finden tatsächlich diese Firma. Wir fragen uns bis zur Geschäftsleitung durch und erzählen den Herren unsere Story. Sie sind so begeistert, dass wir tatsächlich neue Ersatzwellen und einen kleineren Zahnkranz kostenlos bekommen. Irgendwie haben wir immer wieder Glück im Unglück. An einem kleinen Fluss bauen wir das Zelt auf. Querkopf versucht sein Glück beim Angeln, wobei Jonny erwartungsvoll, mit Messer und Topf ausgerüstet, neben ihm steht. Es ist ein Bild zum Schieflachen, wie er so voller Erwartung dasteht. Viel hätte nicht gefehlt und er hätte bereits die Pfanne auf dem Benzinkocher heiß gemacht. Tatsächlich haben die Biester des Öfteren angebissen, aber keiner bleibt am Haken. Sie haben das Glück und wir das Pech. Auch noch ein anständiges Essen, das wäre wohl zu viel des Guten an einem Tag.

30.08.60:RAHMENBRUCH IN BAD SALZIG

Querkopf ist ungewöhnlich früh aufgestanden. Er will unbedingt sein Pech vom vergangenen Abend wettmachen, doch leider vergrößert sich seine und damit auch unsere Pechsträhne. Er fängt nur einen ganz kleinen Fisch, den er aber wieder ins Wasser setzt. Somit begnügen wir uns zum Frühstück wieder mit Brot und Milch. Hinter Koblenz geht es wieder los. Kein Tag vergeht ohne Pannen. Jonny verliert laufend seine Pedalen. Das Gewinde ist überdreht. Wir kaufen eine Pedale, die aber bereits gebraucht ist, weil sie billiger ist als eine neue. Kurz hinter Bad Salzig hupt ein Autofahrer wie wild hinter uns und gibt uns Zeichen, dass hinten etwas nicht stimmt. Tatsächlich haben wir einen platten Reifen am Anhänger. Schnell wird er geflickt, denn wir wollen noch nach St. Goar. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Kurz hinter Bad Salzig, wir rollen gerade einen leicht abfallenden Hügel hinab, hören wir ein leichtes, knackendes Geräusch im Rahmen. Dann ein Ruck. Einen Augenblick lang rutschen wir noch auf den Zahnrädern unserer Tretlager über den Asphalt, sodass gleich Funken sprühen. Dann kippen wir um und plötzlich liegen wir vier im Straßengraben. Ach, was haben wir gelacht, was für eine Gaudi! Zum Glück hat sich niemand bei diesem Sturz verletzt. Diesmal ist der Rahmen zwischen Gabel und erstem Platz gebrochen. Wir schleppen unser Wrack zu einer Werkstatt und bauen das Zelt unter einem Baum direkt am Rhein auf.

31.08.60:RAHMENBRUCH REPARIERT

Am nächsten Morgen hat sich unser Zelt gewaltig verwandelt. Es ist besprenkelt mit Vogelkacke. Jonny und Querkopf gehen zur Werkstatt, um unsere „Penelope“, wie wir unsere Schrottschaukel nennen, wieder startklar zu machen. Mike hat schon vor einigen Tagen äußerst billig etwas Hefe organisiert. Da ich nicht gerne Essbares verkommen lasse, koche ich ein leckeres Essen, bestehend aus Hefeklößen mit gekochten Früchten. Die Birnen, Äpfel und Brombeeren habe ich vorher frisch geerntet. Es hat uns allen sehr gut geschmeckt und obwohl wir einigermaßen satt wurden, hätten alle noch gerne mehr gehabt. Es ist nicht ganz einfach, unter diesen Küchenverhältnissen einen Hefeteig im Schlafsack zum Aufgehen zu bringen und ihn anschließend in unserem großen Kochtopf über Dampf zu garen. Wir haben nur einen flachen Kochtopfdeckel und keine Schüssel. Also binde ich ein Tuch, leicht durchhängend, um den Rand des Alutopfes fest, bringe mit dem Benzinkocher etwas Wasser zum Kochen, sodass Dampf entsteht, lege einen großen Teigkloß hinein, decke mit dem Deckel, den wir auch als Bratpfanne verwenden, das Ganze ab und lasse jeden Kloß einzeln für etwa zwanzig Minuten im Dampf garen. Nach dem Essen helfe ich den anderen bei der Reparatur. Jonny bekommt sich mit Mike in die Haare. Er macht ihm Vorwürfe, dass dieser von sich aus keinen Handgriff macht und man ihn immer zum Anpacken auffordern muss. Die drei sind in die Stadt gepilgert. Ich schreibe einen Brief an meinen Schatz und glaube, sie wird schon darauf warten. Lese die Widmung auf der Rückseite ihres Bildes und meine Sehnsucht wird immer größer. Ihre geschriebenen Worte bewegen meine tiefsten Gefühle. Ich zünde ein kleines Feuer an, träume von gemeinsam verbrachter Zeit und spinne Zukunftspläne. Ich schreibe den Text hier ins Buch, denn es könnte ja mal sein, dass mir ihr Bild abhandenkommt. Sollte dies geschehen, was ich nicht hoffe, dann hätte ich wenigstens noch ihre Worte.

GEDANKEN VON ROMY

„Mein lieber Shorty!

Jetzt ist es soweit. ­Du gehst und alles ist zu Ende. Ach Quatsch, wir machen nur eine Pause und haben uns weiter so lieb, nicht wahr? Shorty, wo du auch bist und was du auch machst, glaub’ mir, ich werde in Gedanken immer bei dir sein mit meiner ganzen Liebe und Sehnsucht. Wenn du traurig bist, so nimm mich zur Hand, dann weißt du ganz gewiss: Deine Romy ist bei dir, ­ganz nah, ­und möchte dir helfen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen viele schöne, interessante und lustige Stunden. ­Wenn du genug hast, dann komm’ ganz schnell zu deinem Spatz zurück und baue mit ihm ein kleines Nest! ­Er sehnt sich so danach und wartet geduldig darauf. Dann führen wir fort, was jetzt so mittendrin aufgegeben werden musste. Nur wird dann alles tausendmal schöner und wertvoller sein. Mach’s gut, mein liebes, süßes Männchen, und denke viel an deine Romulus.“

Langsam geht das Feuer aus. Es wird kühl. Ich verkrieche mich in meinen Schlafsack und schlafe mit dem Gefühl ein, dass ich sie bald wiedersehen werde. Denn wenn das mit den Pannen so weitergeht, werden wir nie und nimmer unseren Traum von einer Weltreise verwirklichen können.

01.09.60:ZELTEN AUF DEM MARKTPLATZ

Wir wollen einige Kilometer einsparen und entschließen uns, den Rheinknick abzuschneiden. Hinter Bingen biegen wir ab. Haben uns verfahren und kommen dadurch in bergiges Gelände. Am Abend bauen wir unser Zelt auf dem Marktplatz von Wörrstadt auf.

02.09.60:EIN BAUER SCHIESST AUF UNS

Bei einer Rast pflücken wir einige Weintrauben und klauen auch einige Pflaumen. Plötzlich kracht ein Schuss. Zerfetzte Blätter und Früchte fallen von dem Baum, an dem wir uns gerade bedient haben. Ein komischer Kauz von Bauer hat tatsächlich nichts Besseres zu tun, er ist zu feige, um mit uns zu reden und schießt einfach. Also erntet er von uns Spott und Lachsalven. Aber ein Gewehr mit einer Schrotladung ist auch ein Argument, um weiterzufahren. Es gibt bestimmt noch weitere Obstbäume am Straßenrand. In Ludwigshafen werden wir von einem Reporter der „Rheinpfalz“ interviewt und geknipst. Zum Übernachten empfiehlt er uns die sogenannte „Blaue Adria“, einen ruhig und schön gelegenen See. Wir fahren hin und bauen das Zelt am Ufer der wahrscheinlich stillgelegten Kiesgrube auf. Unzählige Mücken versuchen uns daran zu hindern. Selbst mit einem qualmenden Lagerfeuer können wir sie nicht verscheuchen. Beim Kacken ist der Arsch sofort mit Mücken übersät und zerstochen. Der Kohleintopf ist gekocht und schnell gegessen. Da das qualmende Feuer nicht die Mücken, sondern uns verscheucht, verkriechen wir uns recht früh in unsere Schlafsäcke.

03.09.60:AUTOFAHRER WIRFT MIT MÜNZEN

Rache ist süß, also ist morgens im Zelt fürs Erste ein großes Schnakenkillen angesagt. Nach dem Blutbad baden wir in der „Blauen Adria“. Es wäre schön, befänden wir uns schon am Mittelmeer. Es ist Samstag. Daher trampen Jonny und Mike zum Einkaufen in die Stadt. Ich wasche in der Zwischenzeit für uns einige schmutzige Wäschestücke aus. Wenn man lediglich die Entfernungen betrachtet, dann stellt man fest, dass wir keine großen Distanzen überbrücken. Immerhin müssen wir täglich nach Möglichkeiten suchen, um essen und übernachten zu können. Das Essen muss zubereitet, die Wäsche gewaschen, das Geschirr abgewaschen sowie das Gepäck aus- und eingepackt werden. Das kostet Zeit, aber das ist das Einzige, was wir ausreichend haben. Außerdem wollen wir keine Rekorde aufstellen. So läuft bei uns meistens alles ohne Hektik ab. Zum Frühstück gibt es Obstsalat mit kernigen Haferflocken. Wir sind so satt, dass wir uns kaum noch bewegen können. Das Wetter ist schön und wir würden am liebsten hierbleiben. Aus Angst vor einem erneuten Angriff der großen Mückenplage brechen wir auf. Wieder müssen wir einen platten Reifen am Anhänger flicken. Der Zeitungsartikel mit dem Bild ist gut gelungen. Wir merken es daran, dass uns viele Menschen freundlich zuwinken. Beim Überholen wirft ein Autofahrer sogar mit einer Geldmünze nach uns. Wir können sie nicht fangen und halten an. Auch wenn es nur eine Mark ist, für die wir anhalten und wieder anschieben müssen, lachen wir über diese wohlgemeinte Einlage. In Karlsruhe schlagen wir das Zelt auf dem Grundstück eines Bauern auf. Da es auch hier zu viele Mücken gibt, verziehen wir uns am Abend in eine Kneipe. Nachdem einige Zeitungsartikel, in denen über uns berichtet wird, die Runde machen, kommen wir mit den Gästen ins Gespräch. Es sind Bauern aus der Gegend hier. Einige spendieren uns Bier. Mike hat Glück, da er auch Zigaretten bekommt, für die wir kein Geld ausgeben. Der Wirt zieht von unserer Rechnung auch noch drei Mark ab, sodass wir nur fünf Mark bezahlen müssen.

04.09.60:ANDERE ANKNURREN, DIE UNS ÄRGERN

Der Start verzögert sich, da Jonny am Rad des Anhängers einige Speichen austauscht. Das Wetter ist grau und genauso ist meine Stimmung. Mir fällt das Atmen schwer. Da ich hinten sitze und einer von den Dreien immer abwechselnd furzt, muss ich diese Stinkbomben einatmen. So schlimm wie heute war es noch nie. Das kommt wohl vom vielen Bier. Andauernd wird mir ein „Koffer“ unter die Nase gesetzt. Wir erreichen Kehl und versuchen auf einem Campingplatz verbilligt unterzukommen. Der Verwalter lässt nicht mit sich handeln. Also was bleibt da anderes übrig? Er muss unbedingt von Jonny angeknurrt werden. Immer wenn er etwas sagt, was nicht in unserem Sinne ist, hört er von uns nur ein tiefes, rollendes Knurren. Dies ist eine sehr nette Methode, um andere Menschen, die uns angaffen oder ärgern, in eine etwas angesäuerte Stimmung zu versetzen. Jedenfalls hat es auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlt. Verärgert jagt uns der Mann vom Platz und wir ziehen lachend weiter. Auf einer Wiese hinter einer Garage schlagen wir das Zelt auf. Als wir, wieder eine Kneipe suchend, durch die Straßen ziehen, bemerke ich, dass einige Mitbürger verwundert hinter uns her gaffen. Wir sind darüber amüsiert. Aber ist es vielleicht ein Zeichen, dass wir bereits schon wie Penner aussehen? Ich hoffe doch nicht, aber ich weiß auch nicht, wie andere uns sehen.

05.09.60:ÜBER DEN RHEIN NACH FRANKREICH

Um zehn Uhr starten wir in Kehl und überqueren die deutsche Grenze nach Frankreich. Ab Straßburg sind die Straßenverhältnisse für uns sehr gut und wir kommen zügig voran. Darum versuchen wir heute bis Basel zu fahren. Um sechs Uhr abends sind aber alle so geschafft, dass wir diese Etappe abbrechen müssen. Querkopf verschwindet gleich im Zelt und schläft, ohne etwas zu essen. Er hat Beschwerden beim Atmen. Hoffentlich wird er nicht krank. An diesem Tag sind wir eine Strecke von etwa hundertfünfzehn Kilometern gefahren.

06.09.60:ÜBER BASEL NACH WALDSHUT

Zum Frühstück gibt es den Rest vom Weißkohleintopf mit Bockwurst. Es ist ein eigenartiges Frühstück, aber wir sind nicht wählerisch. Wichtig ist nur, dass wir satt werden und wenn es dazu noch schmeckt, ist es umso besser. Die zwanzig Kilometer bis Basel legen wir schnell zurück. Den Straßenverkehr in der Stadt empfinden wir als grauenhaft. Zum Interview bei einem Zeitungsverlag kommt es nicht. Die zuständigen Reporter sind zur Mittagspause. Es wäre nicht schlecht gewesen, hätte uns einer zum Essen eingeladen. Gern hätten wir ihm dafür unsere Geschichte erzählt. Warten wollen wir nicht und fahren dann auf der schweizerischen Seite weiter. Die Strecke ist wieder hügelig und so müssen wir oft schieben. Obwohl wir jeder nur einen Seesack gefüllt mit persönlichen Klamotten mitschleppen, ist die Ladung zu schwer. Zu oft haben wir einen platten Reifen an unserem Anhänger. Auch müssen immer mal gerissene Speichen ausgetauscht werden. Übernachten tun wir heute auf einem Campingplatz in Waldshut. Der Verwalter meint es gut mit uns und erlässt uns einen Teil der Gebühren. Auch heute werden wir von einem Lastkraftwagenfahrer zu einem Bier eingeladen. Es ist schon eigenartig, dass fremde Menschen uns zum Bier einladen, aber niemand auf den Gedanken kommt, dass wir auch hungrig sein könnten.

07.09.60:DER RHEINFALL WIRD ZUM REINFALL