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Auf der Erde stürzt ein Raumfrachter ab. Das Unglück offenbart, dass nichts mehr so ist wie es war. "Eine andere Zeit" erzählt zunächst die Geschichte des abgestürzten Piloten, die sein Leben in der Gegenwart schildert. Sein Werdegang und Überlebenskampf führen in eine schreckliche Vergangenheit, die wiederum erläutert, warum und wie für die Menschheit eine andere Zeit angebrochen ist. Die Konsequenzen in den Epochen sind verheerend und sorgen für Konflikte, die nicht nur das Gewissen belasten, sondern auch den Fortbestand der menschlichen Zivilisation gefährden.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Gegenwart
Der Weg nach Norden
Planetonia
Ozeania
Die Expedition
Das Wunder
Vergangenheit
Eine andere Zeit
Die Saprobien
Das Synandro-Projekt
Von Damals zu Heute
Der Zeitenwechsel
Schritte in eine neue Zeit
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Impressum
Eine
andere
Zeit
Zukunftsroman
von
Roman Just
E
s begann nicht heute, es begann nicht gestern, es begann, als es die Zeit noch gar nicht gab. Eine gewaltige Explosion ließ den Raum entstehen. Der Urknall verursachte ein Chaos, das bis heute anhält, doch die Kräfte der Natur haben zugleich viele Gesetze geschaffen. Eines davon besagt, dass die kleinen Objekte im Universum die großen umkreisen. Ein weiteres beschreibt die Bewegungen im Universum: Seit der Detonation existiert kein Stillstand mehr. Am Anfang rasten Gase, Materie, Atome sowie flüssiges und festes Gestein durch die Leere des Raumes. Die rasante Geschwindigkeit der Elemente erzeugte zunächst eine unvorstellbare Hitze, aber die Weite des unendlichen Raums ließ alles kälter und langsamer werden.
Die Kälte gab den unkontrollierten Gasen Masse, ebenso dem Gestein, und aus der Unordnung entstand ein nie zu beherrschendes System. Aus Feuerbällen wurden Sonnen, ihre Anziehungskräfte nahmen die kalten Gebilde im All gefangen und ließen sie miteinander kollidieren. Das Gestein und das Eis vernichteten sich gegenseitig und gebaren somit Planeten, Monde, Asteroiden und Kometen. Die meisten von diesen umkreisen ihren Mutterstern heute noch. Wegen der Bewegung vereinigten sich die Sonnen. Millionen und Milliarden begannen sich zu umkreisen, wie sie selbst von den Planeten, Monden und allen anderen Objekten umkreist wurden. Es entstanden formlose Galaxien, ebenso runde und spiralförmige. Millionen von Universen traten bei ihrer Entstehung eine Reise durch Raum und Zeit an.
Es geschah in einem Vakuum, das selbst auf Reisen war. Unzählige Planeten und Trabanten, viel mehr Kometen und Asteroiden, sie alle waren Reisende durch den Raum. Die Mitreisenden der Galaxien, sämtliche Himmelsgebilde, bildeten am Ende ein Universum. Es war das sichtbare Universum, das die unsichtbaren begleitete. Der Kosmos beinhaltete Millionen von Universen mit Trilliarden von Sternen und so vielen Planeten und Monden, dass es dafür keine Zahl mehr gab.
Als alles begann, existierte kein Leben. Erst, als die Zeit entstand, wurde das Leben geboren. Es fand Wege, um sich zu entwickeln, und passte sich den Bedingungen der Planeten an. Es entstanden unzählige intelligente und viel mehr primitive Völker, aber jede Zivilisation hatte eine Daseinsberechtigung. Die Lebensformen waren hinsichtlich ihrer äußeren und geistigen Form völlig verschieden, aber manche besaßen eine Ähnlichkeit. Sowohl die intelligenten als auch die primitiven Völker wurden in ihrer Anzahl von anderen Lebewesen weit übertroffen. Bakterien und Insekten von unterschiedlicher Form und Größe hatten als Lebensformen die Dominanz übernommen, und sie besaßen Eigenschaften, die bei einer Kultur heilend und bei einer anderen tödlich sein konnten. Nicht anders verhielt es sich bei sämtlichen Tierarten, die sich im Laufe der Zeit entwickelten. Die verschiedenen Völker haben trotz ihrer Unterschiede eines gemeinsam: Sie alle sind verletzlich und sterblich.
Es existiert keine biologische Lebensform, die sich diesem Naturgesetz entziehen kann. Für eine absolut identische Spezies war im Universum kein Platz vorhanden, auch das ist zu einem Gesetz der Natur geworden. Wie die Zivilisationen waren die Planeten stets verschieden, und ihre Bewohner hatten sich während ihrer Evolution den Lebensbedingungen angepasst. Es gab Arten, die Kälte bevorzugten, einige Spezies konnten nur in heißen Regionen existieren, aber am häufigsten ist das Lebewesen vertreten, das beide Klimazonen erträgt. Die verschiedenen Lebensformen besaßen zudem unterschiedliche Voraussetzungen, um existieren zu können. In diesem Punkt gleichen sich die Arten sehr oft. Einige Gemeinsamkeiten besitzt das Leben immer: Es sind die Geburt, der Tod und die Ernährung, egal in welcher Form. Hinsichtlich der Nahrung bestehen große Unterschiede. Ein Nahrungsmittel, das für eine Spezies lebensnotwendig sein könnte und für die nächste eine Delikatesse wäre, könnte in der Lage sein, eine andere Spezies zu töten. Jedes Element, jede Substanz und jeder Rohstoff, sie alle hatten eine Bestimmung. Das galt für jedes Universum, sowohl für die sichtbaren als auch für die unsichtbaren. Der Mensch benötigte Wasser und Sauerstoff, um überleben zu können, für andere Lebensformen waren diese Elemente Gift.
Die Atome brachten Licht in die Dunkelheit und Bewegung in den Stillstand. Die Masse der Sonnen erzeugte und ermöglichte das Leben. Ohne Ausnahme bestand jeder und alles aus Sternenstaub. Es begann nicht heute, es begann nicht gestern, es begann, als es die Zeit noch gar nicht gab, und ein Ende war nicht abzusehen. Das Universum, die Heimat alles Lebens, breitete sich in der Unsichtbarkeit des Kosmos aus, und die unsichtbaren Universen verhielten sich ebenso. Die Dimensionen des Alls überschritten jede Vorstellungskraft. Sie waren wie eine Wendeltreppe, die immer höher wurde und sich zu einer nie endenden Himmelsleiter entwickelte, die irgendwann im Irgendwo verschwand. Es gab nur eine Lebensform, die fast alle Gesetze der Natur nicht verstand und sie mit Absicht brach. Die Spezies Mensch war unbelehrbar, unfähig zu Demut, Bescheidenheit und Einsicht. Sie besaß nicht den eisernen Willen, ihr Dasein und den Umgang mit dem Planeten zu korrigieren, der ihre Heimat war. Die Frage, ob es zu einer Apokalypse kommen würde, war irgendwann ohne Bedeutung, denn der Tag des Jüngsten Gerichts, dem Armageddon, konnte wegen falscher Prioritäten und eigenen Verschuldens nicht mehr abgewendet werden. Deswegen wurde nach einer gewissen Zeit nicht mehr danach gefragt, ob die Apokalypse einträfe, sondernd nur noch danach, wann. Schließlich kam der Tag, an dem die Menschen den Zorn der Natur über sich ergehen lassen mussten. Die Erde fing an, sich zu verändern, und das löste eine Kettenreaktion aus. Eine besonders schwere Schuld daran trugen Politiker und Beamte, obwohl deren Aufgabe eigentlich darin bestand, für das Wohl der Bürger zu sorgen. Aber beinahe jeder Mensch trug eine Mitschuld, vor allem diejenigen, denen Worte wie Umsicht, Verzicht und Zurückhaltung fremd waren. Naturkatastrophen häuften sich, wurden immer vehementer und hatten zur Folge, dass menschliche Errungenschaften, sowohl die fortschrittlichen als auch die selbstzerstörerischen, eine unkontrollierbare Eigendynamik entfalteten.
Wie durch ein Wunder, begünstigt von klugen und vorausschauenden Personen und dem Quäntchen erforderlichen Glücks, führte das Jüngste Gericht nicht zum Aussterben der menschlichen Spezies. Stattdessen begann eine neue, eine andere Zeit.
Nicht jeder Irrtum muss zwangsläufig zu einem Fehler führen, es sei denn, man weigert sich konsequent, ihn zu korrigieren!
(John F. Kennedy)
Der Absturz
A
ndy schlug die Augen auf, tastete sein Umfeld und dann seinen Körper ab. Er wurde von einer Dunkelheit umgeben, die er in dieser Form nie zuvor erlebt hatte. Es war unglaublich, aber er sah die Hand vor seinen Augen nicht. Die Finsternis, die ihn verschluckt zu haben schien, war vollkommen. Er streckte seine Hand nach rechts aus, spürte die Schulter seines Copiloten und fuhr mit seiner Handfläche über dessen Brust. Mit Erleichterung nahm er wahr, dass Daniel atmete. Andy, der wie die gesamte Crew in einem für die Raumfahrt entwickelten elastischen Ganzkörperanzug steckte, schnallte sich ab und erhob sich aus dem Pilotensitz. Ihm tat jede Bewegung weh, aber er war damit zufrieden, sich nichts gebrochen zu haben. Er mühte sich tastend zum Ausgang und wollte in den Frachtraum. Niedergeschlagen registrierte er, dass es keine Tür und keinen Laderaum mehr gab. Betroffen setzte er sich auf den Metallboden und überlegte, was er tun konnte.
Die Erkenntnis, nichts machen zu können, außer, zu warten, bis es hell werden würde, frustrierte ihn zusätzlich. Er gab sich keinen Illusionen hin, auch nicht hinsichtlich des Falls, dass ihr Absturz bereits registriert und ihr Notruf empfangen worden war. Niemand würde wegen zwei Piloten, einer zweiköpfigen Crew und der Ladung eine Rettungsmission befürworten, und falls doch, wäre kein Verantwortlicher bereit, sie zu genehmigen. Andys Raumschiff war zu seiner Bestürzung nicht irgendwo abgestürzt, sondern auf der Erde, von der nicht eine Menschenseele wusste, welche Zustände auf ihrer Oberfläche herrschten. Die totale Finsternis wich langsam einer Dunkelheit, in der sich einige Silhouetten der Umgebung abzuzeichnen begannen. Je deutlicher sie wurden, desto bedrückender wurde die ihn umgebende Stille. Es herrschte eine Totenstille. Andy erhob sich und trat einen Schritt aus dem Wrack. Ihm wurde nicht bewusst, dass er der erste Mensch seit Jahren war, der die Erdoberfläche betrat. Es wurde immer heller, obwohl es nicht wirklich Tag wurde. Der Himmel, so viel konnte Andy bereits erkennen, wirkte auf ihn wie ein grauer, trockener Schwamm, der sich weigerte, es regnen zu lassen, und ebenso die Sonnenstrahlen abblockte. Am Horizont wurden mehrere hohe Türme sichtbar, links und rechts von ihm standen Ruinen, die von Unkraut und Gestrüpp in Beschlag genommen worden waren. Obwohl er glaubte, es sich einzubilden, lag über allem ein seltsamer, fauliger Geruch. Ihm fiel ein, dass er seinen Druckhelm nicht trug und die Erde verseucht war, aber er schob die bedrückende Tatsache berechtigterweise zur Seite. Der Sauerstoff an Bord des abgestürzten Raumschiffs hätte so oder so nicht gereicht, daran gab es nichts zu rütteln. Andy erschrak und zuckte zusammen, als plötzlich Daniel hinter ihm stand. Er drehte sich um, sah ihn seltsam besorgt an und atmete erleichtert durch. »Alles okay mit dir, abgesehen von den Schmerzen, die eine unfreiwillige Landung mit sich bringt?«, erkundigte er sich.
Daniel nickte. »Ist das ein verdammter Mist.« Er trat neben Andy und blickte sich um. »Was jetzt?«
Andy hatte keine Antwort parat. »Was denkst du, wann werden die Rettungskräfte hier sein?«, fragte Daniel auf das Schweigen des Piloten. Der Copilot tat einen weiteren Schritt von dem Wrack weg, sah es sich an und blickte dann zu Andy. »Ich hoffe, dass sich die Leute vom Rettungskommando nicht zu viel Zeit lassen.«
»Niemand wird nach uns suchen«, antwortete Andy ohne Rücksicht auf die Gefühle seines Copiloten. »Ich weiß es, und du weißt es auch. Ich befürchte, es wäre besser für uns gewesen, wenn wir bei dem Absturz draufgegangen wären«, legte er seine Meinung in einem bitteren Ton schonungslos offen. Daniel nahm die Nachricht gefasst auf und begab sich mit Andy auf die Suche nach den Crewmitgliedern aus dem Laderaum. Nichts war zu hören, außer ihren eigenen Schritten. Nichts war zu sehen, trotzdem blieben sie hin und wieder stehen und sahen sich spähend um.
Auch wenn sie es dem anderen gegenüber nicht offenbaren, fühlten sich die beiden Piloten beobachtet. Sie fanden den völlig demolierten Frachtraum und ein Crewmitglied fast einen Kilometer von ihrem Cockpit entfernt. Der Mann lag leblos zwischen und teilweise unter den aufgerissenen Kartons, den aus den Verankerungen gerissenen Behältern und den aufgeplatzten Blutkonserven. Andy fühlte nach dem Puls und schüttelte betroffen den Kopf. »Er hatte mehr Glück als wir, er hat es hinter sich!« Er blieb seiner harten Linie treu und setzte die Suche in Begleitung Daniels nach dem letzten Besatzungsmitglied fort. Sie umrundeten die Wrackteile, erweiterten ihren Suchradius mit jeder Runde, aber fündig wurden sie nicht. Der vierte Mann ihrer Crew blieb verschwunden. Mit der einsetzenden Abenddämmerung kehrten sie zum Cockpit zurück. Auf ihrem Weg und bei ihrer Suche war ihnen nichts anderes begegnet als Trostlosigkeit. Die Häuser und Hallen, an denen sie vorbeigekommen waren, befanden sich bereits im Besitz der Natur, waren beschädigt oder dabei. zusammenzufallen. Da und dort standen Fahrzeuge, an denen der Zahn der Zeit ebenfalls nicht spurlos vorbeigegangen war. Alles andere, was sie gesehen hatten und was irgendwann durch Menschenhand erschaffen worden war, schien sich entweder am falschen Platz zu befinden oder merkwürdig entstellt zu sein. In dem Gebiet, in dem sie sich befanden, hatte es offensichtlich sehr lange nicht mehr geregnet. Die Pflanzen waren bräunlich gefärbt, ausgetrocknet wie der Boden, und ein Teil der Atemluft schien aus Staub zu bestehen. Ganz selten bewegte ein Windhauch irgendwelchen Unrat oder riss verdorrte Blätter von Sträuchern mit. Verhungern konnten Andy und Daniel zumindest vorübergehend nicht. In einem Fach des Cockpits befanden sich Nahrungstabletten, die einige Monate reichten. Solche Tabletten hatte jedes Raumschiff der Raumflotte an Bord. Sie verfügten über genug Vitamine, Proteine und Kohlenhydrate, um eine Besatzung am Leben halten zu können. Ihr Problem hieß Wasser. Erfreut, aber ohne eine Spur von Euphorie stellten sie fest, dass der Wassertank im Cockpit unbeschädigt geblieben war, doch der Wasservorrat reichte höchstens eine Woche. Besonders volumenreich waren die Wasserbehälter auf Raumtransportern nicht, die, wie jedes andere Raumschiff auch, mit einer Wasserrecyclinganlage ausgestattet waren. Urin, Schweiß und Kondenswasser konnten mit diesen Geräten trinkbar gemacht werden. Jeder Tropfen Flüssigkeit im All war kostbar, aber ohne Energie waren die Piloten zum Verdursten verurteilt. Letztlich wären sie dazu gezwungen, verseuchtes Wasser zu trinken, falls sie überhaupt welches finden würden. Daniel saß wie Andy in seinem Pilotensitz, während die Nacht über sie hereinbrach. Ein Tag war auf der Erde vergangen, ein Tag wie jeder in den letzten Jahrzehnten, einer ohne einen Sonnenstrahl und einen blauen Himmel. Es begann eine Nacht wie jede andere in den zurückliegenden Jahren, eine ohne Mond und Sterne. Die zwei Piloten hatten keine Ahnung, was ihnen entging, denn sie kannten die Naturschauspiele nicht.
»Okay.« Der Copilot beendete das Schweigen. »Von deinem Pessimismus abgesehen, was sollen wir tun? Vielleicht sucht man doch nach uns«, sagte er hoffnungsvoll.
Andy rutschte in seinem Pilotensessel umher, bis er eine Sitzposition fand, die ihm behaglicher erschien, und deutete auf die Türme in seinem Rücken, über die der Vorhang der Finsternis sank. »Wir gehen mal dorthin, vielleicht finden wir etwas, das uns weiterhelfen kann«, sagte er unaufgeregt.
Daniel blickte in die angedeutete Richtung, aber die Konturen der Türme waren kaum noch zu sehen. »Was das wohl für eine Stadt war?«
»Ich habe keine Ahnung, wir werden es morgen erfahren.«
»Weißt du überhaupt, wo wir sind?«, fragte der Copilot und ließ damit erkennen, dass er es nicht wusste.
Andy überdachte den Sinkflug während ihres Absturzes. »Ich denke, dass wir uns im Süden der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika befinden.«
»Geschichte war nie meine Stärke«, gab Daniel zu.
»Berücksichtigt man den Sinkflug und unsere letzte Position, dürfte es sich bei der Stadt um Dallas, Austin, vielleicht Waco oder Fort Worth handeln. Womöglich sind wir bei Tyler oder noch weiter im Osten runtergekommen. Ich kann leider nur raten, schließlich sind wir in die Nachtzone geflogen.«
»Kennst du die Karte der Erde auswendig?«, staunte der Copilot und richtete seinen Blick aus dem Cockpit in die Dunkelheit.
Andy lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Das ganz sicher nicht, aber die Vereinigten Staaten haben mich interessiert, seit ich denken kann.«
Daniel ahnte, warum es sich so verhielt. »Wegen deiner Vorfahren?«, fragte er dennoch.
Der Pilot schwieg zu dieser Frage, aber wie Daniel vernahm er ein Geräusch in seinem Rücken. Beide schnellten aus ihren Sitzen hoch, doch sie sahen nichts und niemanden. Sie begaben sich zu dem Loch in ihrem Cockpit, spähten in die Dunkelheit, und Andy ärgerte sich darüber, dass die Raumtransporter über keine externe Lichtquelle verfügten. Beide standen nebeneinander, hörten in die Stille hinein, und nach einigen Sekunden, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkamen, hörten sie erneut einen dumpfen Laut, den sie allerdings nicht definieren konnten. Daniel schob den Klang einer Böe zu, aber Andy kam es eher so vor, als ob jemand über etwas gestolpert wäre. In einer Eingebung riefen sie den Namen ihres vermissten Crewmitglieds in die Dunkelheit hinein, erhielten jedoch keine Antwort. Danach wurde die Nacht ruhig, eine gespenstische Stille setzte ein, die unnatürlich erschien und durchaus etwas beängstigend wirkte.
Andy und Daniel schliefen abwechselnd, einer von beiden hielt jeweils Wache. Ihre Situation war ebenso trostlos wie ihre Umgebung, aber sich hinzulegen, aufzugeben und auf den Tod zu warten, dazu waren sie nicht geboren worden. Daniel hielt als erster Wache. Im Gegensatz zu Andy besaß er die Hoffnung, dass die Raumflotte sie nicht aufgegeben hatte und nach ihnen suchte. Ihm war jedoch bewusst, dass dieser Wunsch seiner Hoffnung entsprang und mit der Realität nichts zu tun hatte. Die Raumflotte war für solche Einsätze nicht vorbereitet, zumindest nicht, wenn es um Rettungsmissionen ging, die auf der Erdoberfläche stattfinden sollten. Hinzu kam der Zustand des Planeten. Die radioaktive Verseuchung und andere, unbekannte Faktoren konnten einen Rettungseinsatz zu einem Fiasko werden lassen. Dieses Risiko konnte die Raumflotte mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten an Personal und Material wegen vier abgestürzter Besatzungsmitglieder, von denen mindestens einer tot war, unmöglich eingehen. Daniel verstand die Haltung der Raumflotte, trotzdem stimmte sie ihn traurig. Er war jung, hatte gerade seine Ausbildung zum Piloten abgeschlossen, und der Flug vom Mars zum Mond und wieder zurück hatte ihn unheimlich stolz gemacht. Er dachte über den Tod nach und darüber, dass er noch nicht einmal genau wusste, an welchem Ort er vielleicht sterben würde, und das erfüllte ihn mit einer tiefen Melancholie. Schließlich nickte er ein. Als Andy den Copiloten von der Wache ablösen wollte, war Daniel nicht mehr da. Andy rief und schrie umsonst nach ihm. Wegen der Dunkelheit konnte er ihn nicht suchen. Er begann damit, als die Morgendämmerung eingesetzt hatte, aber finden konnte er ihn nicht. Ein böses Gefühl überkam ihn, als er bei der Suche an dem Wrack des Frachtraumes vorbeikam. Die Leiche des toten Besatzungsmitglieds, das sie an diesem Tag bestatten wollten, war wie Daniel spurlos verschwunden. Er durchsuchte einige der Ruinen, blieb vor einem der Häuser länger stehen, aber um ihn herum bewegte sich nichts. Die ramponierten Straßen blieben ebenso leer und verlassen, wie die Siedlung zu sein schien. Andy machte sich nichts vor, seine Lage war aussichtslos. In der Nacht war er praktisch blind, und er war ungeschützt, denn eine Waffe gab es an Bord der Transporter nicht. Er konnte nur abschätzen, wo ihr Absturz erfolgt war. Der von ihm vermutete Ort konnte um einige hundert Kilometer von seinem tatsächlichen Standort abweichen. Er hatte keine Ahnung, wie es in diesem Teil der Erde um die Verseuchung stand, aber seit der globalen Katastrophe waren viele Jahre vergangen. Das verlieh ihm einen Hoffnungsschimmer. Zwei Gedanken brannten sich in seinem Kopf ein. Die erste Überlegung war, dass er nur in der ungefähr zehn Kilometer entfernten Stadt, von der er die Türme sah, eine Überlebenschance besaß. Dort war es möglich, etwas zu finden, was ihm bei diesem Vorhaben helfen konnte.
Für die zweite Überlegung, die ihm überhaupt nicht gefiel, gab es eindeutige Hinweise: Er war auf sich gestellt, doch er war nicht allein! Andy holte den Medikamentenkoffer aus dem Cockpit, öffnete ihn und musterte den Inhalt, der für die Erstversorgung gedacht war. Eilig fügte er ihm Nahrungstabletten hinzu, nahm Sachen mit, die ihm nützlich erschienen, und begab sich mit dem schweren Wassertank auf den Weg. Nach der Hälfte des Weges, der ihn an zerfallenen Häusern, auf dem Dach liegenden Fahrzeugen und auseinandergerissenen Straßen und Gehwegen vorbeigeführt hatte, sank sein Pessimismus um eine kleine Nuance. Die Schäden, die er gesehen hatte und die ihn bei seinem Fußmarsch ständig begleiteten, rührten offensichtlich von einem Erdbeben her und nicht, wie er es befürchtet hatte, von dem Einschlag einer Atombombe. Vielleicht hatte er Glück, und dieser Teil der Erde war nicht verseucht, wie es von Wissenschaftlern angenommen wurde. Wenn es so war, stellte sich immer noch die Frage, ob es tatsächlich einen Glücksfall für ihn darstellte.
Er schob die negativen Gedanken weg, obwohl ihn nichts Positives umgab, und setzte seinen beschwerlichen Weg fort. Es war kein gemütlicher Spaziergang, den er auf sich nehmen musste. Tiefe, breite Erdspalten zwangen ihn zu langen Umwegen, er kam manchmal nicht umhin, über Fahrzeugwracks und das Geröll eingestürzter Gebäude zu klettern, und die Hitze des noch jungen Tages forderte ihm viel Schweiß und enorme Kräfte ab.
Irgendwann in seiner Jugend hatte Andy Bilder von der Erde gesehen und erinnerte sich zwangsläufig an sie. Die Fotos hatten ihm eine blühende Natur gezeigt, ebenso prachtvolle Städte und wahre Wunderwerke, die von Menschenhand erschaffen worden waren. Davon war nichts übriggeblieben, zumindest nicht an seinem Standort. Was er sah, erinnerte ihn wegen der Landschaft eher an den Mars oder an den Mond. Die Zerstörung ließ ihn das Leid der Menschen, die sie erlebt hatten, erahnen, aber nicht nachvollziehen.
Andy besaß keine Uhr, es gab keine Sonne, an der er sich hinsichtlich der Zeit oder der Himmelsrichtung orientieren konnte, doch er nahm an, dass er die Stadtgrenze gegen Mittag passiert hatte. Ein Ortsschild sah er nicht, aber umgeknickte und zerbeulte Straßenschilder zeigten ihm, wo er sich befand. Er war am Stadtrand von Monroe, und hätte er es nicht auf einem der Schilder gesehen, dann wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass er sich im Bundesstaat Louisiana aufhielt. Andy rief sich die Karte der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika in Erinnerung, aber diese Gegend blieb ihm dennoch überwiegend fremd. Das Einzige, was er aus seinem Gedächtnis ausgraben konnte, war, dass sie viel weiter östlich abgestürzt waren, als er es vermutet hatte. Auch konnte er sich daran erinnern, dass dieser Bundesstaat eigentlich ein sehr feuchtes Gebiet mit vielen Flüssen und Sümpfen war. Doch davon hatte er bisher nichts gesehen. Er erreichte das Stadtzentrum und blieb vor einem der vielen zerstörten Gebäude stehen. Was war hier geschehen, fragte er sich und inspizierte die nähere Umgebung. Er fand ein Waffengeschäft, leider war es leergeräumt. Er durchsuchte in dem Laden jede Schublade und jeden Schrank, ohne Erfolg. Im hinteren Teil des Geschäfts entdeckte er eine Tür und eine Treppe. Die Tür führte in einen trockenen, verwilderten Garten, die Treppe in die Privaträume der hier einst lebenden Menschen. Er musterte jedes Zimmer sehr genau und sah sich nachdenklich die verblichenen Bilder an den Wänden an. Er fand ein Fotoalbum, das, wie er annahm, die Bewohner dieses Hauses zeigte. Was aus diesen Menschen geworden war, hätte Andy gern erfahren, und er setzte seine Suche fort, ohne genau zu wissen, was er eigentlich suchte. Trotzdem hatte er bereits eine Entscheidung gefällt.
Das Gebäude war in einem ordentlichen Zustand, für die nächsten Tage besaß er ein Dach über dem Kopf und ein gemütliches Bett. In einer Küchenschublade fand er einen Schlüsselbund, mit dem er zunächst nichts anfangen konnte, dann jedoch begriff er, wozu die Schlüssel dienten.
Er probierte sie an jeder Tür aus und stellte fest, dass sie ihn vor der Außenwelt beschützen konnten. Er kehrte zurück in die Küche, versteckte den Wassertank unter der Spüle, bewaffnete sich mit einem großen Messer und war dabei, den Raum zu verlassen, blieb jedoch stehen und kehrte zu dem Wasserhahn zurück. Er drehte ihn auf, aber bis auf ein merkwürdiges Geräusch war nichts festzustellen. Doch plötzlich erbrach sich der Wasserhahn, schleuderte eine braune Brühe ins Becken, und ihr folgte ein immer heller werdender Wasserstrahl. Andy konnte es nicht fassen, aber er hatte wirklich so viel Glück. Erst, als er den Wasserhahn zudrehte, hörte das Wasser zu laufen auf, aber war es bekömmlich oder gesundheitsschädlich, und wie sollte er das feststellen? Durch das unerklärliche Verschwinden Daniels reichte sein Wasservorrat für vier, vielleicht sogar für fünf Tage, bis dahin musste er eine Möglichkeit gefunden haben, um die Qualität des Wassers zu überprüfen.
Er sperrte die Tür des Ladens zu und verließ das Gebäude durch den verwilderten Garten. Im Stillen dachte er über seine Paranoia nach, doch dass sein Copilot Daniel und das verstorbene Crewmitglied spurlos verschwunden waren, entstammte keiner Einbildung. Andy verließ die Stadt und schlug die entgegengesetzte Richtung ein, aus der er zuvor den Ort erreicht hatte. Die Landschaft veränderte sich nicht. Sie blieb kahl, trocken und bot nichts Einladendes. Die Gegend war flach und gewährte ihm einen Blick bis zum Horizont. Die Stämme der laublosen Bäume wirkten wie eine Warnung an ihn, und die Aussicht, ein einsames Leben führen zu müssen, besaß nichts Anregendes.
Er vollführte einen kompletten Kreis um Monroe, aber die Wanderung brachte ihm nichts ein. Im Zentrum angelangt, begann er ein Gebäude nach dem anderen zu durchsuchen. Er konzentrierte sich dabei auf Häuser, deren Bedeutung er höher einschätzte als die eines Wohnhauses. Viel Auswahl hatte er allerdings nicht. Er verzichtete darauf, Ruinen zu betreten, die jeden Moment einstürzen konnten, und mied die Gebäude, die früher einen kulturell großen Wert besessen hatten. Kunst und Kultur konnten ihm nicht helfen. Am Ende lohnte sich seine Wanderung doch. In einer halb verfallenen Feuerwehrwache fand er eine Ausrüstung, die ihm dienlich sein konnte. Dazu gehörten ein Beil, Stricke, zwei Taschenlampen und ein Zimmerscheinwerfer. Die Lampen funktionierten nicht, aber klar war, dass mit jedem Fund, den er irgendwie und irgendwann machte, seine Überlebenschancen stiegen. Das Leben auf der Erde war ihm fremd, und er war froh, dass er sich für das Dasein seiner Vorfahren interessiert hatte. Das dabei angeeignete Wissen half ihm in seiner Situation enorm. In dem Gebäude der Feuerwehr standen Geräte, die er nicht kannte. Auf dem Rückweg in seinen Unterschlupf erweckte ein Haus sein besonderes Interesse. Es war die Stadtbibliothek, und er hoffte inständig, dass es dort Bücher gab, die ihm bei seinem Überlebenskampf helfen konnten. Als ob ihm das Glück nachliefe, kam er an dem Gebäude der Stadtpolizei vorbei. Tatsächlich fand er drei Schusswaffen und nahm jede Munition mit, die er fand, denn welche er gebrauchen konnte, wusste er nicht. Die Abenddämmerung setzte ein, und Andy sah zu, dass er in sein Versteck gelangte. Er hatte niemanden gesehen und nichts gehört, aber das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihn den ganzen Tag nicht los.
Der Himmel verfinsterte sich bedrohlich, nicht weil die Sonne hinter dem grauen Schleier unterging, sondern weil dunkle Wolken aufzogen. Andy erschrak, als es innerhalb kurzer Zeit zu donnern und blitzen begann. Er konnte es nicht glauben, als er in seinem Domizil stand und aus dem von Staub bedeckten Fenster sah, doch es regnete tatsächlich. Es regnete dermaßen stark, als ob der Himmel eine Sintflut über den verseuchten Planeten ausgießen wollte. Fasziniert sah Andy diesem Naturschauspiel zu, denn er hatte schon von Regen gehört, aber bisher selbst noch nie einen gesehen und erlebt. Ebenso wenig besaß er eine Ahnung von den Waffen, die er gefunden hatte, er wusste nur, dass es Waffen waren. Im Aussehen unterschieden sie sich fast kaum von denen, die er kannte und mit denen er auf dem Mars geübt hatte. Schusswaffengebrauch und deren Technik war ein Teil seiner Ausbildung, wozu auch immer. Jetzt war er froh, dass er den Grundkurs erhalten hatte. Er fand in dem Laden Öl, setzte sich ans Fenster und begann, die Waffen zu reinigen und einzufetten. Immer wieder unterbrach er seine Tätigkeit, sah dem Regen zu und stellte fest, wie schön dieser doch war, auch wenn er ihn mehr hören als sehen konnte. Die Dunkelheit war wie in den letzten zwei Nächten vollkommen. Währenddessen dachte Andy über die Familie nach, die das Haus früher bewohnt hatte. Er stellte sich vor, dass die Kinder der Geschäftsleute bei Regen so wie er am Fenster gesessen hatten und es nicht erwarten konnten, bis die Sonne wieder schien. Wie das wohl war?
Die Sonne schien immer, auch wenn man sie nicht sah, aber auf dem Mars und Mond wärmte sie nicht, weckte keine Lebensgeister und löste keine Unternehmungslust aus. Das Leben auf der Erde war für die auf dem Mars und Mond oder in den Kolonien und Raumstationen geborenen Menschen unvorstellbar. Andy starrte aus dem Fenster in die Finsternis und hörte dem Regen zu. Die auf die Stadt und auf das Dach herabprasselnden Regentropfen waren die ersten natürlichen Geräusche, die er auf dem Planeten vernahm. Die Lautlosigkeit vor dem Unwetter hatte trotz des Tageslichts stets etwas Bedrückendes gehabt. Andy hatte ein Gewitter in dieser Form noch nie erlebt, und es faszinierte ihn. Die Sandstürme auf dem Mars waren oft sehr heftig, aber kein Vergleich zu dem Donner, den Blitzen und dem Regen auf der Erde. Auf dem Mars gab es ebenfalls Blitze, dort hatte er jedoch noch nie einen gesehen. Als ob ihn ein Blitz getroffen hätte, schnellte er von der Fensterbank hoch und ging in die Hocke. Hatte er sich getäuscht, oder sah er wegen der stundenlangen Einsamkeit bereits Gespenster? Erneut hellte ein Lichtbogen sein Sichtfeld auf, und nur mit Mühe gelang es Andy, einen Aufschrei zu unterdrücken. Über ihm presste sich ein Gesicht gegen die Fensterscheibe, aber es war nicht Daniel oder das verschwundene Crewmitglied. Andy hörte, wie jemand an der abgeschlossenen Tür rüttelte, und sank aus der Hocke in eine liegende Stellung auf dem Boden. Das Hantieren an der Tür hörte auf, ein weiterer Blitz zeigte ihm, dass die Grimasse am Fenster verschwunden war. Er begab sich in seine vorherige Stellung, mit jedem Lichtschein wegen des Unwetters wurde sein Entsetzen größer.
Auf der Straße und in den gegenüberliegenden Häusern tummelten sich unzählige Gestalten. Er wollte sie zählen, gab es jedoch gleich wieder auf, denn sie liefen wild durcheinander. Seiner Schätzung nach hatte er mehr als einhundert Personen gesehen. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand unter dem Fensterbrett. Kurz schloss er die Augen und sah sofort das Gesicht, das sich wenige Augenblicke zuvor gegen die Scheibe des Fensters gedrückt hatte. Es war kein menschliches Gesicht, es war eine Fratze. Wer waren diese Wesen? Was waren sie? Seit Andy denken konnte, wurde ihm nichts anderes gesagt, als dass jedes Leben auf der Erde vernichtet oder inzwischen gestorben war. Hatte ihm vielleicht die Einsamkeit einen Streich gespielt? Fing er jetzt schon an durchzudrehen? Nein, er hatte es mit eigenen Augen gesehen, die Erde war nicht tot und unbewohnt. Was er gesehen hatte, machte ihm Angst. War es möglich, dass er eines Tages ebenso schrecklich aussehen und enden würde? Hätte er darüber Gewissheit gehabt, käme für ihn nichts anderes als ein Freitod infrage.
Keinesfalls wollte er den Geschöpfen, für die er keinen Namen fand, in die Hände fallen. Der an diesem Tag erwachte Optimismus hatte einen herben Dämpfer erhalten, und sein Verstand einen Schock. Das Gesicht, das er gesehen hatte, besaß nur ein Auge. Die Gesichtshaut war seltsam porös und wirkte stellenweise wie durchsichtig. Das Wesen besaß keine ersichtlichen Lippen und Zähne. Ihm fehlten Ohren, und es war kahl. Der Anblick war widerwärtig. Andy schämte sich nicht dafür, dass er so dachte, er empfand es nicht anders. Keine Gestalt, die er einigermaßen deutlich hatte erkennen können, war nach menschlichem Verständnis normal gebaut. Jede dieser Gestalten besaß körperliche Schäden, und zwar solche, vor denen er Angst hatte und die ihn anekelten. Das Unwetter wurde schwächer, ließ ganz nach, und Andy fühlte sich wie in einem Zeitloch ohne Licht. Die Dunkelheit, die absolute Schwärze, belastete ihn immer mehr. Er spähte lange nach draußen, vielleicht die halbe Nacht, und bei den vereinzelten Blitze in der Ferne sah er zumindest schemenhaft die Umrisse der vor ihm liegenden Umgebung. Irgendwann war er sich sicher, dass die Wesen wie das Gewitter weitergezogen waren. Zwangsläufig dachte er an seinen Copiloten Daniel: Waren die Geschöpfe für dessen Verschwinden und das der Crewmitglieder verantwortlich? Falls es so war, hoffte er, dass sie mit einem schnellen und schmerzlosen Tod ihren Frieden gefunden hatten. Er schlief ein und träumte von den entstellten Körpern und von der Fratze am Fenster. Andy konnte es nicht wissen: Er war der Erste, der die Nachkommen der Apokalypse gesehen hatte. Es waren die Saprobien. Allerdings handelte es sich bei ihnen nicht um die einzigen Individuen, die dem Inferno hatten entkommen können. Die Erde war kein vollends zerstörter und verseuchter Planet. Für einen überschaubaren Teil der Überlebenden, deren Kinder und Kindeskinder hielt sie Orte bereit, an denen sich ein Dasein erträglich gestalten ließ.
A
ndy war einsam, aber an manchen Tagen nicht allein. Er hatte die Stadt, in deren Nähe er mit seiner Crew abgestürzt war, verlassen und begab sich auf den beschwerlichen Weg in Richtung Norden. Zwei Monate hatte er vergeblich gewartet und nach seinem Co-Piloten Daniel gesucht, aber dieser blieb unerklärlicherweise spurlos verschwunden. Oder machte Andy sich etwas vor? Weigerte er sich, zu akzeptieren, dass die Wesen, die er gesehen hatte, für das Schicksal Daniels verantwortlich waren? Er wollte nicht darüber nachdenken, und es war ihm unerträglich, sich vorstellen zu müssen, was mit seinem Freund und Co-Piloten eventuell geschehen war. Trotzdem, wenn er überleben wollte, musste er die Stadt verlassen, die ihm vorübergehend eine Bleibe geboten hatte. Wäre er geblieben, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihn die gespenstisch aussehenden Gestalten entdeckt hätten. Was ihm in diesem Fall bevorstehen konnte, auch darüber wollte sich Andy nicht den Kopf zerbrechen.
Als Andy aufbrach, glaubte er auf den ersten Kilometern immer wieder, die Stimme Daniels zu hören. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter. Die Vernunft war stärker als das schlechte Gewissen, das mit seinem Überlebenswillen um die Hoheit in seinem Kopf rang. Er hatte nach Daniel gesucht, jeden Tag in den vergangenen acht Wochen, aber ein Lebenszeichen seines Freundes fand er nicht. In den Nächten hielt er Ausschau nach den Saprobien. Dass die abschreckenden und offenbar geistig behinderten Wesen von den Menschen später so genannt wurden, entzog sich seinem Wissen. Sie kamen nicht jede Nacht, aber sehr oft, und dann zogen sie durch die Straßen Monroes, der Stadt, in der er sich befand. Er blieb in seinem Versteck unentdeckt, aber er ahnte, dass es nicht ewig so bleiben würde. Schließlich machte Andy eine Beobachtung, die ihn zum Verlassen der Stadt ermutigt hatte.
Der Vorfall lag bereits vierzehn Tage zurück, und wenn er sich ihn ins Gedächtnis rief, erschauderte er. Aus dem Nichts waren die Saprobien aufgetaucht. Es war das einzige Mal, dass er sie am Tag in Monroe herumlaufen sah. Die Frage, wo sich diese Gestalten sonst herumtrieben, wurde bedeutungslos. Er hatte die Wesen noch gar nicht gesehen, aber ihr Gekreische war bereits von weitem zu hören. Fluchtartig begab er sich in sein Quartier und stellte damit die Suche nach Daniel an diesem Tag ein.
Es war um die Mittagszeit, als sie wie ein Heer von Zombies in die Stadt einfielen. Andy begab sich in den ersten Stock des Hauses und sah dabei zu, wie die Wesen die bereits leeren Mülltonnen durchsuchten, in Häuser eindrangen und ständig irgendwie auf der Hut zu sein schienen. Immer wieder sahen sie sich um und auf das Gebäude, in dem sich Andy ein kurzzeitiges Zuhause geschaffen hatte. Merkwürdigerweise kamen die Gestalten an das Haus heran, aber keines der Wesen unternahm den Versuch, in das Haus einzudringen. Dann geschah es: Plötzlich tauchte ein Krokodil auf der Straße auf. Andy traute seinen Augen nicht, aber tatsächlich bewegte sich das Reptil auf die größte Gruppe der Saprobien zu.
Was folgte, war ein Schauspiel, angesichts dessen sich Andy gewiss war, dass er es nie in seinem Leben vergessen würde.
Er war erstaunt, mit welcher Geschwindigkeit sich das Reptil fortbewegte, und ehe er sich`s versah, schnappte es nach einer Gestalt und biss ihr ein Bein ab. Das geschah so schnell und mit solch einer Leichtigkeit, als ob die Wesen keine Knochen hätten. Angeekelt verfolgte Andy das weitere Geschehen und nahm überrascht zur Kenntnis, dass die Saprobien nichts unternahmen, um sich in Sicherheit zu bringen. Stattdessen fielen einige über das Krokodil her, während sich andere auf den Verletzten stürzten. Es war unglaublich und schrecklich, doch es geschah: Die Wesen rissen ihr Gruppenmitglied förmlich in Stücke und fraßen es auf. Das Krokodil biss um sich, wie es ein Raubtier tut, aber letztlich hatte es keine Chance. Die Saprobien wurden immer zahlreicher und schafften es, das Krokodil auf den Rücken zu legen. Ein Teil der Wesen hielt den Kopf und das Maul der Echse fest, der andere Haufen begann mit Stöcken und anderen Gegenständen, den Rumpf des Tieres aufzuschlitzen. Das Schauspiel dauerte fast dreißig Minuten, und als die Uhr die Stunde vollendete, waren von dem Reptil nur noch wenige Überreste seiner Panzerhaut zu sehen.
Benommen setzte sich Andy unterhalb der Fensterbank auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand in seinem Rücken. Der Absturz, der Verlust der Crew, das Verschwinden Daniels, all das war schon ein Albtraum, und jetzt kam das Gesehene hinzu.
In seinen schlimmsten Gedanken stellte sich Andy vor, das Krokodil zu sein, und keinesfalls wollte er auf diese Weise enden. Sein Entschluss stand fest: Er musste Monroe und den Staat Louisiana verlassen. Aber wohin sollte er gehen, und in welche Richtung? Außerdem schienen die entstellten Wesen ständig nach irgendwem oder irgendetwas Ausschau zu halten. Das geschah in einer Art, die eindeutig aufzeigte, dass sie auf der Hut waren. Aber warum und vor wem?
Andy war nicht dumm, und ohne einen Beweis dafür zu haben, nahm er folgerichtig an, dass die Gestalten die Nachkommen der Menschen waren, die einst die Apokalypse überlebt hatten. Ihr Aussehen und ihr Verhalten erklärte er sich zu Recht mit den Lebensbedingungen auf dem ehemals blauen und nun grauen, verseuchten Planeten. Sogleich stieg eine Befürchtung in ihm hoch, und als ob sich ein Spiegel vor ihm befände, sah er in seiner Vorstellung, wie er sich nach und nach zu einem der Wesen entwickelte. Pessimismus war noch nie eine Option für Andy, doch in diesem Moment fiel es ihm schwer, Mut und Zuversicht aufzubringen. Es war der Augenblick, in dem er den Entschluss fasste, Monroe und Louisiana den Rücken zu kehren.
Den Weg nach Süden zu gehen erschien ihm sinnlos. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Lebensbedingungen am Golf von Mexiko besser waren als im Norden. Waren sie irgendwo einigermaßen erträglich und für den Menschen nicht schädlich? Die Wesen, die alles zu fressen schienen, machten ihm wenig Hoffnung. Trotzdem: Bleiben und sein Ende tatenlos abzuwarten, das wollte er auch nicht.
Im Nachhinein war er froh, dass er sich in der Vergangenheit mit der ehemaligen Erdoberfläche beschäftigt hatte. Er wusste, wo er sich befand, und sein Ziel konnte nur der Norden sein. Immer nach Norden, über Arkansas und Missouri, und dann, wenn er seine Position annähernd bestimmen konnte, irgendwann nach Nordosten. Die großen Seen, die es in der Form von einst nicht mehr gab, sondern zusammen eine einzige riesige Wasserfläche darstellten, sie musste er erreichen. Dort hatte er vor, über Iowa und Minnesota, falls diese Landstriche nicht vom Wasser verschluckt worden waren, erneut nach Norden zu wandern. Wenn es sein musste, dann am Ufer des großen Sees entlang bis nach Manitoba oder Ontario. Das konnte er erst entscheiden, wenn er die Bedingungen vor Ort kannte. Warum nach Norden und nicht nach Westen, dachte er, als er aufstand und eine der Ernährungstabletten einnahm. Schließlich kontrollierte er die Türen im Haus, die alle verschlossen sein sollten und es zu seiner Zufriedenheit waren, und legte sich im Schlafzimmer auf das knirschende Bett. Warum nicht nach Westen? Nein, nicht nach Westen. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er als Junge gehört hatte. Dort, wo einst Metropolen wie Los Angeles und San Francisco gestanden hatten, existierte nichts mehr. Die gesamte Westküste war ein riesiges Grab. Ebenso gut hätte er in Monroe bleiben können. Andy stellte sich einen Zeitplan auf. Zwei Wochen wollte er noch bleiben und seine Suche nach Daniel fortsetzen. Sollte er ihn in dieser Zeit nicht finden oder ein Lebenszeichen von ihm erhalten, dann wollte er aufbrechen. Inzwischen waren vier Wochen vergangen, und seit vierzehn Tagen war er unterwegs. In seiner Einsamkeit wurde er von einem seltsamen Gefühl begleitet. Es war sonderbar und völlig fremd, auf diese Art unterwegs zu sein. Ihn beeindruckte die Landschaft und die Weite, aber die Stille und Leere bedrückte ihn. Er traf und sah keinen Menschen, und es kam ihm vor, als ob er der letzte Mensch auf Erden wäre. Er ging über Straßen, die völlig intakt waren, und kam an Dörfern vorbei, die keine Schäden aufwiesen und doch verlassen waren. Schließlich erreichte er die Stadt Springfield und stellte bei der Ankunft erleichtert fest, dass er nicht vom Weg abgekommen war. Die Orientierung war ein Problem, denn er besaß keine technische Ausrüstung, die ihm anzeigen konnte, ob er sich auf dem direkten Weg nach Norden befand. Es war ihm egal, da er annahm, dass die globale Verseuchung die Geräte oder einen Kompass ohnehin manipuliert hätte. Ebenso gleichgültig war ihm, dass ihm kein Sternenhimmel als Orientierungshilfe zur Verfügung stand. Keinesfalls hätte er gewusst, welche Sonne der Polarstern war. Er wusste nur, dass dieser Stern den Weg nach Norden wies.
Es war sein Glück, dass er in seiner Jugendzeit vor allem den nordamerikanischen Kontinent auf übrig gebliebenen Landkarten ergründet und studiert hatte, sonst hätte er sich verlaufen und wäre hoffnungslos verloren gewesen. Ohne dieses Wissen wäre es ihm unmöglich geworden, den Kurs nach Norden einigermaßen zu halten. Er musste sich an den großen Städten orientieren, auch wenn es für ihn viele zusätzliche Kilometer waren.
In Springfield blieb Andy drei Tage. Er schätzte die Entfernung bis zu seinem Ziel auf zweitausend Kilometer, und wegen der Umwege fügte er vorsichtshalber weitere fünfhundert dazu.