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Die komplette 1. Staffel der Gelsenkrimis in einem Band. Enthalten sind die Bände: Eric Holler: Wo ist Lisa - Eric Holler: Glück Auf, Tod! - Eric Holler: Gelsenkiller! - Eric Holler: Leichen im Kanal - Eric Holler: Gelsenkugeln - Eric Holler: Buerer Roulette
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Eric Holler
Gelsenkrimi
1. Staffel
Band 1 bis 6
Sammelband
Inhaltsverzeichnis
Wo ist Lisa?
01. Akt
02. Akt
03. Akt
04. Akt
Glück Auf, Tod!
01. Akt
02. Akt
03. Akt
04. Akt
Gelsenkiller
01. Akt
02. Akt
03. Akt
04. Akt
Leichen im Kanal
01. Akt
02. Akt
03. Akt
04. Akt
Gelsenkugeln
01. Akt
02. Akt
03. Akt
04. Akt
Buerer Roulette
01. Akt
2. Akt
3. Akt
4. Akt
Veröffentlichungen des Autors
Kontakt zum Autor:
Impressum:
Eric Holler:
Ein Gelsenkrimi
von
Roman Just
Der Auftrag
»S
ie hat sich verändert, ich möchte den Grund erfahren«, sagte der eventuelle Klient im Büro von Eric Holler.
»Hegen Sie die Befürchtung, dass Ihre Frau fremdgeht?«
»Ich kann es nicht ausschließen«, entgegnete der vermeintliche Kunde, der mit dem seltsamen Titel und Namen Graf Harald von Hauenstein wegen eines Termins bei Eric angerufen hatte.
»Hat es Ihre Gattin verdient, beobachtet zu werden? Finden Sie es ihr gegenüber gerecht, mich auf sie anzusetzen?«
»Wie meinen Sie das?«
Die Miene des Privatdetektivs wurde ernster. »Waren Sie Ihrer Frau stets treu? Haben Sie Ihr Eheversprechen gehalten, oder gab es in der Vergangenheit Ihrerseits eine, vielleicht sogar mehrere Affären?«
»Was erlauben Sie sich?« Obwohl empört, machte der Adlige keine Anstalten, sich zu erheben, um das Büro beleidigt zu verlassen.
»Männer neigen dazu, alles zu unternehmen, falls ihnen ein Vorteil winkt, besonders dann, wenn eine Frau flachgelegt werden kann. Umgekehrt führen wir uns wie Moralapostel auf, falls es das weibliche Geschlecht uns heimzahlt. Hatte Ihre Gattin einen Anlass zur Vergeltung?«
»Sie sind unverschämt«, erwiderte der Graf brüsk.
»Sie wiederum weichen einer Antwort aus.«
Harald von Hauenstein biss sich auf die Unterlippe und entgegnete: »Wollen Sie den Job, ja oder nein?«
»Eigentlich nicht, aber ich übernehme ihn.«
»Es hört sich an, als ob ich Ihnen dafür dankbar sein müsste.«
»Nicht dankbar, eher kooperationsbereiter«, widersprach Eric und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Der Graf fing an, die unbeantworteten Fragen, welche er noch in Erinnerung hatte, aufzugreifen. Der Anfang bestand aus einer Beschreibung über die Verhaltensweisen, die ihm an seiner Frau unangenehm aufgefallen waren. Der Bericht zog sich in die Länge und fand sein Ende erst, nachdem Eric zu den geschilderten Ereignissen um eine Einschätzung gebeten wurde.
»Nichts von alldem, was Sie erzählt haben, muss auf eine Liaison hindeuten.«
»Sind Sie verheiratet?«, erkundigte sich der Graf sichtlich gereizt.
»Nicht mehr.«
»Was würden Sie an meiner Stelle denken?«
Eric Holler hatte seine legere Sitzposition verändert und eine Haltung eingenommen, die der eines Richters ähnlich war. »Es gibt Menschen, insbesondere Männer, die sehen ihre Partnerin, egal ob Lebensgefährtin oder Ehefrau, als Eigentum an. Sind Sie ein ausübendes Organ dieser innerhalb einer Beziehung dominierenden Gattung?«
»Sie werden schon wieder beleidigend!«
»Sie sind voreingenommen und bilden sich womöglich nur aus einem Grund etwas ein: Vielleicht passt es Ihnen nicht, dass Ihre Gattin gewisse Fesseln abgelegt hat und nun selbständig agiert«, sagte er und sah sich das erhaltene Foto der Frau an.
»Blödsinn«, kommentierte der Graf die Aussage mit einem arroganten Unterton.
»Gelebte Freiheit in einer Partnerschaft ist keine Dummheit.«
Harald von Hauenstein warf das Thema mit einer Geste der Gleichgültigkeit ins Abseits. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Doch, das habe ich.«
»Sie denken ernsthaft, ich behandle meine Frau wie mein Hab und Gut.«
»Vielleicht nicht behandeln, aber als ein solches ansehen.«
Dem vermeintlichen Klienten schien die Vermutung nicht zu gefallen, trotzdem verzichtete er auf einen Einwand. Er sah so aus, als ob es ihm nicht gelingen würde, das Gegenteil der Behauptung überzeugend darzulegen. Stattdessen begann er Beispiele aufzuzählen, die es vollbringen sollten. »Sie ist nie so oft so spät nach Hause gekommen. Sie war früher nie so aufgedreht, andererseits so schnell träge. Irgendwie scheint sie nicht sie selbst zu sein.«
»Was macht Ihre Frau beruflich?«
»Das ist es ja: nichts.«
Der Privatdetektiv verbiss sich eine Äußerung, die den Grafen erneut auf die Palme gebracht hätte, dafür wurde Harald von Hauenstein mit Zahlen konfrontiert: »Eintausend Euro ist der Tagessatz, plus Spesen, versteht sich. Ich werde Ihre Frau eine Woche beschatten und gewähre Ihnen auf den Gesamtbetrag einen Rabatt von zehn Prozent. Die Vorauszahlung beträgt die Hälfte der Tagessätze.«
»Das ist üppig, sind Sie den Betrag wert?«, erkundigte sich der Graf skeptisch.
»Zweifellos.«
»Ich will jeden Schritt von ihr dokumentiert haben«, sagte der Klient fordernd.
»Sie bekommen alles nachgewiesen, auch die Uhrzeiten und Orte, an denen Ihre Gemahlin zur Toilette geht.«
»Das hört sich gut an. Ihr Job ist sofort erledigt, wenn Sie eine Affäre belegen. Auch dann, wenn es schon am ersten Tag passiert.«
»Einverstanden.«
Der Graf erhob sich. »Wann höre ich von Ihnen?«, fragte er und begann im Stehen einen Scheck auszufüllen.
Eric nahm wieder eine lockere Sitzposition ein. »Wenn es etwas zu berichten gibt, ansonsten erst in sieben Tagen.«
Harald von Hauenstein nickte unzufrieden, begab sich zur Bürotür und drehte sich dem Privatdetektiv zu. »Sie sagten, Sie waren verheiratet. Wie hätten Sie sich an meiner Stelle verhalten?«
»Anders.«
»Wie?«
»Ich hätte mit meiner Frau über meine Sorgen gesprochen.«
»Das ist kein guter Rat von einem Mann, der geschieden ist«, zog der Adlige ein Fazit.
»Ich bin nicht geschieden, Herr Graf von Hauenstein.«
Der Klient errötete. »Oh, das tut mir leid.«
»Dazu besteht kein Anlass. Sie haben meine Frau schließlich nicht umgebracht.« Der Angesprochene war dem Blick von Eric Holler verlegen ausgewichen und hatte die Tür geöffnet. »Eine Frage noch«, hielt ihn Eric zurück. »Wieso kauft man sich einen Adelstitel und wie viel kostet es?«, gab er dem Mann bewusst zu verstehen, dass er bereits ein paar Recherchen über ihn angestellt hatte. Pech war es, dass er nicht die Zeit haben würde, noch mehr Informationen über den Grafen zu sammeln.
Elisabeth alias Lisa
L
isa von Hauenstein war kein Kind von Traurigkeit, jedenfalls anders, als sie ihr Gatte beschrieben hatte. Sie genoss das Leben in vollen Zügen. Ihr Auftreten besaß nichts, womit man sie als unterwürfig, scheu oder bescheiden bezeichnet hätte. Im Gegenteil: Sie war gebildet, verfügte über eine unnachahmliche Lebensfreude und hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor. Von Freunden wurde sie als eine selbstbewusste, anständige und äußerst höfliche Frau beschrieben, die sich kaum etwas vorschreiben ließ. Ihre Ehe war trotz der persönlichen Haltung in Bezug auf Freiräume intakt, obwohl kinderlos. Die positiven Seiten an Lisa bekamen durch ihr Aussehen Unterstützung. Sie hatte schulterlanges Haar und ihre Figur Rundungen, die durch die gierigen Blicke der Männerwelt zusätzlich betont wurden. Sie zog sich gern schick an, aber nicht zu aufreizend, und konnte es sich leisten, auf Schminke gänzlich zu verzichten. Ihre blauen Perlenaugen waren tiefer als ein Ozean und hatten die Macht, einen kompetenten Gesprächspartner aus dem Konzept zu bringen. Das Einzige, worüber sie unglücklich war, betraf ihre Körpergröße. Lisa übertraf alle Damen in ihrem Umfeld um eine Kopflänge. Sie befand sich damit immer auf Augenhöhe mit ihrem Mann, doch die Fügung konnte ihr den Verdruss über den bei einer Frau seltenen Wuchs nicht nehmen.
Einen hohen Stellenwert hatten bei Lisa von Hauenstein drei Komponenten, die sie ohne große Probleme vorzuleben wusste: Pünktlichkeit, die Einhaltung von vereinbarten Terminen und den Schutz der Privatsphäre. Sie sprach nur selten über ihre Ehe und das Zusammenleben mit ihrem Mann. Wenn, dann in einer zurückhaltenden Art, mit der sie nur preisgab, wozu sie Lust hatte. Das Eheleben, die Intimsphäre und der Ehemann waren ihr heilig. Nie war ihr durch Dritte ein böses Wort über ihren Gatten zu Ohren gekommen. Dass die Lebensgemeinschaft bis in die Gegenwart kinderlos geblieben war, schien sie nicht zu stören. Sie mochte Kinder, es war bei diversen Gelegenheiten sichtbar geworden, nur sah sie keinen Anlass, sich über den fehlenden Nachwuchs zu echauffieren. Einerseits hätte sie gerne eigene Kinder gehabt, andererseits war ihr immer bewusst, dass in einem solchen Fall das sorglose Leben vorbei wäre. Deshalb konnte sie mit den Situationen umgehen, ohne Groll, Selbstmitleid und Neid auf Freundinnen, die Kinder hatten.
Lisa kannte die Sorgen ihres Mannes und schob einen Teil seiner Eifersucht und Befürchtungen bezüglich ihrer Treue auf den Umstand der Kinderlosigkeit. Weder er noch sie hatten sich deswegen einer Untersuchung unterzogen, wodurch ein Patt zwischen ihnen entstanden war. Beide wollten erst einen Arzt aufsuchen, wenn der Partner es vorab machen würde. Ein Streit wurde wegen der unbefriedigenden Stellung von keiner Seite begonnen. Im Gegenteil, ihr Zusammenleben war, trotz allen Nebeneffekten, harmonisch und unbeschwert.
Rüdiger alias Harald
W
er von Lisa sprach, nahm nur lobende Worte in den Mund. Die Frau schien für ihre Umwelt ein Engel zu sein und fiel somit durch das Raster, das ihr Gatte über sie gelegt hatte. Harald von Hauensteins Aussagen wirkten im Nachhinein nüchtern, wenig einfühlsam, kaum differenziert, manchmal fast abwertend. Die Vorzüge seiner Ehefrau und ihre angenehme Ausstrahlung, die sie auf Dritte ausüben konnte, waren ihm nicht über die Lippen gekommen. Vielleicht hatten ihn seine Ängste über die Untreue seiner Gattin davon abgehalten, womöglich war das Schweigen eine Folge seiner offensichtlichen Eifersucht.
Die Gegebenheiten waren dabei, ein falsches Licht auf Harald zu werfen. In den meisten Angelegenheiten, die seine Person als Mann betrafen, wäre er in einen extra für ihn erschaffenen Frauenhimmel gehoben worden. Er besaß Wesenszüge, die bei Männern vom weiblichen Geschlecht oft vermisst wurden. Er hatte nichts von einem Weichei und Macho, sondern wäre ein Traummann, wenn er seine Minderwertigkeitskomplexe in Hinsicht auf Frauen im Griff gehabt hätte. Sie waren schuld an seiner Eifersucht. Die Eigenart, sich herabzusetzen, an sich zu zweifeln und mit sich stets unzufrieden zu sein, hatten bei ihm die Furcht geweckt, seine Frau zu verlieren. Die Selbstzweifel ließen es zu, dass von ihm der Adelstitel eines Grafen erworben wurde, der am Ende nur teuer und nichts wert war. Das Dokument hatte nämlich nicht die Eigenschaft, rotes Blut in eine blaue Flüssigkeit zu verwandeln. Immerhin half ihm der Titel zu einem Auftreten, mit dem er zumindest gelegentlich über seinen zögernden und mutlosen Schatten springen konnte. Erst danach hatte er Lisa kennengelernt und sie geheiratet.
Die Ehe war trotz der nicht vollständig besiegten und mit der Zeit wieder wachsenden Ängste glücklich. Harald las seiner Frau jeden Wunsch von den Lippen ab, ging ihr im Haushalt zur Hand und hatte sie mitgenommen, wenn er geschäftlich rund um den Globus unterwegs war. Sie hatten die Metropolen auf der ganzen Welt gesehen, insbesondere die Städte, die von Insidern als Spielerparadiese bezeichnet wurden. Von Beruf war er Pokerspieler, einer der erfolgreichsten in der Branche. Während eines Pokerspiels hatte Harald keine Komplexe, vielmehr befand er sich in einer Welt, die ihm vertraut war. Das Glück mit Lisa schien vollkommen zu sein, wäre nicht der unerfüllte Kinderwunsch geblieben und hätte sie nicht plötzlich auf die Flüge nach Las Vegas, Hongkong, Hawaii und auf die Bahamas freiwillig verzichtet. Dadurch bekam die immer anwesende Verlustangst eine neue Dimension, die er beherrschen musste, um Lisa nicht tatsächlich zu verlieren.
Eric Holler, Privatdetektiv
E
ric war aus Zufall in Gelsenkirchen gelandet, oder anders ausgedrückt, er war in der Stadt der tausend Feuer im wahrsten Sinne des Wortes gestrandet. In einer der angeblich hässlichsten Städte Deutschlands hatte er nicht vor, länger als notwendig zu bleiben. Sein finanzieller Status ließ ihn jedoch im Pott kentern. Inzwischen sah er trotz einiger Vorbehalte und Bedenken die ehemalige Bergarbeiterstadt aus einem Blickwinkel, der nichts mit Kohle, Ruß und Staub gemeinsam hatte. Es war unmöglich zu leugnen, vieles lag brach in der City, eigentlich überall im Revier. Der geplante Wandel Gelsenkirchens vom Bergbau zu einem Zentrum für Kultur und Wissenschaft wurde zu zaghaft angegangen und hatte mittlerweile einen Status erreicht, der als Klüngelei bezeichnet werden musste. Irgendwann würde er wegen des ausgeübten Berufes mit der Vetternwirtschaft in irgendeiner Weise aneinandergeraten, davon war er überzeugt. Dafür sprach auch sein Werdegang.
Die Lebensumstände in den Vereinigten Staaten hatten die Familie Holler zurück nach Deutschland geführt. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war in Zustände abgerutscht, die bürgerkriegsähnliche und diktatorische Züge besaßen. Das Waffengesetz entsprach immer noch dem Wilden Westen, der Rassenhass war präsenter als zu Zeiten der Sklaverei, und durch Reformen war das Recht auf Selbstbestimmung mit Füßen getreten worden. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich von Lobbyisten und verblödeten Politikern spalten und in eine Epoche katapultieren lassen, in der es auf dem Kontinent noch keine Europäer, Afrikaner und Asiaten gab. Es waren seine deutschstämmigen Eltern, die eine Rückkehr nach Europa angestrebt und umgesetzt hatten. Das war kurz vor dem Ausbruch der Pandemie geschehen. Damit war der Familie die Erfahrung eines Lockdowns nicht erspart geblieben, doch dafür wurde ihr die Sicherheit gegeben, die sie in Amerika im Alltag vermisst hatten. Eric hätte den Trip über den Ozean nicht mitmachen müssen, aber er trat die Reise aus Wut und Trauer an. Sein Heimatland, er war in Fort Lauderdale geboren worden, vertrat in seinen Augen eine zur Hälfte verfeindete Bevölkerung, von der er Abstand gewinnen wollte. Er hatte seinem Land gedient, in Formen, die topsecret waren. Die Belohnung bestand aus einer bitteren Enttäuschung, der ein Zorn gefolgt war, den er ebenfalls für sich behalten musste. Unmittelbar danach verlor seine Frau bei einem Überfall auf eine Tankstelle ihr Leben. Die Aufnahmen von Videokameras belegten es: Obwohl am Tatort niemand Widerstand geleistet hatte, waren die Anwesenden kaltblütig hingerichtet worden. Der schwerwiegende Verlust und die anhaltende Verbitterung ermöglichten es dem einstmals hundertprozentigen Patrioten, sein Geburtsland zu verlassen.
Die erste Station war Bayern, nach wie vor lebten seine Eltern dort. Er hatte es in dem oberbayerischen und auf zwei Seiten von Bergen umrahmten Dorf am Chiemsee nicht ausgehalten. Während seiner Dienstzeit war er viel herumgekommen, hatte die Weite der Bundesstaaten zu schätzen gelernt. Das Kaff, in dem sich seine Eltern niedergelassen hatten, fing nach wenigen Wochen an, ihn einzuengen. Darüber hinaus begann ihm das pulsierende Leben einer Großstadt zu fehlen, woraufhin er erneut seine Koffer packte. Mit der Abreise begab er sich auf die Suche nach dem Sinn seiner Existenz. Eric Holler war ein ungewöhnlicher Mann. Unmöglich wäre es, ihm nachzueifern. Er war fast zwei Meter groß, sehr kräftig gebaut, aber nicht korpulent. Sein Kopf war kahl, das Gesicht mit einem Dreitagebart versehen und seine Hände hatten den Durchmesser einer mittleren Bratpfanne. Die Muskeln an den Oberarmen und Oberschenkeln waren durchtrainiert und seine Augen schienen wie ein Röntgenapparat zu funktionieren. Die imposante und in jede Richtung beeinflussende Statur hätte einen Menschen, der straffällig geworden war, umgehend ein Geständnis ablegen lassen. Sein Körperbau wurde durch seinen Charakter nebensächlich. Der Privatdetektiv verfügte über Wesenszüge, die ihn zu einem Außenseiter abgestempelt hatten. Die Degradierung war jedoch eine gewählte Taktik, die dem Selbstschutz und der Anonymität vorbehalten waren. Die Jobs, die Eric im nationalen Interesse zu erledigen hatte, wären ansonsten nicht geheim geblieben und sauber durchgeführt worden. Die Realität sah anders aus: In Wirklichkeit gab es selten Aufträge und Befehle, die präzise ablaufen konnten. Bei den Operationen im In- und Ausland gab es fast immer Kollateralschäden, und oft genug blieb ein übler Nachgeschmack hängen. Er fand sich in Form von manchmal unschuldigen Toten, Verletzten, zerrissenen Körpern und Eingeweiden wieder. Als Eric in den Zug nach München gestiegen war, konnte er nicht ahnen, dass ihn seine Vergangenheit beim Geheimdienst eines Tages in Deutschland einholen würde.
Mit der Abfahrt der Regionalbahn begann für ihn eine kleine Odyssee. In der bayerischen Hauptstadt wurde ihm das Leben schnell zu teuer, außerdem hatte er keinen Gefallen an der Menge der Touristen gefunden. Seine Erfahrungen beim CIA besagten, dass die Welt gelegentlich sehr klein sein konnte und dass man im Leben zwei Mal aufeinandertrifft, egal ob Freund oder Feind. Die nächste Etappe verschlug ihn nach Frankfurt, wo er sich von Anfang an nicht wohl gefühlt hatte. Weiter ging es nach Berlin und Hamburg, bis ihm in Köln bewusst geworden war, dass er Metropolen mit zu viel internationalem Flair besser meiden sollte. Die Deutschlandrundfahrt hatte eine beträchtliche Summe verschlungen und war auch nicht binnen eines Monats abgeschlossen. Insgesamt zwei Jahre wurde Eric nicht sesshaft. Erst der Blick auf die geschrumpften Ersparnisse und die Einsicht, um bekannte Städte einen Bogen zu machen, hatten ihn umdenken lassen und nach Gelsenkirchen geführt.
Bei der Wohnungssuche wurde er schnell fündig. Offenbar schien die Stadt von der allgemeinen Wohnungsnot im Land nicht betroffen zu sein. Tatsächlich verhielt es sich so, aber es lag nicht an ihrem Ruf, sondern an den angebotenen Optionen: Der Bergbau war tot, die Zechen zu und Arbeitsplätze rar, oder sie wurden schlecht bezahlt. Im von den Einwohnern als nobel beschriebenen Stadtteil, in Gelsenkirchen-Buer, bekam er eine bezahlbare, eigentlich günstige Drei-Zimmer-Wohnung, die seinen Vorstellungen perfekt entsprach. Dass Buer allerdings zugleich das teuerste Viertel der Stadt war, wurde ihm gegenüber natürlich verschwiegen. Was folgte, waren die erforderlichen Behördengänge und der Schritt in die Selbständigkeit. Ein anderer Job kam für ihn auch wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht in Frage. Nachdem Eric sämtliche Auflagen erfüllt hatte, nahm er seine Tätigkeit als Detektiv auf und fing an, auf den ersten Klienten zu warten. Der Standort seines Unternehmens erwies sich als Glücksfall. Buer lag zwar in Nordrhein-Westfalen, doch ebenso hätte sich der Ort im tiefsten Allgäu befinden können. Hier war die Zeit auf eine unnatürliche Weise stehengeblieben. Zwar bewegten sich die Uhrzeiger der Sankt-Urbanus-Kirche täglich beständig vorwärts, doch insbesondere der harte Kern der Einwohner sah Buer als eine eigenständige Gemeinde an. So war es auch kein Wunder, dass die Sankt-Urbanus-Kirche mit ihrem Flachdach von den Befürwortern einer Abspaltung von Gelsenkirchen als Dom bezeichnet wurde. Das im Jahr 1893 erbaute katholische Gotteshaus war ursprünglich einhundert Meter hoch. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil des Turmes von deutschen Soldaten durch kontrollierte Sprengungen zum Einsturz gebracht, um das Dorfzentrum vor Bombardierungen durch die Alliierten zu schützen. Der Kirchturm wäre ansonsten wegen seiner Höhe ein idealer Anziehungspunkt für die Bomber der selbstgemachten Feinde gewesen. Seitdem maß das Gebäude annähernd fünfzig Meter, doch dadurch wurden das Selbstbewusstsein und die Forderungen der querdenkenden Lokalpatrioten nicht geschändet. Auch ein Umdenken zur Realität wurde wegen der Aktion nicht eingeläutet. Für Eric hatten diese Grabenkämpfe keine Bedeutung, er war stattdessen an Ereignissen interessiert, durch die er an einen Job gekommen wäre. Zu seinem Erstaunen musste er sich nicht in Geduld üben und Werbung betreiben. In einem Stadtteil wie Buer stand ein Privatdetektiv im Ansehen nur geringfügig unter dem des Pfarrers, allerdings auf gleicher Höhe mit dem des Bürgermeisters. Schnell begriff er, dass es Kunden gab, die über Leichen zu gehen bereit waren. Den Antrieb für illegale Praktiken zogen sie aus ungesunden Eigeninteressen, aus Gier, Neid und Neugier. Bereits nach kurzer Zeit hatte der Privatdetektiv begriffen, dass in Ortschaften und Stadtteilen wie Buer durch alteingesessene Geschäftsleute die Klüngelei erfunden worden war. Aus diesem Grund nahm er sich vor, jeden neuen Auftrag sorgfältig zu prüfen. Keinesfalls wollte er zwischen die Fronten geraten. Wundern und ärgern konnten ihn die Verhältnisse nicht, so war es nun einmal, so ging es zu, nicht nur in Buer, sondern überall auf der ganzen Welt. Im Januar fing Eric mit seiner Tätigkeit an. Schon am zweiten Tag hatte er den ersten Klienten und so ging es weiter. Er war praktisch ausgebucht, aber als ehemaliger Agent des CIA dennoch unterfordert. Die Aufträge waren banal, manchmal geradezu idiotisch. Der Weinhändler wollte Hintergrundinformationen über einen Konkurrenten erfahren, ein Geschäftsmann mehr zu den künftigen Plänen über ein Gebäude im Zentrum wissen, mit solchen und ähnlichen Bagatellen hatte er es überwiegend zu tun. Niemand wusste von seiner Vergangenheit und den technischen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen. In manchen Fällen war es gar nicht nötig, das Büro zu verlassen. Ein paar Anrufe reichten aus, um an das erforderliche Material heranzukommen. Der Tagessatz blieb bei jedem Job gleich, nur die Spesen variierten. Aus dieser Sicht ging es dem Privatdetektiv gut. Trotzdem war er in Hinsicht auf die eigene Zukunft unentschlossen, obwohl er inzwischen einen Leumund besaß, der die Stadtgrenzen überflogen hatte.
In Buer gehörte es dazu, dass der ausgezeichnete Ruf des Privatschnüfflers von einigen Gerüchten begleitet wurde. Eric war es egal, er konnte darüber schmunzeln, auch über den Umstand, dass sein Unternehmen ab den Sommerferien eine Flaute zu verkraften hatte. Die Ruhe erwies sich bald als trügerisch. Er hätte sie weiterhin genießen können, wenn Harald von Hauenstein bezüglich eines Termins von ihm abgewiesen worden wäre. Schließlich erhielt Eric einen Anruf, durch den ihm von Harald mitgeteilt wurde, dass Lisa spurlos verschwunden war.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Sie ist nicht nach Hause gekommen, das ist nie geschehen, seit wir verheiratet sind.«
»Kann Ihre Frau bei Freunden übernachtet haben?«
Erst nach ein paar Sekunden kam die Antwort: »Wenn Lisa es vorgehabt hätte, egal ob geplant oder spontan, wäre ich von ihr informiert worden. Sie ist auch nirgendwo, ich habe sämtliche Telefonnummern angewählt und mich nach ihr erkundigt.«
»Hatte sie mit einem der Gesprächsteilnehmer in den letzten Stunden Kontakt?«
»Mit niemandem und keiner der Angerufenen hat sie gesehen«, erwiderte der Graf diesmal prompt.
»Okay, was erwarten Sie von mir?«
»Ich möchte, dass Sie Lisa schnellstmöglich ausfindig machen, aber zuerst kommen Sie zu mir.«
»Wie Sie wünschen, aber eine halbe Stunde wird es dauern.«
»Beeilen Sie sich!«, stieß der Graf leiser bettelnd aus und hatte danach aufgelegt.
Verwirrungen
W
ie versprochen, saß Eric Holler dreißig Minuten später im dekadenten Wohnzimmer des verzweifelten Pokerspielers. Der Privatdetektiv besaß eine gute Menschenkenntnis, und er hatte nicht den Eindruck, dass der Ehemann ihm die Sorge um die Ehefrau vortäuschte. »Haben Sie die Kliniken der Stadt und Umgebung angerufen?« Harald bejahte die Frage. »Hat Ihre Frau eventuell von dem Termin bei mir erfahren und reagiert deshalb auf diese unüberlegte Weise?«
»Nein. Sie weiß garantiert nicht, dass ich bei Ihnen war.«
»Was macht Sie da so sicher?«
Harald zwang sich zu einem Lächeln. »Herr Holler, bis vor achtundvierzig Stunden hatte ich keine Ahnung, dass ich mich an Sie wenden werde.«
»Kann sie zu Freunden oder Verwandten gefahren sein?«
Der Pokerspieler schüttelte abweisend den Kopf. Es geschah in einer Art, als ob er vom Geber ein schlechtes Blatt bekommen hätte. »Ich habe alle Angehörigen und Bekannten angerufen, niemand hat Lisa in den vergangenen Stunden gesehen beziehungsweise gesprochen. Keiner weiß, wo sie sein könnte.«
Eric sah sich nachdenklich um. Der Wohnraum war luxuriös eingerichtet, traf jedoch nicht seinen Geschmack. Eine Kritik stand ihm nicht zu, immerhin war er nur Gast und nicht dazu verdonnert, zwischen den zu modernen und auf Hochglanz polierten Möbeln zu leben. »Sie bewohnen das Haus zu zweit?«
»Ja, nur Lisa und ich wohnen hier.«
»Darf ich Ihre Toilette benutzen?«, fragte Eric unerwartet.
»Selbstverständlich. Im Foyer nach links, dann die zweite Tür rechts.«
Der Privatdetektiv bedankte sich, verließ das Zimmer und schlug den Weg ein, der ihm beschrieben worden war. Er hatte kein menschliches Bedürfnis, stattdessen wurde er von einer irritierenden Illusion aus dem Wohnzimmer getrieben. Ihm war so, als ob er einen vorbeihuschenden Schatten im Foyer gesehen hätte. Niemand ließ sich dort blicken. Stille umgab ihn während seiner Schritte zum WC, wo er sich die Hände zu waschen und über das Gebäude nachzudenken begann. Es war nicht zu leugnen, das Haus besaß einen Hauch der Villa, in der Norman Bates seine tote Mutter umsorgt hatte. Ein sonderbares Flair ging von den Wänden und der Beleuchtung aus, woran die zugezogenen Vorhänge nicht unschuldig waren. Auch das war seltsam: Wieso hatte Harald bei der Suche nach seiner Frau am frühen Morgen die Übergardinen nicht zurückgezogen? Es erschien Eric unlogisch. Die bedrückte Stimmung bei seinem Eintreffen wurde zudem durch die brennenden Kronleuchter in den Räumen und die angezündeten Kerzen verstärkt. In jeder Ecke brannte ein Docht, dabei war es früher Vormittag, als er das Haus betreten hatte. Beim Abtrocknen seiner Hände mit WC-Papier vernahm Eric Geräusche. Es war die Haustür, die jemand geöffnet hatte und zufallen ließ. War eventuell Lisa verantwortlich dafür? Neugierig begab sich der Privatdetektiv zurück zu Harald ins Wohnzimmer. Der besorgte Ehemann saß immer noch in dem Sessel wie vorher, doch sein teilweise blutverschmiertes und dadurch fast unkenntliches Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verändert. Gleichgültig, ob Kriegsveteran, ehemaliger CIA-Agent oder ein Notarzt, der Tod übt auf alle Menschen im ersten Moment eine lähmende Wirkung aus. Auch auf Eric Holler, obwohl die Starre bei ihm nur einen Wimpernschlag dauerte. In der Brust des Klienten steckte ein Messer, von dem nur noch der Griff zu sehen war. Für Harald kam jede Hilfe zu spät, deshalb eilte der Schnüffler aus dem Gebäude. Für einen Augenblick konnte er wegen des diffusen Lichts im Haus und des grellen Sonnenscheins im Freien nichts erkennen, doch das war ohne Belang. Der Mörder war bereits geflohen. Wer hatte Harald auf dem Gewissen? War es Lisa, seine Frau? Der Verdacht lag nahe.
Vor dem Ermordeten stehend, überdachte Eric seine makabre Situation. Wer von der Mordkommission würde ihm die Story abkaufen, in die er hineingeraten war. Eine Frage bekam zusehends Übergewicht: Warum hatte ihm jemand die Falle gestellt? Es fiel ihm schwer, über eine zufällige Verstrickung in einen Mordfall nachzudenken. Sein Auto stand auf dem Areal, der Täter hatte somit gewusst, dass der Hausherr nicht allein war. Das hatte den Mörder jedoch nicht davon abgehalten, eiskalt zuzuschlagen. Noch etwas war merkwürdig: die Tatzeit. Das Kapitalverbrechen wurde begangen, als sich Eric im WC-Raum befand, das konnte kein Zufall sein. Woher wusste der Täter, dass der Privatdetektiv das Wohnzimmer verlassen hatte? Ihm fiel schlagartig der Schatten ein. Es war keine Einbildung, der Mörder war bereits vor ihm im Haus zugegen. Die Erkenntnis beinhaltete ein weiteres Indiz, dass gegen Lisa sprach, ebenso dagegen, dass er zum Opfer einer Fügung geworden war. Die nächste Frage lag Eric wie tonnenschwerer Ballast auf den Schultern.
Was tun?
Klug und vernünftig sein, also sofort die Polizei anrufen, oder sämtliche Spuren vernichten, die seine Anwesenheit bewiesen hätten? Glück im Unglück war der Standort des Anwesens. Es lag neben der Kurt-Schuhmacher-Straße, wurde von den Verkehrsteilnehmern kaum beachtet und war nur über die Ekhofstraße zu erreichen. Niemand hatte die zwei Häuser am Ende des zugänglichen Gebiets erwerben wollen: Sie waren zu sehr dem unaufhörlichen Verkehrslärm der A 2 ausgesetzt. Harald von Hauenstein hatte die Ruinen deswegen für ein Butterbrot kaufen können und dabei nicht vergessen, sich vorab eine Baugenehmigung schriftlich zusichern zu lassen. Die sanierungsbedürftigen Gebäude verschwanden rasch, und es entstand eine Villa, die einem Oligarchen alle Ehre gemacht hätte. Obwohl das Areal des Pokerspielers mitten in der Stadt lag, befand es sich durch seine Lage sozusagen im absoluten Abseits. Die Tatsache, dass die Arena des ansässigen Fußballclubs nur einen Steinwurf entfernt war, erschien aus diesem Blickwinkel fast schon absurd.
Eric hatte an der Geschichte und Entstehung des Anwesens kein Interesse. Er musste eine Entscheidung fällen, und das schnell. Zwar war ihm die Isolation der Villa nicht entgangen, doch auf weitere unangenehme Überraschungen wollte er sich nicht einlassen. Jederzeit könnte der Postbote, ein längst bestellter Handwerker oder sonst jemand vor der Tür stehen. Wie sollte er vorgehen? Das Unbehagen, das ihn befallen hatte, erhielt durch eine ungeklärte Angelegenheit zusätzlichen Auftrieb. Wenn der Mörder schon vor ihm im Haus gewesen war, warum wurde Harald erst umgebracht, nachdem er erschienen war? Nur, um ihm die Tat anzuhängen? Das ergab keinen Sinn.
Falls sich Lisa des Mordes schuldig gemacht hatte, warum jetzt und nicht vor Tagen, Wochen oder Monaten. Der Gedanke stellte den ersten Pluspunkt für die Frau dar. Entlastend waren auch die Aussagen, die dem Privatdetektiv nach dem Gespräch mit Harald im Verlauf des Tages in verschiedenen Geschäften und an einigen Theken zugetragen wurden. Buer hatte den Vorteil, dass ab einer bestimmten Gesellschaftsschicht jeder jeden kannte und alle alles besser zu wissen schienen. Die Unterhaltungen gaben dem Schnüffler einen Einblick in den Werdegang des Ehepaares, insbesondere in Details, die Harald verheimlichen wollte. Bei ihnen hatte es sich nicht um Eskapaden gedreht, sondern um Harmlosigkeiten, die den Eheleuten peinlich und zuwider waren. Eric gestand sich ein, dass gegen Lisa im Grunde nur zwei Indizien sprachen. Es war seine Anwesenheit und ihre ungeklärte Abwesenheit.
Seit dem Verbrechen waren knapp zehn Minuten vergangen, und der ehemalige Agent besann sich seiner Ausbildung. Er war nicht außer Form, hatte nichts verlernt, aber keinesfalls wäre es intelligent, unüberlegt zu handeln. Ihm fielen die Geräusche ein, die von der Haustür verursacht wurden. Wie lange hatte es gedauert, bis er vor das Haus getreten war? Eine, allerhöchstens zwei Minuten. Der Mörder hätte über den Abhang zur Autobahn innerhalb von wenigen Sekunden aus seinem Sichtfeld verschwinden können. Eine an das Anwesen grenzende Baumgruppe wäre im gleichen Zeitraum erreicht worden und ein ideales Versteck gewesen. Irgendetwas gefiel Eric in dem Denkprozess nicht. Er begab sich zu der Haustür, öffnete und schloss sie. Er wiederholte die Aktion vier Mal, immerhin war er mittlerweile bekennender Schalke-Fan, dann wurde ihm sein Denkfehler bewusst: Die gehörten Töne waren zu kurz hintereinander erfolgt. Niemals hätte jemand während dieser Zeitspanne das Haus betreten oder verlassen können. Die Tür wurde nicht komplett geöffnet und geschlossen, sondern war von einer unbekannten Person mit Absicht nur fest auf- und zugemacht worden. Das bedeutete, dass der Mörder von Harald noch im Gebäude sein konnte. Entweder hatte er sich versteckt, oder clever, wie er zu sein schien, hatte er einen anderen Fluchtweg gewählt. Dass der Täter eine überdurchschnittliche Intelligenz besaß und äußerst raffiniert vorgegangen war, ließ sich nicht leugnen. Mit der angewandten Strategie hatte er den Privatdetektiv in die Irre geführt, der binnen des nächsten Atemzugs eine Waffe in der Hand hielt. Wie von einer Raubkatze wurde das Haus von ihm durchsucht. Zimmer für Zimmer, vom Erdgeschoss bis in die oberste Etage, dem vierten Stockwerk. Selten genug, dass Villen mit solchen Dimensionen gebaut wurden, noch dazu im Pott. Die Größe der Räume und die Höhe des Gebäudes hatten keinen Einfluss auf Eric ausgeübt, dafür die Leichen in den Zimmern, die angeblich jeder normale Mensch nur in Kellern aufbewahrt.
Offenbar war Graf Harald von Hauenstein kein vernünftiges männliches Wesen, sondern zu Lebzeiten ein durchgeknallter Psychopath, der in seiner eigenen Welt gelebt hatte. Der Eindruck gewann bei Eric die Oberhand, nachdem das Haus von ihm durchforstet worden war. Im Begriff, in der Gesellschaft des ermordeten Grafen eine Zigarette zu rauchen, begab er sich in das Erdgeschoss. Der Privatschnüffler war nicht abhängig vom Nikotin, eher ein Gelegenheitsraucher, der einen Glimmstängel nur in Momenten qualmen ließ, wenn er das Bedürfnis hatte, nachzudenken. Im Augenblick befand er sich in einem derartigen Gemütszustand. Das Gesehene in den oberen Etagen hatte ihn aufgewühlt, nicht sonderlich entsetzt, doch durchaus betroffen gemacht. Als ob er auf eine Landmine getreten wäre, blieb er in der Wohnzimmertür erstarrt stehen. Wo zum Teufel war die Leiche des Grafen geblieben? Er sah auf seine Armbanduhr, erkannte, dass er eine halbe Stunde in der Villa unterwegs gewesen war. Zeit genug, um mit ihm ein absurdes Spiel zu treiben.
Eric lächelte säuerlich. Er war scheinbar nicht nur in »Psycho« und im »Bates Motel« zugegen, auch schien er die Rolle von seinem Lieblingsschauspieler Michael Douglas in dem Film »The Game« übernommen zu haben. Hatte er sich am Ende geirrt? War er von dem toten Grafen hinters Licht geführt worden? Nein, der Adlige hatte unfreiwillig das Zeitliche gesegnet, daran gab es keinen Zweifel. Ein Irrtum seinerseits war ausgeschlossen. Dafür hatte er zu oft zu viele Leichen gesehen. Dass der leblose Körper des Erstochenen verschwunden war, beinhaltete einen Vorteil: Ein Anruf bei der örtlichen Polizei hatte sich dadurch erledigt. Trotzdem, was tun? Dazu kam die Frage, in was für ein obskures Schauspiel er hineingezogen worden war. Für ihn stand fest, dass die Villa zu einer Theaterbühne umgewandelt worden war. Ebenso gab es keinen Grund anzunehmen, dass der Akt mit dem Verschwinden des Ermordeten ein obszönes Ende gefunden hatte. Es ließ sich nicht vermeiden, und er begab sich zurück nach oben. Im zweiten Stockwerk ging er in den Raum, über den sich der Privatschnüffler am meisten gewundert hatte. Wie überall im Haus brannten auch hier Kerzen.
Ohne Ausnahme waren in jedem Zimmer die Übergardinen zugezogen und, wenn vorhanden, die Rollos herabgelassen worden. Dass die Villa mitunter in Zeiten von Geldnöten erbaut wurde, hatte Eric bereits bei seiner Ankunft registriert. Der Beruf eines Pokerspielers war nicht unbedingt dazu geeignet, über ein regelmäßiges Einkommen verfügen zu können. Aber innerhalb der betretenen vier Wände konnte der Privatdetektiv sehen, dass Harald von Hauenstein seinen aufwendigen Lebensunterhalt nicht nur mit Spielkarten bestritten hatte. War es das Nebeneinkommen, das Lisa vermisst sein ließ und den Grafen das Leben gekostet hatte? Die Wahrscheinlichkeit lag weit über dem Gefrierpunkt.
Eric Holler war nicht leicht zu erschüttern und sich des Umstands bewusst, dass seine menschlichen Züge und Gefühle einen irreparablen Schaden erlitten hatten. Ihm war nicht alles egal, er war nicht oberflächlich und gleichgültig veranlagt, doch Mitgefühl, Hingabe, Trauer und Vertrauen waren ihm durch seinen ehemaligen Beruf fremd geworden. Der Privatdetektiv hatte keine Art an sich, die befremdlich wäre, von ihm ging auch keine Kälte aus, sein Wesen bestand nicht aus Granit, aber er war von seiner Tätigkeit als Agent geprägt worden. Die coole und zurückhaltende, manchmal scheue Art waren Merkmale, die er sich aus Selbstschutz zugelegt hatte.
Nachdem er sicher war, allein im Gebäude zu sein, durchschritt er erneut alle Räume und Etagen. Dabei verlor er kurzzeitig jegliches Zeitgefühl. Zu gespenstisch war der Anblick, von dem er in fast allen Zimmern erwartet wurde. Ihm kam es vor, als ob er sich in den USA, Kolumbien oder Mexiko befinden würde. Überall hätte er sein können, nur eben nicht da, wo er war, in Gelsenkirchen, unweit der Arena, am Ende der Ekhofstraße. Insgesamt hatte Eric dreißig Räume betreten und nur in den Schlafzimmern, Bädern und Gästetoiletten keinen männlichen oder weiblichen Leichnam vorgefunden. In neunzehn der zwanzig Zimmer fand er stets das gleiche Bild vor: Keine Möbel, allerorts ein halbes Dutzend Kerzenhalter an der Wand, inmitten der vier Wände eine Wanne aus Blech, in der ein lebloser Körper lag. Eine nähere Betrachtung der Toten ergab ebenfalls immer das gleiche Ergebnis: Er fand keine Hinweise auf ein Ableben, dass durch Gewalt herbeigeführt worden war. Merkwürdig kam ihm vor, dass in einem der Zimmer die Wanne leer war. Im Anschluss an die Leichenexpedition hatte sich Eric doch noch eine Zigarette gegönnt. Es war inzwischen Nachmittag, und ab und zu wurde die Sonne von dunklen Wolken verhüllt. Nachdenklich stand er auf der Terrasse hinter dem Gebäude und dachte über die letzten Stunden nach. Mittlerweile war er davon überzeugt, dass die Ereignisse nichts mit seiner Person zu tun hatten. Hätte es sich anders verhalten, wäre längst die Polizei von seinem unsichtbaren Gegner verständigt worden. Es stand außer Frage, die Villa besaß ein bizarres Geheimnis, nur welches? Wer hatte den Grafen entsorgt und wohin? Und wo war Lisa? Im Grunde genommen ging es ihn nichts mehr an, denn der Auftraggeber war tot, und damit konnte er auch sein Honorar vergessen. Allerdings hatte Eric die Hälfte bereits bekommen, dazu kam die Neugier, die ihn weiter ermitteln ließ.
Überlegungen
G
elsenkirchen war keine Stadt wie jede andere. Die unsinnige Behauptung, dass sie zu den hässlichsten Städten Deutschlands gehörte, besaß vor allem in Lüdenscheid-Nord, also in Dortmund, mehr einen Gehässigkeitsstatus, anstatt der Realität anzugehören. Hätte die Klassifizierung ein Körnchen Wahrheit besessen, wären Dortmunder Bürger wegen des Zustands und Aussehens ihrer Stadt nicht berechtigt gewesen, über Gelsenkirchen zu lästern. Egal wo, überall gab es Viertel, auf die eine Stadt nicht besonders stolz sein konnte, das traf nicht nur auf das Revier zu. Über das äußere Erscheinungsbild des Kriminalkommissariats 15 in Gelsenkirchen-Buer schieden sich die Geister. Das im Jahr 1927 eingeweihte Gebäude stand seit 1984 unter Denkmalschutz und besaß, wie viele andere Gebäude dieser Art, keine ruhmreiche Geschichte. Es war vor und während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis für ihre Zwecke missbraucht worden und hatte die Aufgabe, ein Mahnmal darzustellen. Die Diskussionen darüber, ob der Bau den Sinn erfüllen würde, waren nie ganz verstummt.
Eric, von der Kurt-Schuhmacher-Straße kommend, war in die Breddestraße abgebogen und an dem Denkmal vorbeigefahren. Nachdem er einen Parkplatz gefunden hatte, begab er sich in das Kommissariat in der Hölscherstraße. Dort wurde zunächst seine Geduld auf die Probe gestellt. Erst nach einer knappen Stunde saß er Kriminalhauptkommissar Werthofen gegenüber, der sich seine Geschichte angehört hatte.
Dass der Beamte mit jedem weiteren Satz den Wahrheitsgehalt der seltsamen Story anzuzweifeln begann, war ihm anzusehen. »Sie behaupten also tatsächlich, dass in der Villa des Grafen neunzehn Leichen in Blechwannen liegen«, wiederholte er die letzten Worte des Privatdetektivs und sah ihn skeptisch an. »Seltsam, dass wir keine Vermisstenanzeigen haben.«
»Es ist keine Behauptung«, erwiderte Eric.
»Vielleicht das Schauermärchen eines Privatdetektivs, der auf diese Weise Aufmerksamkeit erregen möchte?«, erwiderte der Kripoangehörige provozierend.
»So etwas habe ich nicht nötig.«
KHK Werthofen presste die Lippen zusammen. Die Geste gab zu verstehen, dass er der Aussage nichts entgegenzusetzen hatte. Er war schon öfter über den Namen des Privatschnüfflers gestolpert, ohne ihn kennengelernt zu haben. »Warum hat der Graf wegen des Verschwindens seiner Frau nicht die Polizei informiert?«
»Ich nehme an, er kannte die Krimis aus dem Fernsehen und wusste, dass die Behörden nichts unternehmen würden.«
Der Beamte sah auf die Uhr an seinem Handgelenk, wählte eine Nummer und beorderte einen Streifenwagen zu der Villa des Adligen. »Gnade Ihnen Gott, wenn Sie mir ein Hirngespinst aufgetischt haben«, sagte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, und blieb weiterhin ungläubig. »Falls Ihre Geschichte wahr ist, warum haben Sie uns nicht angerufen, als Sie noch vor Ort waren?«
»Kein Handy dabei.«
»Ein Privatdetektiv, der ohne Mobiltelefon unterwegs ist?«, entgegnete Werthofen erstaunt. »Ich dachte, Handys wären eines der wichtigsten Utensilien für Ihr Metier«, stellte der Beamte fest und gab damit zu verstehen, dass seine Bedenken größer geworden waren.
»Auf Klischees lege ich keinen Wert.«
»Worauf dann?«, Werthofen erhob sich.
»Auf Professionalität«, erwiderte Eric.
Mit dem Zeigefinger deutete der Kriminalhauptkommissar dem angeblichen Märchenerzähler an, ihm zu folgen. Das Telefon hatte dafür gesorgt, dass Eric sitzen geblieben war und Werthofen sich zurück an den Schreibtisch begab. Er hob ab, hörte zu, wobei seine Augen immer größer wurden. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er den Hörer auf die Station gelegt und sich an Eric gewandt: »Das war die Streife, kommen Sie, wir fahren, wie von mir eben beabsichtigt, zur Villa.«
»Wozu? Sie haben Ihre Leichen, ich habe mit der Sache ab sofort nichts mehr zu tun. Dem Sachverhalt auf den Grund zu gehen, ist Ihr Job.«
»Ob Sie die Wahrheit gesagt haben, lässt sich im Moment nicht feststellen, und deswegen werden Sie mich begleiten«, sagte Werthofen streng.
Es war eine Eingebung, die Eric spontan antworten ließ: »Die Villa brennt, richtig?«
Verblüfft sah der Beamte den Privatschnüffler an. »Woher wissen Sie es?«
»Ich habe eine naheliegende Vermutung geäußert, kein Wissen preisgegeben.«
Auf dem Weg zum Parkplatz hinter dem Gebäude 2 des Polizeipräsidiums ließ es sich Werthofen nicht nehmen, noch eine Frage zu stellen: »Wieso haben Sie die Polizei nicht vom Festnetz der Villa verständigt?«
»Ich hatte kein Verlangen, ein Teil des brennenden Mobiliars zu werden.«
Der Beamte blieb mitten auf den Stufen stehen. »Was meinen Sie damit?«, fragte er, ohne Eric aus den Augen zu lassen.
»Ich war mir zu dem Zeitpunkt sicher, allein in der Villa zu sein. Allerdings sagte mein Instinkt, dass ich es nicht bleiben würde.«
Kriminalhauptkommissar Werthofen nahm wieder Schritt auf, setzte sich hinter das Steuer seines Dienstwagens und wartete, bis sich Eric auf dem Beifahrersitz angeschnallt hatte. Auf Höhe der Klinik Bergmannsheil sahen sie schon die dunkle Rauchsäule, die von der Villa aufstieg. Deutlich zeichnete sie sich von dem in die Dämmerung fallenden Himmel ab. Am Brandort angekommen, kam der Beamte aus dem Staunen nicht heraus. Drei Löschfahrzeuge waren vor Ort, die Einsatzkräfte jedoch nur darum bemüht, die Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Aus den in allen Etagen geborstenen Fenstern des Hauses schlugen Flammen, das Dach war bereits eingestürzt, und die Fassade wurde an manchen Stellen durch Ruß und Risse erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Der Beamte und Eric standen in einer sicheren Zone, trotzdem spürten sie die Hitze, die von dem Feuerherd ausging. Die Villa brannte wie ein Scheiterhaufen, der zur Sonnenwende angezündet worden war.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr, der den Kripobeamten zu kennen schien, trat an ihn und seinen Begleiter heran. »Es ist eindeutig Brandstiftung«, sagte er, nachdem sich die Männer gegrüßt hatten. Er sah zum Gebäude und rümpfte die Nase. »Der Brandbeschleuniger ist bis hierher zu riechen«, stellte er fest.
»Benzin?«, fragte Werthofen, wobei Außenstehenden die Bitte um Antwort überflüssig erschienen wäre.
»Nicht nur«, erwiderte der Feuerwehrmann.
»Benzin und Heizöl wurden verwendet«, warf Eric ein.
»Richtig«, bestätigte der Einsatzleiter und hob anerkennend einen Daumen.
Unschlüssig drehte sich Kriminalhauptkommissar Wert-hofen dem Privatdetektiv zu. »Verfügen Sie über eine so gute Nase, oder sind Ihnen die Brandbeschleuniger nur deswegen bekannt, da sie durch Ihre Person eingesetzt wurden?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Hauptkommissar«, antwortete der Privatschnüffler, der seit seiner Geburt mit einem sensiblen Spürsinn und Riechorgan ausgestattet war.
Werthofen, der mit Vornamen Manfred hieß, sah zu der Villa, ohne die Zurechtweisung zu kommentieren. Sympathischer, so viel stand fest, war ihm Eric Holler durch den Rüffler jedenfalls nicht geworden. Zwar kannte er den Mann nicht näher und hatte in der Vergangenheit niemals mit ihm zu tun gehabt. Bis dahin hatte er kaum etwas von ihm gehört, doch durch die Berufserfahrung war er gewarnt. Seine hinzugewonnene Menschenkenntnis hatte sich beim ersten Anblick des Detektivs in Alarmbereitschaft begeben. Er war überzeugt, dass den Privatdetektiv ein Geheimnis umgab, dass es herauszufinden galt. Ob es eines in Bezug auf Harald von Hauenstein, seine Frau und die Villa war oder ein anderes, vermochte er noch nicht zu sagen. Der Wille, es in Erfahrung zu bringen, hatte nun wegen Erics Auftreten Besitz von ihm ergriffen. Die angeschlagene Laune des Kriminalhauptkommissars konnten auch der aufkommende Wind, die Blitze in der Ferne und das herannahende Donnergrollen nicht verbessern, dafür die der Einsatzkräfte. Mit dem Einsetzen der Dunkelheit begann es wie aus Eimern zu schütten. Die Feuerwehrleute waren dankbar, dass der Wettergott ihnen wohlgesinnt war. Der Regen wurde in Rekordzeit Herr der Flammen, und die verschont gebliebenen Brandnester im Erdgeschoss wurden schnell gelöscht. Niemand konnte in diesem Moment ahnen, welches Risiko die Feuerwehrleute auf sich genommen hatten. Trotz der Hilfe des Himmels konnte das qualmende Objekt erst nach Mitternacht inspiziert werden.
Unter Berücksichtigung der strengen Sicherheitsvorschriften, die bei Begehungen dieser Art anzuwenden waren, betrat der Einsatzleiter mit einem Brandexperten und zwei Kollegen die Villa, um die Ruine zu begutachten. Manfred Werthofen und Eric Holler mussten dem Treiben zusehen. Ihnen war es nicht erlaubt, die Villa zu betreten. Sie hatten das Gewitter im Wagen abgewartet und sich danach näher ans Haus begeben. Die Luft in der Umgebung war durch den Regen einigermaßen gereinigt, doch verschiedene Gerüche hatten sich nicht wegwaschen lassen. Es roch nach Heizöl, Benzin, Asche und verbranntem Holz. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen sie dem Einsatzleiter erneut gegenüber, und zu der Runde hatte sich der Brandexperte hinzugesellt. Von ihm war die Besichtigung nach wenigen Minuten wegen akuter Einsturzgefahr abgebrochen worden. Der kurze Lagebericht des Experten wäre für Eric beinahe ein weiteres Misstrauensvotum geworden, wenn der Mann am Ende seines Vortrags nicht zwei Sätze von Bedeutung und zu Gunsten des Privatdetektivs ausgesprochen hätte: »Eindeutig Brandstiftung«, sagte er einleitend. »Als Brandbeschleuniger hatten Benzin und Heizöl gedient, das Feuer ist jedoch durch eine Explosion entstanden. Der Brandstifter hatte einen Sprengsatz verwendet, der mit einem Zeitzünder versehen war. Eine banale Konstruktion, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Sie besaß die simple Aufgabe, die Treppen in den oberen Etagen zum Einsturz zu bringen und den Brand auszulösen. Das Vorhaben ist perfekt gelungen. Ich gebe den Überresten der Hütte bis zum Zusammenbruch höchstens vierundzwanzig Stunden. Die Detonation hatte zur Folge, dass die Decke im Wohnzimmer eingestürzt ist. Die Feuerwehrleute, die zuvor ins Haus gegangen waren, um Brandherde zu löschen, hatten ein geradezu unverschämtes Glück. Jederzeit hätte ihnen die nächste Decke auf den Kopf fallen können. Mehr kann ich erst nach einer gründlicheren Untersuchung sagen, aber die wird sicher erst stattfinden, wenn das Gebäude keine Gefahr mehr darstellt. Merkwürdig finde ich die Blechwanne, die im Wohnzimmer liegt, sehr wahrscheinlich ist sie ein Utensil aus dem ersten Stock. Mehr scheint sich in den vier Wänden über dem Wohnraum nicht befunden zu haben. Alte Wannen in einer modernen Villa, verrückt, oder?«
Es waren die letzten zwei Sätze des Experten, die den Blick des Kriminalhauptkommissars auf Holler gelenkt hatten. Kaum war der Privatschnüffler in sein Blickfeld geraten, vernahm er knarrende Geräusche. Wie alle anderen Anwesenden begann er zu laufen, während die Villa zum Teil in sich zusammenbrach. Erst in den frühen Morgenstunden war Eric zu Hause. Er hatte mit dem Gang zur Kriminalpolizei Vernunft bewiesen und mit der ausgesprochenen Vermutung in Hinsicht auf das Feuer richtig gelegen. Seine Befürchtung, im Haus des Grafen in eine Falle zu tappen und überwältigt zu werden, ließ sich auch nicht mehr so leicht von der Hand weisen. Trotzdem war er nicht bereit, dem Kriminalhauptkommissar seine Gedanken und den gehegten Verdacht mitzuteilen. Dazu kannte er ihn noch zu wenig, und zu verrückt waren seine Überlegungen. Im Bett liegend, ohne Chance einschlafen zu können, überdachte er, was in der Villa in den vergangenen Stunden geschehen war. Graf Harald von Hauenstein wurde erstochen, er selbst von einem Fremden in die Irre geführt, und das nicht nur einmal. Er hatte neunzehn Tote entdeckt und war überzeugt davon, dass die Leichen vor der Explosion und dem Feuer weggebracht worden waren. Zeitlich bestand die Möglichkeit, vorausgesetzt, der Verantwortliche war nicht auf sich allein gestellt, wovon er ebenfalls fest ausging. Schon die Vorstellung, dass jemand in Eigenregie gehandelt und die Leblosen in der Villa untergebracht hatte, war absurd.
Die Frage war, welche Rolle dem ermordeten Hausbesitzer zuteilwurde: Hielt der Erstochene die Fäden in der Hand, oder besaß er die Position eines Handlangers? Beides war denkbar, völlig ausgeschlossen erschien es, dass der Adlige von den ominösen Vorgängen keine Ahnung gehabt hatte. An einer Tatsache gab es nichts zu rütteln: Die Leichen in den Wannen aus Blech waren eines natürlichen Todes gestorben. Wieso also lagen sie in der Villa des Grafen in Blechwannen, anstatt im Leichenschauhaus? Weshalb befanden sie sich nicht in einem Beerdigungsinstitut, oder bereits im Sarg und unter der Erde? Überhaupt, wer waren die Toten, und woher kamen sie? Hatte am Ende Lisa ihre Hände mit im Spiel? Unabhängig davon, welche Erklärungen Licht in die Angelegenheit bringen würden, eines wollte Eric unbedingt erfahren: wozu das Ganze?
Enthüllungen
A
m Nachmittag hatte sich ein Gedanke von Eric im Beisein von Manfred Werthofen bestätigt. Aus den Trümmern der Villa wurden zwar etliche Blechwannen geborgen, aber keine Toten. Der Kripobeamte ließ die Geschichte des Privatdetektivs Revue passieren und hätte sie ins Fabelreich geschoben, wenn nicht die Anzahl der Wannen gewesen wäre. Eine Alternative gab es nicht, gezwungenermaßen fuhr er zum Büro von Eric, traf ihn jedoch nicht an. Später im Präsidium verzichtete er darauf, die Suche nach dem angeblich ermordeten Harald und der vermeintlich verschwundenen Lisa von Hauenstein anzuordnen. Trotz der Indizien, er hatte genügend Motive, um es zu unterlassen.
Dass Eric nicht im Büro war, hatte seinen Grund. Der bestand aus der Frage, wozu das Ganze? Warum waren neunzehn Menschen, die offensichtlich eines natürlichen Todes gestorben waren, nicht dort, wo sie hingehörten? Der Privatdetektiv hatte einige Theorien aufgestellt, von denen ihm keine Einzige gefiel. Die wirren Spekulationen schienen ihm zu sehr an den Haaren herbeigezogen zu sein, erst recht, wenn er in Betracht zog, dass er sich nicht in den Vereinigten Staaten, sondern in Deutschland befand. In Amerika war trotz allem immer noch vieles möglich, in der Bundesrepublik manche seiner Thesen undenkbar. Auch im Pott? Das Ruhrgebiet hätte ein gutes Beispiel für andere Regionen auf der ganzen Welt sein können. Hier waren Leute aus ganz Europa wohnhaft geworden, ebenso Menschen, die eine Herkunft aus Ländern besaßen, die auf der Liste der terroristischen Staaten standen. Probleme hin oder her, das Zusammenleben der verschiedenen Glaubensrichtungen und Kulturen verlief nicht völlig reibungslos, doch überwiegend friedlich und oft sogar harmonisch. Aus dieser Perspektive war Nordrhein-Westfalen ein Paradebeispiel dafür, dass ein Miteinander funktionieren konnte.
Neben den technischen Vorzügen, die dem Privatschnüffler zur Verfügung standen, hatte er sich Kontakte aufgebaut, die nicht ganz koscher waren. Die Beziehungen bestanden aus Verbindungen zu Personen, die das Gesetz nicht nur einmal missachtet hatten. Mehrere der zwielichtigen Gestalten besaßen ein Vorstrafenregister, das eine Klopapierrolle locker ersetzt hätte. Bei den Informanten von Eric, drei an der Zahl, handelte es sich nicht um Schwerverbrecher, sondern um mit allen Wassern gewaschene Kleinkriminelle. Einer von ihnen hieß Ali. Er kam aus Tunesien, war durchtrieben, aber nicht gewalttätig. Die krummen Geschäfte, die von ihm betrieben wurden, standen auf einem wackligen Sockel, der auf Lügen und Täuschungen aufgebaut war. Das unsichere Gerüst seiner Betrügereien hatte unter der ihm vorgelegten Beweislast öfter nachgegeben. Vier Aufenthalte hinter schwedischen Gardinen, jeweils für mehrere Monate, blieben ihm als Konsequenz nicht erspart. Als Informant war Ali für Eric wertvoll. Der Tunesier, längst vor seinen Haftstrafen eingebürgert, sprach gut Deutsch. Die Sprachkenntnisse hatten ihm dazu verholfen, eine Art wanderndes Auskunftsbüro für Ganoven zu betreiben. Logischerweise war die Tätigkeit nicht angemeldet, schließlich wurden Informationen ausgetauscht, die der Steuerbehörde keinen Gewinn eingebracht hätten. Deswegen war Eric ab Mittag stundenlang auf der Suche nach Ali. Kein Mensch aus dem Umfeld des Kriminellen wusste, wo er war. Nebenbei hatte der Privatdetektiv Nachforschungen betrieben und Auskünfte eingeholt, die ihm dabei behilflich sein sollten, das Mysterium über die Leichen zu lösen und Lisa zu finden. Auf den Informanten stieß er durch Zufall an einem Ort, an dem sich der Tunesier zu diesem Zeitpunkt eigentlich nie blicken ließ: Er saß in einem Eiscafé fast am Ende der Fußgängerzone und hatte einen doppelten Espresso vor sich stehen. Es war ungewöhnlich, dass die Öffentlichkeit vor der Dämmerung von Ali nicht gemieden wurde. Es geschah so selten wie eine totale Sonnenfinsternis. Eric nahm an dem Tisch Platz, als ob es selbstverständlich wäre. Sich mit Ali sehen zu lassen, war für seinen Leumund nicht unbedingt von Vorteil. »Du hier, um diese Zeit? Ich habe dich gesucht.« Zur Antwort erhielt er ein gleichgültiges Lächeln, auf das der Privatdetektiv sofort mit einem lässigen Ton, aber mit ernsten Worten Bezug nahm: »Erspare mir dein dämliches Grinsen«, sagte er und erkannte die Sachlage. »Du hast gewusst, dass ich auf der Suche nach dir war, ebenso, dass ich auf dem Weg nach Hause oder ins Büro hier irgendwann vorbeikommen würde.« Ali bestätigte die Aussage mit einer sanften Kopfbewegung. »Du wärst niemals zu dieser Uhrzeit hier, wenn du nicht wüsstest, um was es geht und welche Infos ich brauche. Also?«
»Du bist noch nicht lange hier in Buer, aber so hätte ich dich nicht eingeschätzt.«
»Wie?«
Die freundliche Miene des Informanten bekam ernste Züge. »Dass du Aufträge annimmst, von denen man die Finger lassen sollte. Steckst du in Geldschwierigkeiten? Ich kann dir was leihen, wenn du mich darum bittest. Dass ich dich leiden kann, beweist meine Anwesenheit. Hast du deinen Auftraggeber, ich meine den Grafen, vorher gecheckt?«
»Soweit es zeitlich möglich war. Woher weißt du von dem Auftrag und wer ihn erteilt hat?«
»Wie ich sagte, du bist noch zu kurz hier.«
»Dafür habe ich dich«, entgegnete Eric und bestellte sich das gleiche Getränk, das sein Informant vor sich stehen hatte.
»Ich bin nicht dein Vater, der dich vor Dummheiten bewahren wird.«
»Hat mein Dad nie getan.«
»Weißt du, wer Graf Harald von Hauenstein ist?«, fragte Ali.
»War! Wer Graf von Hauenstein war. Er ist tot, erstochen.«
»Du bist dämlicher, als ich es befürchtet hatte, aber egal. Was weißt du über ihn?«
Eric Holler wäre am liebsten sofort auf die Benotung seiner Intelligenz eingegangen, aber im Moment war es ihm wichtiger, den Informanten stimmungsmäßig nicht zu vergraulen. Es war ohnehin ein Privileg, wenn auch ein fragwürdiges, dass sich Ali seinetwegen in die Fußgängerzone begeben hatte. »Er war ein erfolgreicher Pokerspieler, hat den Adelstitel gekauft, die Ruine in der Ekhofstraße für einen lächerlichen Betrag erworben und die Villa errichten lassen. Er ist mit Lisa verheiratet, die Ehe ist kinderlos. Der Auftrag bezog sich auf seine plötzlich spurlos verschwundene Frau, da er die Befürchtung hatte, dass sie fremdgeht.«
»Ist das alles, was du weißt?«
»Weitestgehend.«
»Armselig. Ich schätze, du musst in deinem Job noch sehr viel lernen. Der Auftrag des Grafen ist von einem anderen Kaliber als jene, die du bisher bekommen hast. Wahrscheinlich bist du von der üblichen Routine ausgegangen, was vieles von deiner Herangehensweise entschuldigen könnte. Nicht zu verzeihen sind die Fehler, die du begangen hast. Klar, du bist neu hier, kannst nicht alles wissen, doch eines sollte dir bewusstwerden: Du bist nicht in Prien am Chiemsee, nicht in Legoland, hier herrschen mancherorts Sitten, die an die wilden Dreißigerjahre in Chicago erinnern.«
Eric hatte aufmerksam zugehört, war cool geblieben, obwohl ihm unbehaglich zumute geworden war. Woher wusste Ali, wo seine Eltern wohnhaft waren, und wieso hatte er die Hauptstadt von Illinois erwähnt? War es seinem Informanten bekannt, dass er in den Staaten zur Welt gekommen war und dort gelebt hatte, oder war die Erwähnung der Städte nur ein riesiger Zufall? Er schob die Gedanken zur Seite, verhielt sich weiterhin normal, auch deshalb, um dem Tunesier keine Bestätigungen zu seinem Privatleben und Vergangenheit zu geben. Stattdessen fragte er: »Was für Fehler soll ich denn gemacht haben?«
»In erster Linie hast du dich von einem Möchtegernadligen verarschen lassen.«
»Inwiefern?«
Ali winkte der Bedienung, gab ein Mineralwasser in Auftrag, sah ihr nach und dann zu Eric. »Okay, hör zu: Alles, was du über Harald von Hauenstein weißt, mag stimmen, kann im Internet und sonst wo stehen, es gibt allerdings einen unwiderlegbaren Haken an der Sache: Niemand, keine Menschenseele, hat ihn je gesehen und kennengelernt.«
»Von welchen Gesellschaftsschichten redest du?«
»Von allen.«
»Behauptest du, dass der Graf nicht existiert?«
»Ich sage nur, was jeder weiß, der sich mit der High Society in unserer Stadt beschäftigt.«
»Was ist mit seiner Frau?«, fragte Eric.
»Unbekannt.«
»Wenn es sich so verhält, wie du sagst, weshalb wurde ich im Polizeipräsidium nicht darauf angesprochen?«
Ali bedankte sich für das servierte Mineralwasser, lächelte die Bedienung an, doch sein Gesicht wurde ernst, als er zu Eric sah. »Du bist noch nicht lange in Gelsenkirchen, aber so kurz auch wieder nicht, um es nicht zu ahnen.«
Eindeutig sprach der Informant von der Vetternwirtschaft, die allerorts zu Hause war. Trotzdem ergab das Gehörte in keinem Punkt einen Sinn. »Wieso sollte ein Mensch mit einer falschen Identität mich aufsuchen, damit ich seine Frau beschatte, die dann auch noch spurlos verschwindet, kaum dass der Auftrag von mir angenommen wurde? Wenn es den Grafen nie gegeben hat, wer hat das Anwesen in der Ekhofstraße gekauft und wer die Villa bauen lassen? Wer war dann der erstochene Kerl, den ich vorgefunden habe?«, fragte Eric.
»Keine Ahnung. Ich kann dir nur einen Rat geben: Sieh zu, dass du mit heiler Haut aus dieser Nummer rauskommst.«
»Mich interessiert, warum ich in diese Show hineingezogen wurde.«
»Das kann ich dir nicht sagen, muss es einen Grund geben?«, antwortete Ali mit einer Gegenfrage.
»Es gibt wenig, wofür es nicht ein Motiv gibt.«
Ali lächelte. »Aber viel, wozu keines erforderlich ist.«
Hätte Eric Holler zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass der Tunesier auch ein Informant der Polizei war, wäre er in absehbarer Zeit in der Lage gewesen, andere Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ω
M
anfred Werthofen war ein angenehmer Mensch, ein fairer Kriminalhauptkommissar, zudem ein braver Ehemann und ein fürsorglicher Vater, obwohl die Kinder längst aus dem Haus waren. Im Grunde genommen verkörperte er das Idealbild eines normalen Mannes, der seiner Arbeit nachging und sich stets um seine Familie gekümmert hatte. Doch auch er besaß ein Geheimnis, aus dem auf seiner ansonsten blütenweißen Weste ein dunkler Fleck geworden war. Wie versteinert hatte er Eric Holler zugehört, obwohl er wusste, dass die Geschichte über Harald und Lisa von Hauenstein unmöglich wahr sein konnte. Er war es, dem die Hintergründe des Ehepaares bekannt waren, immerhin hatte er ihnen eine falsche Identität besorgt. Harald hieß in Wirklichkeit Rüdiger und seine Frau nunmehr Lisa statt Elisabeth. Unabhängig von dem, was der Beamte über die zwei wusste und wie er zu ihnen stand, irgendjemand war, falls der Privatschnüffler die Wahrheit gesagt hatte, in die Rollen der beiden geschlüpft. Aber warum ausgerechnet in die der von Hauensteins, wo doch der Familienname ebenfalls der Tarnung galt. Vielleicht hatten die Gerüchte um das angeblich erfundene Ehepaar dafür gesorgt.
An Tatsachen gab es allerdings kein Vorbeikommen, und von denen wurden viele unter Verschluss gehalten. Bei Rüdiger alias Harald und die in Lisa umbenannte Elisabeth hatte es sich um reale Personen aus Fleisch und Blut gehandelt. Vor Jahren waren sie den Bund der Ehe eingegangen, und ihr gemeinsames Glück schien unzerstörbar, bis sie durch das Schicksal in böser Manier eingeholt wurden. Der Tratsch um das Paar beinhaltete unzählige Lügen, dutzende Halbwahrheiten und nur wenige Themen, die der Wahrheit entsprachen. Insbesondere Manfred Werthofen konnte ein Lied davon singen. Anlass zur Sorge gab es in Bezug auf die ehrlichen Aussagen. Niemand hätte über sie Bescheid wissen dürfen, außer dem Kriminalhauptkommissar und dem Ehepaar. Wahr war, dass Harald einen Adelstitel und das Anwesen in der Ekhofstraße erworben hatte und die Villa bauen ließ. Typisch für eine mittelgroße Stadt, die Aktivitäten des neumodernen Adligen wurden in Windeseile in sämtliche Himmelsrichtungen davongetragen. All das war passiert, bevor sich Harald und Lisa, damals noch Rüdiger und Elisabeth, kennengelernt hatten. Nach der Hochzeit bekamen sie von dem Neid, der ihnen entgegenschlug, wenig bis gar nichts mit. Zu oft waren sie in der Weltgeschichte der Pokerspieler unterwegs.
Doch eines Tages schlug das Schicksal bitterböse zu: Nach einer erneuten Rückkehr aus Las Vegas wurden sie vor ihrer Villa von einer berüchtigten Gang erwartet, die es sich während ihrer Abwesenheit rund um das Gebäude gemütlich gemacht hatte. Der Plan der Bande lief jedoch komplett aus dem Ruder. Der schüchterne und häufig an sich zweifelnde Rüdiger hatte mit einem Überfall schon viel früher gerechnet und war auf einen solchen vorbereitet. Niemand hätte es ihm zugetraut, aber die Gangster waren in eine Welt eingedrungen, die er nur mit Elisabeth zu teilen bereit war. Das Resultat des missglückten Beutezugs bestand aus zwei schwerverletzten und einem toten Ganoven. Zwei Täter konnten fliehen, aber noch am selben Abend fanden sie sich in einer Zelle wieder. Für Elisabeth und Rüdiger war es das Ende eines normalen Lebens. Zunächst stand ihnen die Zeit im Zeugenschutz bevor, danach erhielten sie neue Identitäten, mit denen sie ein ruhiges Leben in der Schweiz beginnen wollten. So lautete die offizielle Version.
Niemand wusste davon, und doch hatte jemand ihre Rollen angenommen. Das konnte kein Zufall sein, und Manfred sah es als ein böses Omen an. Keine Anrufe, Treffen und Kontakte, so lautete die Vereinbarung zwischen dem Ehepaar und ihm. Die Maßnahme hatte nichts anderes zum Zweck, als die Eheleute zu schützen. Fraglos waren die restlichen Gangmitglieder auf Rache aus, warum jetzt und nicht schon viel früher, fragte er sich im Stillen. Keinesfalls durfte seine Frau etwas von dem besorgniserregenden Ereignis erfahren, andernfalls würde sie ihn mit Vorwürfen überschütten. Vergeblich hatte sie ihn über Wochen hinweg angefleht, die Hochzeit ihrer Tochter Elisabeth mit Rüdiger, einem Pokerspieler, zu verhindern. Es war ihm trotz intensiver Gespräche nicht gelungen, wofür er lange Zeit heftig getadelt wurde. Hinterher auch für den Überfall, den Zeugenschutz und die neuen Identitäten. Erst recht dafür, dass Elisabeth nicht mehr ein fester Bestandteil ihres Familienlebens sein konnte und sie nur noch aus Erinnerungen bestand. Er hatte es versucht, ihrer Tochter die Ehe auszureden, aber gegen die Liebe war er machtlos.
Es hätte beruhigend wirken müssen, dass sich Elisabeth alias Lisa in der Schweiz befand, doch das tat es nicht. Der Gedanke, dass ein Privatdetektiv nach einer eigentlich nicht existierenden Person auf der Suche war, konnte ihm keine Ruhe geben. Andere Überlegungen, wie zum Beispiel, wer im Haus seines Schwiegersohnes womöglich erstochen worden war, nahmen stattdessen den gesamten Raum in seinem Kopf ein. Der Idee, mit Eric Holler ein Männergespräch zu führen, hatte er einen Platzverweis erteilt, zumindest für den Moment. Ein Punkt war für Manfred irritierend: der Adelstitel. Rüdiger und Elisabeth hießen vor dem Überfall Schmid. Nur der Ehemann besaß das Recht, den Titel eines Grafen zu tragen, schließlich hatte er den Adelstitel für seine Person erworben und nicht für seine Frau. Selbstredend schien es klar, dass der Titel mit der neuen Identität zu einer unsinnigen Ausgabe geworden war. Somit war ein Graf Harald von Hauenstein nicht existent, nur ein Harald Hauenstein, denn auch das »von« wurde Rüdiger durch ein gekauftes Dokument verliehen.