Zwanzig Jahre - 1933 - Roman Just - E-Book
SONDERANGEBOT

Zwanzig Jahre - 1933 E-Book

Roman Just

0,0
7,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Februar 1933: Adolf Hitler ist an der Macht, damit beginnen gravierende Veränderungen im Leben der Familie "von Dannenburg", die in Pommern nahe Greifswald lebt und ein Pferdegestüt betreibt. Otto von Dannenburg, der Patriarch der Familie sieht mit Unbehagen in die Zukunft, vor allem, da sein Bruder, Walter, überzeugter Anhänger der NSDAP ist. Große Sorgen macht sich Otto insbesondere um seinen Sohn, Peter, den er nicht an die Nationalisten verlieren will, der zudem der einzige Nachkomme der "von Dannenburgs" ist. Aber auch um seine engsten Freunde ist er besorgt, denn einige von ihnen sind jüdischen Glaubens. Es dauert nicht lange, schon werden Ottos Befürchtungen wahr, was an seinem Umfeld nicht spurlos vorbeigeht und für seine Familie mit dramatischen Ereignissen verbunden ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Einleitung

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Hinweise

Nächste Titel der Reihe

Kontakt zum Autor

Impressum

 

 

 

Zwanzig Jahre

Historischer Roman

Band 1

 

 

Über den Autor

Roman Just ist in der Welt der Literatur in verschiedenen Genres unterwegs. Mit den Thrillern der "Tatort-Boston-Reihe" hat er den Einstieg in die Literaturwelt begonnen, sie dann mit den "Gelsenkrimis" fortgesetzt. Neben den Thrillern und Krimis arbeitet er an einer mehrteiligen Dystopie und einer historischen Familiensaga, hinzu kommen Ausflüge in andere Genres.

Der Autor und bekennender Selfpublisher ist Jahrgang 1961, lebt in Gelsenkirchen, leidet mit dem vor Ort ansässigen Fußballclub zu allen Zeiten mit, spielt außerdem gerne Schach und beschäftigt sich gelegentlich mit der Astronomie.

Zur Person:

Sternzeichen: Jungfrau

Gewicht: Im Moment viel zu viel

Erlernter Beruf: Kellner

Derzeit tätig als: Autor/Selfpublisher

Charaktereigenschaften: Impulsiv/Hilfsbereit

Laster: Nie zufrieden mit einem Ergebnis

Vorteil: Meistens sehr geduldig

Er mag: Klare Aussagen

Er mag nicht: Gier und Neid

Er kann nicht: Den Mund halten

Er kann: Zuhören

Zwanzig Jahre

1933

 

Historischer Roman

von

Roman Just

 

 

 

Einleitung

D

ie Männer waren weg! Inzwischen verstand niemand, warum es so war. Der Euphorie in den ersten Kriegstagen folgte eine Ernüchterung, die den Jubel in Tränen verwandelt hatte. Ehemänner, Söhne, Brüder und Freunde kämpften für ihr Vaterland, kamen einem Gelübde nach, von dem inzwischen ein fauler Geruch ausging. Auf Bauernhöfen blieben die Felder unbestellt, in den Fabriken mussten Frauen für weniger Lohn das Doppelte leisten, damit nicht der Mensch, sondern der Krieg Nahrung bekam. Diese Gedanken gingen Otto von Dannenburg beim Anblick seines Grundstücks durch den Kopf. Einst hatte er gedacht, nie wieder würde es so kommen, noch war es nicht der Fall, aber der Satan war bereits dabei, die Pforten zu seiner Hölle zu öffnen. Otto stand auf dem höchsten Punkt seines Anwesens, der ihn auf das Flüsschen Ryck hinabblicken ließ. So weit das Auge reichte, vereinigte sich das überwiegend ebene Land in jeder Richtung mit dem Horizont. Dort, wo in seinem Rücken Himmel und Erde miteinander verschmolzen, lag Greifswald und sein Gestüt. In der Richtung, die sich vor ihm auftat, lag die Ostsee, dahinter eine Kälte, die niemand spüren wollte, die dennoch über das Land hereinzog. Keine Menschenseele schien noch bei Verstand zu sein, ähnlich, fast genauso, hatte es unter der Bevölkerung in den ersten Monaten 1914 begonnen. Damals reichte in Sarajewo ein Schuss, um einen globalen Krieg auszulösen, vor dem es nirgendwo ein Entrinnen gab. Wie viel Patronen würden diesmal genügen, um ein Inferno zu entfachen?

Otto von Dannenburg wurde wegen der düsteren Prognosen, die er von sich gab, im Familien- und Freundeskreis belächelt. Seine Prophezeiung, der neue Reichskanzler würde das "Deutsche Reich" in den Abgrund führen, hielten seine engsten Freunde, vor allem jedoch sein Bruder, Walter, für Humbug. Der Pferde- und Gestütbesitzer ließ sich trotz oder aufgrund der vernommenen Gegenargumente nicht vom Gegenteil überzeugen. Das von ihm vorhergesagte Ende der "Weimarer Republik" war eingetreten, ebenso die seinerseits befürchtete Ernennung "Adolf Hitlers" zum Reichskanzler. Es waren diese Ereignisse, die ihn dazu veranlasst hatten, einen Spaziergang zu unternehmen. Er wollte allein sein, über die Zukunft nachdenken. Die Triebfeder seiner Überlegungen war seine Familie. Wie konnte er sie vor dem Übel schützen, welches auf sie zukam. Auf dem Hügel stehend, sein stattliches, mühsam errichtetes Anwesen betrachtend, fiel es Otto zunächst schwer nach vorne zu blicken, stattdessen holten ihn längst vergangene Tage ein. Bei ihnen handelte es sich um eine Epoche, die schlimmer und grausamer nicht sein konnte. Es deutete sich an, dass diese schreckliche Zeit eine Wiederauferstehung erleben würde, nicht heute oder morgen, aber bald. Die Erinnerung an damals, die Gegenwart, der verdrängte Blick nach vorne, in eine ungewisse Zukunft, es waren diese Gedanken, die den Pferdezüchter zurückblicken ließen. Das Damals beinhaltete zudem ein Wunder, dem Otto sein Leben zu verdanken hatte. Nur deshalb war es ihm möglich auf der höchsten Erhebung seines Anwesens stehen zu können.

1918

F

rauen mussten schuften, sie taten es, nicht wegen dem Eid und aus Patriotismus, sondern aus Liebe, nicht zum Vaterland, sondern zum Vater ihrer Kinder. Einst war der Wunsch vorhanden gewesen, wenn nicht ein glückliches, dann zumindest ein zufriedenes Leben führen zu können. Inzwischen war das eine mit dem anderen nicht mehr vergleichbar. Der Liebste lag irgendwo in einem Drecksloch an der Front, seine Kinder und Gattin wussten nicht, wie das tägliche Leben gestaltet werden sollte. Hunger hielt Einzug. Verdienstmöglichkeiten gab es kaum, aber wie immer: Jene, die den Ernährer einer Familie durch ein Schriftstück dazu zwangen, die Liebsten zu verlassen, ihn aufforderten, auf wildfremde Leute zu schießen, die lebten sorgenlos in Saus und Braus. Sie tranken Champagner aus glitzernden Gläsern, bewunderten Darsteller auf Revuebühnen, die einen Charakter darstellten, mit dem sie sich identifizieren konnten. Die Welt war eine Theaterbühne, ein wandernder Zirkus, ohne Clowns. Statt Gelächter gab es Tränen, was als Spaß erschien, wurde bitterer Ernst.

Während da und dort mit Sekt angestoßen und Kaviar gegessen wurde, brachen die Sklaven an der Front wie lästige Insekten zusammen. Getroffen von einer Kugel, zerfetzt von einer Granate, durchstochen von einem Bajonett, elendig erstickt wegen dem Einsatz von giftigen Chemikalien. Ganz oben und weit weg vom Kriegsgeschehen wurde weiter gefeiert, bis zum Ende, bis zum Schluss, bis zur Niederlage und Kapitulation.

Vorher waren Feste gefeiert worden, auf den Sieg, auf die tapferen Toten. Untergebenen zu befehlen, sich an einen Kampfort begeben zu müssen, war einfach. Sich selbst dorthin zu begeben, dazu hatten die wenigsten Kriegstreiber den Mut. Ausnahmen hatten die Regel ab und zu bestätigt, doch eines immer erwiesen: Kaum begab sich eine Obrigkeit zum Schlachtfeld, verlor sie jeglichen Glauben an Ehre, Gloria und Ruhm. Aus dieser Geschichte hätte man Schlüsse ziehen können, aber der Mensch war unfähig zu lernen.

Otto von Dannenburg lag in einem der Schützengräben, wurde vom Tod umgeben, ebenso von Angst und Mut. So wie er kämpften die Männer um ihn herum nicht mehr für das Vaterland, sondern nur noch ums nackte Überleben. Erst vor wenigen Minuten war ein neben ihm liegender Metzger aus einem Dorf bei Fulda durchgedreht, bat ihn um einen Gefallen, bevor er sich dazu entschlossen hatte, dem Gemetzel zu entfliehen. Ruckartig sprang er aus dem Schützengraben, lief mit dem auf seinem Sturmgewehr aufgepflanzten Bajonett dem Feind entgegen. Ihn zurückhalten konnte niemand, zu entschlossen und zu schnell war er vorgegangen. Als er die erste Stacheldrahtbarriere überwunden hatte, begannen ihn die Männer aus der eigenen Kompanie anzufeuern, verstummten schlagartig, nachdem er vor der zweiten Barriere aus Holzpfeilern und Stacheldraht von einer Gewehrsalve durchsiebt wurde. Sein vielleicht schon lebloser Körper fiel auf eine Mine, zerfetzte ihn vollends. Mit Tränen in den Augen wandte sich Otto von dem Szenario ab, sah auf den Gegenstand, der ihm kurz zuvor durch den kriegsmüden Metzger lächelnd zugesteckt worden war. Bei ihm handelte es sich um eine kleine Schatulle, in der sich ein Zettel mit einer Adresse, ein Ehering und ein zusammengeknüllter Brief befanden. Die Worte des Toten hallten in Ottos Ohren nach, während ihre Stellung zum wiederholten mal von Kanonen und Mörsern unter Beschuss geriet. »Bring die Sachen bitte meiner Frau, sag ihr, es tut mir leid, aber ich kann und will nicht mehr«, hatte der Metzger von sich gegeben, gleich danach schwang er sich aus dem Graben und rannte in sein Verderben. Zur gleichen Stunde unterzeichnete eine Waffenstillstandskommission in der Nähe von Compiègne, nördlich von Paris gelegen, einen Waffenstillstand. Otto von Dannenburg konnte zu dieser Stunde nicht ahnen, dass die Bitte des Metzgers sein Dasein und das Leben seiner Familie komplett verändern würde.

Plötzlich war alles vorbei. Der Bomben- und Granatenhagel endete, eine seltsame Ruhe entstand, bis auf einmal in den Schützengräben des Feindes Jubel ausbrach. Am frühen Nachmittag des 11. Novembers 1918 war der Erste Weltkrieg endlich auch an der Front zu Ende. Der unter der Leitung von Matthias Erzberger geschlossene Waffenstillstand kam einer Kapitulation des "Deutschen Reiches" gleich, doch das war den Männern an den Kriegsschauplätzen egal, es zählte das Überleben, der Frieden, es überwog die Sehnsucht nach Heim, Familie, Frau und Kind.

F

ür Otto von Dannenburg hielt das Kriegsende ein Drama bereit, auf welches er gern verzichtet hätte, durch das er jedoch den Status erreichen konnte, den er in der Gegenwart besaß. Erst einen Monat nach dem Waffenstillstand konnte er das Militär verlassen und in sein Privatleben zurückkehren. Praktisch ohne nichts machte er sich auf den Weg in die Nähe von Fulda, um der Witwe des Metzgers den Nachlass ihres Mannes zu übergeben. Er erreiche den Ort einige Tage vor Weihnachten, hatte viele Kilometer mit dem Zug und zu Fuß zurückgelegt. Während der Reise war ihm der chaotische Zustand in der Heimat nicht entgangen, trotz der miserablen Versorgungslage schien die Enttäuschung über den Kriegsverlauf zu überwiegen. Besonders laut ereiferten sich solche Leute, die niemals eine Nacht in einem Schützengraben verbracht hatten.

Er kam in Neuhof mitten in der Nacht an. Die Fenster waren dunkel, die Straße menschenleer, außerdem war es bitterkalt. Orientierungslos schlenderte Otto dahin, hoffte, eine Scheune zu finden, in der er übernachten könnte. Er hatte fast den Ortsausgang erreicht, ließ eine Kurve hinter sich, bemerkte im letzten Haus einen Lichtschein. Die Freude und Erleichterung über seine Entdeckung verwandelten sich im Nu in Entsetzen. Im Erdgeschoß des Gebäudes brannte es. Flammen schossen bereits durch die Fensterrahmen, dichter Rauch quoll aus den Ritzen. Otto wusste, dass er schnell handeln musste. Er rannte zur Haustür, klopfte heftig, rief dabei laut, um die Bewohner zu warnen. Doch niemand antwortete. Stattdessen gingen in seinem Rücken in einigen Fenstern Lichter an.

Otto zögerte nicht länger und trat die Tür ein. Im Inneren schlug ihm eine Welle heißen Rauchs wie ein Saharawind entgegen, er musste sich ducken, um weiter atmen zu können. »Hallo? Ist hier jemand?« rief er, während er sich durch den dichten Qualm tastete. Aus einem der hinteren Räume hörte er schwache Rufe. Ohne zu zögern, folgte er den Geräuschen und fand schließlich eine ältere Frau, die auf dem Boden lag, röchelnd und verzweifelt nach Luft schnappte. Er nahm sie in seine Arme und schleppte sie zur Tür. Draußen angekommen, lehnte er sie sanft an die Haustür gegenüber, eilte zurück, um sicherzugehen, dass niemand sonst in Gefahr war. Nachdem er die restlichen Räume in der oberen Etage durchsucht und keine weiteren Personen gefunden hatte, wollte er sich zurück zu der Frau begeben, doch die Holztreppe nach unten brannte inzwischen lichterloh.

Der Rauch stieg in dichten Schwaden auf und erschwerte ihm das Atmen. Panik drohte ihn zu überwältigen, doch er zwang sich zur Ruhe. Es musste einen anderen Weg nach unten geben. Schnell durchlief er in Gedanken die vorher durchgesehenen Zimmer, erinnerte sich an einen Raum, der eine zusätzliche Tür besaß. Kurz danach stand er auf einem Balkon, der ihm vorher nicht aufgefallen war, obwohl er sich über dem Vordach der Haustür befand. Gegenüber kümmerten sich mittlerweile Nachbarn um die gerettete Frau, die ihm ihr Leben zu verdanken hatte. Otto nahm all seinen Mut zusammen, kroch über die Brüstung, spürte die Hitze der Flammen unterhalb seines Standorts intensiver. Er stieß sich ab, landete auf den knirschenden Ziegeln des Vordachs. Kaum aufgekommen, hatte er vor, das Dach als Trampolin zu benutzen, um aus einer geringeren Höhe auf die Straße zu springen. Aber anstatt sich erneut abstoßen zu können, brach das Dach unter der Wucht seiner Landung zusammen. Während sich der Vorbau nach vorne neigte, bahnte sich eine Tragödie an: Otto drohte aufgrund des einstürzenden Vordachs durch ein Fenster in die Flammenhölle zu fallen. Ein instinktiver Reflex verhinderte es, indem es ihm trotz unkontrollierter Rückenlage gelang, die Hauswand zu berühren. Der kurzzeitige Kontakt reichte aus, um ihn mit Körper und Hinterkopf hart auf dem Steinpflaster des Gehsteigs aufprallen zu lassen.

Halb benommen spürte er nach ihm greifende Hände, wie er aus der Gefahrenzone geschleift wurde. Zurück blieb eine dicke Beule, dazu kamen einige blaue Flecken und ein paar Schürfwunden, aber keine bleibenden Schäden. Am nächsten Morgen wurde Otto wie ein Held gefeiert, nachdem er mit der Witwe des Metzgers gesprochen hatte, mit einer unerwarteten Belohnung verabschiedet. Obwohl die Ortschaft selbst unter Engpässen litt, erhielt er vom Sohn der geretteten Frau zwei Pferde geschenkt, eine braune Stute und einen pechschwarzen Hengst. Nie zuvor war Otto auf einem Pferd gesessen, doch abwechselnd ritt er auf den Tieren bis nach Hause. Die Schwielen an seinem Hintern ließen sich leichter ertragen als die Blasen an den Füßen, die er sich ansonsten zugezogen hätte. Von Neuhof in Hessen bis vor die Tore Greifswalds in Pommern war es eine lange und beschwerliche Reise. Die Landschaft zog in vielfältigen Farben und Formen an ihm vorbei, von dichten Wäldern über weite Felder bis hin zu sanften Hügeln. Unterwegs begegnete er freundlichen Bauern, die ihm Brot und Wasser gaben, auch für die Tiere etwas fressbares übrighatten. Sein Ritt dauerte Tage, schien nicht enden zu wollen, enthielt zahlreiche Begegnungen mit Trauernden und Hungernden.

Als er schließlich die Außenbezirke Greifswalds erreichte, es nicht mehr weit zum Hof seiner Eltern war, hatte Otto von Dannenburg einen Plan geschmiedet. Mit den geschenkten Pferden hatte er vor, ein Gestüt aufzubauen, nicht nur irgendeines, sondern ein weltbekanntes. Er träumte davon, edle Rassen zu züchten und den Kindern in der Umgebung Reitstunden anzubieten. Die Vorstellung von der Teilnahme an Reitturnieren und Pferderennen erfüllte ihn mit Glück. Der Gedanke, dass der Familienhof ein Treffpunkt für Pferdeliebhaber aus der ganzen Welt werden könnte, weckte seinen Ehrgeiz zusätzlich. Doch bevor er seine Pläne in die Tat umsetzen konnte, musste er seine Eltern von der Idee überzeugen. Noch wusste Otto nicht, was ihn erwartete, welche Änderungen sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatten. Zwei Jahre war er nicht zu Hause gewesen.

Die Wintersonne begann gerade unterzugehen, als er die vertrauten Eichen am Wegrand erblickte. Ein warmes Gefühl der Heimkehr durchströmte ihn, er spürte, dass dies der Beginn eines neuen Kapitels im Leben seiner Familie sein würde. Am 30. Dezember 1918 wurde Otto von Dannenburg überglücklich von seiner Familie empfangen, aber die Freudentränen beinhalteten auch schmerzvolle Gewissheiten.

1919 – 1932

B

is zum Ende des Ersten Weltkriegs war das Gehöft der von Dannenburgs ein landwirtschaftlicher Betrieb gewesen, auf dem Obst, Getreide und Gemüse angebaut wurden. Eier von einigen Dutzend Hühnern und frische Milch von zehn Kühen vervollständigten das Angebot, welches die Familie seit Generationen auf den Märkten in den umliegenden Ortschaften veräußerte. Mit Entgegenkommen in schweren Zeiten hatten sich die von Dannenburg im weiten Umland eine große Beliebtheit erarbeitet, insbesondere während des Ersten Weltkriegs und zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise.

Hermine von Dannenburg, die Mutter von Otto, war keine Frau vom Land und dementsprechend schwer fiel ihr die Arbeit auf dem Hof. Sie war 1868 in Stettin geboren worden und das Leben warf ihr ständig Steine in den Weg. Bereits in jungen Jahren verlor sie ihre Mutter und war somit der Willkür ihres Vaters ausgesetzt. Mit siebzehn lernte sie ihren künftigen Mann Hermann kennen. Niemand hätte in späteren Jahren geglaubt, dass diese Begegnung durch keine Liebe auf den ersten Blick entstanden war. Kurz vor ihrer Vermählung im Jahr 1889 verstarb der Vater von Hermine. Trotz der Leidenszeit, unter den strengen väterlichen Fittichen trauerte sie sehr um ihren letzten Angehörigen. Der Verlust äußerte sich einige Monate danach, denn Hermine erlitt eine Fehlgeburt. Dementsprechend besorgt und unruhig wurde sie, als sich mit Otto erneut Nachwuchs ankündigte. Doch diesmal ging alles gut.

Otto war zu jung, erst zwei Jahre alt, als seine Schwester starb. Mit sechs Monaten hörte sie plötzlich zu atmen auf und regte sich nicht mehr. Mit dem Daumen im Mund war sie für immer eingeschlafen, niemand wusste, weshalb. Nach diesem traumatischen Vorfall begann das Leben auf Hermine scheinbar Rücksicht zu nehmen. 1896, fünf Jahre nach Ottos Geburt, gebar sie Walter. Alles lief nach Plan, alles war in Ordnung. Doch dann, nach einigen unbeschwerten Jahren, es war der 28. Juni 1914, wurden der Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreichs-Ungarns, und seine Gemahlin Sophie, Herzogin von Hohenbogen, in Sarajevo bei einem Attentat ermordet. Hermann von Dannenburg prophezeite seiner Frau wegen der Tat einen weltweiten Flächenbrand, von dem auch sie nicht verschont bleiben würden, so geschah es auch. Obwohl bereits neunundvierzig Jahre alt, wurde Hermann von Dannenburg bereits bei der ersten Mobilmachung am 2. August 1914 eingezogen. Auf seine Erfahrungen als Offizier des Heeres im deutschen Kaiserreich konnte die Armeeführung nicht verzichten und er wurde einem Gardekorps unter der Führung von General von Plettenberg zugeteilt. Mit der Abreise ihres Gatten begann für Hermine ein anderes Leben, sowohl auf dem Anwesen als auch in ihrer Seele. Zwar hatte sie einen Verwalter und den inzwischen dreiundzwanzigjährigen Otto an ihrer Seite, doch mit den ersten eingehenden Berichten über Kampfhandlungen wurde ihr bewusst, dass der Krieg auch vor ihrem Sohn und dem treuen Angestellten keinen Halt machen würde. Die Nächte wurden irrsinnig lang, die Ängste um den Gemahl waren unerträglich. Hermine versuchte ihre Sorgen vor ihren Söhnen zu verstecken, vor allem vor dem achtzehnjährigen Walter, dem sie eine schöne und sorglose Kindheit bereiten wollte, doch in den Morgenstunden des 21. August 1914 brach sie in der Küche plötzlich zusammen. Der Hausarzt diagnostizierte einen Schlaganfall, war auch am nächsten Tag zugegen, als eine Abordnung von zwei Offizieren Hermine die Todesnachricht von Hermann überbrachte. Sie hatte damals Glück im Unglück gehabt, erholte sich schnell und Nachwirkungen blieben ihr glücklicherweise erspart. Was blieb, waren die Trauer um den Mann und der Krieg, was kam, waren andere Sorgen und neue Ängste. Bereits im Oktober wurde der Verwalter des Hofes eingezogen und im Dezember gab es trotz aller Einwände und Gesuche wegen der Fortführung des landwirtschaftlichen Betriebes kein Entrinnen vor der Pflicht für das Vaterland für ihren älteren Sohn.

Otto von Dannenburg hatte kurz zuvor geheiratet, er war wie einst auch heute noch in Hildegard verliebt, aber ihre Beziehung war damals frisch, unerprobt und unbelastet. Die Einberufung drohte alles zu vernichten und an ein schnelles Ende des Krieges, glaubten nur noch die größten Optimisten. Sehr wenig Erfolge hatte das deutsche Heer nach schweren Kämpfen vorzuweisen, für nichts zu viele Opfer zu beklagen. Die Zuversicht über einen erfolgreichen Kriegsverlauf war nach wie vor allerorts zu spüren, aber fast überall herrschte Einigkeit darüber, dass der Krieg binnen weniger Monate unmöglich zu gewinnen war. Für Otto begann ein anderer Kampf. Er durchlebte einen Gefühlskrieg, der ihn vehement rund um die Uhr belastete.

Der Hof, die Mutter, der Bruder, Hildegard, die Angestellten und Tagelöhner sowie die Verantwortung für alles und jeden standen auf der einen Seite. Ihnen gegenüber hatten sich die Vaterlandsliebe, der Patriotismus und das Pflichtgefühl aufgestellt. Dazwischen hatten das Verlangen nach Frieden und die Wut über den Tod des Vaters Platz genommen. Hin- und hergerissen, der Ratlosigkeit deutlich näher als einem Entschluss, wurde Otto von Hildegard aus seiner Verzweiflung erlöst. Nicht er ihr, sondern sie, machte ihm einen Heiratsantrag. Noch bevor er sich auf den Weg zur Grundausbildung begab, waren sie ein Ehepaar. In irgendeiner Dezembernacht vor seiner Abreise wurde Peter gezeugt und er war ihr einziges Kind geblieben. Wenn Otto daran dachte, bekam er stets feuchte Augen. Als er Hildegard, seine Mutter und seinen Bruder und das Anwesen verließ, wusste niemand in der Familie, dass sich seine Frau bereits in anderen Umständen befand. Außerdem war es nicht absehbar, dass er seine Heimat und seine Angehörigen bis zum Kriegsende nur noch einmal wiedersehen sollte. Otto war ein feinfühliger Mensch, deswegen jedoch nicht zart besaitet. Er hatte im Krieg schreckliche Dinge gesehen und erlebt, doch er kam seelisch damit klar. Es war eben Krieg gewesen und er war nicht naiv in die Schlacht gezogen, sondern ahnte, was ihm bevorstehen könnte. Seine bösen Erwartungen wurden in furchtbarer Weise übertroffen, aber sie hatten nicht die Kraft, ihn als Mensch, Mann und Vater zu zerbrechen. Die Erlebnisse im Krieg hatten ihn reifer werden lassen und zugleich sensibilisiert. War er davor ein gefühlsbetonter Mann, hatten ihn die Schlachtfelder und Stellungskämpfe härter, robuster und klüger werden lassen, ohne dass sein sanftes Gemüt darunter litt. Es war in gewisser Weise unübersehbar, dass die Gefechte nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Das Haar war grau geworden, in manchen Momenten wurden die Augen trüber als die Stimmung und der Schlaf wurde oft von Menschen begleitet, die längst nicht mehr am Leben waren. Viele von ihnen lagen immer noch dort, wo sie getötet wurden, und kein Mensch wusste, was mit ihren Gebeinen geschehen war. Mit den Jahren hatte der Pferdezüchter einige Kilogramm zugelegt, aber Hildegard liebte seinen kleinen Bauch und das geringe Übergewicht stand Otto gut. Er war 1,88 Meter groß, wog 107 Kilo und besaß ein Wesen, das einem verständnisvollen und liebenswerten Großvater hätte gehören können. Es waren jedoch nicht allein die Torturen des Krieges, die Otto geprägt hatten. Die Feststellung, Vater geworden zu sein und die ersten drei Lebensjahre seines Sohnes nicht miterlebt zu haben, gehörte auch dazu. Ebenso die Erkenntnis, dass Peter am gleichen Tag und nur ein Jahr später geboren wurde, an dem Ottos Vater in Frankreich an der Front gefallen war. Hinzu kamen die Ereignisse, die sich in der Zwischenzeit ereignet hatten. Eines der schlimmsten war der Reitunfall seiner Mutter gewesen, die seitdem deswegen im Rollstuhl saß. Auch das warf sich Otto insgeheim häufig vor, denn ohne Pferde auf dem Anwesen wäre seiner Mutter das Unglück nie geschehen. Das Lieblingstier von Hermine hatte während eines Ausritts aus unerklärlichen Gründen gescheut und sie aus dem Sattel geworfen. Sie fiel mit dem Rücken auf einen entwurzelten Baumstamm und war von da an querschnittgelähmt. Nie hatte sie sich deswegen bei Otto beklagt oder ihm eine Schuld zugewiesen, aber ihr Sohn, das wusste sie, litt unter dem Unglück und bedauerte ihren Zustand aufrichtig. Die Pferde, die Sanierung und die Umbaumaßnahmen des Anwesens, der Bau von Ställen und anderen Gebäuden waren erheblich daran beteiligt, weshalb Otto seinen jüngeren Bruder oft vernachlässigt hatte. Aus dem Hof war mit den Jahren ein prächtiges Gestüt geworden, dass sogar über eine Rennbahn und einen Reitparkour verfügte. Ein kleiner Teil des Anwesens blieb der Landwirtschaft vorbehalten, überwiegend zur Selbstversorgung. Es war eine lange Periode, und bevor sich Otto versah, war aus dem kleinen Bruder ein erwachsener Mann geworden. In all den Wochen und Monaten wusste Otto wenig davon, wo und mit wem sich Walter herumtrieb. Das sah er inzwischen als einen großen Fehler seinerseits an.

Während er dafür gesorgt hatte, dass der Familienbesitz umgestaltet wurde, hatten andere dafür gesorgt, dass aus seinem Bruder ein nationalsozialistisch denkender Mensch geworden war. Otto von Dannenburg hatte die Veränderung an Walter zunächst nicht wahrgenommen, später keineswegs als besorgniserregend betrachtet. Mit dem Jahr 1930 begann sich das Verhältnis zu seinem Bruder dramatisch zu verschlechtern, erst schleppend, dann rasant. Seit geraumer Zeit stand ihre Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus wie eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen. Dazu trugen Leute bei, die in Otto einen Ansprechpartner in Bezug auf Walter sahen. Es verging keine Woche, in der nicht irgendwelche Nachbarn bei dem Gutsbesitzer vorsprachen. Meistens beschwerten sie sich über Walter und baten ihn darum, ein gutes Wort für sie bei seinem Bruder einzulegen. Noch war es nicht oft geschehen, aber es häufte sich, dass Menschen auf dem Gut erschienen und Otto um Schutz vor seinem Bruder anflehten. Dem Pferdezüchter fiel es schwer zu glauben, dass Walter den letzten Rest an Anstand verloren hatte.

Seit dem Ersten Weltkrieg war viel geschehen, einige Ereignisse gingen spurlos vorbei, andere hinterließen brutale Konsequenzen. Die Welt hatte sich gewaltig verändert, und mit ihr die Menschen. Zerstörte Städte wurden wiederaufgebaut, während die Erinnerungen an die Vergangenheit in den Schatten der neuen Gebäude weiterlebten. Technik und Wissenschaft machten gewaltige Fortschritte, die das tägliche Leben erleichterten, aber auch neue Herausforderungen mit sich brachten. Die Gesellschaft suchte nach Stabilität und Frieden, doch die durch den Krieg verursachten Narben blieben Familien, die ihre Lieben verloren hatten, trugen den Schmerz in ihren Herzen, die Veteranen kämpften mit den unsichtbaren Wunden der sinnlosen Schlachten. Kulturen und Nationen mussten lernen, miteinander zu koexistieren und Vertrauen neu zu definieren. Entgegen den Widrigkeiten keimte bald neue Hoffnung. Menschen begannen, sich wieder zu verbinden, neue Freundschaften zu schließen und Gemeinschaften aufzubauen. Kunst, Musik und Literatur erlebten eine Renaissance, die Kreativität der Menschheit begann zu blühen und fand Wege, den Schmerz in Schönheit zu verwandeln. Im Gegensatz zu anderen Höfen und Unternehmen hatten die von Dannenburgs und ihr Gestüt die Weltwirtschaftskrise einigermaßen heil überstanden.

Die Pferdezucht florierte weiterhin, wenn auch deutlich bescheidener, das Anwesen blieb für seine Nachbarn ein Ort der Hilfsbereitschaft. Die prächtigen Ställe, umgeben von saftig grünen Weiden, waren stets gut gepflegt, die eleganten Pferde galoppierten frei unter dem weiten Himmel Pommerns. Otto führte das Gestüt mit einer Mischung aus harter Arbeit und tiefer Leidenschaft für die Pferde. Seine Frau, Hildegard, war nicht weniger beeindruckend. Mit ihrer sanften Art und ihrem scharfen Verstand unterstützte sie ihn in allen Belangen des täglichen Betriebs. Das Leben auf dem Gestüt war nicht ohne Herausforderungen, doch die Familie von Dannenburg meisterte sie mit einer Mischung aus Zusammenhalt, Hingabe und Entschlossenheit. Ihr Tun war von einer Beständigkeit und Geduld geprägt, dass als bewundernswert bezeichnet werden konnte. Es geschah in einer Welt, die sich ständig veränderte, wie so oft, nicht zu ihrem Vorteil.

Für Otto von Dannenburg stand fest, dass sich sein Land auf einen Abgrund zubewegte, der nicht tiefer sein konnte. Zum Jahreswechsel 1932/1933 schien die Welt trotz allen Miseren einigermaßen in Ordnung, doch für den Gutsbesitzer war es ein Schein, der trog und blendete. Schlummernd, aber immer lauter schnarchend, begann sich ein Fanatismus aufzubauen, der die Macht besaß, die Menschen zu manipulieren. Bei manchen Charakteren war eine Täuschung gar nicht notwendig, die sich anbahnende neue Ordnung im Deutschen Reich sollte es ihnen bald ermöglichen, ihre Abartigkeit im vollen Umfang ausleben zu dürfen. Zu ihnen gehörte Ottos Bruder, Walter von Dannenburg.

Während den nachdenklichen Stunden auf dem Hügel erinnerte sich der Gutsbesitzer hin und wieder an Auszüge seines Werdegangs, an Ereignisse, die sein Leben und das seiner Familie entscheidend geprägt hatten. Vorrangig betraf es die Fertigstellung des Gestüts im Jahr 1922. Er erinnerte sich an die harten, aber erfüllenden Tage der Bauarbeiten, als er zusammen mit seinen Arbeitern Hand in Hand arbeitete, um diesen Traum zu verwirklichen. Der Duft von frischem Holz und das ständige Hämmern und Sägen lagen ihm immer noch im Ohr. Auch die ersten Pferde, die auf den saftigen Weiden grasten, und das freudige Wiehern, das durch die Luft hallte, blieben unvergesslich. Doch auch schwere Momente kamen ihm in den Sinn. Er dachte auch an die schwierigen Zeiten, als Wirtschaftskrisen und Naturkatastrophen ihre Spuren hinterließen. Wie oft hatte er gezweifelt, ob er es schaffen würde, das Erbe seiner Vorfahren in einem anderen Metier zu bewahren und weiterzuführen. Aber mit unermüdlichem Einsatz und dem unerschütterlichen Glauben an seine Vision gelang es ihm, das Gestüt über Wasser zu halten, es zu einem der angesehensten im Deutschen Reich zu machen. Auch Erinnerungen an diverse Familienfeste, ließen sein Herz warm werden. Lachen, Musik und fröhliche Gesichter, das waren die Momente, die ihm in harten Zeiten die Kraft gaben, niemals aufzugeben.

Zu den Höhepunkten der Vergangenheit zählte die Teilnahme an dem erstmals in Aachen durchgeführten Pferdereitturnier Chio. 1924 hatte er einen Reiter angemeldet. Dieser mutige Schritt war der Beginn einer langen Tradition, die das Turnier zu einem der renommiertesten seiner Art weltweit machte. Die Zuschauer, fasziniert von der Eleganz und Geschicklichkeit der Reiter und ihrer Pferde, strömten in Scharen herbei, um das Spektakel zu erleben. Jahr für Jahr wuchs die Veranstaltung und zog Teilnehmer aus aller Welt an, die sich im sportlichen Wettkampf messen wollten. Die Atmosphäre war stets elektrisierend, erfüllt von der Spannung der Wettbewerbe und der Begeisterung des Publikums. Die Reiter, in ihren prächtigen Uniformen, präsentierten nicht nur ihr Können, sondern auch die tiefe Verbindung zwischen Mensch und Tier. Es war ein Fest der Harmonie, der Anmut und der sportlichen Höchstleistungen. Nicht nur die sportlichen Aspekte machten das Turnier so besonders. Es war auch ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sich die Elite traf, Freundschaften geschlossen und Geschichten ausgetauscht wurden.

Im Jahr darauf hatte Otto von Dannenburg bei dieser Veranstaltung einen seiner besten Freunde kennengelernt. John James McKenzie war Amerikaner, besaß eine Ranch in Massachusetts, von ihm bekam er wertvolle Tipps, die Otto dazu verhalfen, sein Gestüt zu einem der gefragtesten in Europa zu machen. Die Freundschaft zwischen Otto von Dannenburg und John wuchs über die Jahre hinweg. Sie tauschten nicht nur berufliche Ratschläge aus, sondern auch persönliche Geschichten und gemeinsame Träume. Die Verbindung zwischen den beiden Männern war so stark, dass sie sich regelmäßig besuchten, trotz der großen Entfernung zwischen Europa und Amerika. Otto schätzte Johns pragmatische Sichtweise und seine Fähigkeit, innovative Ideen in die Tat umzusetzen. John hingegen bewunderte Ottos Leidenschaft und sein unermüdliches Streben nach Perfektion. Gemeinsam entwickelten sie neue Trainingsmethoden und optimierten die Zuchtprogramme ihrer Pferde, was ihnen nicht nur beruflichen Erfolg, sondern auch persönliche Erfüllung brachte. Endgültig wurde das Freundschaftsband 1926 besiegelt. Auf Einladung Johns waren Otto und Hildegard zur Weltausstellung nach Philadelphia gereist. Während ihres Aufenthalts erkundeten sie die beeindruckenden Pavillons und Ausstellungen, die die neuesten Errungenschaften in Wissenschaft, Kunst und Technik präsentierten. Die Vielfalt und Innovationen, die sie dort erlebten, hinterließen einen bleibenden Eindruck. Sie stärkten ihre Überzeugung, dass internationaler Austausch und Zusammenarbeit von unschätzbarem Wert war.

Eines Abends, während sie in einem gemütlichen Café am Rittenhouse Square saßen, erzählten sie von ihren Visionen und Hoffnungen für die Zukunft. Otto sprach begeistert über seine Pläne, eine Gemeinschaft zu gründen, die auf gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit basieren sollte. Hildegard teilte ihre Träume von einer Welt, in der kulturelle Unterschiede, der Glaube und die Herkunft nichts zu suchen hatten, stattdessen sah sie darin eine Quelle für Inspirationen. Otto hatte die Worte seines Freundes, der seiner Frau aufmerksam zugehört hatte, bis in die Gegenwart nicht vergessen. »Es ist genau diese Art von Denken, die unsere Welt verändern kann. Lasst uns daran arbeiten, dass diese Vision Wirklichkeit wird«, sprach John damals lächelnd aus. Die gemeinsamen Träume schienen gegenwärtig ferner, geradezu unerreichbarer denn je zu sein.

Januar

D

er Jahreswechsel war auf dem Gut der von Dannenburgs im kleinen Kreis gefeiert worden. Der Hausherr und seine Frau, Oma Hermine und ihr Enkel, Peter, waren die Gastgeber der geladenen Freunde. Zur Erleichterung Ottos hatte sein Bruder dem Zusammensein im engsten Familien- und Freundeskreis eine Einladung aus Berlin vorgezogen. Ihre letzte Begegnung lag einige Tage zurück, endete wegen unterschiedlicher Ansichten in einem Streit. Der Silvester wäre zwar ein geeigneter Tag gewesen um sich zu versöhnen, doch der Graben zwischen den Geschwistern wurde bei jedem Treffen nicht nur tiefer, sondern auch immer breiter.

Walters Abwesenheit garantierte einen reibungslosen und harmonischen Ablauf der Silvesternacht, was auch an der Gästeliste lag. Zugegen waren die Familien Rothenbaum mit ihrem längst volljährigen und verheirateten Nachwuchs, sowohl Sohn als auch Tochter hatten ihre Lebensgefährten und Kinder mitgebracht. Hinzu kam Familie Speck, letztere allerdings ohne ihre in der Welt verstreuten Nachkommen. Mit dem Ehepaar Speck hätte Walter keine Probleme gehabt, sie gehörten zu den Leuten, die noch seine bereits verstorbenen Großeltern gekannt hatten, befanden sich im entsprechenden Alter. Anders sah es bei den Rothenbaums aus, obwohl auch sie seit Jahrzehnten zu den engsten Freunden seiner Familie zählten. Mit ihren Kindern war Walter mehr oder weniger aufgewachsen. Während der Zeiten im Sandkasten, in der Schule, in ihrer gesamten Kindheit und Jugend, waren die Drei nahezu unzertrennlich. Sie spielten und lernten zusammen, ritten gemeinsam aus, sogar gemeinsame Familienausflüge an die Ostsee fanden statt. Sarah Rothenbaum, die Tochter der Eheleute, inzwischen selbst Mutter von zwei Kindern, war ein Jahr älter als Walter und ihr Bruder. Es gab Tage, in denen sie von Ottos Bruder angehimmelt wurde, davon konnte mittlerweile keine Rede sein. Die Rothenbaums waren Juden, die im Deutschen Reich immer häufiger angefeindet wurden. Schuld daran war der Aufstieg des Nationalsozialismus und Walter von Dannenburg war ein aufstrebendes Mitglied der NSDAP. Darunter litt die Freundschaft zwischen ihm und den Rothenbaums, im Grunde existierte sie nicht mehr.

Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen wurde Otto von Dannenburg von Walter über dessen Parteizugehörigkeit aufgeklärt. Deswegen kam es auch zu einem Streit, der beinahe eskaliert wäre. Otto war kurz davor, seinem fünf Jahre jüngeren Bruder eine Tracht Prügel zu verabreichen. Allemal wäre er ihm Herr geworden, denn eines war im Laufe der vergangenen Jahre ersichtlich geworden: Walter besaß ein beleidigendes, zudem ein frech und scharf provozierendes großes Mundwerk, mehr aber auch nicht. In einem Schützengraben wäre er der Erste gewesen, der sich in die Hose gemacht hätte. Der Gutsbesitzer hatte schon vor Monaten registriert, dass Walters frühere Sympathie gegenüber der Familie Rothenbaum merklich abgeflaut war, sich zunehmend zu einer unerträglichen und nicht nachvollziehbaren Abneigung zu entwickeln begann. Besorgniserregend dabei blieb, dass Walters Antipathie in einen Hass umschlug, der andere Menschen ganz offensichtlich anstecken konnte. Am Silvesterabend verzichtete Otto darauf, auf dieses Thema einzugehen. Er wollte die Harmonie des Beisammenseins nicht untergraben, auch kein Wort über seinen Bruder verlieren oder hören. Das er über den im Deutschen Reich aufkommenden Judenhass irgendwann mit seinem Freund Gottlieb Rothenbaum würde reden müssen, ließ sich nicht vermeiden. Trotz aller Skepsis, es wurde ein harmonischer und lustiger Silvester, aber es ließ sich nicht leugnen, dass eine unsichtbare Anspannung in der Luft lag. Keiner der Anwesenden äußerte sich dazu, doch an fast allen Gesichtern war abzulesen, dass niemand optimistisch in die Zukunft blickte. Wahrscheinlich, danach sah es aus, fragte sich jeder insgeheim, was das Jahr 1933 mit ihm vorhatte. Die gesamte Gesellschaft stand an einem Scheideweg, zwar blieb es unerwähnt, aber jeder im Raum schien die Schwere der bevorstehenden Ereignisse zu spüren. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die politischen Spannungen erzeugten Existenzängste. Hoffnung schien ein ferner Traum zu sein, verloren in den Schatten der Realität. Dennoch klirrten um Mitternacht die Sektgläser, mit einem Lächeln, Umarmungen und Küssen auf Lippen und Wangen wünschten sich die Feiernden ein gutes neues Jahr. Niemand konnte ahnen, dass die Glocken der Kirchen den Countdown zu einem Albtraum einläuteten.

V

ierzig Monate hatte Otto von Dannenburg am Ersten Weltkrieg zwangsweise teilgenommen. Er war in der zweiten Dezemberwoche 1918 aus der Reichswehr im Rang eines Obersten entlassen worden, was ihn nicht davon abhalten konnte, neben seinen Männern im Schützengraben zu stehen. Während dieser Zeit wurde ihm ein einziger Fronturlaub bewilligt, es geschah zur Geburt seines Sohnes im August 1915. Erst nach Kriegsende sah er Peter wieder und es wurde ein langwieriges Ringen, sich dessen Gunst und Vertrauen zu erarbeiten. Zwischendurch musste Otto von seiner Gattin immer wieder mal aufgemuntert werden, da kleine Kinder durchaus grausam sein können. Die anfänglichen Feindseligkeiten seines Sohnes belasteten Otto manchmal so sehr, dass er oft glaubte, der Geruch des Krieges und Todes würde immer noch an ihm haften.

Selbst wenn es sich so verhielt, ließ es ihn seine Hildegard nicht spüren, sie weinte und lachte mit ihm, es gelang ihr sogar, öfter in seine Träume einzudringen als es die Kriegstage zu tun vermochten. Otto war ein körperlich unversehrter Veteran, der seelisch mit den traumatischen Erlebnissen zumeist umzugehen wusste. In gewisser Weise war er ein Soldat geblieben, obwohl er den Krieg hasste, ihn jedoch aus einer anderen Perspektive betrachtete. Er sah ihn mit den Augen der Soldaten, nicht durch die glorreich verschmierten Brillen der Oberbefehlshaber. Aus diesem Grund hatte er Bekanntschaften und Kontakte aufrechterhalten, die ihm während der Kriegstage in menschlicher Manier oder auf verständnisvolle Art über den Weg gelaufen waren. Diese Verbindungen umfassten einfache Schützen und Kanoniere, mit denen er durch dick und dünn gegangen war. Diesem Kreis gehörten auch mittlere und hohe Offiziere an, die den Ton in einer nicht offiziell existierenden Wehrmacht vorgaben. Der Erste Weltkrieg hatte eine Reichswehr hinterlassen, die als ein Schrotthaufen betitelt werden musste, absolut kampfunfähig war. Seit geraumer Zeit wurde still und heimlich von der Errichtung neuer Streitkräfte geträumt, letztlich ein Plan für ihre Entstehung vorbereitet.

Die bis in die höchsten Ebenen reichenden Beziehungen verhalfen dem Gutsbesitzer zu einem Wissen, welches der Öffentlichkeit vorenthalten blieb. Erstmals wurde er schon in der ersten Woche des neuen Jahres aufgeschreckt. Insider wollten in Erfahrung gebracht haben, dass der schwer enttäuschte Franz von Papen vorhatte, sich mit Adolf Hitler zu treffen. Die Ursache dafür lag in der Ablösung seines Kabinetts, dem auf Anordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg das Ministerium seines früheren Weggefährten Kurt von Schleicher im Dezember 1932 folgte. Frust, Neid, Machthunger machten sich nun auch dort breit, wo sie zuvor begrenzt oder gar nicht vorhanden waren. Anderweitige schamlose Möglichkeiten erhielten Auftrieb. Hinter vorgehaltenen Händen wurde von Rachegelüsten und der Absicht einer Regierungsübernahme gesprochen. Bis zum Monatsende und seinem Aufenthalt auf dem höchsten Hügel seines Anwesens bekam Otto beinahe täglich ein Telegramm. Die Nachrichten hielten ihn auf dem Laufenden, durch sie erfuhr er, dass sich Franz von Papen öfter mit Hitler getroffen hatte. Bestürzt nahm der Gutsbesitzer in der letzten Woche des Januars zur Kenntnis, dass eines der letzten Gespräche unter der Anwesenheit des Staatssekretärs Otto Meissner und dem Sohn des Reichspräsidenten Oskar von Hindenburg stattfand. Aus Ottos Sicht handelte es sich bei den Zusammenkünften um die Vorbereitung eines überwiegend gewaltlosen Putsches. Keine Revolution im wahrsten Sinne des Wortes, sondern um eine Machtübernahme, der nur eines zugrunde liegen konnte: Die Einschränkung sämtlicher Freiheiten, von denen kein Bürger und unerwünschte Institutionen verschont bleiben würden. Im Kreis seiner Freunde und Bekannten gab es Leute, die seiner Meinung waren. Mit ihnen hatte sich Otto im Verlauf des Monats ein paarmal getroffen, sie in seinem Haus empfangen oder er war mit Hildegard zu ihnen gefahren.

Mitte des Monats lagen Otto und Hildegard im Bett, der an diesem Tag erhaltene Besuch war trotz der langen Anfahrtszeit bereits nach zwei Stunden wieder abgereist, hatte jedoch eine düstere Atmosphäre wegen ihrer Prognosen zurückgelassen. Zu Gast war kein geringerer als General Freiherr Karl von Plettenberg gewesen. Unter seinem Kommando war Ottos Vater 1914 von einem feindlichen Schuss bei der Offensive der Reichswehr in Belgien getroffen worden. Seitdem bestand eine freundschaftliche Beziehung zu der Familie Plettenberg aus Bückeburg, die sich im Lauf der Jahre gefestigt hatte. Hildegard drehte sich ihrem Mann zu, legte ihre Hand auf seinen Brustkorb. »Glaubst du, es wird so kommen, wie es der General befürchtet?«

Otto hätte gerne anders geantwortet, doch er wollte seiner Gemahlin nichts vormachen. »Schlimmer Hilde, es wird viel schlimmer kommen als wir es uns vorstellen können.«

Eine bedrückende Stille legte sich über das Schlafzimmer, sie wurde nur vom Heulen des Windes unterbrochen, der vor den geschlossenen Fenstern immer wieder verschiedene Klagelieder anzustimmen versuchte. Hildegard seufzte tief, zog die Decke enger um sich und schloss für einen Moment die Augen, als wollte sie die düsteren Vorahnungen des Generals und ihres Mannes von sich fernhalten. »Wir müssen stark bleiben, Otto,« flüsterte sie schließlich, während sie seinen Blick suchte. »Wie können wir uns und Peter schützen?«, begann sie sich Sorgen um ihr einziges Kind zu machen.

Otto strich ihr sanft über das Haar, seine Gedanken rasten. »Wir werden vorbereitet sein, Hilde. Ich habe bereits Vorkehrungen getroffen, John geschrieben.«

»Was hast du vor?«, fragte Hildegard, spürte, wie ein Stein auf ihr Herz fiel, sich zudem einen Kloß in ihrem Hals bildete.

»Ich will nicht, dass unser Sohn mit seinen siebzehn Jahren in einem Land aufwächst, in dem man nicht frei leben kann. Ich möchte es nicht erleben, dass Peter eine Gesinnung annimmt wie mein Bruder. Unser Junge ist längst noch nicht erwachsen, er ist empfänglich für Ideologien, die nichts mit den unseren gemeinsam haben.«

»Du willst ihn nach Amerika schicken«, stellte Hildegard traurig, aber auch fassungslos fest.

Otto schüttelte den Kopf. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, außerdem muss ich Johns Antwort abwarten. Ohne deine Zustimmung wird nichts geschehen, versprochen.«

»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, und wir müssen zusammenhalten. Das ist das Wichtigste.«

In den folgenden Tagen schien das Leben auf dem Gut wie gewohnt weiterzugehen, doch die Worte des Generals hallten in Hildegards Kopf nach. Innerlich bereitete sie sich auf das Unvermeidliche vor, auf die Gefahr hin, dass ihr Herz dabei zerbrechen würde. Sie und Otto verbrachten während des Tages mehr Zeit miteinander, redeten viel und schmiedeten Pläne, während die Welt immer unruhiger wurde. Am vorletzten Tag des Monats saßen Otto und Hildegard am Kaminfeuer. Die lodernden Flammen warfen tanzende Schatten auf die Wände, und für einen kurzen Augenblick schien die Welt in Ordnung zu sein. Doch die Realität holte sie ein, als ein lautes Klopfen an der Tür ertönte. Mit einem besorgten Blick stand Otto auf und öffnete die Tür. Draußen stand ein Bote, der ihm ein versiegeltes Schreiben überreichte. Er brach das Siegel, überflog die Zeilen, fühlte Hildegards Augen auf sich ruhen. Die Hand des Gutsbesitzers fing zu zittern an, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. »Es ist soweit, Hilde,« sagte er mit belegter Stimme. »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen. Hitler hat die Macht an sich gerissen, er ist der neue Reichskanzler. John hat mir geantwortet, er wäre bereit Peter in seiner Familie aufzunehmen. Jetzt und hier liegt es an dir: Wollen wir unseren Sohn an Hitler verlieren oder ihm ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglichen?«

Der Monat Januar 1933 war ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands. Die politischen Spannungen erreichten ihren Höhepunkt, Adolf Hitler wurde am 30. Januar zum Reichskanzler ernannt. Diese Ernennung markierte den Beginn einer dunklen Ära, die das Land und die Welt nachhaltig verändern sollten. Die Menschen waren hin- und hergerissen zwischen Hoffnung auf Veränderung und der Angst vor dem Ungewissen. Weit weg von Greifswald, in den Straßen Berlins herrschte eine gespannte Atmosphäre, während die Bürger die Nachrichten verfolgten und versuchten, die Auswirkungen dieser politischen Entwicklungen auf ihr tägliches Leben abzuschätzen.

Insbesondere das letzte Ereignis hatte Otto auf die Anhöhe getrieben, von der er sein Anwesen größtenteils überblicken konnte. Er hatte sich eine Pfeife angezündet, hielt in einem dicken Mantel und einem Hut auf dem Kopf der Kälte stand, während er über eine fragwürdige Zukunft nachdachte.

---ENDE DER LESEPROBE---