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Beschreibung

Drei brutal hingerichtete Tote, deren Identität Detective Forrest Waterspoon in eine falsche Richtung ermitteln lassen. Es ist die erste Täuschung, in die der Ermittler gerät. Erst als Forrest die zweite Falle entdeckt, wird ihm langsam bewusst, dass er vom Täter benutzt wurde. Dadurch gerät auch er in einen Hinterhalt, der sich in einem Gerichtssaal abspielt und von dem niemand weiß, wie er ausgehen wird.

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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Zur Person:

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Epilog

Hinweis:

Kontakt zum Autor

Impressum

 

 

Tatort

Boston

 

Band 6

 

 

 

 

Über den Autor

Roman Just ist in der Welt der Literatur in verschiedenen Genres unterwegs. Mit den Thrillern der "Tatort-Boston-Reihe" hat er den Einstieg in die Literaturwelt begonnen, sie dann mit den "Gelsenkrimis" fortgesetzt. Neben den Thrillern und Krimis arbeitet er an einer mehrteiligen Dystopie und einer historischen Familiensaga, hinzu kommen Ausflüge in andere Genres.

Der Autor und bekennender Selfpublisher ist Jahrgang 1961, lebt in Gelsenkirchen, leidet mit dem vor Ort ansässigen Fußballclub zu allen Zeiten mit, spielt außerdem gerne Schach und beschäftigt sich gelegentlich mit der Astronomie.

 

Zur Person:

Sternzeichen: Jungfrau

Gewicht: Im Moment viel zu viel

Erlernter Beruf: Kellner

Derzeit tätig als: Autor/Selfpublisher

Charaktereigenschaften: Impulsiv/Hilfsbereit

Laster: Selten zufrieden mit einem Ergebnis

Vorteil: Meistens sehr geduldig

Er mag: Klare Aussagen

Er mag nicht: Gier und Neid

Er kann nicht: Den Mund halten

Er kann: Nicht mehr Zuhören

Tatort-Boston

Voltage

 

Thriller

von

Roman Just

 

 

 

Prolog

Boston, Januar 2021

E

inen Familienstreit gab es täglich überall auf der Welt, sogar in gehobenen Kreisen. Es waren Momente, in denen der erfolgreichste oder wohlhabendste Mensch schlagartig die Ecken und Kanten aufblitzen ließ, die er ansonsten vor seiner Umwelt zu verstecken versuchte. Der vorgespielte Anstand fiel in solchen Sekunden im Kreis der Familie weg, das wahre Wesen kam hervor. Im Vergleich dazu krachte es in normalen Familien mal leiser oder lauter, es lag an den Umständen, welche einen Zwist ausgelöst hatten. In beiden Gesellschaftsschichten kam es mitunter vor, dass keiner der Streithähne ein paar Tage später sich daran erinnern konnte, weshalb überhaupt gestritten worden war.

Von derartigen Problemen waren Jim und seine Frau, Jill, nicht betroffen. Sie lebten ihre Ehe seit Jahren in einem harmonischen nebeneinander mit wenig Worten, ohne sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Wer dachte, die Verbindung wäre zerrüttet, der irrte. Es gab eben Beziehungen, die nicht durch Sätze intakt blieben, sondern durch Hingabe. Das traf unumstritten auf Jill und Jim zu. Er war ein normaler Kerl, durchaus ansehnlich, gesellschaftsmäßig eher ein Mitläufer, obwohl früher in einer höheren Position bei einer Bank tätig. Seitdem hatte sich vieles gewaltig geändert, nur Jims Charakter nicht. Er gehörte der Sorte von Männern an, die ihr Wort hielten, anständig waren, ihre Frau liebten, der die Kinder vergötterte. Ohne sich menschlich verändert zu haben, hatten dennoch einige seiner Wesenszüge eine Wandlung durchlebt. Jim war arbeitslos, hatte selbst gekündigt. Er lief nicht mehr in Anzügen herum, trug stattdessen meistens einen ausgebeulten Trainingsanzug. Schon am früher Morgen roch er nach Alkohol, die Nachbarn in der Siedlung mied er, über den Nachwuchs, der aus zwei Töchtern und einem Sohn bestand, hatte er längst die Kontrolle verloren. Der Entzweiung ging ein quälender schleichender Prozess voraus, der sich über Jahre hinweg zog.

Carol, Susan und Tobias hießen die Kids, die allesamt einen Altersunterschied von einem Jahr aufwiesen, wobei Carol die älteste war. Jim hatte die Kinder nicht vernachlässigt, allerdings konnte er ihnen nicht die Zeit widmen, die erforderlich gewesen wäre, um sie im Zaum halten zu können. Begonnen hatte es vor sechs Jahren, die Sprösslinge waren damals elf, zwölf und dreizehn Jahre jung. Über Nacht, praktisch von einer Sekunde auf die andere, erfuhr das bis dahin glückliche Leben der Familie einen brutalen Nackenschlag. Ohne Vorankündigung, in Anwesenheit von Mann und Nachwuchs, war Jill beim Zubereiten des Frühstücks in der Küche zusammengebrochen. Notarzt, Krankenwagen, Klinik, Operation. Erst nach sechs Wochen kam Jill wieder nach Hause, aber sie war nicht mehr dieselbe. Ein angeblich unentdeckter Hirntumor hatte sie in die Knie gezwungen, schließlich zu einem Pflegefall werden lassen. Die Familienidylle begann zu bröckeln, zerbrach nach und nach komplett. Jill lag regungslos im Bett, kein Mensch konnte sagen, ob sie ihre Umgebung registrierte. Jim kümmerte sich rührend um sie, sah sich gezwungen seinen Job aufzugeben, nachdem er eine engagierte Pflegekraft dabei ertappte, wie sie sich an seiner wehrlosen Frau vergriffen hatte. Es war das erste mal seit Jills Heimkehr aus dem Krankenhaus, dass seine Gattin eine Regung zeigte. Sie rührte weder Finger noch Beine, kein Wort brachte sie über ihre Lippen, aber ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Jim schöpfte trotz des widerlichen und ihn ebenso schmerzenden Anlasses Hoffnung. Seine Zuversicht, Jill könnte genesen, stieg rapide. Der Zukunftsglaube gab ihm Auftrieb, sorgte dafür, dass er seinen relativ sicheren Arbeitsplatz wegen Jill und dem Vorfall mit der Pflegekraft kündigte, ohne der Stelle eine Träne nachzuweinen. Seitdem waren sechs Jahre vergangen.

Wiederholt hatte Jim die Ärzte Jills konsultiert, stets lief er gegen eine Mauer der Unwissenheit. Keiner der Chirurgen und Spezialisten konnte sich den Zustand seiner Frau auch nur ansatzweise erklären. Deswegen begann der ehemalige Bankangestellte zunehmend an einen Ärztepfusch zu glauben, doch außer Vermutungen besaß er nichts, womit er die Annahme hätte belegen können. Selbst der Missbrauch an seiner Frau, den er angezeigt hatte, wurde nicht strafrechtlich verfolgt. Seine Aussage stand gegen die der Pflegekraft. Die betroffene Jill war als Zeugin unbrauchbar. Zwangsläufig gab Jim auf. Immer noch felsenfest davon überzeugt, seine Frau würde gesund werden, fing er an, stur nach vorne zu sehen. Tag und Nach kümmerte er sich um seine Ehefrau, stundenweise um die Kinder, die ihm zunehmend entglitten. Es geschah nicht von heute auf morgen, sondern langsam. Am besten ließ es sich an Tobias erkennen. Der Jüngste der Geschwister hing besonders an seiner nun pflegebedürftigen Mutter, litt extrem unter der Situation. Es führte zu vehementen Streitereien mit seinen Schwestern, zu rebellischen Aktionen im Viertel, zudem zu Widerspenstigkeit gegenüber seinem Vater. Je älter und unfolgsamer die Kids wurden, umso überforderter reagierte Jim. Er griff immer häufiger zur Flasche, wurde letztlich wie ein kleines Baby von ihr abhängig. Tobias mittlerweile siebzehn Jahre, geriet zunehmend in kriminelle Kreise, warf die Schule, kam nur nach Hause, wenn er nicht woanders pennen konnte. Bei jeder Übernachtung sah er nach seiner Mutter, erkannte keine Besserung, was ihn wütend, hilflos, skrupelloser machte.

Carol erging es anders, jedoch kein bisschen besser. Sie, aktuell neunzehn Jahre jung, hatte sich zunächst bemüht, ihren Geschwistern in vormundschaftlicher Art ein Mutterersatz zu sein, scheiterte damit kläglich. Mit dem Gehabe einer launischen Diva verlor sie Freunde, entging knapp einer Gruppenvergewaltigung, landete als nervtötende Zicke dennoch auf dem Strich. Jim hatte keine Ahnung, wo sie anzuschaffen pflegte, immerhin kam sie regelmäßig vorbei, um nach ihm zu sehen, legte vor ihrem Abgang gelegentlich ein paar Dollar auf dem Küchentisch. Übrig blieb noch Susan mit ihren achtzehn Jahren. Das Mädchen war ihrer Mutter sehr ähnlich, nicht äußerlich, stattdessen was ihren Zustand betraf. Sie lag die meisten Stunden des Tages im Bett, lethargisch, voll zugedröhnt und zugekifft. Kaum brach die Nacht herein zog sie los, kehrte Stunden später mit Drogen zurück. Wie sie sich das Pulver, die Pillen, manchmal auch Spritzen, besorgen konnte, behielt sie für sich. Das Unglück seiner Frau, der Absturz der Kinder, die immer größer werdenden finanziellen Sorgen, für Jim alles Gründe, um Zuflucht im Alkohol zu suchen. Womöglich handelte es sich bei ihm um den nüchternsten Alkoholiker, den die Welt je gesehen hatte. Selbst nach zwei Flaschen Whiskey und der gleichen Menge an Six-Packs ging Jim geradeaus, lallte nicht, wurde weder laut noch aggressiv. Annähernd siebzig Monate vergeblicher Wünsche, Hoffnungen, und Träume waren ins Land gezogen.

Mit dem Trinken hatte er vor fünf Jahren begonnen, schon damals lief in Bezug auf die Kinder viel zu wenig richtig rund, dennoch hatten die Kids ihr Leben wegen des Schicksals ihrer Mutter selbst weggeworfen. Jim hätte sie schlagen, anschreien, einsperren können, was wäre anders, vor allem positiver verlaufen? Immer wieder stellte er sich bis in die Gegenwart diese Frage, ohne eine Antwort gefunden zu haben. Hinzu gesellte sich die ewige Bitte an Gott, erfahren zu dürfen, wieso ausgerechnet seiner Frau und seinen Kindern ein solches Los aufgebürdet worden war. Doch der Schöpfer schien es selbst nicht zu wissen, denn bisher hatte er Jim darüber im Unklaren gelassen.

Aus Sicht der Nachbarn gaben Jim und Jill Geers samt Kindern ein trauriges, zugleich ein erschreckendes Bild ab. Wie so oft in solchen Fällen rundeten Gerüchte das Porträt der Familie in ein noch schlechteres Licht. Familienoberhaupt Jim Geers wurde als Hurenbock betitelt, der die Sauferei als Vorwand für seine Schandtaten zu benutzen wusste. Auch herrschte Einigkeit darüber, dass er seine Gattin ins Wachkoma geprügelt hatte. Die Mädchen waren als drogensüchtige Huren abgestempelt, die ihre Kunden auf geschickte, bei Bedarf auf brutale Weise bis auf den letzten Cent ausnahmen. Tobias galt als der Schlimmste von allen, ihm eilte sogar der Ruf nach, mehrere Menschen krankenhausreif verprügelt zu haben.

Es war von jeher eine der größten Stärken des menschlichen Individuums, auf einen am Boden liegenden Mitmenschen einzutreten. Jim sah es anders: Aus seiner Sicht lag er nicht auf der Erde, sondern stand an einem schier unendlichen Abgrund. Seine Frau war ein tot lebendes Wrack, seine Kinder, er selbst, auf dem besten Weg dahin. Warum? Er, Jill, die Kinder, nie hatten sie jemandem etwas getan. Wieso waren das Leben und der Allmächtige dermaßen ungerecht? Drei einstmals wissbegierige und lebenslustige Teenager befanden sich auf dem Weg in die Gosse. Eine vor sechs Jahren temperamentvolle, energiegeladene, stets witzig aufgelegte Frau lag reglos im Bett, siechte vor sich hin. Und Jim? Aus einem fleißigen Bankangestellten mit überdurchschnittlichem Fachwissen bezüglich Finanzanlagen und Investitionen war ein Säufer geworden, dessen Leber ohne Alkohol sofort ihre Funktion eingestellt hätte.

Wieso, weshalb, warum? Schon bald sollte Detective Forrest Waterspoon mit den Fragewörtern konfrontiert werden.

1. Kapitel

D

er Geruch war ekelerregend. Es roch nach verbranntem Fleisch, nach einem Steak, das auf dem Rost eines Grills aus Übermut oder Vergesslichkeit die Hälfte seines Volumens verloren hatte. Dazu kam ein verwesendes Aroma, welches ungebeten in die Nasenlöcher drang, wodurch das Gefühl erzeugt wurde, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Es mochte pietätlos geklungen haben, doch die Leiche mit einem verkohlten Alien zu vergleichen, so wie es der Pathologe Peter Brandon getan hatte, erhielt keinen Widerspruch. Selbst Detective Forrest Waterspoon fand keine Worte, um den Gerichtsmediziner ethisch zurechtzuweisen. Sogar die Umgebung unterstrich die zynischen Worte des Forensikers.

Der Tote lag auf der "Belle Isle Marsh Reservation", einem Schutzgebiet im Stadtteil East Boston. Er war von wettertrotzenden Spaziergängern gefunden, aber nicht als ein menschliches Überbleibsel identifiziert worden. Aus Unkenntnis, auf welches Fundstück sie hinter der Brücke zum "Belle Isle Observation Tower" gestoßen waren, unterließen sie es, sich dem Gegenstand zu nähern, riefen stattdessen die Cops herbei. Welcher Anblick ihnen dadurch erspart wurde, erfuhr das Ehepaar erst bei der Befragung. Nachdem sie ihre Personalien hinterlassen hatten, trotteten sie trotz der niederschmetternden Nachricht erleichtert davon. Das ihnen ein schauderhaftes Bild geboten geworden wäre, hatten sie an den blassen Gesichtern der Police-Officers erkannt. Die Eheleute festzuhalten hätte keinen Sinn ergeben. Unter der Auflage am nächsten Tag im Polizeipräsidium zu erscheinen, war ihnen gestatten worden, sich entfernen zu dürfen.

Was sich die Finder nicht näher angesehen hatten, davor stand nun Forrest, während Peter Brandon neben dem entdeckten Objekt kurz zuvor in die Hocke gegangen war. Der Pathologe besaß eine Abgebrühtheit, die als bemerkenswert bezeichnet werden konnte, doch nachdem er die Leiche umgedreht hatte, war auch er schlagartig zurückgewichen und aufgesprungen. Kaum auf den Beinen brachte er den Satz über die Lippen, für den er normalerweise durch den Detective zur Räson aufgefordert worden wäre. Diesmal jedoch schwieg Forrest.

Kurz hatte er sich von der völlig entblößten Leiche abgewendet, tief durchgeatmet, um sich gleich danach ein Taschentuch vor Mund und Nase zu halten. Wie Waterspoon sagte auch Peter nichts, vorübergehend schien ihn eine nachvollziehbare verbale Schockstarre ergriffen zu haben. Waterspoon hingegen sah sich unterdessen um, gestand sich zeitgleich ein, wieder einmal belehrt worden zu sein. Wie oft hatte er es schon ausgesprochen und sich gedacht, schlimmer könnte es nicht mehr kommen, zigmal war er diesem Irrtum erlegen. Mit Säure überschüttete, entstellte, verbrannte, sogar ausgeblutete Menschen waren ihm schon vor die Augen gekommen, nicht jedoch ein Körper, der gekocht zu haben schien. Bis auf die überschaubare Zahl der Einsatzkräfte wirkte die Insel wie ausgestorben. Die geschützte Landschaft bestand aus Salzwiesen, die es früher deutlich häufiger an den Küsten der Massachusetts Bay gegeben hatte. Landschaften solcher Art boten Pflanzen und Tieren eine Heimat, die unter den nicht unbedingt paradiesischen Bedingungen gedeihen und existieren konnten. Das traf auch auf Schalentiere zu, wie Forrest erkannt hatte. Der hintere Körper des Leichnams war von kleinen Krebsen und anderem Getier überwuchert, am vorderen hatten sich Würmer über ihn hergemacht. Der Anblick war widerlich, noch ekelhafter allerdings, die unzähligen Brandblasen, durch die der Tote unnatürlich verformt zu sein schien. Hinzu kamen seine leeren Augenhöhlen und der seltsam offenstehende Mund. Er vermittelte den Eindruck, als ob der Gefolterte immer noch um Hilfe schreien oder um Gnade betteln würde.

Peter Brandon fand seine Stimme wieder und wiederholte seinen Satz von vorher, nur fügte er Worte hinzu, die dem Detective einen kalten Schauer über den Rücken jagten. »Der Kerl sieht zwar wie ein aus einem Kochtopf entstiegener Alien aus, nur ist das arme Schwein einen Tod gestorben, der mit zu den grauenvollsten Todesarten gehört, die man sich vorstellen kann. Eine Analyse auf den ersten Blick: Er wurde mehrfach mit kochendem Wasser übergossen. Ob er davor, was ihm zu wünschen wäre, oder, erst danach unter Strom gesetzt wurde, kann ich erst nach der Autopsie sagen.«

»Strom! Sie meinen wegen der Augen? Können es nicht die lieben Haustierchen hier vor Ort gewesen sein?«

»Keinesfalls«, entgegnete Peter kopfschüttelnd. »Die arme Sau stand unter Strom. Die Spannung war dermaßen enorm und wurde so lange aufrecht gehalten, bis sich die Augen verflüssigt hatten.«

Forrest schluckte sichtbar berührt. Was er sah und eben gehört hatte, konnte an Grausamkeit nicht überboten werden. »Könnte ein Unfall dahinterstecken, zum Beispiel in einer Fabrik, der vertuscht werden soll?«

Peter drehte sich von der Leiche weg und Forrest zu. »Die Frage schiebe ich auf Ihren Hoffnungsschimmer, es hier mit keinem Mord zu tun zu haben. Es wäre irgendwie beruhigend, wenn es so wäre, aber es ist ausgeschlossen. Das wissen wir beide.«

Waterspoon nickte zustimmend. »Wieso macht sich jemand die Mühe und schleppt den Leichnam hierher?«

»Tja, Detective, es herauszufinden ist Ihr Job«, erwiderte der Forensiker. »Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich mehr weiß, wird aber ein paar Stunden dauern«, ergänzte er, und begab sich zu seinen Kollegen.

Forrest sah ihm nach und dabei zu, wie der Tote abtransportiert wurde. Nebenbei führte er ein Gespräch mit den Polizisten, die als erste am Fundort eingetroffen waren. Er ließ sich die Personalien der Finder aushändigen, schließlich begab er sich zum Beobachtungsturm, der sich fast in der Mitte der kleinen Insel befand. Die Hoffnung, dadurch den Anblick des Leichnams verdrängen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Der einzige Vorteil des Spaziergangs lag darin, die Gerüche vom Fundort mit jedem Schritt loswerden und deshalb klarer denken zu können. Während der Ermittler sich einen Reim auf die Brutalität des Mordes zu machen versuchte, geschah in Boston etwas keineswegs alltäglich Tragisches und außerhalb der Stadt Grauenhaftes.

Boston Innenstadt

J

ulia war jung, fröhlich, vital. Charme und Wesen befanden sich im Einklang, wodurch sie als zauberhaft bezeichnet werden konnte. Begleitet wurde sie beim Shoppen von ihrem Lebensgefährten, der Mike hieß, kaum weniger Lebensfreude versprühte. Die beiden hatten bereits zwei Modegeschäfte aufgesucht, befanden sich in einem Schuhgeschäft, wollten danach einen Kaffee trinken gehen.

Plötzlich gefror Julias lächeln, sie begann über Übelkeit zu klagen, verlor ihre gesunde Gesichtsfarbe, fing gefährlich zu schwanken an. Mike, der dabei war, einen Schuh anzuprobieren, sprang auf, bekam sie zu fassen, bevor sie zu Boden fiel. Er brachte sie in Seitenlage, bemerkte, dass Julia zu atmen aufgehört hatte, rief nach Hilfe. Gleich danach wendete er die Erst-Hilfe-Maßnahmen an, die ihm bei der Feuerwehr beigebracht worden waren. Herzdruckmassage, dreißigmal drücken, zweimal Mund-zu-Mund-Beatmung, anschließend die Prozedur von vorn. Nachdem sich die Sanitäter durch den Menschenhaufen der Schaulustigen gekämpft hatten, wurde die Reanimation im zur Klinik fahrenden Krankenwagen fortgesetzt.

Eine halbe Stunde später traf auch Mike im Massachusetts General Hospital ein, nahm erleichtert zur Kenntnis, dass Julia bei Bewusstsein war, er sie sehen dürfe, bei dieser Gelegenheit ihr ans Herz legen sollte, über Nacht zur Beobachtung vor Ort zu bleiben. Der Arzt gab ihm fünf Minuten Besuchszeit, bat im Anschluss um ein Gespräch. Mike wurde über Julias Gesundheitszustand und Lebensstil ausgefragt, auch ob ihm eventuelle Allergien bekannt wären. Die meisten Fragen konnte der Freund der Zusammengebrochenen beantworten, schließlich waren sie seit Jahren ein Paar, planten in naher Zukunft die Hochzeit. Der Doktor war freundlich, zeigte sich überzeugt, dass Julia am nächsten Tag nach ein paar Tests wieder nach Hause könnte. Den Check an seiner Freundin sah Mike ein, hielt ihn für vernünftig. Mit einem Kollaps war nicht zu spaßen, so hatte er zuvor ihr gegenüber argumentiert, wodurch es ihm gelang, sie zum Bleiben zu überreden.

Als Mike die Klinik verließ, war ihm nicht wohl zumute. Er hatte das Gefühl Julia im Stich zu lassen, fragte sich zudem, was ihren Kreislaufkollaps verursacht haben könnte. Seines Wissens war sie kerngesund, hatte keine Empfindsamkeiten, nahm keine Tabletten. Sie rauchte nicht, trank nur bei Partys Alkohol, führte ein durchweg solides Leben. Ihre größten und einzigen Laster waren ihr einnehmendes Wesen und fröhliches Gemüt, deswegen konnte er sich ihren Kreislaufkollaps nicht erklären.

 

Außerhalb Bostons

E

s war ein äußerst unscheinbares uraltes Blockhaus, von dem kaum jemand wusste, dass es existierte. Dafür gab es zwei Gründe. An einem war Forrest Waterspoon mitbeteiligt, denn seit er den Forrest-Hill-Fall aufgeklärt hatte, war die Gegend verrufen. Die Befürchtung über eine Leiche stolpern zu können, war allgegenwärtig, obwohl die Akte seit annähernd vier Jahren geschlossen war. Nachdem die Hintergründe einer mysteriösen Mordserie durch die Medien bekannt geworden waren, erhielt das bis dahin bei Liebespaaren und Wanderern durchaus beliebte Areal einen Ruf, durch das es auf einen unbewohnbaren Planeten katapultiert wurde. Wo früher Menschen geflirtet, gejoggt und die Natur genossen hatten, ließ sich längst keine vernünftige Menschenseele sehen. Somit wurde das Gebiet zu einem idealen Ort für Paradiesvögel aller Art, aber die Dealer, Freier und sonstiger Abschaum der Zivilisation blieben allein, das Gebiet lag zu abgelegen und besaß eben einen zwielichtigen Leumund. Kein Drogenabhängiger oder Sexsüchtiger hätte Angst vor einem Leichnam gehabt, der damals nicht entdeckt worden war, nur wollte niemand wegen eines solchen Fundes in die Fänge der Cops geraten. Erschwerend kam hinzu, dass sich unter Drogenentzug oder mit einer Latte unter dem Lenkrad schwer Auto fahren ließ. So geriet auf einer einst regelmäßig belebten, danach probiert missbrauchten und letztlich vereinsamten Landschaft die Blockhütte in Vergessenheit, die auch irgendwo in Kanada hätte stehen können. Sie stand mitten im Wald, nah an der Metropole Boston, trotzdem vollständig im Abseits. Von wem und wann sie gebaut worden war, wusste niemand. Vor ein paar Jahren wäre die Holzkonstruktion womöglich zu einem denkmalgeschützten Gebäude erklärt worden, da einige Historiker energisch die Meinung vertraten, dass die Hütte während des Kolonialkrieges errichtet wurde. Belege für die Behauptung gab es keine. Man war zwar drauf und dran, es wissenschaftlich beweisen zu wollen, doch es kam alles anders als geplant. Die Blockhütte befand sich unweit der ehemaligen Nervenheilanstalt Forrest Hill, damit auf einem Areal, wo vor rund vier Jahren etliche Obdachlose ungewollt ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Die Toten waren für einen wahnsinnig gewordenen Professor Testpersonen, durch die er eine Blutgruppe zu erschaffen beabsichtigte, die für jeden Menschen verträglich sein sollte. Jedenfalls wurde das Gebiet zu einer Gedenkstätte erklärt, auf der ein historisches Objekt gänzlich unerwünscht war. Die Überzeugung, nicht alle menschlichen Versuchskaninchen entdeckt und geborgen zu haben, ließ die Behörden diesen Schritt vollziehen, auch deswegen, da man in einer Holzhütte keine touristische Attraktion sah. Danach war der abgelegene Ort kurzzeitig zu einem Sodom und Gomorrha verkommen, aber die Epoche fand wegen ihrer Lage schnell ein Ende. Ob Zuhälter, Dealer oder Nutten, niemand legte Wert darauf, seine Geschäfte in einer Gegend abzuwickeln, in der die Umsätze übersichtlich blieben. So stand die Hütte immer noch da, einsam, verlassen, vergessen. Sie hätte einem Aussteiger oder Jäger gehören können, ebenso einem Millionär. Doch sie hatte keinen Besitzer, nur einen Bewohner, der mit der Gesellschaft nichts mehr zu tun haben wollte. In den Rocky Mountains oder Everglades wäre an der richtigen Stelle die Einsamkeit vollkommen gewesen, aber der Einzelgänger war nicht auf der Suche nach einer kompletten Isolation. Stattdessen befand er sich auf einem Weg, der ihm seiner Ansicht nach, die längst überfällige und lang herbeigesehnte seelische Erlösung bringen würde. Er hatte jahrelang alles Mögliche probiert um seine Enttäuschung, den Kummer und die Wut im Zaum zu halten. Nichts half. Die Stunden beim Psychologen waren reine Zeitverschwendung, ebenso seine Anwesenheit bei verschiedenen Therapie- und Selbsthilfegruppen. Dort war er auf Leute getroffen, die nichts anderes zu bewältigen hatten als ihr Selbstmitleid. Ihre Trauer bezog sich nicht auf den erlittenen Verlust eines geliebten Menschen, sondern auf die ernüchternde Tatsache, plötzlich allein klar kommen zu müssen. Er war somit, von wenigen Ausnahmen in Form von Leidensgenossen abgesehen, einer Heuchlerei begegnet, die er unmöglich ertragen konnte. Sein Schmerz war hingegen aufrichtig, der immense Zorn gerechtfertigt, der Wunsch nach Erlösung deshalb nachvollziehbar, zumindest verhielt es sich so in seinen Augen. Er wollte kein Mitleid, sein Ziel war Gerechtigkeit. So wie er, fühlten und dachten seine Mitstreiter, mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu seiner Person, aus Hass blind für die Realität geworden waren.

Das Blockhaus war kein Versteck, viel mehr ein Rückzugsort. Hier konnte sich der Einsiedler sammeln, seinen Gedanken freien Lauf lassen, die Schuldigen befragen, bei Bedarf sie kurzzeitig gefangen halten oder zwischenlagern. Nichts davon war bisher vorgekommen, diesmal sah es allerdings danach aus, als ob er eine der Alternativen in Anspruch nehmen müsste. Nachdenklich hatte er nach der letzten Antwort zu Boden gesehen, sie emotionslos überdacht, schließlich als gelogen eingestuft. Er sah auf, musterte den Mann, der ihm gegenüber in einer Entfernung von zwei Metern auf einem Holzstuhl saß. Er hatte ihm die Hände hinter der Lehne zusammengebunden, danach den Strick um dessen Fußgelenke und Stuhlbeine gewickelt, das Seilende letztlich an der Stuhllehne festgezurrt. Ohne Vorwarnung erhob sich der Belogene, trat an den Gefangenen heran, versetzte ihm links und rechts Ohrfeigen, die an den Wangen des Geschlagenen rote Spuren hinterließen. Als ob nichts geschehen wäre begab sich der Einsiedler zurück, nahm Platz, wieder sitzend deutete er auf einen Gasgrill, der sich mitten im Raum befand. Auf dem in Betrieb befindlichen Grill, unter dem zwei Gasbehälter deponiert waren, stand ein mit Wasser gefüllter Kochtopf, der älter als uralt zu sein schien.

Der Einzelgänger, der mit zwei Weggefährten gemeinsame Sache machte, die zwei Blinden schlussendlich nur für seine eigenen Interessen benutzen wollte, nannte sich Sammy. Der eigentlich brav, fast liebevoll klingende Vorname, mochte so gar nicht zu ihm und seinem Auftreten passen. »Hör zu, du Missgeburt! In drei, höchsten fünf Minuten wird das Wasser zu kochen beginnen. Wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will, schütte ich es dir über die Füße, schweigst oder lügst du weiterhin, werden deine Eier hart gekocht, irgendwann ist dein Gesicht dran. Ich gehe eine rauchen, nütze die Zeit, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen.«

Sammy ließ seinen Worten augenblicklich Taten folgen, begab sich ins Freie, zündete sich eine Zigarette an. Es war kalt, aber nicht eisig, es lag kein Schnee, stattdessen schien die Umgebung wie ein durchnässter Schwamm. Die ihn umgebenden Bäume wirkten wie Soldaten, die reglos Totenwache hielten, sich trotz des Nieselregens zu keiner Geste hinreißen ließen. Es herrschte Stille, absolute Stille, als ob sich Sammy in einem Geisterwald befinden würde. Irgendwie traf es auch zu: Die Ruine der ehemaligen Nervenheilanstalt "Forrest Hill" lag unsichtbar irgendwo zu seiner linken Seite.

Der Einzelgänger rauchte die Zigarette auf, schnippte den Stummel achtlos in die Landschaft. Entschlossen begab er sich in die Blockhütte, stellte sich vor den Grill, zog sich dicke Lederhandschuhe an. Er legte seine Hände griffbereit auf die Henkel des Topfes, schrie den Gefesselten mit dem Rücken zu ihm stehend an: »Wer war dabei?«

»Mein Gott! Es ist so viele Jahre her, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern«, jammerte der Gefangene mit gebrochener, ängstlich stotternder Stimme.

»Wie du willst«, entgegnete Sammy barsch, hob den Topf mit kochendem Wasser, drehte sich um, schüttete die Hälfte des kochenden Wassers über die nackten Füße des an den Stuhl gebundenen Mannes. Dem Aufschrei des Gepeinigten folgte die körperliche Reaktion. Sofort wurden seine verbrannten Füße rot, schwollen innerhalb weniger Sekunden an, bereits nach einer Minute hatte sich an seinem linken Spann eine Brandblase gebildet. Währenddessen war der antike Wassertopf von Sammy zurück auf den Grill gestellt worden, erneut fing der Inhalt zu blubbern an. Er sah sein Opfer an, wiederholte die Frage, diesmal leiser: »Wer? Gib mir einen Namen, dann ist der Spuk für dich vorbei. An einen einzigen Teilnehmer wirst du dich wohl noch erinnern können, schließlich bist du ein anerkannter Gelehrter, der inzwischen Vorlesungen hält.«

Die Gesichtsmuskeln und Stirnfalten des Gefragten hatten sich vor Schmerz verkrampft, begannen zu zucken. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube, mich entsinnen zu können, Martin, Doktor Martin Hengston war anwesend«, brachte er wimmernd hervor.

»Ich werde ihn fragen. Wo wohnt er?«

Der Misshandelte japste nach Luft. »Soweit ich weiß, ist er verzogen, praktiziert im Pennsylvania Hospital in Philadelphia.«

Sammy hatte keine Ahnung, dass es sich bei der erwähnten Klinik um die älteste Einrichtung dieser Art in den Vereinigten Staaten drehte. Das Krankenhaus war im Jahr 1751 von Benjamin Franklin und Thomas Bond gegründet worden. Es beherbergte zudem das älteste chirurgische Amphitheater und die älteste medizinische Bibliothek der USA. »Solltest du die Wahrheit gesagt haben, hast du es überstanden. Ich mache mich schlau, wir sehen uns in ein paar Stunden wieder«, sagte der Geiselnehmer.

»Kann ich etwas Wasser bekommen?«, fragte der Geschändete mit bittendem Ton.

Bewusst überhörte Sammy die Frage, verließ mitleidlos die Hütte, durchquerte den Wald, bis zu seinem an einem Waldweg abgestellten Fahrzeug und fuhr zurück nach Boston.

D

etective Forrest Waterspoon betrat mürrisch sein altes, zugleich verhasstes, ebenso heiß geliebtes, seit kurzem frisch gestrichenes Büro im Polizeipräsidium. Das Morddezernat lag im dritten Stock des ehrwürdigen Gebäudes, dessen Fassade ebenfalls einen neuen Anstrich gebraucht hätte. Missmutig sah er seinen an den Rollstuhl gefesselten Partner an, für dessen Verbleib im Polizeidienst er sich vehement eingesetzt hatte. Forrest erwiderte zaghaft Jesses Owens Lächeln, konnte sich dabei an keinen Moment erinnern, in dem er den Kollegen schlecht gelaunt erlebt hätte. Stattdessen kam ihm der Tag in den Sinn, an dem Jesse die Diagnose erhielt, vermutlich den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen zu müssen. Der vor nahezu drei Jahren im Dienst durch Trümmerteile am Rücken schwerverletzte Partner fiel in eine kurzeitige melancholische Phase, gab sich jedoch innerhalb von wenigen Minuten kämpferisch und optimistisch. Schon deswegen bewunderte Forrest seinen Partner.

»Wir haben wieder mal einen Mord der besonderen Sorte«, ließ der Detective die Vergangenheit unerwähnt, kam bedrückt auf die Gegenwart zu sprechen.

Jesse nickte bestätigend. »Schon gehört. Peter hat mich informiert, er ist schon am Schnibbeln.«

»Jesse!«, ermahnte Forrest seinen Zögling, aus dem ohne die Behinderung ein hervorragender Detective geworden wäre. Waterspoon hasste jede Art von Pietätlosigkeit, doch schon vor langer Zeit hatte er erkannt, dass der Pathologe Peter Brandon und Jesse ihn mit solchen Aussagen absichtlich auf die Palme bringen wollten. Hinter seinem Rücken schlossen sie sogar Wetten ab, wie er auf diese oder jene Aussage ihrerseits reagieren würde. Forrest spielte das Spiel mit, ließ je nach Gemütslage den einen oder anderen gewinnen, ohne dass es einer der beiden ahnte. »Konnte er schon etwas zu dem Toten sagen?«

Jesse lehnte sich zurück. Nach wie vor war seine Lebensfreude nicht erloschen, auch sein Optimismus war ihm erhalten geblieben. Immerhin war er imstande, sich selbständig aus dem Rollstuhl in den Bürostuhl zu hieven. Sogar sein amputierter Unterschenkel war durch eine Prothese ersetzt worden, obwohl er nach wie vor keinen Schritt zurücklegen konnte. Seelisch erfüllte die künstliche Gehhilfe dennoch ihren Zweck: Jesse fühlte sich besser, irgendwie vollkommen. Er hatte es niemandem verraten, aber das fehlende Stück an seinem Bein hatte monatelang an seinem Selbstwertgefühl genagt. »Nichts. Das Opfer trug keine persönlichen Sachen mit sich. Ich habe während deiner Abwesenheit die Anzeigen über Vermisste durchgesehen. Nada. Die von Peter erhaltene Beschreibung des Leichnams ähnelt in keinem Punkt einer verschwundenen Person. Unser umworbener Pathologe hat die Größe des Toten mit knapp sechs Fuß angegeben, in Europa entspräche es einhundertachtzig Zentimetern. Das Gewicht des Ermordeten beträgt laut Peter zweihundertzwanzig Ibs, jenseits des Ozeans wären das rund einhundertzehn Kilogramm. Ein Kerl dieser Statur lässt sich in der Datenbank nicht finden.«

Forrest schüttelte unmerklich den Kopf. Er schätzte Jesses Arbeit, insbesondere seine Künste und Einfälle am Computer und bei Recherchen. Dennoch ging er ihm manchmal auf den Nerv, so wie eben. Deswegen fragte er: »Okay, was meinst du, mit umworbenem Pathologen, was hast du mit Europa, den Maßen und Gewichtseinheiten dort am Hut?«

»Ach! Sie wissen es noch nicht? Peter hat zwei Stellenangebote. Hier bei uns könnte er im Massachusetts General Hospital stellvertretender Leiter der Pathologie werden, in Philadelphia wurde ihm die Leitung einer solchen angeboten.«

»Hat er sich schon entschieden?«, fragte Forrest.

»Wenn überhaupt, würde er im Pennsylvania Hospital anfangen, aber ich glaube nicht, dass er gehen wird.«

»Wie kommst du darauf?«

»Peter kann Philadelphia nicht leiden.«

Forrest lächelte. »Nun, falls er doch geht, kann es ihm niemand verübeln. Solche Chancen bekommt man nicht oft im Berufsleben. Im Vergleich zu mir ist er noch jung, dürfte ihm nicht schwerfallen, sich da oder dort einzugewöhnen.«

»Boss, jede Wette, er bleibt«, erwiderte Jesse, der sich regelmäßig in Erinnerung rief, wem er gegenübersaß. Forrest und er waren seit Monaten unter vier Augen per du, durchaus mehr als nur Kollegen. Dennoch wählte er gelegentlich eine förmliche Anrede, mit der er sich ins Bewusstsein rief, dass er sich mit seinem Vorgesetzten unterhielt. Er wechselte das Thema: »Die Leiche auf der "Belle Isle Marsh Reservation", was schätzt du, was kommt mit ihr auf uns zu? Ist doch ziemlich makaber, dass sie ausgerechnet auf der Insel gefunden wurde.«

Der Detective runzelte die Stirn. »Was auch immer, garantiert viel Mist. Die Todesart, der Fundort, beides ist kein gutes Omen.«

»Was können wir im Moment tun?«

Forrest zuckte mit den Schultern. »Ich sagte doch, dieser Fall steht unter keinem hell leuchtendem Stern, befindet sich eher in der nähe eines schwarzen Lochs. Im Augenblick haben wir keine andere Wahl, müssen auf Peters Ergebnisse warten.«

Jesse nickte geknickt, auch er als Optimist sah ermittlungstechnisch eine düstere Zukunft auf sie zukommen. »Ich hatte Peter gefragt, ob er mir ein Bild des Gesichts des Leichnams vorbeibringen würde, er hat abgelehnt. Sieht er so schlimm aus?«, fragte er, obwohl er eigentlich keine Antwort auf die Frage hören wollte.

Waterspoon dachte kurz an den Anblick des Toten, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Eine Gesichtserkennung würde nichts bringen«, antwortete er, ging bewusst auf das Aussehen des Umgebrachten mit keinem Wort ein.

Es klopfte, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, betrat der Pathologe Peter Brandon das Büro. Er grüßte, begab sich in den Rücken von Forrest, setzte die dort stehende Kaffeemaschine in Gang. Kaum getan, zog er sich einen Stuhl heran, nahm zwischen Forrest und Jesse am Schreibtisch Platz. Dem Detective war die Blässe des Facharztes aufgefallen, den Grund dafür bekam er sogleich vermittelt. Peter schlug die Beine übereinander, sah ungeduldig zu der schwer schnaufenden Kaffeemaschine, ergriff das Wort: »Der Tote wurde gesäubert, gewogen, gemessen, anschließend habe ich ihn aufgeschnitten, die Obduktion ist allerdings nicht vollständig abgeschlossen. Ein seltsamer Fund ließ mich meine Arbeit unterbrechen.« Er unterbrach sich, fasste in die rechte Tasche seines Kittels, holte einen Würfel hervor, legte ihn auf die Tischplatte, wofür er erstaunte, fragende Blicke erhielt. »Ja, ich kann eure überraschten Blicke verstehen. Ein Würfel, wie er bei Monopoly oder anderen Brettspielen verwendet wird, aber bitte seht ihn euch genauer an.«

Jesse nahm ihn an sich, fing an ihn zu mustern, während Forrest fragte: »Woher haben Sie ihn?«

»Er war im Magen des Opfers«, erwiderte Peter in einem Ton, als ob es das normalste der Welt wäre.

»Die Menschen werden immer irrer«, stellte der Detective zähneknirschend fest. Zeitgleich hielt Jesse abrupt inne, sah den Gegenstand zwischen seinen Finger angewidert an, war froh, ihn an Forrest weiterreichen zu dürfen. Er hatte bereits entdeckt, was Peter Brandon ihnen unbedingt zeigen wollte. Waterspoon atmete tiefer als sonst durch, nahm den Holzwürfel in die Hand, sah sich jede Seite an. Alle Flächen des Spielgeräts waren intakt, bis auf eine. Die Punkte, welche die Zahl "Sechs" darstellen sollten, waren weggefeilt, stattdessen war auf der Seite mit einem Messer ein Kreuz eingeschnitzt worden. Forrest sah alles andere als erfreut auf. »Eine Botschaft, gleichermaßen eine Drohung«, urteilte er über das Gesehene. »So wie ich es verstehe, soll uns der Würfel sagen, dass es fünf weitere Tote geben wird. Jemand anderer Meinung?«, erkundigte er sich mit einem Ton, der seine Nachdenklichkeit verdeutlichte. Er erntete keinen Widerspruch, wandte sich an den Forensiker: »Der Würfel zeigt, was auf uns zukommen könnte, bringt uns jedoch nicht einen Schritt weiter. Konnten Sie sonst noch etwas finden, erkennen oder sehen, was Ihrerseits eine Schlussfolgerung zulässt?«

Peter erhob sich, füllte drei Pötte mit Kaffee, servierte sie, setze sich wieder. Wie vorher schlug er aufgrund seiner Position die Beine übereinander, sie wegen der geschlossenen Seitenwand des Schreibtisches auszustrecken, blieb ihm verwehrt. »Die DNA-Analyse habe ich in die Wege geleitet, ansonsten kann ich nur spekulieren.«

»Bitte, fangen sie an«, entgegnete Forrest,

»Der Mann dürfte um die sechzig sein, scheint zumindest in den letzten Jahren körperlich wenig Bewegung gehabt zu haben. Aufgefallen sind mir seine Hände. Trotz der Brandblasen gewann ich den Eindruck, dass er keiner schweren Arbeit nachging. Wenn ich raten müsste, würde ich ihn für einen Lehrer, Bürohengst oder Arzt halten.«

Forrest sah zu Jesse, der sofort wusste, in welche Richtung er Recherchen anzustellen hatte. Die Suche verlief ergebnislos, weder ein Unternehmen noch eine Schule oder eine Klinik vermissten einen Mitarbeiter. Anschließend erklärte der Detective den Arbeitstag für beendet. Ohne die Identität des Ermordeten oder einen Hinweis auf seine Herkunft fehlte jeder sinnvolle Ansatz, um irgendwelche Ermittlungen in irgendeine Richtung aufnehmen zu können.

D

er Alltag von Forrest und seiner Frau, Betty, hatte sich in zweierlei Hinsicht gewaltig geändert. Falsch: Bettys Stunden zuhause waren nicht mehr dieselben wie vor ein paar Monaten, wovon auch der Detective betroffen war. Nach den Ereignissen im vergangenen Jahr, der Angst, in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher zu sein, ließ sich Betty nicht davon abbringen, sich einen Hund anzuschaffen. Über ihre Kontakte und Freunde kam sie an einen Labrador-Welpen, der sich im Haus Waterspoon schnell eingewöhnte. Merkwürdigerweise schloss die äußerst verspielte, eigenartig verschmuste Hundeseele insbesondere den mürrischen Detective ins Herz. Wenn Forrest vom Dienst nach Hause kam, war somit vorerst an den wohlverdienten Feierabend nicht zu denken. Kaum hatte Forrest den Hausflur betreten, rastete der Labrador aus, lief hin und her, sprang ihn mehrfach an, bis Waterspoon ihm endlich die Leine anlegte und mit ihm spazieren ging.

Zu Beginn waren die Runden mit dem Hund für Forrest eine Qual, inzwischen gehörten sie zu seinem Feierabendritual, was er nie zugegeben hätte. Das ihm die fast täglichen Fußmärsche guttaten, er sich fitter fühlte, wäre seinerseits abgestritten, zumindest in Frage gestellt worden. Dass sein Gewichtsüberschuss durch die Bewegung eine Regulierung erfuhr, konnte er allerdings nicht leugnen. Dennoch blieb eine Tatsache bestehen: Der Labrador besaß ein Gemüt, von dem sich selbst Kleinkinder angezogen fühlten. Bester Beweis war der kleine Adam, der inzwischen seit siebzehn Monaten die Familie Waterspoon mit seinem Dasein erfreute. Siebenmal in der Woche nahm sich Betty seiner Obhut an, immer vormittags, aber eben auch am Wochenende. Ja, Forrest war Opa, Betty Oma. Ihre Adoptivtochter, Molly, hatte im August 2019 entbunden, einen Jungen zur Welt gebracht, ihn nach seinem verstorbenen Vater benannt. So groß die Freude über den Familienzuwachs auch war, in den Stunden nach der Geburt, ebenso beim Anblick des Babys in den Wochen danach: Der verblichene Kameramann, Erbe und Inhaber des Fernseh- und Radiosenders "AM-Channel", Adam Kean, schien in den Köpfen und Herzen der Waterspoons wiedergeboren zu sein. Der Verlust blieb, die Trauer auch, doch sie wurde wie vorher zu einem Teil des alltäglichen Daseins, erhielt durch den Nachwuchs stetige Streicheleinheiten.

An diesem Abend, nachdem Forrest von seiner Tour mit "Bully", so hieß der Hund, zurückgekehrt war, saßen er und Betty wie meistens in der Küche, nicht im Wohnzimmer. Sie hatte ein Glas Wein vor sich stehen, der Ermittler begnügte sich mit seinem gewohnheitsmäßigen Feierabendbier. Die allabendlichen Gespräche gehörten bei dem Ehepaar ebenfalls zu einer Tradition, die nur entfiel, wenn der Haussegen schief lag, Betty unterwegs oder Forrest dienstlich unabkömmlich war. Der als Wachhund zugelegte, jedoch für diesen Job völlig ungeeignete »Bully", lag ausgelaugt im Flur, offenbar hatte ihm Forrest diesmal entweder konditionell Paroli bieten können oder ihn richtig laufen lassen.

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ammy hatte sich im Internet auf die Suche begeben, war fündig geworden. Tatsächlich fand er im Internet unter den Angestellten des Pennsylvania Hospitals in Philadelphia einen Doktor Martin Hengston. Seine Geisel hatte ihn nicht in die Irre geführt, Zeit geschunden beziehungsweise belogen, was ihr nach seinem Willen keinen Vorteil einbringen sollte. Mitleid konnte er nicht aufbringen, Gnade keinesfalls gewähren. Beides war ihm nicht zuteilgeworden, weswegen seine Verbitterung eine Dimension erklommen hatte, die außerhalb aller menschlichen Gefühle lag.

Im Grunde war Sammy ein Ableger Jim Geers, nur das genaue Gegenteil seiner Wesenszüge. Während Jim Geers aufgegeben, seiner Ansicht nach versagt hatte, wollte Sammy die Dinge nicht so einfach hinnehmen, schlucken, schweigen, nichts tun. Zuerst ging er einen legalen, rechtmäßigen Weg, mit dem Endergebnis absolut nichts erreicht zu haben. Die Wut darüber führte keineswegs zu einer Verblendung, eher zu einem Gerechtigkeitswahn. Sammy wurde nicht von Rachegelüsten geleitet, sondern durch Gedanken, die sich mit dem Jetzt und dem Morgen befassten. Was ihm passiert und angetan worden war, konnte jederzeit anderen Menschen widerfahren. Nicht ausgewählten Leuten, darauf gab es keinerlei Hinweise, stattdessen schien jeder gefährdet, der ein einigermaßen normales Leben führte. Nein, Sammys Bestrebungen unterlagen nicht zu hundert Prozent irgendwelchen vorbeugenden Maßnahmen, ebenso wenig einer Zivilcourage, durch die er seine Mitmenschen vor Schäden bewahren wollte. Dieser Punkt lag ihm durchaus am Herzen, niemand sollte so enden wie er, aber unter dem Strich ging es ihm nur um eines: Gerechtigkeit! Wenn Sammy von Gerechtigkeit sprach, bezog er sich bezüglich seines dramatischen Werdegangs nicht auf Gesetzbücher und die Bibel. Er sah sich von den Dingen geleitet, die eine vernünftige Gesellschaft mit den Worten Anstand, Moral, Ethik, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft verband.

In seinen Augen war jeder gefährdet, ausgenommen schienen Menschen zu sein, die krank, anderweitig gebrechlich, ein gewisses Alter überschritten hatten. Zu diesem Kreis gehörten offenbar auch Süchtige, Obdachlose, Behinderte und Personen, die im Licht der Öffentlichkeit standen. Wie Jim Geers war Sammy ehemals in verschiedenen Therapie- und Selbsthilfegruppen unterwegs gewesen, was er sah, zu hören bekam, entsprach seinem Ebenbild. Die Mitbetroffenen erzählten zum Teil Geschichten, die von ihm hätten stammen können. Ein Jahr bewegte er sich in diesem Umfeld, gebracht hatte es null, bis auf das bereits erwähnte Teilnehmerfeld. Keiner der Anwesenden war älter als sechzig, selten jünger als dreißig, niemand sah ernsthaft krank aus. Alle in der Runde waren vor dem erlittenen Schicksalsschlag, der ihnen ihre Lebensgefährtinnen in unterschiedlichen Methoden entrissen hatte, sogenannte normale Durchschnittsbürger. Auffällig: An den Diskussionen nahmen keine Frauen teil. Sammy forschte nach, fand bald heraus, dass es gleichgesinnte weibliche Gruppen gab. Im Vergleich zum männlichen Geschlecht war ihre Anzahl jedoch deutlich geringer. Spätestens ab dieser Erkenntnis begann sich Sammy zu verändern, nach seinem Misserfolg vor Gericht und dem erlittenen Unrecht wurde er zu dem Mann, der einen Kontrast zu Jim Geers darstellte. Jim war in jeglicher Hinsicht überfordert. Sammy hingegen fing Pläne zu schmieden an. Jim griff zur Flasche, umgekehrt holte Sammy zum Gegenschlag aus, der eines Tages zu einem Rundumschlag werden sollte. Diesem Vorhaben war er nun einen Schritt nähergekommen, schließlich hatte er Doktor Martin Hengston gefunden.

Es war spät geworden als Sammy sich auf den Weg zu seinen Komplizen machte, sie in sein Auto einsteigen ließ, mit ihnen zur Blockhütte fuhr. Seinen Weggefährten war es nicht anders ergangen wie ihm, allerdings hatten sie sich nicht wie er verhalten, sondern schamlos egoistisch gehandelt. Insofern sah es Sammy als gerechtfertigt an, die beiden Schwachköpfe für seine Zwecke zu benutzen. Die Zwei waren ihm bei einer der Selbsthilfegruppen zufällig vor die Füße gelaufen. Die Gesprächsrunde war von ihnen nur aus einem Grund einmalig aufgesucht worden: Sie wollten sehen, wie andere Männer mit ihrem Nackenschlag fertig wurden. Nach der Diskussion stand für sie fest, sich von ihren Lebensgefährtinnen zu trennen, obwohl ihre Freundinnen nicht das Los teilten, welches Jims und Sammys Ehefrauen erleiden mussten. Die Männer waren im gleichen Alter, unbedeutend jünger als Sammy, seit Jahren befreundet, womit der Zufall wieder einmal seine intriganten Hände in ein perfides Spiel eingebracht hatte. Das zwei befreundete Hohlköpfe dasselbe Schicksal teilten, war schon bemerkenswert genug, übertroffen wurde es durch die fast schon makabre Tatsache, dass sie nie zuvor und nie wieder danach einer Selbsthilfegruppe die Ehre erwiesen.

Mit ihnen betrat Sammy die Hütte, dass an den Stuhl gefesselte Opfer wurde schlagartig wach, hob den Kopf, sah erschrocken dabei zu, wie die ihm unbekannten Komplizen den Grill in Betrieb nahmen.

»Was haben Sie vor«, fragte er stammelnd, mit trockenen, rau gewordenen Lippen.

Sammy setzte sich vor den Gefangenen, fragte: »Wer noch, wer war noch dabei?«

Der Gefesselte fing zu schluchzen an, schwor, sich an keinen Namen erinnern zu können, bat um Erbarmen. Sammy glaubte dem Mann, doch Barmherzigkeit ließ er keine walten, oder doch? Er hatte sein Opfer problemlos vom Areal einer Pflegeeinrichtung für Demenzkranke entführt. Durch Zeitungsberichte wusste er, dass sich der vor ihm sitzende, in Vergessenheit geratene verwitwete Prominente im Anfangsstadium der Krankheit befand. Wäre die Möglichkeit gegeben, ihm sämtliche Erinnerungen für immer aus dem Gehirn zu pusten, hätte Sammy womöglich den alternden Mann verschont. Doch für Vergebung gab es keinen Platz, sie wurde auch von seinem überdachten Gerechtigkeitssinn nicht in Erwägung gezogen. Was folgte, war Grausamkeit pur. Während der Prozedur dachte Sammy nur an die Qualen, die einst seine Frau ertragen musste. Das Opfer wurde mehrfach mit kochendem Wasser übergossen, am Unterleib, im Gesicht, überall. Dazwischen kamen immer wieder Elektroden zum Einsatz, bis der Gefolterte zu atmen aufhörte. Für die Entsorgung der Leiche waren wie zuletzt Sammys Komplizen zuständig, sie kannten ihre Anweisungen.

S

ammys Komplizen hatten wie besprochen die gefolterte Leiche erneut auf der "Belle Isle Marsh Reservation" abgelegt. Welchen Plan ihr Leader damit verfolgte, darüber waren sie von ihm im Unklaren gelassen worden. Sammy nahm nämlich an, dass die beiden Strohköpfe seine Motive und Ziele ohnehin nicht kapiert hätten. Weiterhin war er der Überzeugung, je weniger sie wussten, umso besser war es für ihn. Die Aktion der Leichenentsorgung war mit Sammys Wagen durchgeführt worden, nachdem er zuvor in der Innenstadt ausgestiegen war. Auf der Rückfahrt von East Boston durch den Callahan-Tunnel unter dem "Boston Harbor" in den Stadtteil "North-End" bekamen die zwei Idioten Hunger, besorgten sich Hamburger. Erst danach fuhren sie zum verabredeten Treffpunkt und Termin mit Sammy nach "Beacon Hill", einem der gehobenen Viertel Bostons.

Weit nach Mitternacht standen sie Sammy gegenüber, der über ihre Blödheit nur den Kopf schütteln konnte. Er verzichtete darauf ihnen die Leviten zu lesen, noch benötigte er ihre Hilfe. Stattdessen erklärte er ihnen, was sie nachfolgend zu tun hatten, ließ sie nacheinander vorsichtshalber den erteilten Auftrag wiederholen. Als geschehen, deutete er nochmals auf das Gebäude, dessen Hausbesitzer die beiden in ihre Gewalt, anschließend in die Blockhütte bringen sollten. Keiner der Komplizen stellte eine Frage, ihnen war es egal, in welchem Zusammenhang die zu entführende Person zu den Ereignissen stand. Sie unterstützen Sammy nicht wegen dem Verlust ihrer Lebensgefährtinnen, machten teilweise aus Spaß mit. Letztlich wollten sie die Menschen leiden sehen, die vorsätzlich über sie und ihre Mitmenschen Kummer und Schmerz gebracht hatten. Ohne Sammy wären sie diesbezüglich aufgeschmissen, rat- und hilflos gewesen, mit ihm konnten sie ihren Hang zum Sadismus ausleben. Den Drang zur Brutalität zu unterdrücken war ihnen stets schwergefallen, selbst in ihren Beziehungen wurden sie hin und wieder von ihm heimgesucht. So ähnlich schätzte Sammy die Kerle ein, auch deshalb hatte er vor, sie rechtzeitig abzuservieren. Er überließ ihnen seinen Wagen, ließ sie stehen, ging zu Fuß nach Hause. Die Zwei wussten, was er von ihnen erwartete, wobei er sich sicher war, auch diesmal von ihnen nicht enttäuscht zu werden. Zumindest noch nicht. Der Tag, an dem die beiden liebend gern aussteigen würden, lag nach Sammys Einschätzung nicht weit entfernt.

Gemächlichen Schrittes schlenderte Sammy nach "Bay Village", wo er in einem Wohnblock ein Bewohner von vielen war. Es war so ziemlich der einzige Unterschied, der zwischen ihm und Jim Geers bestand: Sammy war nach wie vor berufstätig, trotz hoher Ausgaben in der Vergangenheit besaß er keine finanziellen Probleme, musste sich keinen Einschränkungen unterziehen. Er legte sich ein paar Stunden aufs Ohr, stieg in der Morgendämmerung in seinen Zweitwagen, fuhr zur Blockhütte. Zu seinem Erstaunen waren die Komplizen schon vor Ort, mangels einer Order seinerseits hatten sie den Entführten schon gekocht und gebraten, waren stolz auf ihr Werk, standen parat, um den Leichnam zu entsorgen. Ihre synchrone Frage lautete: »Wohin mit ihm?«

Dass die zwei nicht ganz frisch in der Birne waren, hatte Sammy bereits am Tag ihres Kennenlernens erkannt. Ihnen eine Dummheit zuzutrauen, die zum Himmel schrie, unterließ er, wie er nun sah, fälschlicherweise. Entgegen dem Bedürfnis laut loszuschreien, blieb er ruhig, bekreuzigte sich beim Anblick des Toten, bei dem es sich um einen mittlerweile pensionierten Richter handelte. Sein Blick fiel auf die verblödeten Weggefährten, die sich nach und nach zu einem Risiko zu entwickeln schienen. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts wäre es vernünftig gewesen, die zwei Hornochsen sofort zur Schlachtbank zu führen, aber er entschied sich dagegen. Dafür erteilte er ihnen einen neuen Auftrag. »Fahrt nach Hause, ruht euch aus, schmeißt den Drecksack heute Nacht in der "Washington Street" auf die Straße. So sorgen wir für etwas Chaos bei den Bullen, ein wenig Unruhe unter der Bevölkerung und vor allem für die notwendige Aufmerksamkeit.« Sammy bekam lächelnde Gesichter zu sehen, die sich darauf freuten, die gestellte Aufgabe zu erledigen. Er sah ihnen zu, wie sie den Toten in einen vor der Blockhütte stehenden Schubkarren warfen, anschließend noch einmal zu ihm sahen, woraufhin er erneut das Wort ergriff. »Jungs, in Zukunft keine Toten ohne meine Anweisung, haben wir uns verstanden?« Die Zwei nickten, der Stolz auf ihre vollbrachte Tat verschwand aus ihren Gesichtern. »Es ist passiert, ich mache euch keinen Vorwurf, habe euch ja nicht darauf hingewiesen. Nur hätte ich mit dem Richter gerne noch ein paar Worte gewechselt, bevor er von der Tag- zur Nachtseite gewandert wäre.«

»Sorry«, entschuldigte sich einer der Komplizen.

»Kommt nicht mehr vor«, versprach der andere und fragte: »Wer ist als nächstes dran?«

Sammy kam ins Grübeln. "Sollte er den Vollpfosten noch eine Chance geben?", fragte er sich, beschloss sie zu testen. »Da ihr schon voreilig wart, habt ihr ihn wenigstens den richtigen Würfel schlucken lassen?«

Die Zwei sahen sich nachdenklich an, der geistig flinkere antwortete: »Den mit fünf Ziffern, lag kein anderer da.«

"Gottseidank", dachte sich Sammy, bemerkte, dass ihn die zwei zu verwirren begannen. Kurzfristig hatte er vergessen, dass er den Würfel mit den weggefeilten Seiten und zwei eingeschnitzten Kreuzen dem gestrigen Opfer verabreicht hatte. Er lobte die beiden, forderte sie auf zu verschwinden, versprach, sich bei ihnen zu melden.« Kopfschüttelnd sah er ihnen nach, auch noch, als sie längst zwischen den Bäumen verschwunden waren. "Was mit ihnen machen?", fragte er sich erneut, im Wissen, sie noch zu benötigen. Eines berücksichtigte Sammy zudem: Die Spatzenhirne konnten für ihn zu einem unbezahlbaren Vorteil werden.

An diesem Tag ließ es Sammy gut sein. Anstatt sich seines nächsten Opfers zu bemächtigen, fuhr er in die Stadt, begab sich dort in sein Büro. Drei Tote innerhalb von achtundvierzig Stunden reichten aus, waren sogar ihm trotz seiner Ziele zu viel. Keinesfalls durfte er zu hastig oder voreilig vorgehen, sonst würde er wenig bis gar nichts erreichen. Um die Ziellinie zu überqueren, bedurfte es mehr als schuldige, für das Geschehene verantwortliche Leichen. Öffentliches Interesse und Entsetzen waren ebenso erforderlich, wie Ermittlungen seitens der Kripo, die sich nicht ausschließlich auf die Suche nach einem Mörder beschränkten.

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as Szenario des Vortags wiederholte sich. Erneut waren Spaziergänger auf der Belle Isle Marsh Reservation fündig geworden, mit dem Unterschied, dass die Dame ohnmächtig wurde, ihr Gatte sich übergeben musste. Erst als sein Magen nichts mehr hergab, außer grüner Flüssigkeit, war er fähig, einen Notruf zu tätigen.

Forrest Waterspoon kam unmittelbar nach Peter Brandon und dessen Team am Fundort an, registrierte im Vergleich zu gestern an dem Pathologen eine ungewohnte Verhaltensweise. Der Facharzt hatte sich noch nicht über die Leiche hergemacht, wohl war sie von ihm umgedreht worden, doch mehr nicht. Normalerweise wäre Peter bereits in seinem Element, intensiv dabei, erste Untersuchungen an dem Toten vorzunehmen. Diesmal stand er nur tatenlos da, direkt neben dem Leichnam, sah reglos auf ihn herab. Der Detective blieb an seiner Seite stehen, blickte kurz auf den im Schlamm liegenden entstellten Körper, schüttelte sich.

»Ich kenne den Mann, obwohl er kaum wiederzuerkennen ist«, gab Peter flüsternd von sich.

Im ersten Moment glaubte Forrest sich verhört zu haben, weswegen er den gehörten und abgespeicherten Satz noch einmal durch seinen Kopf laufen ließ. Gleich darauf überkam ihn eine Befürchtung, die sich glücklicherweise nicht bestätigte. »Ein Freund?«

Peter schüttelte den Kopf, ohne von dem Toten aufzusehen. »Nein, das nicht, aber durchaus eine Art Vorbild, fast schon ein Idol, dass mich oft inspiriert hatte«, erwiderte er hörbar erschüttert.

Die Aussage gab Forrest trotz der Umstände das fast verlorene Sicherheitsgefühl zurück. »Wer ist er?«

»Zu unseren Füßen liegt ein Genie. Professor Henry Wyldberg, eine medizinische Kapazität im Bereich verschiedener Transplantationsverfahren.«

Forrest schluckte, allein das Wort "Transplantation" klang nicht nach seinem Geschmack. Gegen den Ausdruck "Kapazität" besaß er jedoch seit dem Fall von "Forrest Hill" eine unheilbare Allergie. Zurückhaltend äußerte er: »Darf ich fragen, woher Sie ihn kennen?«

»Vor Jahren habe ich einige seiner Vorlesungen besucht, alle seine Bücher gelesen. Sie lesen doch kontinuierlich die Tageszeitung, oder?«, stellte Peter fragend fest, erhielt eine zustimmende Geste seitens des Detectives. »Wundert mich, dass er Ihnen nicht bekannt vorkommt, erst vor ein paar Wochen stand ein Artikel über ihn im "Boston Herald".«

Waterspoon zwang sich in das von Blasen zerfurchte Gesicht des Toten zu sehen. Er zuckte mit den Schultern. »Ich bevorzuge den "Boston Globe". Fachartikel aus der Medizin, Kommentare von Republikanern, Börsennotizen, Meinungen von Experten und Horoskope überspringe ich grundsätzlich«, entgegnete er. »Was stand in dem Artikel?«, warf er eine Frage hinterher.

Peter sah endlich auf, drehte sich Forrest zu. »Das übliche, eine Art Huldigung, die sich fast schon wie ein Nachruf las. Henry Wyldberg ist vor rund vier Jahren in den Ruhestand gegangen, vor etwa zwölf Monaten wurde Demenz bei ihm diagnostiziert.«

»Bitter.«

»Kann man so sagen«, stimmte Peter zu.

»Eine Ahnung, warum er nun hier liegt?«

»Es ist mir ein Rätsel, ich bin ehrlich entsetzt.«

»Können Sie mir sonst noch etwas über ihn sagen, hatte er zum Beispiel Angehörige?«

Der Pathologe schüttelte leicht den Kopf. »Weiß ich nicht, ich habe mich für seine Arbeit, nicht für sein Privatleben interessiert. Was ich sagen kann, ist, dass er Witwer war. Seine Frau ist sehr früh verstorben, danach war Wyldberg ausschließlich mit seiner Arbeit verheiratet. Ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind, kann ich nicht sagen, ebenso ob Geschwister existieren.«

Der Ermittler zog seine rechte Hand aus der Manteltasche, legte sie dem Pathologen auf die Schulter. »Soll ich eine Vertretung für Sie anfordern?«

»Nett gemeint, nein, nicht nötig. Ich schaffe das schon«, lehnte der Gefragte das Angebot ab.

»Peter! Sie müssen das nicht tun, behalten Sie Ihr Idol so in Erinnerung, dass es eines bleiben kann.«

Der Pathologe sah den misshandelten Toten an, blickte zu Forrest. »Ich denke, dafür ist es nun zu spät. Wer ist zu so etwas fähig?«

»Ich werde es herausfinden«, erwiderte der Ermittler mit Nachdruck, presste nach der Aussage unverzüglich die Lippen zusammen, da ihm diesbezüglich beinahe ein Versprechen entkommen wäre.

»Wenn es Ihnen gelingt, wird es eine Belobigung geben. Henry Wyldberg war anerkannt, beliebt, verfügte über Kontakte bis in Regierungskreise.«

»Eine Gehaltserhöhung wäre mir lieber«, entgegnete Forrest. Sorry, dass ich jetzt frage, aber wissen wir schon etwas über die Leiche von gestern?«

»Ich erwarte die DNA-Analyse heute Nachmittag, spätestens morgen Vormittag. Tut mir leid, aber eines dürfte doch nun klar sein, meinen Sie nicht?«

Waterspoon wusste sofort, worauf ihn Peter angesprochen hatte. Er bezog sich mit seinem letzten Satz auf die vermutete Tätigkeit des ersten Opfers. Peter hielt den Leichnam vom Vortag für einen Lehrer, Bürohengst oder Arzt, nun lag ein ermordeter Professor aus der Medizin neben ihnen. »Sie denken der Ermordete war Arzt, nicht wahr?«

Der Pathologe bestätigte, ergänzte: »Ja, die Wahrscheinlichkeit, dass es sich so verhält, ist ersichtlich größer geworden. Seit ich Sie kenne, bin ich vom Glauben an den Zufall restlos abgefallen.«

Forrest lächelte, doch das verhaltene Schmunzeln konnte seine Anspannung nicht verdecken. Forrest fing an, laut zu denken: »Hier liegt ein Professor der Medizin, ebenso übel zugerichtet wie die Leiche gestern. Ihren Worten war zu entnehmen, dass Wyldberg sich im Ruhestand befand, könnte auch auf den gestrigen Leichnam zutreffen. Todesart, Fundort sind identisch, ich gehe schon jetzt davon aus, dass es auch die Berufe trotz etwaiger Abweichungen sein werden. Es kann ja nicht jeder ein Genie sein. Kurzum: Wir sitzen in der Scheiße. Bekommt die Presse davon Wind, stehen wir wieder einmal mit dem Rücken zur Wand, befinden uns in einem großen Haufen Mist, werden erneut die Buhmänner der Nation sein.«

2. Kapitel

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o unangenehm es für Peter Brandon war, ein Idol verloren zu haben: Indem er den Toten erkannt hatte, bekam Waterspoon den Ermittlungsansatz, mit dem er endlich etwas anfangen konnte. Alles andere als überglücklich über die Morde, immerhin ausnahmsweise optimistischer gestimmt, platzte er in sein und Jesses frisch gestrichenes und doch bereits angeräuchertes Büro. Wegen der neuen Farbe auf den alten Wänden an seinem Arbeitsplatz sah er keinen Grund seine Gewohnheiten zu ädern. Deshalb hatte Forrest den eigentlich in öffentlichen Gebäuden unerlaubten Genuss seiner penetrant bis bestialisch riechenden Zigarren nicht eingestellt. Er nahm die Kaffeemaschine in Betrieb, von der er annahm, sie wäre in seinem Alter, zündete sich einen der braunen Balken an, stellte sich ans Fenster und sah seinem deutlich jüngeren Kollegen zu, wie er die Tastatur des Computers bearbeitete.

Jesses Miene leuchtete wie meistens voller Lebensfreude, erst recht als ihm Forrest den Auftrag gegeben hatte nachzuforschen, ob inzwischen eine Suchmeldung über einen gewissen Henry Wyldberg vorlag. Die Gesichtszüge des stets eifrigen Partners verfinsterten sich mit einem Schlag, betrübt blickte er zu Forrest. »Boss, ich schwöre, gestern war keine Vermisstenanzeige drin, heute ist sie da. Henry Wyldberg, achtundsechzig Jahre, er wird in einer Pflegeeinrichtung für Demenzkranke vermisst. Woher wussten sie …«

Waterspoon blies den Rauch aus dem Fenster, fiel Jesse ins Wort, erzählte ihm, was sich vor seinem Erscheinen auf der "Belle Isle Marsh Reservation" ereignet hatte. Schließlich wechselte er das Thema, kam wegen Jesses Sorgenfalten auf der Stirn auf die Vermisstenmeldung zu sprechen: »Du musst dir keine Vorwürfe machen, ganz bestimmt hast du die Suchmeldung nicht übersehen. In der Regel läuft es nämlich in fast allen Pflegeeinrichtungen und Altersheimen ähnlich ab: Verschwindet jemand, wird nicht sofort die Polizei gerufen, stattdessen begibt sich ein Teil der Belegschaft auf die Suche. Bleibt sie erfolglos, werden wir eingeschaltet. Ich nehme an, Mister Wyldberg wird gestern Abend, vielleicht sogar erst heute Morgen als vermisst gemeldet worden sein. Würden wir von den Einrichtungen immer verständigt werden, wenn jemand abgeht, hätten wir nichts anders mehr zu tun, als kranke oder alte Leute zu suchen. Kannst du sehen, wann Wyldberg als vermisst gemeldet wurde?«

Erleichtert sah Jesse Owens auf den Monitor. »Schon gestern Abend, um genau zehn Uhr.«

»Dann wurde seine Abwesenheit zwölf bis vierzehn Stunden vorher bemerkt, das heißt er ist entweder während der gestrigen Nacht oder in allerherrgottsfrühe in die Hände seines Mörders geraten«, schätzte Forrest.

»Der Grund dieser Theorie lautet?«

Waterspoon entgegnete: »Es ist keine Vermutung, kommt von der Zeit garantiert hin. Wäre das Opfer in der vorletzten Nacht bei Beginn der nächtlichen Ruhezeit nicht in seinem Zimmer gewesen, wären wir deutlich früher alarmiert worden. Es gibt eine ungeschriebene Vereinbarung zwischen der Bostoner Polizei und den besagten Institutionen: Verschwindet ein Insasse, keine Panik, Ruhe bewahren. Ältere Leute haben oft ein Bedürfnis der Einrichtung zu entfliehen, sei es nur für ein paar Stunden. Demenzkranken im Anfangsstadium geht es nicht anders, schwerere Fälle verlaufen sich oft nur, tauchen aus dem Nichts wieder auf.«

»Verstehe. Ich nehme an, mein nächster Auftrag lautet alles über Henry Wyldberg, seine Familie und sein Umfeld herauszufinden, oder?«

Forrest nickte. »Richtig. Suchst du mir bitte die Adresse des Pflegeheims raus, ich werde mich dort ein wenig umsehen, herauszufinden versuchen, ob jemand ungewöhnliches beobachtet hat.« Waterspoon legte die Zigarre auf die Fensterbank, stellte Jesse einen Kaffee hin, gönnte sich selbst einen. Als er wieder seinem Laster frönte, fing er an, laut zu denken. Irgendwann hatte er es sich angewöhnt, auf diese Weise Jesse und den Pathologen an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. »Angenommen die Vermutung trifft zu, dass unser erster zurzeit noch unbekannter Toter ebenfalls einen medizinischen Beruf ausübte, wovon könnten wir dann ausgehen?«

Jesse lächelte. Ihm gefiel dieses Spiel, durch das ihn der Detective tiefer in den Fall einbezog, zugleich seinen Scharfsinn testete. »Dass der oder die Täter keine Ärzte mögen«, antwortete er salopp.

»Genau, und warum?«, stellte Forrest die nächste Frage.

Forrests Kollege überlegte kurz. »Für mich käme Ärztepfusch an ihm oder einem Familienmitglied am ehesten in Betracht.«

Waterspoon nickte. »Ja, in die Richtung habe ich mich auch bewegt, aber es gibt ein Detail, der diese Theorie fraglich erscheinen lässt. Wyldberg war in Pension, warum sollte ein Geschädigter erst jetzt zuschlagen? Im Übrigen: Der oder die Täter! Wir haben einen Mörder, der vielleicht allein tötet, aber definitiv hat er Komplizen«, stellte er klar.

Jesse bewies, dass er zugehört und mitgedacht hatte. »Wegen dem Fundort. Kein Mensch könnte die Leichen allein dorthin bringen, wo sie gefunden wurden.«

»Korrekt.«

»Warum eigentlich "Belle Isle?"«, drehte Jesse den Spieß mit der Befragung um.

»Keinen blassen Schimmer«, gab Forrest zu.

»Ich werde mich ein bisschen schlauer über den Ort machen, vielleicht finde ich ein Puzzlestück«, versprach Jesse.

»Bin gespannt, ob das was bringt«, entgegnete der Detective skeptisch. Forrest warf den Zigarrenstummel in den letzten Schluck seines Kaffees, machte sich auf den Weg zu der Pflegeeinrichtung. Die Fahrt führte ihn nach längerer Zeit wieder einmal nach Sommerville, einem nordwestlich gelegenen Vorort von Boston. Mit gemischten Gefühlen trat er die Reise an, die Erinnerungen an den Ort waren ziemlich durchwachsen. Immerhin waren er und Jesse beschäftigt, besser als nur auf die Ergebnisse der Gerichtsmedizin warten zu müssen. Was den Fall und die Morde anbetraf, war Forrest Waterspoon gespalten. Ein Racheakt gegen Ärzte wegen eines Fehlers bei einer Operation, vielleicht sogar aufgrund des Todes eines geliebten Menschen klang zwar logisch, passte jedoch nicht ins zeitliche Bild. Zu lange war Henry Wyldberg im Ruhestand.

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ie Pflegeeinrichtung lag am Ende von Sommerville, unweit des Highways 93. Das Areal war frei zugänglich, dass Gebäude besaß Ähnlichkeit mit einer Klinik, schien nicht alt zu sein. Forrest erfuhr im Laufe seiner Anwesenheit mehr über die Institution, die erst vor wenigen Jahren ihre Zelte in dem Ort aufgeschlagen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---