Eine eigene Zukunft - María Dueñas - E-Book

Eine eigene Zukunft E-Book

María Dueñas

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Beschreibung

Im Jahr 1936 holt der Vater die drei Töchter nach, aus der andalusischen Provinz mitten hinein in die Hauptstadt der Welt: New York. Hier sollen sie im Restaurant helfen. Doch als der Vater stirbt und das Geld kaum zum Überleben reicht, wissen sich Victoria, Mona und Luz nicht anders zu helfen: Sie verwandeln das väterliche Lokal in einen Nachtklub. Gemeinsam begeben sie sich auf ein verwegenes Abenteuer in den Häuserschluchten Manhattans. Sie begegnen der Liebe, verfallen der Leidenschaft zur Musik und kosten den süßen Geschmack der Unabhängigkeit (zum allerersten Mal) …
María Dueñas hat einen ergreifenden Schwesternroman geschrieben. Ein Buch über drei starke Frauen, die sich einen Platz in der Fremde erkämpfen, über Familienbande und den Glanz der ersten großen Gefühle.

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María Dueñas

Eine eigene Zukunft

Aus dem Spanischen von Petra Zickmann

Insel Verlag

Für meine Schwestern, so unentbehrlich und authentisch wie die Arenas

Für meine Cousinen, meine Beinahschwestern

Für alle, die das Leben in die Emigration trieb

Erster Teil

· 1 ·

Immer noch waren sie von Kopf bis Fuß in Schwarz: Schuhe, Strümpfe, Schleier, Mäntel. Hinter ihnen schob sich eine Handvoll Nachbarinnen herein, die vermutlich dachten, dass man sie noch nicht allein lassen sollte. Eine setzte Kaffee auf, eine andere stellte eine Dose Kekse auf den Tisch; unter Murmeln und Flüstern drängten sie sich in der Küche. Sie fassten die Mutter bei den Schultern und drückten sie auf einen Stuhl, sie ließ es sich gefallen. Victoria holte ein paar Tassen aus dem Schrank, Mona nahm den geliehenen Hut ab, grub die Finger ins Haar und kratzte sich am Kopf, Luz lehnte am Spülbecken und hörte nicht auf zu weinen.

Sie kamen von der Beerdigung des Vaters, der jetzt auf dem Calvary Cemetery in Queens unter Lehm und Schnee begraben lag. Dort würde Emilio Arenas in alle Ewigkeit ruhen, umgeben von den Gebeinen anderer Menschen, die nie seine Sprache gesprochen hatten und niemals erfahren würden, dass er diese Welt zum unpassendsten Zeitpunkt verlassen hatte. Zum Sterben ist fast jeder Zeitpunkt der falsche, doch wenn es einem mit zweiundfünfzig Jahren widerfuhr, man durch einen Ozean von der Heimat getrennt war und eine entwurzelte Familie mit einem kleinen, eben erst eröffneten Geschäft und einer Menge Schulden hinterließ, war alles noch ein bisschen trostloser.

Weder seine Frau noch seine drei Töchter wären imstande gewesen, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren, seit ein Nachbarsjunge die Treppe bis in den vierten Stock heraufgerannt war und mit den Fäusten an ihre Tür gehämmert hatte. Die Nachricht hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Ein Unglück, hieß es. Ein beklagenswerter Unfall. Beim Entladen der Marqués de Comillas an einem Pier des East River hatte sich ein Haken gelöst, sodass ein mit Gepäckstücken beladenes Netz herabgestürzt war. Ein Missgeschick. Eine grauenhafte Tragödie.

Fatal head trauma stand in dem Arztbericht, der halb zerknittert neben dem Kerosinofen lag. Keine hatte ihn gelesen. Hätten sie es versucht, hätten sie ohnehin nichts begriffen. Er war in einem unverständlichen Englisch verfasst, voller Formalismen und Fachausdrücke: Frontoparietale Region, Fraktur mit Austritt cranioencephalischer Masse, Subduralhämatom. Doch selbst wenn es ihre Muttersprache gewesen wäre, hätten sie gerade mal drei Wörter begriffen: Unbedingt tödliche Verletzungen. Und die Mutter nicht einmal das, sie konnte nicht lesen.

Von diesem Augenblick waren ihnen nur mehr einzelne Streiflichter im Gedächtnis geblieben. Wie sie hinter dem Jungen her die Treppe hinunter und zu La Nacional gerannt waren, wo die Nachricht zuerst eingetroffen war. Die Leute, die ihnen an den Fenstern und auf der Straße hinterhergeschaut hatten, das Auto der Hafenbehörde, das mit quietschenden Reifen neben ihnen gebremst hatte, der uniformierte Mann, der in Begleitung eines spanischen Arbeiters war und sie genötigt hatte, in den Wagen zu steigen. Die Straßen durch die Seitenfenster auf dem Weg zur Lower East Side, das Zickzack der Feuertreppen an den Fassaden, hastende Passanten, die kreuz und quer über die Fahrbahnen liefen. Die Ankunft am Pier 8 der Trasatlántica, der kahlköpfige Arzt, der sie in dem Raum empfing, der als Krankenstation diente, und die Bewegungen seiner Lippen unter dem grauen, nikotinvergilbten Schnurrbart, seine Worte, die ins Leere gingen, weil sie sie nicht verstanden. Die ernst dreinblickenden Männer, die hinter ihnen Stellung bezogen, der mit einem Laken bedeckte Körper auf der Bahre, ein Blecheimer, aus dem mit dunklem, geronnenem Blut getränkte Mullbinden quollen. Die erschütterte Mutter, die aufgelösten Töchter. Die Rückkehr nach Hause ohne ihn.

Auch an das Weitere erinnerten sie sich in einer Flut von Bildern, doch in langsamerer Abfolge. Der Sarg, in dem man ihn einige Stunden später in die Wohnung gebracht hatte und der sich beinahe in den engen Kurven der Treppenabsätze verkeilt hatte, die Kerzen und Blumensträuße auf glänzenden, überdimensionalen Sockeln, die das Bestattungsinstitut geliefert hatte, ohne dass es eine von ihnen bestellt hätte. Die offene Tür, das galicisch, asturisch, karibisch, baskisch, italienisch, griechisch, irisch, andalusisch gefärbte Murmeln der Beileidsbekundungen. Männer, die respektvoll den Blick senkten, während sie den Hut abnahmen. Frauen, die sie auf die Wangen küssten und ihre Hände drückten. Noch mehr Tränen, Taschentücher, Räuspern und betende Stimmen am Ende des Flures, wo der Sarg mit dem übel zugerichteten Leichnam auf zwei Böcken stand. Bis der Morgen graute.

Der neue Tag verging wie im Flug, es kam der Moment der Überführung auf einen Friedhof fern von Manhattan, das Absenken in die Grube, die auf den Holzdeckel geschaufelte Erde, der riesige Nelkenkranz mit Schleife, den jemand ungefragt in ihrem Namen in Auftrag gegeben hatte: Deine Frau und deine Töchter werden dich nie vergessen. Dann die Fürbitte, Luz' herzzerreißendes Schluchzen in der Stille, der Abschied. Wieder sank die frühe Nacht herab, und in ihren Köpfen schwirrte ein Durcheinander aus Lichtern, Empfindungen und Klängen, sie waren zu Hause und wünschten sich, dass alle endlich gingen und sie in Frieden ließen. Mit dem Näherrücken der Abendessenszeit legte sich der Trubel allmählich, und auf der Anrichte blieb zurück, was die Nachbarschaft im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten und in bester Absicht bieten konnte: ein Topf mit Fleischklößchen, eine Moussaka, eine Fleischpastete, eine Aluminiumkanne voller Hühnerbrühe.

Zu guter Letzt blieben die vier allein miteinander und ihrer Realität. Die Töchter, unschlüssig noch, ob sie ihre Gedanken laut aussprechen sollten, begannen zu hantieren, öffneten Wasserhähne und Schubladen, deckten den Tisch. Derweil zog die Mutter zum tausendsten Mal die Nase hoch und wischte sich mit dem zerknüllten Taschentuch die geröteten Augen.

Sie kauten schweigend, ohne aufzublicken, ohne weitere Geräusche als das Klappern der Löffel gegen das Porzellan. Und anschließend, als auf den Tellern nichts übrig war als die Kerngehäuse der Äpfel und ein paar Brotkrusten, schaute Mona, die Pragmatischste von allen, in die Runde und sprach die Frage aus, die sich das ganze Viertel stellte, seit sich herumgesprochen hatte, dass die Truhe eines fremden Schiffsreisenden Emilio Arenas, dem Capitán, den Schädel zertrümmert hatte.

»Und was wird jetzt aus uns?«

· 2 ·

Die Mutter ließ hilflos eine Faust auf den Tisch fallen. Dann stützte sie die Ellbogen auf, vergrub das Gesicht hinter den knochigen Fingern und fing erneut an zu weinen.

Seit sie ihrem Emilio fünfundzwanzig Jahre zuvor bei einem Maifest zum ersten Mal begegnet war, hatten sie nie wirklich zusammengelebt. Nur immer dann, wenn er ohne Vorankündigung alle anderthalb bis zwei Jahre in Málaga an Land ging, ein paar Monate blieb und sie schwängerte, sich jedoch – kaum dass sie anfing, von einem normalen Familienleben zu träumen – eingeengt fühlte und aufs Neue diesem unwiderstehlichen Drang nachgeben musste, mit leeren Händen in die Welt hinauszuziehen, als würde das, was gestern gewesen war, nichts zählen. Dann schnürte er sein Bündel, verteilte eine Handvoll Küsse auf die Stirnen seiner Kinder, tröstete seine Frau mit ein paar vagen Versprechungen und machte sich auf den Weg zum Pier auf der Suche nach irgendeinem Schiff, das ihn zur nächsten Etappe seiner unsicheren Zukunft bringen würde.

Stauer in den Häfen von Marseille und Barcelona, Kellner auf der Plaza Independencia in Montevideo, Straßenverkäufer in Manila, Küchengehilfe auf einem holländischen Frachter. Er konnte gut schnitzen und war ein begnadeter Gitarrist, er ahmte Stimmen nach, sagte Unwetter voraus, und sein Nudeleintopf war unübertrefflich. Seine Haut war rissig wie trockener Lehm, er hatte eine breite Stirn, scharfe Knochen und Haar, das einmal schwarz gewesen war und sich über den Schläfen langsam lichtete. Er hatte Bekannte auf dem halben Globus, und es gab wenige Ecken, wo ihm nicht irgendjemand freundschaftlich auf die Schulter geklopft und ihn zu einem Glas eingeladen hätte. Am Ende des Tages jedoch zog er sich fast immer zurück und rauchte allein unter den Sternen.

Seine Frau, die nie viel Temperament besessen hatte, ertrug seine Abwesenheiten ergeben und seufzend. Seine drei Töchter – die Überlebenden aus sieben Schwangerschaften und vier Entbindungen – liebten es, wenn er heimkam, beladen mit nutzlosen Geschenken: einem afrikanischen Dolch, einem Paar kreolischer Rasseln, dem Fell irgendeines Tieres. Nie gaben sie zu, dass sie mit einer Decke oder einem Paar Schuhe mehr hätten anfangen können. Und seine Schwiegermutter Mama Pepa – die zehn Kinder geboren und außerdem Emilios vaterlosen Nachwuchs bei sich aufgenommen hatte – erzählte überall herum, der Mann ihrer Tochter Remedios sei ein verantwortungsloser Taugenichts.

Gleichgültig gegen die Klagen der Alten und die flehentlichen Bitten seiner Frau, zurückzukommen oder zumindest irgendwo sesshaft zu werden, war Emilio Arenas, nachdem er sich von einem Schlepper im Panamakanal davongestohlen hatte, Anfang 1929 in New York gestrandet, wenige Monate vor dem Börsenkrach und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. Und obwohl die folgenden Jahre hart waren für das gesamte Land, schaffte er es, immer Arbeit zu haben. Er entlud Frachtschiffe, zerteilte Heilbutt auf dem Markt von Fulton und schob einen Karren über das Kopfsteinpflaster von Downtown, als er in Vertretung eines Landsmannes eine Zeit lang die Auslieferungen für das Warenhaus Casa Victori in der Pearl Street übernahm.

Bis ihn die Jahre nach und nach abnutzten wie ein Sägemesser das Schneidbrett: unmerklich, aber erbarmungslos und unumkehrbar. Sein Rücken schmerzte, er hatte einen rauen Husten, sah aus der Nähe nicht mehr gut und merkte, dass ihm für bestimmte Arbeiten die Kraft fehlte. Und zum ersten Mal in seinem unruhigen Leben erfüllte ihn die Vorstellung, sich in Bewegung zu setzen und sein Vagabundendasein wieder aufzunehmen, mit einem seltsamen Gefühl der Apathie.

Und auch in seinem Inneren vollzog sich eine Veränderung. Er, der stets ein Leichtfuß ohne Gott und Vaterland gewesen war, fühlte sich in seiner Umgebung zunehmend heimisch. Unbewusst schloss er sich immer mehr denen an, die seine Sprache sprachen und vom selben Stück Landkarte stammten, und war bald unzertrennlicher Teil dieser Kolonie, mit deren Bewohnern er etwas gemeinsam hatte, das die Melancholiker Heimat nannten.

Die Tatsache, dass er in der Nähe der Cherry Street, im ältesten spanischen Viertel der Stadt, ein Zimmer gemietet hatte, spielte dabei eine maßgebliche Rolle. Dort am äußersten südöstlichen Ende der Insel Manhattan, direkt bei den Piers, im Verkehrslärm der Auffahrt zur Brooklyn Bridge, konzentrierten sich seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts mehrere tausend Seelen aus demselben Winkel der Erde. Anfangs waren es vor allem Seeleute gewesen, Heizer und Schmierer, Köche, Schauerleute, Glücksritter und eine Menge einfacher Matrosen, die in stetem Wechsel an Bord gingen oder an Land kamen. Dann war die Gemeinde gewachsen und vielfältiger geworden, Angehörige wurden nachgeholt, immer mehr Frauen trafen ein, sogar komplette Familien, die zusammengepfercht in den billigen Apartments der umliegenden Straßen wohnten: Water Street, Catherine, Monroe, Roosevelt, Oliver, James Street …

In diesem Umfeld fand Emilio Arenas im Frühling 1935 seine zigste Anstellung: im La Valenciana, einem Unternehmen an der Ecke Cherry, Catherine Street, das unter der Bezeichnung Hotel lief, in Wahrheit aber etwas sehr viel Flexibleres und Praktischeres war. Massen von spanischen Einwanderern, die in New York von Bord gegangen waren, hatten nichts als diese Adresse, auswendig gelernt oder mit holpriger Schrift auf einem Zettel notiert. La Valenciana, 45 Cherry Street. In der oberen Etage waren die Fremdenzimmer, im ersten Stock befand sich der Speisesaal und im Erdgeschoss ein Laden mit allem, was Arbeiter in einer Hafengegend benötigen mochten, um für ihr Tagewerk gerüstet zu sein, von Lederstiefeln über warme Unterwäsche und Handschuhe bis zu Pelzwesten. Auf Wunsch fungierte der Eigentümer auch als Dolmetscher, vermittelte Schiffspassagen und transferierte Geld über den Ozean. Zum Nutzen aller gab es an der Wand eine Tafel, an der jeden Tag mit Reißzwecken die Stellenangebote ausgehängt wurden. Und in einer großen leeren Zigarrenkiste wurde die Post aufgehoben, damit Männer mit unstetem Leben, ohne Bindungen oder festen Wohnsitz, sie gelegentlich abholen und etwas von den Ihren auf der anderen Seite des Meeres erfahren konnten.

Emilio Arenas' Arbeit war nicht fest umrissen, vielmehr bediente er hinter dem Ladentisch, ging in der Küche zur Hand, wurde zur Verstärkung der Kellner eingesetzt oder erledigte Botengänge. Und bei dieser Tätigkeit schnappte er eines Tages die Fetzen eines Gesprächs auf, das seine Zukunft in eine neue Richtung lenken sollte.

Zwei Männer saßen sich in einer Ecke des leeren Speisesaals gegenüber, es war noch Vormittag. Links Paco Sendra, der Eigentümer von La Valenciana. Rechts ein älterer Mann mit aschgrauem Haar und hängenden Schultern, den Emilio nicht kannte. Letzterer bestimmte die Unterhaltung mit seinem nördlichen Dialekt; in seiner Rede mischten sich die Sachlichkeit von Zahlen und Rechnungen mit den aufrichtigen Bekenntnissen eines Einwanderers, den Entfernung, Zeit und Einsamkeit zermürbt hatten. Viele Jahre, viele harte Jahre, hörte Emilio ihn sagen, während er ihnen zwei Gläser Wein und ein paar Scheiben Bratwurst servierte. Familie, Ersparnisse, Heimweh, hörte Emilio beim Einschenken. Noch im Weggehen erhaschte er vereinzelte Wörter. Den Laden zumachen. Zurückkehren.

Zwanzig Minuten später, während er das Regal mit den Streichholzschachteln auffüllte, sah er aus dem Augenwinkel die beiden Männer zur Tür gehen. Sie schüttelten sich die Hände, und Sendra klopfte dem anderen ein paarmal auf den Arm.

»Viel Glück, Venancio. Gott schütze Sie.«

· 3 ·

Noch hatte der Mittagsbetrieb nicht begonnen, und Emilio Arenas nutzte die Gelegenheit, ließ alles stehen und liegen und schlüpfte unbemerkt hinaus. Die Schürze noch umgebunden, die Hände in den Ärmeln seines Kittels vergraben, folgte er dem müden Rücken des Mannes bis zur Kreuzung mit der New Chambers Street, und auf der Höhe des Friseursalons von Montserrat sprach er ihn an.

»Hören Sie!«

Der Unbekannte wandte den Kopf.

»Da war nichts zu machen, was?«

In Wahrheit wusste er kaum, worum es ging, ein wenig hatte er jedoch mitbekommen, und alles Übrige war reine Intuition. Dieser Mann stand im Begriff, eine Etappe seines Lebens abzuschließen, und er selbst dachte zum ersten Mal daran, dass es an der Zeit wäre, das Umherziehen aufzugeben und sesshaft zu werden. Darum fragte er ohne Umschweife. Und der andere antwortete ebenso offen.

»Ich brauche einen Käufer für die komplette Einrichtung einer Gaststätte. Tische, Stühle, Barhocker. Und Geschirr, Teller, Besteck, Tischdecken, Töpfe, Pfannen. Ich frage in sämtlichen Hotels und Bars in der Gegend nach, ich überlasse es zu einem günstigen Preis. Haben Sie Interesse?«

Ohne Eile gingen sie Richtung Nordwesten und schilderten einander in groben Zügen ihren Lebensweg, während sie durch die Bowery Street und die Canal Street schlenderten, die wuseligen Zonen der Chinesen und Italiener, wo die Menschen dicht an dicht in überfüllten Wohnblocks hausten, Mietskasernen einfachster Art.

»Und Sie, Venancio, wie lange sind Sie schon hier?«

»Ich kam, nachdem wir Kuba verloren hatten. Nach einer Weile bin ich dann ins Dorf zurückgegangen, habe meine Braut geheiratet, sie mit hierhergebracht, und zusammen haben wir das Geschäft eröffnet. Wir haben pausenlos gearbeitet, um uns über Wasser zu halten. Aber jetzt bin ich seit neun Jahren Witwer, und mein Ältester ist nach Harlem gezogen, weil er eine Dominikanerin geheiratet hat, und der Kleine ist Vertreter für Rasierklingen geworden und mit seinem Musterkoffer in New Jersey unterwegs, der kommt kaum noch in die Stadt.«

Nichts verband ihn mehr mit seinem fernen kantabrischen Geburtsort, abgesehen von ein paar Jugenderinnerungen und einer ledigen, halb blinden Schwester. Und dennoch hatte er nach beinahe vierzig Jahren der Abwesenheit das Gefühl, einen Kreis schließen zu müssen. Er legte seine Hand auf Emilios linke Schulter, die derbe Hand eines Arbeiters, der keine Kraft und keine Lust mehr hatte.

»Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, und sei es nur, um die Heimat ein letztes Mal zu sehen.«

Sie setzten ihren Weg fort, bis sie ein Stück Asphalt erreicht hatten, wo mit anderen Namen und anderen Gesichtern derselbe vertraute Puls schlug: in der Vierzehnten Straße, dem Abschnitt zwischen der Siebten und der Achten Avenue, einer Art Scharnier zwischen Chelsea im Norden und dem West Village im Süden. Dort befand sich ein weiterer Nukleus von spanischen Landsleuten. Vielleicht bildeten sie keine so kompakte Enklave wie die um die Cherry Street, machten sich jedoch sofort bemerkbar durch die Schilder an ihren Läden, die lautstarken Unterhaltungen der Grüppchen auf der Straße, die hin- und herfliegenden Grußworte, die Stimmen der Mütter, die aus dem Fenster nach ihren Kindern riefen, und das unverwechselbare Aussehen der Greise, die still rauchend auf den Treppenstufen vor den Hauseingängen saßen.

Die Gegend war Emilio Arenas nicht unbekannt. Seit er, wie so viele seiner Landsleute, dort gewesen war, um dem spanischen Wohlfahrtsverband La Nacional beizutreten, hatte er in diesem Viertel etliche Male Bestellungen ausgeliefert oder Veranstaltungen besucht. Das Lokal, vor dessen Tür sie jetzt stehen blieben, hatte er jedoch nie zuvor betreten.

»Das ist es«, erklärte der Mann, »was ich anzubieten habe.«

Eine kleine Gaststätte in einem Souterrain, schon nahe der Achten Avenue, im Untergeschoss eines gewöhnlichen dreistöckigen Gebäudes ohne jeden Reiz. Ohne das geringste äußere Zeichen der Verheißung.

Es war ohne Frage eine Tollkühnheit, an einem ganz normalen Dienstag eine solche Entscheidung zu treffen – die Hände in den Hosentaschen, vor der Fassade des Hauses –, doch stand Emilios Entschluss in vollkommenem Einklang mit seinem Werdegang und seiner üblichen Vorgehensweise. Das erstbeste Schiff besteigen, an Land gehen, wo er es am wenigsten erwartet hätte, den Beruf wechseln, den Anker lichten, anderswo stranden. Schon immer hatte er dazu geneigt, sich treiben zu lassen, anzunehmen, was das Leben ihm in den Weg stellte, ohne Willen oder eigene Meinung, bis der Wind wieder in eine andere Richtung blies. Und an jenem Tag Anfang November 1935 hatte es ihn nun in die Vierzehnte Straße verschlagen, dieses zwischen zwei großen Avenues des immensen New York eingeklemmte Stückchen Heimat.

Ohne zu überlegen, in purem spontanem Überschwang, beschloss Emilio Arenas, nicht nur das Mobiliar und die Küchenausstattung seines alten Landsmannes zu übernehmen, sondern auch das Geschäft weiterzuführen. Am selben Nachmittag sprach er mit der Hauseigentümerin, einer holländischen Witwe in der nahen Horatio Street, und sie einigten sich darauf, den Mietpreis beizubehalten. In der Zeit, die er nicht nach Málaga gefahren war, hatte er etwas gespart, damit konnte er Venancio Alonso die Ausstattung abkaufen und die erste Monatsmiete bezahlen.

Er gedachte, sich in dem hinteren Lagerraum häuslich einzurichten, um das Geld für die Unterkunft in der Pension in der Cherry Street zu sparen; hier hätte er Platz für eine Pritsche, mehr brauchte er nicht. Er würde doppelt so viele Stunden im La Valenciana arbeiten und gleichzeitig dieses Lokal mit eigenen Händen aus seinem erbärmlichen Zustand erlösen. Decken und Wände säubern, die Fassade frisch verputzen, ein paar Maurerarbeiten erledigen, Wasserhähne reparieren und alles neu streichen. Und wenn er fertig wäre, würde er persönlich jeden Morgen auf dem Fulton-Markt Fisch einkaufen gehen, denn dort hatte er einmal eine Zeit lang gearbeitet und immer noch Kontakte, um günstig an Ware zu kommen. Kochen würde er im Stil seiner Heimat. Er würde Mittagstisch und Abendessen anbieten, für die Leute aus dem Viertel, zu moderaten Preisen, an einer Seite würde er auch eine Bartheke haben … All das sah er wie im Zeitraffer vor seinem inneren Auge, bis ihn die heisere Stimme des Alten aus seinen Träumereien riss.

»Den Namen werden Sie wohl ändern müssen.«

Emilio Arenas richtete den Blick auf das Schild. Oder, besser gesagt, auf das, was davon noch übrig war. El Ca… Der Rest der Buchstaben war abgefallen, verloren wie die Seele des Geschäfts.

»Ein Sturm hat es im Winter vor zwei Jahren heruntergefegt, und ich habe es nicht mehr repariert«, erklärte der Besitzer achselzuckend. »Früher stand da El Cántabro, so nennen sie mich hier, weil ich aus Kantabrien bin. Aber zu Ihnen mit Ihrem andalusischen Akzent, fürchte ich, wird der Name schlecht passen.«

Emilio murmelte vor sich hin, El Ca…, Ca…, Ca… und plötzlich fiel ihm ein schlagkräftiger Name für das Projekt ein, von dem er sich beflügelt fühlte. Auch etwas, das er niemals empfunden hatte, weil er bei keiner seiner Unternehmungen jemals einen Hauch von Ehrgeiz verspürt hatte. Diesmal allerdings schon. Zum ersten Mal entschied er sich freiwillig dafür, nach etwas Besserem, Höherem zu streben. Und deshalb beschloss er, der er nie einen Rang oder Befehlsgewalt besessen hatte, sein Speiselokal El Capitán zu nennen, ohne zu ahnen, dass daraus der Spitzname würde, unter dem er fortan in der Nachbarschaft bekannt wäre.

So brachte er, ein ganz neuer Emilio, sein Vorhaben ins Rollen. Mit sprühender Energie preschte er durch den Herbst 1935, arbeitete fünfzehn Stunden täglich und rannte ständig zwischen seiner neuen Welt in der Vierzehnten Straße und seinem alten Domizil an der Lower East Side hin und her.

Bis sich eines Tages an irgendeiner unbestimmten Stelle des Atlantiks zwei Briefe kreuzten: der mit etlichen Fehlern gespickte, den Emilio Arenas an seine Frau geschrieben hatte, und der, den seine Frau einer Nachbarin diktiert hatte.

Vielleicht öffneten die Empfänger, noch getrennt von der Unendlichkeit eines Ozeans, sie sogar gleichzeitig.

Ich habe gute Neuigkeiten, Remedios. Ich werde sesshaft, wie du es dir immer gewünscht hast. Ich werde Tag und Nacht arbeiten. Ich werde sparen. Ich komme, sobald ich kann …

Ich habe schlechte Neuigkeiten, Emilio. Mama Pepa ist gestorben, und sie werfen uns aus dem Haus. Wir wissen nicht, wohin. Deine Töchter zu hüten, fällt mir immer schwerer. Sie sind jetzt erwachsene Frauen, haben weder Richtung noch Ziel und könnten leicht auf Abwege geraten. Vergiss nicht, dass du eine Verantwortung hast.

Er betrat das La Valenciana, während er die letzten Zeilen las. Langsam nahm er die Mütze ab und kratzte sich mit seinen schmutzigen Fingernägeln den Kopf. Dann ging er, die Nachricht zerdrückt in der Faust, zum Empfangstresen.

»Señor Sendra, ich brauche vier Schiffspassagen auf Kredit. Bestellen Sie sie bei Don Valentín Aguirre, tun Sie mir den Gefallen. Aber ich sage Ihnen gleich, dass ich keine Ahnung habe, wie und wann ich sie Ihnen zurückzahlen kann.«

· 4 ·

Sie saßen noch immer in der Küche, Remedios mit den Händen vor dem Gesicht. Nie war sie eine so charakterstarke Frau gewesen wie ihre Mutter, und der geringe Elan, den sie einst besessen haben mochte, war vollends zerronnen nach dem Tod des kleinen Jesús, ihres vierten Kindes, dieses Jungen, der mit seinem angeschwollenen Schädel und einem Gewirr von Venen statt Haaren auf dem Kopf kaum fünf Monate alt geworden war. Sechzehn Jahre waren vergangen, seit sie das in ein Laken gewickelte Körperchen ins Grab gelegt hatten, und es verging kein Tag, an dem Remedios nicht seufzend seiner gedachte, obwohl das arme Geschöpf ihr in seinem kurzen Dasein nichts als Kummer bereitet hatte. Das durchdringende Geschrei zu jeder Tageszeit, die Krämpfe, die ständig geschlossenen Augen, der Widerwille gegen die mütterliche Brust, das alles saß so fest in ihr drin, dass sie nie mehr dieselbe war ohne diesen Sohn, den sie bei jeder Schwangerschaft ersehnt hatte, den kleinen Mann unter all den Frauen, der er nicht hatte werden dürfen.

Die Töchter sahen sie jetzt schweigend an, während der trockenen Kehle der Mutter ein Schwall von Flüchen und Verwünschungen entfuhr.

»Was musste Mama Pepa auch sterben, verdammt noch mal, und uns ohne ein Dach über dem Kopf zurücklassen, und warum zum Teufel muss euer Vater jetzt plötzlich zur Vernunft kommen, nachdem er sich so viele Jahre in der Weltgeschichte herumgetrieben hat, und was hat mich Wahnsinnige nur geritten, ihn um Hilfe zu bitten und auch noch auf ihn zu hören!«

Emilios Aufforderung zu folgen und ihre Töchter aus Málaga herzuschleifen, hatte für Remedios einen schweren Leidensweg bedeutet. Victoria, die Älteste, unterstützt von dem jungen Kerl, den sie sich angelacht hatte, schwor, sie würde eher auf den Strich als nach New York gehen. Mona, die Mittlere, suchte sich auf dem Paseo del Limonar eine Stelle als Hausmädchen mit Anrecht auf ein eigenes Zimmer, um einen Vorwand zum Bleiben zu haben. Und Luz, die Jüngste, saß wochenlang wimmernd in einer Ecke. Die Streitereien waren monumental und im halben Viertel zu hören, Nachbarschaft und Familie mussten einschreiten, die Mutter warf sich in der Kirche vor dem Bildnis des gefangenen Christus auf die Knie, und in letzter Instanz kreuzte sogar die Guardia Civil bei ihnen auf. Alarmiert durch einen Nachbarn wegen des Verdachts auf Missachtung der väterlichen Autorität, ließen zwei uniformierte Beamte sie nicht mehr aus den Augen, bis sie sie der Obhut des Schiffsarztes auf der Manuel Arnús überantwortet hatten, die auf ihrer Fahrt von Barcelona in die Neue Welt in Málaga anlegte.

Abgezehrt, blass, starr vor Kälte, mit zugeschnürtem Magen und dem Gefühl, den Mund voller Werg zu haben, erreichten die Schwestern Arenas an einem frostigen Januarmorgen New York. Elf Tage lang hatten sie einander getröstet; eineinhalb Wochen Schreckensfahrt, mit billigen Passagen für Kojen auf dem Zwischendeck, bis sie am Pier 8 des East River an Land gingen.

Die Einfahrt in den grandiosen Hafen ließ sie natürlich nicht unberührt. Unmöglich, nicht beeindruckt zu sein von der grünlichen, auf dem Wasser stehenden sonderbaren Dame mit der zackigen Krone und der Fackel, auch wenn sie nicht wussten, dass sie die Freiheit repräsentierte, die die Welt erleuchtete, ausgeschlossen, nicht ins Staunen zu geraten, wenn die am Horizont aufgetürmten Wolkenkratzer immer näher rückten, oder beim Anblick der gigantischen Hängebrücken, der über das graue Wasser gleitenden, ein- und ausfahrenden Schiffe. Unwillkürlich drehten und wendeten sie die Köpfe, sahen die Kohlefrachter und Schlepper, deren gellende Pfiffe nach Jubel klangen, auch wenn es sich um bloße Warnsignale handelte, und winkten den vollbesetzten Ferry Boats zu, auf denen man Taschentücher und Hüte schwenkte, um die frisch Eingetroffenen willkommen zu heißen, einfach so, einfach, weil sie selber oder ihre Eltern oder ihre Großeltern auf die gleiche Weise in diesem Teil der Welt angelangt waren.

Klar, dass New York sie überwältigte, obgleich sie nach Möglichkeit versuchten, so zu tun, als interessierte sie das alles nicht. Während der Dampfer auf seine Anlegestelle zuhielt, klammerten sich die Mädchen ans Geländer, die Wangen gerötet vom schneidenden Wind, und gaben vor, nicht hingerissen zu sein von all den verwirrenden Eindrücken. Als fänden sie nichts dabei, sich auf die Büros der Schifffahrtsgesellschaften mit ihren bunten Fahnen und Leuchtreklamen zuzubewegen, oder auf die Lagerhäuser, die Waren aus allen Häfen der Welt empfingen, oder auf die Gebäude, die immer monumentaler wurden, je näher sie ihnen kamen.

Du lieber Himmel, murmelte Luz. Victoria hakte sich daraufhin bei ihren beiden Schwestern ein, als glaubte sie, Arm in Arm könnten sie sich gegenseitig Kraft geben, um der Szenerie nicht zu erliegen. Haltsuchend hielten sie sich aneinander fest. Heilige Jungfrau, raunte Mona. Doch sie fassten sich, überspielten ihre Angst und Unsicherheit, und weder die Sirenen noch das Geschrei der Leute oder der ohrenbetäubende Lärm der Motoren brachte ihre Fassade zum Bröckeln, nachdem das Schiff vertäut war. Aufrecht trotzten sie dem Schnee, der an diesem eisigen Tag fiel, etwas, das sie noch nie erlebt hatten. Man hat uns mit Gewalt hergebracht, uns kann diese verdammte Stadt gestohlen bleiben, drückte ihre Pose aus. Und bei erstbester Gelegenheit, sobald sich die allergeringste Chance bietet, fahren wir wieder nach Hause, irgendwie und mit irgendwem, notfalls in Begleitung des Leibhaftigen. Und so, ihre Verblüffung mit dem Gebaren von stolzen Gefangenen getarnt, stiegen sie von dem Dampfschiff der Trasatlántica, eine nach der anderen, in der Reihenfolge ihres Alters. Nicht einmal durch die strengen Mienen der Beamten von der Einwanderungsbehörde ließen sie sich einschüchtern.

Ihr Bemühen, möglichst gleichgültig zu erscheinen, behielten sie auch in den nächsten Tagen bei. Emilio hatte im obersten Stock eines roten Backsteingebäudes an der Ecke Vierzehnte Straße, Siebte Avenue eine Zweizimmerwohnung gemietet, eine bescheidene provisorische Unterkunft von wenigen Quadratmetern und mit kaum Licht, die dennoch komfortabler war als die Mietskaserne, in der sie aufgewachsen waren. Zumindest gab es vier elektrische Lampen, fließendes Wasser und ein winziges Badezimmer, das zwar ärmlich, aber immerhin privat war, sodass sie nicht mehr nach draußen und die Toilette mit den Nachbarn teilen mussten. Doch nicht einmal das half. Seit ihrer Ankunft herrschte in ihren vier Wänden alles andere als Frieden. Tag für Tag, mit unabänderlicher Regelmäßigkeit, wurden aus langen Gesichtern irgendwann harsche Worte, die zu Tränen führten und weiter zu Streit, Vorwürfen und Drohungen. Und das Ganze wieder von vorne.

Abwechselnd beschuldigten sie Vater Emilio oder Mutter Remedios, die verstorbene Mama Pepa, den Nachbarn, der die Guardia Civil alarmiert hatte, den Tölpel von Schiffsarzt oder die verabscheuenswürdige Stadt, in der sie festsaßen. Einer taugte so viel wie die anderen als Zielobjekt für ihre rasende Wut. Ich werde einen ganzen Eimer Rattengift schlucken, behauptete die eine. Ich werde mit einem Matrosen durchbrennen, damit er mich wieder heimbringt, sagte die andere. Ich werde mich vor einen Zug werfen, die Dritte.

Außerstande, auch nur ein bisschen Autorität über diese zwanzigjährigen Wirbelwinde auszuüben, empfand Emilio die Vaterrolle als so undankbar, dass er nach kaum zehn Tagen Familienleben wieder auf dem Feldbett im Lager des El Capitán schlief. Das tat er jedoch mit Vorbedacht und in Absprache mit seiner Frau, denn er ließ sie ohne einen Cent und nur mit dem Notwendigsten ausgestattet in der Wohnung zurück, damit sie keine drei oder vier Tage ohne ihn auskamen. Wenn ihnen der Kaffee oder die Seife ausging, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich in der alten Gaststätte blicken zu lassen, wo Vater und Mutter allein schufteten.

Im Lokal war es dunkel, Licht fiel nur durch die offene Tür. Sie spülte Töpfe, er säuberte die Platte eines der hinteren Tische, als sie die Mädchen hereinkommen hörten. Beide hielten inne, Emilio richtete sich langsam auf, die verfluchten Rückenschmerzen gaben einfach keine Ruhe.

»Braucht ihr Geld?«, fragte er laut die drei Gestalten, die in der Tür stehen geblieben waren.

Keine reagierte, als ob sie etwas ahnten.

»Dann werdet ihr es euch verdienen müssen, ein wenig Hilfe täte uns gut.«

Stumm standen die drei dicht nebeneinander und bildeten eine Art Grenzwall. Remedios hielt sich schweigend im Hintergrund.

»Wenn wir die ganze Arbeit nur zu zweit machen müssen, wird es noch eine Weile dauern«, sagte Emilio. »Wenn ihr uns aber zur Hand geht, fangen wir in einer Woche an, unsere Gäste zu bewirten. Dieses Geschäft gehört auch euch, damit das klar ist. Und je mehr wir damit verdienen, desto schneller kommen wir wieder nach Hause.«

Nach Hause. Als sie das hörten, bekam ihr Panzer einen Riss. Nach Hause. Die zwei Wörter, die den Motor der gesamten spanischen Gemeinde darstellten, die Kohle, die den Kessel in ihrem Inneren beheizte und es ihnen ermöglichte, Tag und Nacht zu arbeiten, um genügend Geld für die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches zu sparen.

Mona, in der Mitte des Trios, stieß ihren Schwestern die Ellbogen in die Rippen, und diese kleine Geste reichte zur Verständigung aus. Zähneknirschend sahen sie ein, dass sie keine andere Wahl hatten.

· 5 ·

Die Haare unter Kopftüchern und angetan mit den ältesten Sachen aus ihrem Kleiderschrank, begannen sie noch am selben Nachmittag, im Familienunternehmen tätig zu werden.

Vier Tage hintereinander unterstützten sie von morgens bis abends ihre Eltern, schrubbten Fett- und Dreckschichten ab, bis sie fast keine Fingernägel mehr hatten, kratzten Pfannen, Kasserollen und Töpfe aus, schmirgelten Möbel und versuchten ohne viel Erfolg, die Fensterscheiben blank zu reiben. Es gelang ihnen, das heruntergekommene Lokal ein wenig herzufrischen, doch in Wahrheit fiel der Unterschied zu vorher nicht allzu sehr ins Gewicht, wie auch die Arbeit ihre Laune nicht zu heben vermochte. Dasselbe düstere Souterrain, dieselbe niedrige Decke, dasselbe Bild vom aufgewühlten Meer, das Venancio Alonso an einer Wand zurückgelassen hatte; der Geist des alten Kantabriers spukte noch in allen Ecken. In der unsinnigen Absicht, ein maritimes Ambiente zu schaffen, brachte Emilio am nächsten Morgen ein altes Fischernetz, ein abgebrochenes Ruder und ein Paar Paddel mit, die seine Töchter lieblos aufhängten. Bis El Capitán endlich in See stach.

Einen guten Start hatte er trotzdem nicht. Das Lokal weckte kein Interesse. Remedios stand am Herd, und Emilio überschlug sich schier, die Gäste zu empfangen und mit seinen besten Manieren die Bestellungen aufzunehmen, dennoch war der Speisesaal selten zu mehr als einem Viertel besetzt. Die Töchter halfen in der Küche oder bedienten mit unübersehbarem Verdruss den einen oder anderen Tisch.

Emilio hatte von einer Gastwirtschaft voller Arbeiter geträumt, die nach stundenlanger Maloche ein warmes Gericht verschlangen, wie er es so oft in den Restaurants auf der Cherry Street gesehen hatte. Er hatte sich vorgestellt, wie sie unaufhörlich ein und aus gingen und wie er, die Schöpfkelle in der Hand, das Essen austeilte; Gläserklirren, das Schrammen von Stuhlbeinen auf dem Fliesenboden, dunkle Männerstimmen, ab und zu ein Lachen, Scheine in der Kasse hinter dem Tresen. Aber es kam anders, der Laden lief nicht. Vielleicht hatte er nicht bedacht, dass sich die Vierzehnte Straße, trotz des hohen Anteils an Landsleuten, in einer völlig anderen Umgebung befand als sein altes Viertel, mit einer völlig anderen Lebensart, viel verwobener mit dem Rest der Stadt und weniger auf die eigene Ecke konzentriert. Oder vielleicht waren hier nicht so viele Männer allein unterwegs wie bei den Piers am East River, oder es lag an den anderen Restaurants, die es in dieser Gegend schon länger gab und die es mit der Zeit zu einem guten Ruf gebracht hatten.

Er dagegen war nichts als ein dahergelaufener Möchtegern, der alle seine Hoffnungen auf ein sieches Unternehmen gesetzt und diesem gerade mal notdürftig das Gesicht gewaschen hatte. Fast niemand kannte seine Frau; sie kam möglichst wenig aus der Küche, weil sie sich immerzu und vor allem fürchtete. Und seine drei Töchter, die sich mit ihrer schnippischen Art bald unbeliebt gemacht hatten, waren dem Geschäft auch nicht eben förderlich. Allerdings war die Prohibition vorbei, und im El Capitán wurden zu einem mehr als günstigen Preis spanische Weine ausgeschenkt, die Emilio, dank seiner Kontakte und Mauscheleien, gleich nach dem Eintreffen, direkt am Hafen abgreifen konnte. Außerdem war Remedios' frittierter Fisch besser als jeder andere, ihr Eintopf gehaltvoll, und ihr mit Venusmuscheln geschmorter Seeteufel schmeckte so herrlich nach Meer, dass einem die Tränen kamen.

Trotzdem reichte es hinten und vorne nicht, sooft Emilio auch abends im dunklen, leeren Speisesaal die Rechnungen durchgehen mochte. Und die Schulden häuften sich: die Miete für letzten Monat, die Lieferanten, die Wohnung, die Schiffspassagen, die er Sendra noch immer nicht bezahlt hatte … Sosehr er sich das Hirn zermarterte, er wusste einfach nicht, wie er den Laden in Schwung bringen sollte. Er schaltete Anzeigen, ließ Handzettel drucken, die er in der Nachbarschaft verteilte, und bezog sogar selbst Stellung vor der Tür, um Kunden hereinzulocken, die Speisekarte schwenkend, die Schürze umgebunden, ein unendlich bemühtes Lächeln im Gesicht. Nicht einmal das wirkte.

Entgegen allen Erwartungen hatte Emilios Kummer auch einen positiven Effekt. Je enttäuschter er war, desto brüchiger wurde die Mauer der Ablehnung, die seine Töchter um sich errichtet hatten. Vielleicht waren die Mädchen einfach erschöpft, womöglich regte sich ein Rest Mitgefühl in ihnen. Zunächst zeigte es sich nur in Kleinigkeiten.

»Und wenn wir die Karte ein bisschen ändern?«, schlug Victoria vor.

Mona drapierte die Netze an den Wänden gefälliger und hängte noch ein paar blumenbestickte Schultertücher dazu, um dem Ganzen etwas Farbe zu verleihen. Und Luz, die Jüngste, überraschte ihren Vater an einem stürmischen Mittag im Februar, indem sie sich zu ihm vors Haus stellte, keck die Passanten ansprach und dabei den Rock zwischen die Schenkel klemmte, damit der Wind ihn nicht hochwehte.

»Treten Sie ein, meine Damen und Herren, lassen Sie sich keinesfalls das beste spanische Essen von Manhattan entgehen!«, rief sie in einladend melodischem Ton.

Von da an schlief Emilio wieder in der Wohnung, und die Spannungen ließen ein wenig nach. Doch die Mädchen hielten sich weiterhin fern vom Leben und Treiben des Viertels und der Stadt. Sie besuchten keine Sonntagsmesse und gingen weder tanzen noch zu den Treffen ihrer Landsleute in La Nacional. Nie waren sie über die Sechzehnte Straße oder die Sechste Avenue hinausgekommen, nie mit der Untergrundbahn, der Hochbahn oder einem Omnibus gefahren. Mit den Nachbarn, den Eigentümern und Verkäufern der umliegenden Läden sprachen sie kaum mehr als das Nötigste. Sie machten sich gegenseitig die Haare, hatten keine einzige Freundin und weigerten sich, Englisch zu lernen. Die Folge dieser offen zur Schau getragenen Unnahbarkeit war konstantes Getuschel. Was für ein Jammer, so hübsche junge Dinger und eine so dämliche Art, es sich mit allen zu verscherzen. Schade um die Töchter vom Capitán.

Bis zu jenem Morgen, an dem Emilio, nachdem er mit Remedios am Küchentisch schweigend einen Kaffee getrunken hatte, aus dem Haus und zu den Piers des East River ging. Sich einzufügen in die kleinen häuslichen Gewohnheiten war ihm manchmal eine Freude, manchmal eine Last; leicht fiel es ihm nicht, plötzlich inmitten der Siebensachen und der Geräuschkulisse von vier Frauen zu leben. Trotzdem wusste er, dass für ihn kein Weg daran vorbeiging, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, zumal seine Töchter endlich einen Hauch von Vernunft erkennen ließen.

Auf der Treppe aus dem vierten Stock nach unten brachte ihn sein Drang zur Sparsamkeit ins Grübeln. Er brauchte Olivenöl, und obwohl er bei Sendra Kredit hatte oder eine Dose Ybarra bei Unanue y Victori zu einem guten Preis bekommen hätte, war ihm klar, dass es eine noch billigere Quelle gab. Wie fast alle Mitglieder der Gemeinde kannte er den Fahrplan der Schiffe, die regelmäßig aus Spanien einliefen. Es waren vier, alle von der Compañía Trasatlántica. Zwei, die aus der Biskaya kamen, und zwei aus dem Mittelmeer, die immer die Route von der spanischen Halbinsel nach Mexiko, Kuba und New York abdeckten.

Also wusste er auch, dass an diesem Samstag Ende März die Marqués de Comillas erwartet wurde, den Bauch voller Passagiere und Waren. Aus diesem Grund machte er sich auf zum Pier 8, um sein Glück zu versuchen. Es sollte ihn doch wundern, wenn das Schiff ohne eine Lieferung Öl käme und er keinen Bekannten träfe, der ein paar Kanister abzweigen könnte. Auf diese Weise, indem er das Geld eisern zusammenhielt, hoffte er, wenigstens den Mietrückstand bei der holländischen Witwe auszugleichen.

Und darüber zerbrach sich der Inhaber des El Capitán immer noch den Kopf, als er den Kai erreicht hatte und darauf wartete, dass die Schauerleute fertig würden, und noch gar nicht wusste, ob sich im Frachtraum des Schiffes überhaupt etwas vom Saft der Olivenhaine von Utrera oder Tortosa, Cabra oder Jaén befand; so gedankenversunken war er, dass er die Warnrufe um sich herum nicht wahrnahm. Bei einem Entlademanöver war etwas schiefgegangen, ein riesiges Netz voller Gepäckstücke schwebte hoch in der Luft und begann sich aus seiner Aufhängung zu lösen. Es wurde gerannt und gebrüllt, und in letzter Sekunde packte ihn jemand am Arm.

Der Ruck half jedoch nur, seinen Körper vor dem brutalen Aufschlag zu schützen, seinen Kopf rettete es nicht.

Ein schlaffes Bündel am Boden, so beschloss Emilio Arenas sein Leben, mit zerschmettertem Schädel und dem Bild von vielen Kanistern voll leuchtendem, geschmeidigem Öl, das in seiner Vorstellung immer dunkler wurde, bis es in eine Blutlache übergegangen war, auf die sich viele entsetzte Blicke richteten, während rundum Geschrei und Sirenengeheul ertönte.

· 6 ·

Die drei Arenas-Schwestern gingen am Abend nach der Beerdigung ohne eine Antwort zu Bett. Erschöpft, bedrückt, während ihnen unausgesetzt dieselbe Frage in den Schläfen hämmerte. Und was soll nun aus uns werden?

Der Tod des Vaters schmerzte sie zutiefst, dieses Mannes, den sie nach einem Leben in ständiger Abwesenheit eben erst angefangen hatten kennenzulernen. Doch war das nicht ihr einziger Kummer, ihre eigentliche Trauer wurde überlagert von etwas anderem: der Erkenntnis, dass mit ihm die einzige Verbindung verschwunden war, die sie zu dieser fremden Stadt gehabt hatten, dieser Metropole mit ihren sieben Millionen Seelen und ihrem ewigen Winter, die sich vor den Spanierinnen dehnte wie ein unendliches Ödland.

Remedios war, wie immer, mit dem ersten Morgengrauen auf den Beinen; ihre Töchter standen für gewöhnlich sehr viel später auf. Schließlich hatten sie bis zu diesem Moment nichts weiter zu tun gehabt, als ein paar freudlose Handlangerdienste im Geschäft und ansonsten ihre Verachtung zur Schau zu tragen. An diesem Morgen allerdings erschienen sie schon zeitig in der Küche, alle mit zerwühltem Haar, verquollenen Augen und nicht sehr gesprächig.

Mona war die Erste. Die mittlere der Schwestern näherte sich schlurfend, mit ihren markanten Gesichtszügen und der üppigen dunklen Mähne, die offen über den halben Rücken fiel. Über das alte Nachthemd hatte sie drei Schichten zusammengewürfelter Kleidungsstücke gezogen, es war eiskalt. Statt einem Guten Morgen kam nur eine Art heiseres Grunzen aus ihrem Mund.

»Die Milch ist schon heiß«, sagte die Mutter, ohne den Blick vom Herd zu wenden, während Mona sich auf einen der Hocker an den Tisch setzte. Stumm, die halbgeschlossenen Augen ins Leere gerichtet.

Wie ihre Schwestern, ihre Mutter und etliche Generationen vor ihr besaß Mona dunkle Augen, war schlank und bewegte sich mit einer natürlichen Grazie. Getauft war sie auf den Namen Ramona zum Andenken an eine Verwandte von Mama Pepa, die kurz vor Monas Geburt in El Perchel einem Schlaganfall erlegen war. Doch die Kinder im Dorf kappten von Anfang an die erste Silbe des Namens, eine kindliche Albernheit, die mit der Zeit zu ihrem Markenzeichen geworden war. Denn tatsächlich entsprach der Name in der verkürzten Form viel eher ihrem lebhaftem Naturell.

An diesem Morgen nach der Beerdigung ihres Vaters hingegen blieb sie still, bis ihre Mutter ihr eine Tasse Milchkaffee hingestellt und ein großes Stück Brot dazugelegt hatte. In den Lebensmittelläden der Nachbarschaft konnte man Brötchen kaufen, sogar kleine Kuchen, die aussahen wie saftige Madeleines, doch sie blieben ihrer alten Gewohnheit treu, ihrem täglich Brot. Immerhin hatten sie sich herabgelassen, ihr sehnlich vermisstes derbes Bauernbrot aus Málaga durch ein Imitat von kompakter Krume zu ersetzen, das ein alter Kalabrier in der Fünfzehnten Straße backte; so begannen sie den Tag, den Bauch gefüllt nach ihrer bescheidenen Tradition.

Mona trank gerade den ersten Schluck Kaffee, als ihre ältere Schwester in die Küche kam.

»Guten Morgen«, murmelte die.

Oder etwas Ähnliches, denn Victoria presste es zwischen den Zähnen hervor, sodass sie kaum zu verstehen war.

Anders als ihre Schwestern pflegte sie das Haar hochzustecken, auch waren ihre Züge etwas feiner geschnitten und weniger ausgeprägt, und mit ihrer schmalen Nase, den hohen Wangenknochen und den großen schwarzen Augen in dem ovalen Gesicht kam sie von den dreien der klassischen Schönheit am nächsten. Außerdem war sie ein bisschen größer als die anderen, als habe ihr ganzer Körper beschlossen, ihre Stellung in der Familienhierarchie herauszustreichen. Ihr Name ging auf keine Vorfahrin zurück, sondern auf ein Versprechen. Wenn Emilio wiederkommt, bevor mein Kind da ist, und es ein Mädchen wird, dann schwöre ich dir, heilige Mutter, dass ich es nach dir benennen werde. Dieses Gelübde hatte Remedios vor dem Bildnis der Jungfrau Maria de la Victoria abgelegt, der Schutzpatronin von Málaga, als sich ihre erste Schwangerschaft dem Ende zuneigte. Zwar war ihr Mann nicht rechtzeitig zur Entbindung zurück gewesen, sondern erst elf Monate danach, als die Kleine schon sechs Zähne hatte und beinahe laufen konnte, doch Remedios hatte nicht gewagt, ihr Wort zu brechen; sie hätte ein ungutes Gefühl dabei gehabt.

Die beiden älteren Schwestern sprachen nicht miteinander, sie beschränkten sich darauf, zu kauen und zu schlucken und sich gegenüberzusitzen, verstört vom Verlust des Vaters und der prekären Lage, in der er sie zurückließ, und weil sie nicht die leiseste Ahnung hatten, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollten.

Luz erschien etwa zehn Minuten nach den anderen. Sie war ihnen ähnlich und dennoch einzigartig. Mit ihrem etwas helleren Haar und der fülligeren, leicht gedrungenen Figur war sie die Fröhlichste und Munterste der drei. Als Erstes schlang sie ihrer Mutter einen Arm um die Schultern und gab ihr einen Kuss, einen lauten Schmatz, den Remedios ohne jedes Anzeichen von Dankbarkeit entgegennahm, wobei sie weiter am Herd hantierte.

»Seid ihr etwa schon fertig?«, fragte Luz mit ihrer klangvollen Stimme, während sie sich auf dem dritten Hocker niederließ und darauf wartete, dass Remedios ihr den Kaffee und ihre Brotration servierte.

In Wahrheit waren sie längst drei junge Frauen, die sich im Haushalt bestens zurechtfanden, doch untereinander behielten sie ihr striktes Matriarchat bei, und keine dachte daran, es abzuschaffen. Wieso auch, Remedios hätte es ohnehin nicht zugelassen.

Luz hieß Luz auf Wunsch ihres Vaters und war die einzige der Töchter, zu deren Geburt er pünktlich zu Hause war. Damals holte er aus seinem Seesack eine schwarz angelaufene Silbermedaille mit dem Relief der Virgen de la Luz, die ein Matrose aus Tarifa auf seiner letzten Reise um den Hals getragen hatte. Sein Name war Francisco, und obwohl er ein erprobter Seemann war, hatte ihn der Wundstarrkrampf binnen zwei Wochen dahingerafft, nachdem er sich einen rostigen Haken in den Oberschenkel gerammt hatte. Für deine Mädchen, Milio. Das konnte der Arme unter Spasmen und Geifern noch hervorstoßen, nachdem er sein letztes Ave-Maria gebetet hatte. Und Emilio brachte seiner Neugeborenen nicht nur die Medaille mit, sondern auch den Namen, der in den Ohren ihres Vaters immer nach Meer und nach Freundschaft klang.

So saßen sie am Frühstückstisch und ließen die Zeit verstreichen; aus dem Lichthof drangen die Geräusche aus anderen Wohnungen zu ihnen; Remedios hatte den Kerosinofen angezündet, am Grund der Tassen gab es nur noch ein paar halb getrocknete Milchkaffeereste. Victoria drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und betrachtete sie mit vorgetäuschter Aufmerksamkeit, Mona zupfte zum fünften Mal an dem Schal um ihre Schultern, Luz kaute am Nagel ihres kleinen Fingers. Absurde Versuche allesamt, sich auf irgendetwas zu konzentrieren, um sich nicht der finsteren Realität stellen zu müssen. Dem beklemmenden Gefühl, nicht zu wissen, was jetzt aus ihnen werden sollte. Der erschreckenden Gewissheit, dass sie mittellos und ohne jede Hilfe dastanden, um in dieser Welt zu überleben.

Natürlich gelang es ihnen nicht. Ihre Lage war so ungeheuerlich, dass sie an nichts anderes denken konnten als an eine Antwort auf die simple Frage, die sie am Vorabend unbeantwortet gelassen hatten. Und wir, was sollen wir jetzt machen?

Es war die Mutter, die letztlich mit belegter Stimme das Schweigen brach.

»Das muss alles zurückgegeben werden, nehme ich an …«

Sie meinte die Schüsseln und Töpfe – zuvor voller Essen und jetzt leer, sauber und kopfüber auf dem Ablauf –, die ihnen die Nachbarinnen gebracht hatten. Vom Sehen kannten sie fast alle Frauen, die zur Totenwache gekommen waren, namentlich dagegen nur wenige. Es blieb ihnen dennoch nichts anderes übrig, als auf Remedios' Vorschlag einzugehen. Keiner war es angenehm, diesen Frauen gegenüberzutreten, die sie seit ihrer Ankunft vor beinahe drei Monaten kaum eines Blickes gewürdigt hatten, sie wussten aber, dass dies jetzt ihre vordringlichste Aufgabe war. Zu den Leuten nach Hause oder ins Geschäft zu gehen, um eine Kuchenplatte, eine Pfanne oder einen Topf zurückzubringen, den Kopf zu senken und ihre sture Überheblichkeit aufzugeben, mit der sie sich selbst ausgeschlossen hatten aus der Gemeinschaft, in der sie lebten. Sich demütig zu bedanken. Von Herzen.

Schweigend machten sie sich in der Enge ihres gemeinsamen Zimmers fertig.

»Und wir dürfen nicht vergessen, beim Bestatter vorbeizuschauen, um …«

Ja, Mutter, ja, keine Sorge, sagten sie, schon auf der Treppe. Auch ihnen wurde angst und bange beim Gedanken an die anstehenden Kosten für das aufwändige Begräbnis, das jemand anonym in Auftrag gegeben hatte, ohne sie zu fragen.

Die erste Etappe brachten sie hinter sich, indem sie an ein paar Türen in ihrem Haus läuteten und zusammengedrängt auf dem schmalen Treppenabsatz warteten. Hier wohnten alle zur Miete; Rauch, Stimmen und das Gurgeln der Wasserleitungen drangen durch Türspalten und Wände.

Die Nachbarinnen unterbrachen, eine nach der anderen, ihre Hausarbeit und hießen sie willkommen. Asturierinnen und Galicierinnen mit melodischen Stimmen, die mit ihrem typischen Tonfall für die Arenas nicht leicht zu verstehen waren. Frau Costos, die Griechin im ersten Stock, mit der sie sich über Grimassen und Gebärden verständigten. Die zwei irischen Cousinen, die unmittelbar nebeneinander wohnten und sich ständig in den Haaren lagen, aber trotzdem am Vortag gemeinsam erschienen waren und vierhändig eine Fleischpastete hereingetragen hatten. Die Mehrzahl der Frauen trug Schürze und Hausschuhe; von allen ohne Ausnahme wurden sie hereingebeten und zu Kaffee, Tee, noch mehr Brot, Aniskringeln eingeladen. Die Mädchen versuchten abzulehnen, schützten Eile und Verpflichtungen vor, kamen jedoch gegen den beflissenen Eifer nicht immer an und mussten gelegentlich einwilligen.

Alle Wohnungen ähnelten sich, sie waren klein und spärlich möbliert. Und es war nicht ungewöhnlich, dass auf den wenigen Quadratmetern zwei bis drei Familien lebten. So sparen wir Geld, sagten sie. So sparten sie Geld, und außerdem half es, das Heimweh zu ertragen.

In den meisten Küchen war Wäsche zum Trocknen aufgehängt, und überall standen Betten, oft einfache Klappliegen, die an die Wände gelehnt und mit Nesselgardinen abgedeckt waren; nachts wurden sie in allen Ecken aufgestellt und nahmen die müden Körper von Verwandten, durchreisenden Landsleuten oder Untermietern auf, deren Lohn ihnen keine andere Unterkunft erlaubte. So sparen wir Geld, wiederholten sie. Und sie sparten, ohne Zweifel.

Aus allen Wohnungen entwischten sie so schnell wie möglich wieder, gerührt von der Herzlichkeit, die ihnen entgegenschlug. Kopf hoch, Mädchen, hörten sie ein ums andere Mal, wenn sie sich verabschiedeten. Ihr müsst jetzt tapfer sein und weiterkämpfen. Und was immer wir für euch tun können, wir sind da.

Irgendwann gelang es ihnen, den Hauseingang zu erreichen – die voluminösesten Schüsseln waren sie bereits losgeworden –, begierig, die frische Luft im Gesicht zu spüren und durchzuatmen. Doch so weit kamen sie nicht. Als sie eben ins Freie stürzen wollten, versperrte ihnen eine Gestalt die Tür.

Die drei bemühten sich, nicht allzu finster dreinzuschauen. Mit der Frau, die mit einem Stapel Zeitungen beladen von der Straße hereinkam, führten sie einen ständigen Kleinkrieg, und an diesem Morgen hatten sie keine Lust auf eine Begegnung mit ihr.

Hochgewachsen, klobig, von oben bis unten schwarz gekleidet, mit einem Rock bis zu den Knöcheln, das graugesträhnte Haar zu einem Knoten gesteckt, aus dem ein paar Zotteln hingen, so stand Señora Milagros im Türrahmen und behinderte ihre Flucht. Die Galicierin lebte allein in der Wohnung direkt unter ihnen und hatte die meiste Zeit eine Stinklaune; oft streckte sie den Kopf aus dem Fenster zum Hinterhof und stauchte sie zusammen, wenn sie zu laut waren, oder sie klopfte heftig mit dem Besenstiel an die Zimmerdecke, um sie zum Schweigen zu bringen. Und die Arenas-Schwestern, je nach Stimmung, gehorchten entweder zähneknirschend oder brachten sie erst recht zur Weißglut, indem sie wild auf den Boden stampften oder brüllten, zur Hölle mit der Alten!, und ihr Kartoffelpellen und Eierschalen gegen die Fensterscheiben warfen.

An diesem Morgen hatten sie nicht an ihrer Tür geklingelt, weil sie ihr nichts zurückzugeben hatten, sie war als Einzige mit leeren Händen zur Totenwache erschienen. Und obendrein hatte sie ohne Hemmungen einen Mandelkuchen, den jemand für die Arenas mitgebracht hatte, zur Hälfte aufgegessen.

»Jetzt geht ihr euch wohl Arbeit suchen, was?«

Dies war, schroff und gehässig, ihr Gruß, als sie die Mädchen sah. Im Gegensatz zu sonst gab ihr keine eine freche Antwort. In stillschweigender Übereinkunft hatten alle drei beschlossen, den Mund zu halten.

Noch nie hatten sie sie bei Tageslicht und aus solcher Nähe gesehen, deshalb bemerkten sie zum ersten Mal, dass Señora Milagros' linkes Auge getrübt war, als läge ein milchiger Schleier über dem Augapfel. In den Armen trug sie einen Berg zerfledderte Zeitungen, offenkundig nicht die neueste Tagespresse. Von Weitem hatten sie sie schon öfter mit ähnlichen Bündeln gesehen, konnten sich allerdings nicht vorstellen, wofür sie derartige Mengen Papier brauchte, vielleicht um einen Ofen zu befeuern oder die Fensterritzen gegen die Kälte abzudichten.

Mona war diejenige, die die Initiative ergriff.

»Lassen Sie uns bitte vorbei.«

Señora Milagros ließ sich Zeit, und ehe sie ihnen Platz machte, taxierte sie sie mit aller Unverschämtheit. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders. Kaum hatte sie einen Schritt zur Seite getan, schlängelten sich die drei durch die halboffene Tür. Draußen atmeten sie erleichtert auf. So abstoßend die Alte auch sein mochte und so keck sie ihr in den eigenen vier Wänden auch Paroli bieten konnten, aus der Nähe empfanden sie sie als furchteinflößend.

· 7 ·

Der Verkehr auf der Vierzehnten Straße floss leicht dahin: viele Automobile, etliche Lastwagen und Pferdekarren mit ihren üblichen Lieferungen. Auf den breiten Bürgersteigen das Auf und Ab der Passanten in seinem täglichen Rhythmus. Fußgänger mit unterschiedlichen Zielen, Nachbarn, Botenjungen und Kunden, die die Geschäfte betraten und verließen, ein Straßenhändler mit Zinngeschirr, ein Stangeneisverkäufer, dem die Quader, mit denen er sich abschleppte, schon die Wirbelsäule verbogen hatten.

Das erste Ziel der Mädchen lag unmittelbar gegenüber, fast Ecke Siebte Avenue. Die Besitzerin des Waschsalons Irigaray war tags zuvor in ihrer Wohnung erschienen und hatte ihnen zwei Mäntel und einen schwarzen Umhang geliehen, nachdem sie sich taktvoll erkundigt hatte, ob sie zur Beisetzung etwas an Trauerkleidung benötigten.

Eine Welle feuchter Wärme empfing sie; der Eigentümer der Wäscherei, ein korpulenter Mann in den Sechzigern, der sich ihnen als Don Enrique vorgestellt hatte, legte hinter dem Ladentisch Sachen zusammen. Er trug die Ärmel seines weißen Hemdes bis über die Ellbogen aufgekrempelt, begrüßte sie mit einem ernsten Guten Tag, Señoritas, mein tief empfundenes Beileid, und noch ehe er die letzte Silbe ausgesprochen hatte, steckte er schon den Kopf zwischen die von der Decke hängenden sauberen Wäschestücke und rief nach seiner Frau. Die erschien, auch sie schon älter und etwas rundlich. Obwohl sie einander kaum kannten, küsste sie die Mädchen nachdrücklich auf beide Wangen. Vermutlich, weil diese jetzt Halbwaisen waren.

»Wir möchten die geliehenen Sachen zurückbringen.«

Die Antwort auf Victorias Worte war ein überschwängliches Nein-nein-nein … Die Wäschereibesitzerin bestand darauf, dass sie sie behielten, die Schwestern bestanden darauf, sie zurückzugeben.

»Nein, nein, nein«, beharrte die Frau gutmütig. »Das sind Klamotten von früheren Kundinnen, die nie mehr abgeholt wurden. Sie hängen seit Jahren herum und nehmen nur Platz weg.«

»Aber, aber … wir, wir …«

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass ihnen jemand etwas schenken wollte. Sie waren so überwältigt, dass es ihnen die Sprache verschlug. Bis das Ehepaar sie schließlich überreden konnte, sie dreistimmig ihre Dankbarkeit bekräftigt hatten und sich mit der Entschuldigung weiterer Verpflichtungen verabschiedeten.

Noch während sie sich auf der Straße von ihrer Verblüffung erholten, erschien Doña Concha erneut in der Tür.

»Hört mal!«

Hinter ihr kam ihr Mann heraus, das Hemd aufgeknöpft bis zum Nabel, zeigte er seinen dicht mit grauen Haaren bedeckten Oberkörper.

»Wir haben uns gedacht …«

Sie verständigten sich mit den Augen, wer von ihnen den Schwestern mitteilen würde, was sie vor wenigen Sekunden beschlossen hatten. Dann fragte er geradeheraus:

»Hätte eine von euch Lust, hier zu arbeiten?«

Noch zweifelten sie, was sie von diesem Angebot halten sollten, als seine Frau ergänzte:

»Wir werden nicht jünger, die Kraft lässt nach, die Kinder haben ihr eigenes Leben …«

Die Arenas-Schwestern brachten nur Gestammel heraus.

»Na ja, also, wir … um ehrlich zu sein …«

»Ihr müsst euch nicht sofort entscheiden«, sagte der Baske in seiner handfesten Art. »Überlegt es euch, und dann unterhalten wir uns.«

Das Ehepaar ging zurück in seine Wäscherei, während die drei sich den Vorschlag durch den Kopf gehen ließen. Ihre nächste Station war Casa Moneo, das Lebensmittelgeschäft, und wieder brauchten sie nur eine Straße zu überqueren. Von dort hatte man ihnen einige Konserven in einem Korb geschickt, den sie jetzt zurückgeben mussten.

Kaum hatten sie die Tür zu dem Laden aufgedrückt, als ihnen ein Schwall von Stimmen entgegentönte. Eine fragte auf Spanisch nach dem Sohn eines Verkäufers, den man kürzlich an den Mandeln operiert hatte; eine andere verlangte einen Zopf Knoblauch und zwei Stück Lagarto-Seife; an Haken hingen Blutwürste, Chorizos und Mettwürste, es roch nach Mariniertem und Essig. Sie hatten noch keine zwei Schritte getan, als das Stimmengewirr, wie mit dem Schinkenmesser in der Mitte durchgeschnitten, schlagartig verstummte. Stille erfüllte den Raum, während sich alle Köpfe in dieselbe Richtung drehten.

Dort standen drei dunkel gekleidete junge Frauen dicht nebeneinander, einander ähnlich und doch verschieden, schön, aber bekümmert und verlegen. Und selbst mit ihren traurigen Gesichtern und den noch traurigeren Kleidern boten sie einen bemerkenswerten Anblick.

Die Spannung löste sich, als erste spontane Beileidsbekundungen ausgesprochen wurden. Eine Frau begann, und als hätte sie die anderen angesteckt, erfüllte sich die Luft mit Gemurmel. Sehr bedauerlich. Es tut mir in der Seele leid. Gott hab ihn selig. Er war ein guter Mensch, ein sehr guter Mensch war er, der Capitán, jawohl. Über Luz' Wangen rollten zwei Tränen, und Victoria wurde der Hals trocken, Mona war die Einzige, die ein flüchtiges Danke, vielen Dank herausbrachte und gleich darauf ihre Schwestern bei den Handgelenken packte und sie zum Ladentisch zerrte.

Zum Glück kam ihnen Carmen Barañano, die Inhaberin, zu Hilfe. Auch sie Baskin aus Sestao, in einem weißen Kittel, mit tiefrot lackierten Nägeln und an die sechzig.

»Geht nach hinten durch«, sagte sie in festem Ton und zog einen Vorhang zurück.

Sie brachte sie in einen rückwärtigen Raum voller Kisten, Säcke und in Regalen gestapelter Waren. Es gab salzige und süße Lebensmittel, von Mandelnougat bis zu riesigen Glasbehältern mit eingelegten Oliven; es gab Baskenmützen und Gitarren, Hanfschuhe, Kastagnetten, Pfannen, Weinschläuche: Kein Mensch hätte vermutet, dass man sich mitten in Manhattan befand, einen Steinwurf vom Hudson River und nur ein paar Blocks vom Union Square entfernt. Señora Carmen wies auf einige grobe zweistufige Holztritte, die normalerweise dazu dienten, die oberen Regale zu erreichen, und forderte sie auf, sich zu setzen. Sie gehorchten ohne einen Mucks.

Wie es sich gehörte, kamen zuerst die unvermeidlichen Sätze der Anteilnahme und ein paar anerkennende Worte über ihren Vater. Ein großartiger Mensch, ein wahres Arbeitstier war Emilio, und immer so herzlich … Was die Mädchen schon den ganzen Vormittag lang zu hören bekamen. Bis sie mit einem Mal stutzten.

»Und bezüglich der Rechnung, die er hier noch offenhat, macht euch mal vorläufig keine Sorgen.«

Keine rührte sich, aber diese Worte prasselten auf sie nieder, als hätte jemand einen der Säcke Hülsenfrüchte über ihnen ausgekippt. Die Besitzerin von Casa Moneo hatte ihnen bestätigt, was sie bereits ahnten. Sie würden nicht nur mit dem Verlust und der Ungewissheit fertig werden müssen, sondern auch mit den Schulden, die ihnen ihr Vater hinterlassen hatte. Die vorgestreckten Schiffspassagen, die Mietrückstände, das prunkvolle Begräbnis, um das sie nicht gebeten hatten … Sie wurden von einer solchen Beklommenheit erfasst, dass es ihnen die Sprache verschlug.

»Ihr werdet auf Arbeitssuche sein, nehme ich an«, hörten sie dann.

Ihre Verwirrung wurde noch größer. Dies war das dritte Mal in wenigen Stunden, dass sie darauf angesprochen wurden. Auch in diesem Fall wagten sie nicht zu antworten; keine war imstande, offen zuzugeben, dass sie keine Ahnung hatten, was sie tun sollten, dass sie sich so antriebslos und unfähig fühlten wie die getrockneten Kabeljaue, die in dem Lagerraum von der Decke hingen.

»Ich selbst brauche niemanden, wir haben zurzeit mehr als genug Angestellte. Ja, wenn das vor Weihnachten passiert wäre, dann vielleicht …« Bedauernd schnalzte sie mit der Zunge. »Aber jetzt spielt das ja keine Rolle mehr. Hin und wieder fragen mich Bekannte, ob ich nicht jemanden wüsste, und zufällig werden in einem der allernobelsten Häuser an der Upper West Side für heute Abend Aushilfen gesucht.«

Sie schauten sie verständnislos an.

»Sie haben eine Bestellung für einen Empfang bei mir aufgegeben, und sie werden drei spanische Mädchen für einige Stunden zum Servieren brauchen«, erklärte sie weiter. »Ich habe ihnen schon die Kleine von Luisa, der Frau vom Heilpraktiker, und zwei Nichten von Pérez geschickt, dem Fotografen von La Artística, doch eine davon hat mir heute Morgen mitgeteilt, dass sie wegen irgendeiner Familienangelegenheit nach Newark muss. Somit wäre also eine Stelle frei, und eigentlich wollte ich es gerade Carmina sagen, der aus Navarra, deren Tochter … Aber gut, wenn ihr nun schon mal da seid, gilt das Angebot nun für eine von euch. Sie zahlen anständig, die Anfahrt extra. Und Doña Damiana, die Haushälterin, ist absolut vertrauenswürdig, ganz zu schweigen von der Frau Markgräfin, die ist eine echte Dame …«

Diesmal gab es keine Ausflüchte, unmöglich, sich zu weigern. Mona war, wie immer, die Schnellste.

»Das übernehme ich, wenn es Ihnen recht ist.«

Frau Barañano lächelte schmal, als wären damit all die Male verziehen, die sie die schlechte Laune der drei hatte ertragen müssen.

»Um halb vier hier.«

Sie klatschte sich die flache Hand auf den Schenkel, um die Unterredung für beendet zu erklären, und erhob sich. Im Hinausgehen schenkte sie den Schwestern drei Tafeln Elgorriaga-Schokolade, und als sie Anstalten machte, sie in die Wangen zu zwicken, konnten sich die Mädchen gerade noch wegducken.

Es war fast Mittag, bis sie wieder auf der Straße standen. Luz war die Erste, die ängstlich flüsternd die Frage aussprach, die ihnen allen dreien durch den Kopf spukte.

»Wieso glauben die eigentlich alle, dass wir hierbleiben?«

· 8 ·

Das Bestattungsunternehmen hatten sie sich absichtlich bis zuletzt aufgehoben, weil es der düsterste in der Reihe ihrer Besuche sein würde. Und auch der lästigste, denn jemand hatte ihnen zwar erzählt, La Nacional übernehme die Beisetzungskosten ihrer Mitglieder, doch erschien ihnen das, was sie am Vortag gesehen hatten, von exzessivem Prunk.

»Der Sarg sah aus wie für einen Minister«, raunte Luz.

»Und diese goldenen Sockel«, ergänzte Victoria, »und die Kerzen und die ganze Dekoration und der Kranz mit den vielen Nelken in unserem Namen.«

»Und die Autos, diese Riesenautos, mit denen sie uns abgeholt haben …«