Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in der Antike - Robert Ralf Keintzel - E-Book

Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in der Antike E-Book

Robert Ralf Keintzel

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Beschreibung

Im Jahr 2013 lag der Anteil der Menschen mit sogenannter Behinderung in Mitteleuropa bei circa 12,7% der deutschsprachigen Bevölkerung. Also mehr als jede zehnte Person lebte mit einer Behinderung. Dennoch wurden diese Menschen lange Zeit von der Geschichtsschreibung vergessen. Menschen mit Behinderung haben aber sehr wohl eine lange Geschichte, die sich auf ihre Gegenwart und ebenso auf ihre Zukunft auswirkt.

In seinem Buch Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung. (Dis)abled in der Antike zeichnet Robert R. Keintzel die Geschichte der Menschen mit Behinderung in Süd- und Mitteleuropa vom Jahr -750 bis zum Jahr 500 nach. Der Autor geht folgenden Fragen auf den Grund: Was ist eigentlich Behinderung? Gab es Behinderung in der Zeit zwischen -750-500, und wenn ja, wie sah diese Behinderung aus? Welche bekannten Herrscher waren behindert? Wie nahmen die Wissenschaft, die Religion und die Medizin das Phänomen der Behinderung wahr, und wie gingen sie mit Menschen mit sogenannter Behinderung um?

Wie sah die Medizin und die Rechtsprechung in dieser Zeit aus, und wie entwickelte sie sich? Wer wurde medizinisch behandelt, und wie gestaltete sich eine medizinische Behandlung damals im Vergleich zu heute? Wie sah die Gesellschaft von -750-500 aus? Wurden alle Menschen in der historischen Gesellschaft gleichbehandelt und medizinisch versorgt?

Waren Menschen mit sogenannter Behinderung in dieser Zeit abled oder disabled? Welchen Einfluss hat die Geschichte der Menschen mit Behinderung auf unsere heutige Zeit?

Viele Fragen, auf die der Autor in diesem Buch eine Antwort sucht.

Unterstützt wird die Buchreihe durch die Android Quiz-App "Dis/abled in History Quiz". Der Leser kann hier sein Wissen über die Menschen mit Behinderung testen.

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ROBERT RALF KEINTZEL

EINE GESCHICHTE DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

DIS/ABLED IN DER ANTIKE

DER AUTOR

Robert Ralf Keintzel studierte Medizin an der Universität Ulm. Neben dem Studium absolvierte er das Certified Science Training an der Charité Berlin und erweiterte seine medizinischen Kenntnisse an der Sanitätsakademie in München.

Schon während seines Studiums arbeitete der Autor im Universitätsklinikum Ulm und im Bundeswehrkrankenhaus Ulm.

Während seiner praktischen Tätigkeit hatte Herr Keintzel Kontakt zu Menschen, die mit einer Behinderung leben. Diese prägenden Erfahrungen führten zu dem Entschluss, mit dem Studium der Sonderpädagogik und dem Fach Geschichte sein Wissen zu vertiefen. Zurzeit arbeitet Herr Keintzel als Schulischer Heilpädagoge in der Nähe von Zürich und fördert hier Schülerinnen und Schüler.

Der Autor engagiert sich ehrenamtlich im Bereich Inklusion, unter anderem mit großem Erfolg als Trainer bei den Olympischen Winterspielen 2020 für Menschen mit geistiger Behinderung. Während dieser Zeit reifte in ihm die Idee, die Geschichte der Menschen mit Behinderung zu erforschen.

Robert Ralf Keintzel wurde von der Bundesrepublik Deutschland, den Bundesländern Bayern und Sachsen-Anhalt ausgezeichnet. Darüber hinaus wurde dem Autor in Anerkennung der bemerkenswerten Beiträge für die deutsche Gesellschaft vom Bundespräsidenten a.D. Christian Wulf im Jahr 2019 eine Auszeichnung verliehen.

EINE GESCHICHTE DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

(DIS)ABLED IN DER ANTIKE

Im Jahr 2013 lag der Anteil der Menschen mit sogenannter Behinderung in Mitteleuropa bei circa 12,7% der deutschsprachigen Bevölkerung. Also mehr als jede zehnte Person lebte mit einer Behinderung. Dennoch wurden diese Menschen lange Zeit von der Geschichtsschreibung vergessen. Menschen mit Behinderung haben aber sehr wohl eine lange Geschichte, die sich auf ihre Gegenwart und ebenso auf ihre Zukunft auswirkt.

In seinem Buch Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung. (Dis)abled in der Antike zeichnet Robert R. Keintzel die Geschichte der Menschen mit Behinderung in Süd- und Mitteleuropa vom Jahr -750 bis zum Jahr 500 nach.

Der Autor geht folgenden Fragen auf den Grund: Was ist eigentlich Behinderung? Gab es Behinderung in der Zeit zwischen -750-500, und wenn ja, wie sah diese Behinderung aus? Welche bekannten Herrscher waren behindert? Wie nahmen die Wissenschaft, die Religion und die Medizin das Phänomen der Behinderung wahr, und wie gingen sie mit Menschen mit sogenannter Behinderung um?

Wie sah die Medizin und die Rechtsprechung in dieser Zeit aus, und wie entwickelte sie sich? Wer wurde medizinisch behandelt, und wie gestaltete sich eine medizinische Behandlung damals im Vergleich zu heute? Wie sah die Gesellschaft von -750-500 aus? Wurden alle Menschen in der historischen Gesellschaft gleichbehandelt und medizinisch versorgt?

Waren Menschen mit sogenannter Behinderung in dieser Zeit abled oder disabled? Welchen Einfluss hat die Geschichte der Menschen mit Behinderung auf unsere heutige Zeit?

Viele Fragen, auf die der Autor in diesem Buch eine Antwort sucht.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Herausgebers Robert Keintzel unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© Herausgeber: Robert Ralf Keintzel, Ichenhauserstr. 64, 89312 GünzburgLektorat und Korrektur: Charlotte KliemannGraphische Gestaltung: Vithusan V.Printed in EUPrint: Bookpress.euul. Lubelska 37c10-408 OlsztynNIP UE: PL7391707321REGON: 519620353

Inhaltsverzeichnis

TITEL

DER AUTOR

EINE GESCHICHTE DER MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

(DIS)ABLED IN DER ANTIKE

IMPRESSUM

EINLEITUNG

2. VERSTÄNDNIS VON BEHINDERUNG

3. GESELLSCHAFTLICHE GRUNDSTRUKTUREN

3.1 UNTERSCHICHT

3.2 OBERSCHICHT

4. RÖMISCHE HERRSCHAFTSSTRUKTUREN / (DIS)ABLED RUFERS

5. GESELLSCHAFTLICHE STELLUNG VON MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNG

6. WISSENSCHAFT IN DER ANTIKE

7. MEDIZIN IN DER ANTIKE

7.1 HERKUNFT DER MEDIZIN

7.2 VIERPHASENSCHEMA NACH PROF. DR. WOLFGANG U. ECKERT

7.3 DER ÄRZTLICHE BERUF IM WANDEL

7.4 WISSEN ÜBER ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE

7.5 EXEMPLARISCHER VERGLEICH DER ANTIKEN MEDIZINISCHEN BEHANDLUNG MIT DER HEUTIGEN BEHANDLUNG

7.6 VERGLEICH DES MEDIZINISCHEN WISSENS MIT HEUTE

8. RETROSPEKTIVE KENNZAHLEN UND RAHMENBEDINGUNGEN

8.1 FORMEN DER BEEINTRÄCHTIGUNG NACH DEM ZEITPUNKT DER „SCHÄDIGUNG“

8.2 ERNÄHRUNG UND BEEINTRÄCHTIGUNG

8.3 ERKRANKUNGEN DES KNOCHENAPPARATS

8.4 BEEINTRÄCHTIGUNG UND ERKRANKUNGEN DER AUGEN

8.5 BEEINTRÄCHTIGUNG DER SEXUALITÄT

8.6 RETROSPEKTIVE EINSCHÄTZUNG DER HÄUFIGKEIT VON BEEINTRÄCHTIGUNG UND KRANKHEIT ANHAND VON VOTIVGABEN

8.7 LEBENSERWARTUNG IN DER ANTIKE

8.8 EINSCHÄTZUNG DER AUSWIRKUNGEN VON BEEINTRÄCHTIGUNG

9. MULTIDIMENSIONALE WAHRNEHMUNG VON BEHINDERUNG

9.1 BEHINDERUNG IN DER MEDIZIN

9.2 BEHINDERUNG IN DER PHILOSOPHIE

9.3 BEHINDERUNG IN DER RÖMISCHEN RELIGION

9.4 BEHINDERUNG IN DER MYTHOLOGIE

9.5 BEHINDERUNG IM FRÜHEN CHRISTENTUM

9.6 BEHINDERUNG IM RECHTSSYSTEM

10. TÖTUNG VON NEUGEBORENEN IM ANTIKEN ROM

11. FAZIT

12. ABBILDUNGSVERZEICHNIS

13. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

DIE ANDROID-APP ZUR BUCHREIHE

FUßNOTEN

EINLEITUNG

Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung. (Dis)abled in der Antike – ein Titel, der hohe Erwartungen weckt, die erfüllt werden wollen. Die Intentionen, zu diesem Buch zu greifen, können sehr vielfältig sein. Manch einer erwartet vielleicht eine genaue Schilderung des damaligen Lebens, ein anderer eine wissenschaftliche Erfassung der Geschichte der Menschen mit Beeinträchtigung und wieder ein anderer eine Mischung aus Unterhaltung und Wissenszuwachs. Dieses Buch versucht, mehrere Zielgruppen anzusprechen: Personen, die nach wissenschaftlichem Input suchen, um später im wissenschaftlichen Diskurs die Thematik weiterzutragen; und ebenso versucht es, zu unterhalten und mit lebensnahen Geschichten zu sensibilisieren und ein Geschichtsbewusstsein zu schaffen respektive zu schärfen.

Geschichte erzählt uns, wie etwas war und wie etwas zu dem wurde, wie es heute ist. Die Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie ist relevant für unser Leben. Wir können daraus lernen und gegenwärtige Zusammenhänge besser verstehen.

Eine Geschichte für Menschen mit Behinderung ist daher zwingend notwendig. Sie darf aber nicht einseitig erzählt werden, da Behinderung nicht homogen, sondern vielfältig ist. Sie kann sich auf unterschiedlichste Weise ausdrücken, betrifft verschiedene Personengruppen in spezifischer Weise und ist dem zeitlichen Wandel unterworfen. Im Zentrum der Thematik steht daher die Frage, was in verschiedenen Kontexten und zu welcher Zeit unter Normalität verstanden wurde.

Dabei ist besonders die Antike zu betrachten, die als Zeitalter des Wissens galt sowie auch heute noch gilt. In der Renaissance sollte das antike Wissen wiederbelebt werden, und nach wie vor hat es einen festen Platz in unserer modernen Gesellschaft. Wie die antike Gesellschaft aussah, welche Normen sie besaß und wie Menschen bei einem Verstoß gegen diese Normen ausgegrenzt wurden, ist Gegenstand dieser Untersuchung.

Neben Aspekten der Disability History werden auch Aspekte aus der Medizingeschichte aufgegriffen.

Behinderung ist so viel mehr als beispielsweise ein fehlender Arm. Es spielen hier vielfältige Faktoren mit hinein. Die Gesellschaft von -750-500 war eine ganz eigene, deren Besonderheiten erfasst werden müssen, um Behinderung zu verstehen. Hierbei tut sich ein System von wechselseitigen Beziehungen auf, die im Verhältnis miteinander standen und diese Zeit prägten. Dazu gehören unter anderem das Geschlecht, der Stand, die geografischen Faktoren wie auch das Alter ihrer Mitglieder.

Dieses Buch versucht, nicht getrennt die einzelnen Formen von Beeinträchtigung zu betrachten, sondern vielmehr chronologisch einen Überblick und auch relevantes Detailwissen zu liefern. Dies erscheint zunächst als eine Sache der Unmöglichkeit, da eine Vielzahl von Quellen und Literatur vorherrscht, die gesichtet, eingeschätzt und bearbeitet werden will.

Diese Form der Geschichtsbetrachtung hat den Vorteil, einen chronologischen Prozess besser zu erfassen. Der Autor hat sich für dieses Format entschieden, da so eine Geschichte entsteht, die interessiert gelesen werden kann, nicht nur von ausgebildeten Wissenschaftlern, sondern auch von Personen, die sich für die Thematik interessieren.

Behinderung ist ein gesellschaftlich relevantes Thema und benötigt daher ein Publikum in der Mitte der Gesellschaft, eine Geschichte, die nicht nur Fakten liefert, sondern vielmehr ein Geschichtsbewusstsein vermittelt. Mit einem Geschichtsbewusstsein können historische Prozesse erst erfasst und verstanden werden. Und daraus kann eine Innovationsfähigkeit entstehen.

Diese Innovationsfähigkeit führt zu einem besseren Verständnis sowohl der Menschen mit Beeinträchtigung als auch der Praxis der Inklusion.

2. VERSTÄNDNIS VON BEHINDERUNG

Unser Verständnis von Behinderung ist über die Zeit gewachsen, es ist keine isolierte Geschichte der Medizin, des Rechts, der Philosophie oder der Religion, vielmehr zeigt die Begrifflichkeit der Behinderung ein Bild unserer Gesellschaft, wie sie miteinander umgeht, sich voneinander abgrenzt und wie unsere Gesellschaft Normalität definiert.

Es ist daher nicht sinnvoll, Behinderung nur aus einer Perspektive zu betrachten. Behinderung als Begriff mit einer technischen Definition, die eine Wesenseigenschaft und Minderwertigkeit beschreibt, trifft nicht die sozialen Prozesse dahinter. Etikettierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung gehen mit der Abweichung von der Norm einher.

Eine Beeinträchtigung zu haben bedeutet häufig, eine Norm zu verletzen, die andere Personen aufgestellt haben. Diese Abweichung von der Norm besitzt isoliert betrachtet keinerlei Wertung, sondern entsteht erst in Wechselwirkung mit einem konstruierten System aus Regeln. Abweichendes Verhalten kann dann zu einer Sanktionierung führen.1

Danach beschreibt Waldschmidt im Hinblick auf die Disability History, dass „Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern eine soziale Konstruktion […]. Ihr geht es darum zu zeigen, dass nicht beeinträchtigungsspezifische Aspekte für unser Verständnis von Behinderung entscheidend sind, sondern die gesellschaftlichen Deutungs-, Thematisierungs- und Regulierungsweisen.“2

Dagegen wird das „soziale Modell“ von verschiedenen Seiten, auch wenn nicht im Zusammenhang mit der Disability History, zunehmend kritisiert. So aus einer interaktionistischen beziehungsweise kritisch-realistischen Perspektive, der phänomenologischen Perspektive sowie beispielsweise aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive.3 Zusätzlich ist auch die Theorie der „Normalitätsdispositiven“ von Waldschmidt anzuführen.4

„Man sieht nur, was man weiß.“5

Die Gesellschaft oder auch eine Minderheit beispielsweise aus Experten erstellt Regeln, die das Unnormale technisch definieren. Diese technischen Definitionen wiederum wirken auf die Gesellschaft zurück, sodass bei einer historischen Geschichte über Behinderung beide Sichtweisen angemessen erzählt werden müssen. Eine wissenschaftliche Betrachtung rückt darüber hinaus nur an die Realität heran, kann diese aber niemals vollständig erfassen, da Geschichte keine Meistererzählung ist. Das Fach Geschichte ist ein Spiegelbild unserer heterogenen Gesellschaft und besitzt eine Vielfalt an Perspektiven und daraus resultierenden Erzählungen.6

Die Beschränkung auf eine „medizinische“ oder eine „soziale Sichtweise“ scheint daher nicht angemessen, da beides wechselseitig miteinander wirkt.

Behinderung ist einerseits eine spezifische Unfähigkeit, die aufgrund von sozialen Prozessen zugeschrieben und erzeugt wird, und anderseits auch eine Beeinträchtigung, die aus medizinischer Sicht besteht und zu einer Rehabilitation legitimiert beziehungsweise aus dieser Sicht einer Rehabilitation bedarf.

Behinderung ist kein universelles, sondern ein zeitlich gebundenes Phänomen.7 Was richtig oder falsch, schön oder hässlich beziehungsweise normal oder unnormal ist, ist nicht pauschal zu beantworten. Normalität muss im zeitlichen Verlauf immer wieder neu definiert und hinterfragt werden. Aus diesem Wandel entsteht eine neue gesellschaftliche Wechselwirkung, die in verschiedenen Bereichen wie der Medizin, des Rechts, der Philosophie oder in der Religion erfasst werden will. Durch den Wandel der gesellschaftlichen Wechselwirkungen verändern sich auch die Etikettierung, Stigmatisierung und die Aussonderung beziehungsweise der Umgang mit Menschen, die nicht als normal angesehen werden, sodass die Mehrheitsgesellschaft der „Normalen“ mit in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung rückt.8

3. GESELLSCHAFTLICHE GRUNDSTRUKTUREN

„Die Antike“ ist ein gebräuchlicher Begriff, der mit dem griechischen oder römischen Altertum verbunden wird. Auch in diesem Buch wird diese Verbindung hergestellt.

Die griechische und römische Antike gelten als die Wiege der abendländischen Zivilisation, die im „dunklen Mittelalter“ fast vergessen und in der Renaissance wiederentdeckt wurde, so ein verbreitetes Verständnis. Auch kann eine gewisse Homologie von römischer und griechischer Antike angenommen werden, sodass die griechische und römische Antike im Vordergrund der Betrachtung stehen, welche prägend für Süd- und Mitteleuropa sind. In den Fokus rückt dabei der Mittelmeerraum um 750 v. Chr. bis 500 n. Chr., der als demografischer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Kernraum der Antike anzusehen ist.

Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass der Kontinent Europa zu dieser Zeit nicht nur von Griechen und Römern besiedelt war, sondern auch beispielsweise von Kelten und Germanen. Auch ist die römische oder griechische Bevölkerung keine homogene Masse, die sich immer klar unterteilen lässt, und regionale Besonderheiten können bei einem so großen Herrschaftsgebiet nicht vollkommen abgebildet werden.

Mit diesen Hintergrundinformationen ist es nur näherungsweise möglich, die Lebensrealität der heterogenen und sich wandelnden Gesellschaft zu erfassen, insbesondere den Umgang mit Beeinträchtigung. Diese schichtspezifische Näherung soll anhand der Untergliederung in Unterschicht und Oberschicht stattfinden, wobei separat eine makroskopische Betrachtung der herrschenden Klasse vorgenommen wird.

Es werden die Grundstrukturen in der griechischen, aber auch in der römischen Antike dargelegt.

Bereits Homer beschreibt in seinen Werken die griechische Gesellschaft, darin waren die Herrschenden zu finden, die an der Spitze standen und Knechte sowie Diener beschäftigten, die zum Teil unfrei waren. Daneben gab es freie Bauern, die am Rande des Existenzminimums mit Ackerbau und Viehzucht ihren Lebensunterhalt bestritten.9

Bei Homer erfährt man aber nichts über die Institutionalisierung von Macht beziehungsweise explizit über die Formierung von Poleis. Ab dem 8. Jh. v. Chr. formierten sich allmählich eigene Verwaltungseinheiten, die Poleis, die als Bürgerverbände fungierten. Sie waren notwendig geworden, da mit der Anzahl der Menschen der Regelungsbedarf wuchs, was sich in der Herausbildung von Ämtern und Strukturen äußerte. Diese Poleis bildeten ein Element des griechischen Zusammengehörigkeitsgefühls.10

Hierarchisches Denken war aber kein griechisches Phänomen, sondern durchzog auch die gesamte römische Gesellschaft. Die Frage, wer oben oder unten stand, war überall relevant und unterschied Menschen im Militär sosehr wie im Senat, in der Volksversammlung bis hin in den römischen Haushalt. Die Stellung der Bürger in den römischen Institutionen lässt sich als Pyramide abbilden, mit wenigen an der Spitze und vielen tief unten. Bei der Unterscheidung gab es verschiedene Maßstäbe. Als wichtige Maßstäbe dienten Reichtum, Status und Autorität. Aber auch die Unterscheidung in Frei und Unfrei war wichtig. Sklaven waren keine soziale Klasse oder gehörten nicht pauschal der Unterschicht an. So besaß ein Hauslehrer, der die Kinder der herrschenden Klasse unterrichtete, eine ganz andere Lebensrealität als ein Sklave in den Bergwerken. Vielmehr war Unfreiheit ein Rechtsstatus, der den Sklaven mit einer Sache gleichsetzte.11

Über die Zeit veränderten sich auch gesellschaftliche Strukturen. Bestand das archaische Rom noch aus einer Mehrzahl sich selbst versorgender Bauern, so gab es ab der mittleren Republik eine kleine, sehr reiche Oberschicht aus Großgrundbesitzern, eine Mittelschicht aus freien Bauern und eine breite Masse von Armen, die keinen Grundbesitz hatten. Daneben behaupteten sich Handwerker und Händler, die nach ihrem Geschick und ihrer Selbstständigkeit einen Platz in der Gesellschaft fanden. Auch differenzierte sich die Gesellschaft immer weiter mit der Aufgliederung der Erwerbsquellen.12

Neben der differenzierten Einteilung der Gesellschaft kannte das Römische Reich eine offizielle Unterscheidung in Plebejer und Patrizier. Die Sage um Romulus und Remus diente den Mächtigen als Erklärungsansatz. Romulus soll der Sage nach das römische Volk in Plebejer und Patrizier eingeteilt haben, indem er hundert Männer über den Rest des Volkes erhob. Dieses Patriziat bestand aus adeligen Sippen, die beispielsweise mittels Abzeichen oder Sagen ihre Privilegien erklärten. Der Begriff patricius leitet sich von Vater ab, als solche wurden sowohl die Sippenoberhäupter als auch die Senatoren bezeichnet. Die Patrizier bildeten eine soziale Elite, die wirtschaftliche Privilegien innehatte. So waren allein Patriziern bis 254 v. Chr. das oberste Pontifikat oder auch bis zum Jahr 390 n. Chr. das Amt der Jupiterpriester und bestimmte Priesterkollegien vorbehalten. Damit bildeten die Patrizier die religiöse Funktionselite ab.13

Herkunft war wichtig und wurde in ganz unterschiedlicher Weise dargestellt, so unter anderem in der Namensgebung. Die Komplexität und die Bedeutung der Herkunft spiegeln sich in der römischen Namensgebung wider, die sich bis etwa zum 2. Jh. v. Chr. entwickelte.

Männer besaßen drei Namen. Einen Vornamen, Namen des römischen Familienverbands und einen Beinamen. Diese Namensgebung betraf vornehmlich Männer aus der Oberschicht und galt nicht für Sklaven, Frauen im Allgemeinen und freie Reichsangehörige ohne Bürgerrecht.14

Der Inhalt des Beinamens gab nicht selten eine Anspielung auf eine Eigenart der Person wieder oder benannte eine Beeinträchtigung, wenn diese vorhanden war. Es ist aber nicht bekannt, dass Personen auf Grund ihres Beinamens verspottet wurden oder den Beinamen als soziale Behinderung wahrnahmen und versuchten, ihn zu wechseln. Vielmehr ist zum Beispiel von Publius Furius Crassipes bekannt, dass er im Jahr 84 v. Chr. in Anlehnung seines Spreizfußes (Crassipes) eine Münze mit dem Bild eines Spreizfußes prägen ließ.15 Es zeigt sich, dass es Personen gab, die auf ihre Beeinträchtigung, die auch als Charakteristikum diente, stolz waren.

Die Einteilung in Patrizier und Plebejer oder Unter- sowie Oberschicht war keine absolute Differenzierung der Gesellschaft. Es existierten zahlreiche Schattierungen, die nicht von der Unterteilung in zwei scheinbar homogene Gruppen erfasst wurden. Eine weitere Einteilung der Gesellschaft wurde mittels der Wehrfähigkeit vollzogen. Die Wehrfähigkeit hing vom Vermögen ab, je besser man für seine Ausrüstung sorgen konnte, desto höher war die militärische Stellung.

Klasse

Zensus (in As)

Militärische Ausrüstung

Bevölkerungsgruppe

I

Über 100.000

Helm, Rundschild, Beinschienen, Brustpanzer, Speer und Schwert

II

75.000 bis unter 100.000

Helm, Langschild, Beinschienen, Speer und Schwert

III

50.000 bis unter 75.000

Helm, Langschild, Speer und Schwert

IV

25.000 bis unter 50.000

(Langschild), Speer, Wurfspieß (und Schwert)

V

11.000 bis unter 25.000

Schleuder, Steine (und Wurfspieß)

Infra clasem

Unter 11.000

Keine Ausrüstung

Land- und besitzloses ProletariatZu dieser Gruppe gehörten Handwerker, Musiker und alle anderen nicht Wehrpflichtigen

Abbildung 1:Heeresgliederung in der frühen römischen Republik

Die Familie war nicht nur Teil des Namens, sondern beeinflusste maßgeblich das tägliche Leben eines jeden Familienangehörigen. Familienangehörige waren nicht losgelöst von den anderen Mitgliedern, sondern eingebettet in die kleinste Einheit eines Staates, nämlich der Familie. Untersuchungen von Cox zur Haushaltsstruktur zeigten, dass in einem attischen Hauswesen im 4. Jahrhundert zu 60-67% zwei bis vier freie Personen und zu 29% vier bis sechs freie Personen lebten. Diese Zahlenbasieren auf Überlieferungen von Gerichtsreden und Grabinschriften. Das normale Familienleben wurde in der Antike immer wieder gestört durch Kriege, Tod bei der Geburt oder Verbannung beispielsweise durch das Scherbengericht. 16

Abbildung 2: Haushaltsformen im römischen Ägypten, 1.-3. Jh. n. Chr.

Eine andere Hochrechnung für das 1. bis 3. Jh. n. Chr. für das römische Ägypten zeigt eine Haushaltsstruktur ähnlich der, die in Florenz im 15. Jahrhundert vorgeherrscht hatte. Daraus ist ersichtlich, dass der durchschnittliche Haushalt 4,3 Personen umfasste. 43,1% der Paare lebte mit Kindern, 15% zusätzlich mit Verwandten, 21% waren Mehrgenerationenhaushalte, und 16,2% lebten allein. Die Alleinstehenden waren einer hohen Gefahr von Altersarmut und prekären Verhältnissen ausgesetzt, da die Familie als hauptsächliche Alterssicherung diente.17

3.1 UNTERSCHICHT

Zur Unterschicht können diejenigen gezählt werden, die wenig besaßen oder nur einen geringen Stellenwert in der Gesellschaft hatten. Die Lebensrealität der Arbeiter in Rom war eine andere als die der reicheren Bevölkerungsschicht. So zeigt eine Studie über eine Untersuchung von mehr als 2000 antiken römischen Skeletten, dass es klassenspezifische Krankheiten und Beeinträchtigungen gab. So die Medizinhistorikerin Gazzaniga von der römischen Universität La Sapienza:

„The bones are the earthly remains of poor, working-class Romans, taken from commoners’ graves, and display high incidences of broken and fractured bones, chronic arthritis and high incidences of bone cancer.

What’s interesting is that the average age of death across the sample group was just 30, yet the skeletons still display severe damage wrought by the extremely difficult working conditions of the day. “18

Neben den Mitgliedern der Unterschicht, die in Freiheit lebten, gab es auch Unfreie, die aber nicht ausschließlich in der Unterschicht angesiedelt waren. Neben den wenig qualifizierten Sklaven, die beispielsweise in den Bergwerken arbeiteten, lebten auch höher qualifizierte beziehungsweise besser gestellte Unfreie, die keineswegs retrospektiv zur Unterschicht gezählt werden. Die Bevölkerungsgruppe der Unfreien hatte keine persönlichen und politischen Rechte, sie waren der Willkür ihres Besitzers ausgeliefert. Allerdings lag es im Interesse des Besitzers, den Sklaven gut zu behandeln, da der Kaufpreis zwischen sechs durchschnittlichen Monatslöhnen und zwei durchschnittlichen Jahreslöhnen lag. Sklaven waren nach Aristoteles „beseelter Besitz“, dem Tier gleichgesetzt. Davon zeugt auch der gebräuchliche Begriff „Menschenfüßler“19.

Reiche Privatpersonen in großen Städten konnten sich bis zu fünfzig Sklaven leisten. Aber auch weniger wohlhabende Bürger besaßen bis zu zwölf Unfreie, die als Diener, Knechte oder als spezialisierte Fachleute arbeiteten. Ihre Tätigkeit bestimmte ihr Ansehen, und ein unfreier Facharbeiter war ganz anders angesehen als ein unfreier Hausdiener. Die Sklaverei war aber keine rein private Angelegenheit. Manche Poleis besaßen „Staatssklaven“. So übten Sklaven vielfältige Arbeiten aus, vom Bauarbeiter bis zum Amtsdiener. Es sind zum Beispiel 300 skythische Bogenschützen bekannt, die bis zur Mitte des 4. Jh. v. Chr. in Athen unter dem Kommando eines athenischen Offiziers Polizeifunktionen ausführten.20

Die Unterschicht war keine einheitliche Gruppe, auch nicht die Plebejer, dennoch kam es zu einer Organisation innerhalb der Gruppe der Plebejer. In den vorhandenen Institutionen fühlten sie sich dem Gesetzgebungs- und Vollziehungsmonopol der Patrizier zunehmend schutzlos ausgeliefert, sodass sie Schritte zur Gleichberechtigung unternahmen. Zwischen den Jahren 494 und 287 v. Chr. erkämpften sich die Plebejer durch Reden, Streiks und Gewaltandrohungen schrittweise Zugang zu höheren Staats- und Priesterämtern.21

So wurde zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. das Volkstribunal eingerichtet. Der Volkstribun konnte Plebejern, die von Patriziern angegriffen wurden, zur Seite eilen und sie schützen. Hinter dem Volkstribun stand die Masse der Plebejer.

Später konnten Volkstribune auch die Beschlüsse von Senat und der Volksversammlung mit einem Veto verhindern. Auch konnte das Volk ab dem Jahr 449 v. Chr. durch ein Plebiszit einen rechtlich bindenden Volksbeschluss abgeben, der ab dem Jahr 342 v. Chr. auch für Patrizier bindend war und im Jahr 287 v. Chr. mit der Lex Hortensia einem Gesetz gleichgestellt wurde. Darüber hinaus wurden Ämter für Plebejer geöffnet, und ab dem Jahr 449 v. Chr. durften Plebejer und Patrizier untereinander heiraten.22

Parallel zu der rechtlichen Erstarkung der Plebejer gegenüber den Patriziern kann aber auch eine entgegengesetzte Entwicklung innerhalb der Politik wahrgenommen werden. Im Jahr 510 v. Chr. endete das Königtum und begann die Republik in Rom. Dieser Umsturz ging aber vom Adel aus und stellte vielmehr eine Adelsrevolte als einen Volksaufstand dar. Das Königtum ging, aber seine Gewalt blieb erhalten. Die Macht des Königs wurde nun auf zwei Beamte verteilt, deren Regierungszeit auf ein Jahr begrenzt war. Damit löste die patrizische Elite in Rom den König ab und verwaltete die Macht als Monopol. Die Plebs formierte sich und bildete im Jahr 494 v. Chr. eine autonome Körperschaft, die plebejischen Magistrate. Mit dem Niedergang des Königtums in Rom kam es nun zu den sogenannten Standeskämpfen, die ausgehend von der Plebs das Ziel einer fairen Gesellschaft hatten.23

Durch die sogenannten Standeskämpe zwischen den Plebejern und des Patriziats wuchs das Standesbewusstsein. Dieses Standesbewusstsein hatte bei den Patriziern zur Folge, dass sie ihre Exklusivität bedroht sahen und versuchten, die Plebejer von der politischen Macht so gut wie möglich abzuschneiden. Dies gelang den Patriziern so gut, dass der Einfluss der Plebejer sank und sie zum Beginn des 5. Jh. v. Chr. mehr Amtsträger im Range eines Konsuls als zum Ende des Jahrhunderts stellten. Als Grundlage für diese Einschätzung dient die Quelle der Fasti consulares, einem Verzeichnis der Amtsträger konsularischen Ranges von 508-354 v. Chr. Hier zeigt sich, dass zwischen 509 und 483 v. Chr. 21% der Konsuln aus nicht patrizischen Geschlechtern entstammten. Über das gesamte 5. Jahrhundert reduzierte sich der Anteil der Nichtpatrizier im Range eines Konsuls kontinuierlich und mündete in einen Anteil von 1% an nicht patrizischen Amtsträgern zwischen den Jahren 427 bis 401 v. Chr.

Für einen Zugang zu den Ämtern mussten rechtliche Möglichkeiten wahrgenommen werden und die Voraussetzungen wie beispielsweise genug Geld für die Umwerbung der eigenen Person gegeben sein, um überhaupt eine faire Chance zu haben.24

Das Jahr 367 v. Chr. markierte einen markanten Wendepunkt, da hier entschieden wurde, dass einer der beiden Konsuln immer ein Plebejer sein sollte. Dieses Gesetz wurde mehrmals in den Jahren danach gebrochen, indem beide Amtsträger im Range eines Konsuls Patrizier waren.25

Eine andere Form der Gewaltenkontrolle benutzten die Griechen. Sie versuchten, die politische Macht zu brechen, und entwickelten dafür verschiedene Instrumente. Eine Maßnahme war das Scherbengericht, das in Athen im Jahr 508 v. Chr. eingeführt wurde. Das Scherbengericht wurde von etwa 40.000 Bürgern aus Athen mit dem Mindestalter von 20 Jahren abgehalten, sie bildeten die Volksversammlung. Diese entschied über die Durchführung eines Scherbengerichts. Jede Person aus der Volksversammlung war berechtigt, eine Scherbe mit dem Namen einer ihm unliebsamen Person beizusteuern. Die Scherben wurden dann aus einem Tonkrug gezogen, und die Person, deren Name gezogen worden war, in die Verbannung geschickt. Das betraf bevorzugt die Familien mit politischer Macht. Oft wurde das Gericht missbraucht, indem der Wahlvorgang manipuliert wurde, um Rivalen in die Verbannung zu schicken und die eigene Macht weiter auszubauen.26

3.2 OBERSCHICHT

Die Gliederung in Ober- und Unterschicht weist auf eine Überlegen- beziehungsweise Unterlegenheit einer bestimmten Gruppe gegenüber einer anderen hin. Diese Überlegenheit der Menschen in der Oberschicht konnte gekennzeichnet sein durch ein großes Maß an Reichtum, Status und Autorität. Einfluss und Wertschätzung konnte gegen gut bezahlte Ämter eingetauscht werden. Und mit Geld konnte für die eigene Person im politischen Wahlkampf geworben werden.

Voraussetzung für die Übernahme einflussreicher politischer Ämter war die Möglichkeit, Arbeit delegieren und somit ein Einkommen generieren zu können, bei der die eigene Person abkömmlich für Krieg oder Politik war. Es musste also zunächst Geld gegen politische Macht eingetauscht werden, um ein wichtiges öffentliches Amt zu erhalten. Für diese Ehrenämter, die sogenannten Magistratus honores, gab es kein Gehalt, zumindest nicht offiziell.27

Wer an der Macht war, durfte bestimmen und konnte so auch Geld in die eigenen Taschen verschwinden lassen. Nicht selten nutzten Prätoren oder Konsuln, die als ehemalige Magistrate in die Provinzen gesendet wurden, großzügig ihren Spielraum für sich und ihre Familie aus. Ebenso im Militär. Feldherren hatten die Möglichkeit, sich durch Lösegelder von Freigelassenen oder mittels Beute zu bereichern.28 Dieses Geld wurde dann eingesetzt, um die eigene Stellung sowie die wohlgesinnten Personen zu stärken. Die Oberschicht bestand nicht aus vereinzelten Personen, die alleinstanden, sondern jeder umgab sich mit ihm wohlgesinnten Personen. So bildeten sich Koalitionen, um gegen andere Akteure zu bestehen.

Der Haushalt einer römischen Oberschicht war kein „normaler“ Haushalt in unserer modernen Vorstellung, so gingen Klienten des Familienoberhauptes ein und aus. Nur wenige Räume waren privat, und viele Räume dienten der Zurschaustellung von Status. Auch unterschieden sich die Patrizier und Plebejer im Heiratsalter. Senatoren heirateten sehr spät, mit 25 Jahren. Da Frauen bereits mit zwölf oder vierzehn Jahren eine Ehe eingingen, kam es besonders bei den politisch aktiven Schichten zu einem erheblichen Altersunterschied in der Ehe.29

Diese Altersunterschiede beziehungsweise ein hohes Alter und die damit einsetzenden Gebrechen führten nicht zwangsweise zu einer Überrumplung durch die nachfolgende Generation oder die jüngere Frau. Menschen in hohem Alter, mit Vermögen und mit einer Familie verfügten über eine mächtige Waffe, das Testament. Das Testament konnte die Angehörigen belohnen, die der alten Person halfen und sie pflegten. Auf der anderen Seite konnte das Testament auch die Personen enterben, die nicht bereit waren, zu helfen oder zu pflegen. Damit konnte ein alterndes Familienmitglied die nachfolgenden Generationen in ihren Sinnen beeinflussen und eine Struktur der Abhängigkeit schaffen, die dann eine Art Pflegeversicherung bildete.

Reichere Schichten unterschieden sich vielfältig in ihrer Lebensrealität von der weniger reichen Bevölkerung, so auch bei Krankheit. Personen mit Vermögen konnten sich eine medizinische Behandlung leisten und mussten weniger auf alternative Medizin wie der göttlichen Heilung mittels Votivgaben setzen. Auch wurde der Körper eines reichen Bürgers anders beansprucht und mit besseren Nahrungsmitteln versorgt. Ein Sklave auf dem Feld oder der Schmied vor dem Feuer wurden körperlich anders beansprucht als der Reiche, der seine Arbeit delegieren konnte. Auch im Krieg konnten sich reichere Bevölkerungsschichten eine bessere Ausrüstung leisten und waren besser geschützt vor Kriegsverletzungen.

Allerdings war die Zugehörigkeit zur Ober- oder Unterschicht kein Garant für Gesundheit oder die Verhütung von Krankheiten oder Beeinträchtigungen.

Auch war die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht immer absolut. Ab dem Jahr 450 v. Chr. versuchten sich die Patrizier von den Plebejern durch ein Eheverbot zwischen Plebejern und Patriziern abzugrenzen. Dies scheiterte später und wurde im Jahr 445 v. Chr. wieder unwirksam.30

4. RÖMISCHE HERRSCHAFTSSTRUKTUREN / (DIS)ABLED RUFERS

An der Spitze der Macht innerhalb der Gesellschaft stand der Herrscher, er genoss Aufmerksamkeit.

Nicht selten war der römische Herrscher eine kranke oder beeinträchtigte Person. Ein prominentes Beispiel ist der zunächst gefeierte Kaiser Caligula, der im Jahr 37 n. Chr. Kaiser wurde. Im Oktober 37 n. Chr. erkrankte Caligula für mehrere Monate lebensbedrohlich.31 Er litt an sehr hohem Fieber.

Nach der Genesung hatte sich Caligula vollkommen verändert. Er ließ willkürlich vierzig Senatoren töten und wollte sein Pferd zum Konsul erheben. Prof. Dr. Ivan Lesný vermutet hinter der fieberhaften Erkrankung Caligulas eine Enzephalitis. Psychische Störungen nach Entzündungen des Gehirns sind nicht selten, sodass Lesný von einer psychischen Störung infolge einer Enzephalitis ausgeht, die sich in einem inadäquaten Sozialverhalten und fehlender emotionaler Steuerung äußerte.32

Dass Erkrankungen nicht zwangsläufig zur Regierungsunfähigkeit führten, zeigt sich beispielsweise am Kaiser Claudius, der zwischen den Jahren 41 bis 54 n. Chr. regierte. Er war ein mündiger Herrscher, obwohl er unter Lähmungen und Tics litt und stotterte.

Um die Vielfältigkeit von Beeinträchtigung und Krankheit im römischen Herrscherhaus zu verstehen, lohnt sich die Untersuchung der Krankenakten und Sterbeursachen verschiedener römischer Kaiser.

Diese wurden eingehend von Beke Cordruwisch in ihrem Werk „Infektionskrankheiten römischer Kaiser“ analysiert und dargestellt. Der Autor verzichtete auf die Darstellung der Herrscher mit einer möglichen Infektion, da die Quellen verschiedene Differentialdiagnosen zulassen. Hiervon sind auch betroffen die vorgestellten Fälle von Caligula sowie Kaiser Claudius.

Krankheit

Herrscher

Als Todesursache

Evidenz

Enteritis (Entzündung des Darms)

1 Caesar

2

1 Augustus

+

2

1 Tiberius

2

1 Vespasian

2

1 Antoninus Pius

2

1 Lucius Verus

2

1 Severus Alexander

+

2

1 Hostilianus

+

2

1 Claudius Gothicus

2

1 Julian

+

2

1 Leo I.

+

2

1 Majorian

2

Infektionskrankheiten ohne genauere Definition

1 Caesar

2

1 Augustus (2x)

2

1 Mark Aurel

2

1 Valentinian

2

1 Valens

2

1 Theodosius I.

2

1 Arcadius

+

2

1 Honorius

+

2

1 Theodosius II.

2

Hautinfektionen

1 Domitian (superinfizierte Warze)

1

1. Hadrian (Varizen, Akne vulgaris, Narben)

2

1. Julian (Bartläuse)

1

1. Marcian (Wundinfektion)

+

2

1. Justin (infizierter Fußulcus)

+

2

Sonstige septische Erkrankungen

1. Titus

+

2

1. Constantius II

+

2

1. Hostilianus

+

2

1. Claudius Gothicus

+

2

Pocken/ Windpocken

1. Hadrian

+

2

1. Mark Aurel

+

2

Malaria

1. Cäsar

1

Atemwegsinfekt

1. Augustus (3x)

2

1. Nero

2

1. Mark Aurel

Tuberkulose

1. Hadrian

+

2

1. Aelius

+

2

Karies/ Paradontitis

1. Augustus

1

Harnwegsinfekt

1. Augustus

2

Urethritis

1. Nero

2

Augeninfektion

1. Numerianus

2

Bubonenpest

1. Justinian I.

1

Abbildung 3:Übersicht über die Infektionskrankheiten verschiedener römischer Kaiser