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Bakterien, Viren und Pilze unter dem Mikroskop: So kurzweilig, unterhaltsam und lehrreich haben Sie die Geschichte der Welt noch nie gelesen
Sie sind überall, meist sind sie unsichtbar, und sie halten unsere Welt am Laufen – Bakterien, Viren, Algen und Pilze. Wie konnte ein unscheinbares Bakterium dem Christentum Fronleichnam bescheren? Warum ist ein Augentierchen der Hoffnungsträger der Raumfahrt? Und weshalb sollten Umweltschützer Fische mit Herpes-Viren infizieren? Florian Freistetter und Helmut Jungwirth zeigen uns die Welt, wie sie sich unter dem Mikroskop offenbart. In 100 informativen wie schrägen Kapiteln erklären sie den Kosmos der Mikrobiologie und erzählen eine Geschichte der Welt, wie es sie noch nicht gegeben hat.
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Seitenzahl: 389
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Sie sind überall, meist sind sie unsichtbar, und sie halten unsere Welt am Laufen — Bakterien, Viren, Algen und Pilze. Wie konnte ein unscheinbares Bakterium dem Christentum Fronleichnam bescheren? Warum ist ein Augentierchen der Hoffnungsträger der Raumfahrt? Und weshalb sollten Umweltschützer Fische mit Herpes-Viren infizieren? Florian Freistetter und Helmut Jungwirth zeigen uns die Welt, wie sie sich unter dem Mikroskop offenbart. In 100 informativen wie schrägen Kapiteln erklären sie den Kosmos der Mikrobiologie und erzählen eine Geschichte der Welt, wie es sie noch nicht gegeben hat.
Florian Freistetter Helmut Jungwirth
Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen
Carl Hanser Verlag
Schönen guten Tag, ich bin Florian Freistetter, Astronom.
Und ich bin Helmut Jungwirth, Biologe. Warum ich den Menschen von der wunderbaren Welt der Mikroorganismen erzählen will, bedarf eigentlich keiner Rechtfertigung. Aber ein Astronom hat dort eigentlich nichts zu suchen; der gehört hinaus ins Weltall!
Das hättest du wahrscheinlich gern. Aber Astronomie ist nun mal die Wissenschaft, die das gesamte Universum zum Forschungsgegenstand hat. Wir sind also für ALLES zuständig. Aber es stimmt, normalerweise beschränken wir uns bei der Arbeit auf Planeten, Sterne oder Galaxien. Und überlassen den ganzen Rest den, zugegebenermaßen, nützlichen Hilfswissenschaften, wie der Biologie.
Hilfswissenschaften! Es ist ja schön und gut, dass es auch Menschen gibt, die den Kosmos erforschen. Aber das echte Leben findet nicht am Himmel statt, sondern hier unten auf der Erde. Und ohne die Biologie wären Astronominnen und Astronomen wie du genauso aufgeschmissen wie der Rest der Menschheit.
Ein Vorschlag zur Güte: Einigen wir uns doch darauf, dass man die Welt nur dann vernünftig verstehen kann, wenn man sowohl das Große als auch das Kleine betrachtet. Und dass auch die Astronomie ein Interesse daran hat, die Mikroorganismen zu verstehen. Das Universum ist ja bekanntlich groß. Sehr groß. Die Dinge im Universum sind verdammt weit weg, und zwischen ihnen ist enorm viel Platz. Deswegen verwenden Astronominnen und Astronomen ja auch Teleskope, um möglichst viel des unvorstellbar großen Kosmos zu erforschen und zu verstehen. Deswegen beobachten sie die Sterne, die mit ihrem Licht in der Lage sind, durch das gewaltige Nichts zu strahlen und uns Informationen über das zu liefern, was dort draußen passiert. Deswegen habe ich, als Astronom, vor ein paar Jahren ein Buch mit dem Titel Eine Geschichte des Universums in 100 Sternen geschrieben. Jeder der unzähligen Sterne, die da draußen im Kosmos leuchten, erzählt seine ganz eigene Geschichte, und zusammen ergibt das eine Geschichte des Universums.
Aber es war eben nur EINE Geschichte und nicht DIE Geschichte der Welt. Eine ganz andere Geschichte finden wir in der unsichtbaren Mikrowelt der Biologie. Der Blick durch ein Mikroskop macht Welten sichtbar, von deren Existenz wir lange Zeit nichts gewusst haben, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten, bevor wir sie das erste Mal gesehen haben.
Absolut richtig. Die Sterne am Himmel können uns eine Geschichte der Welt erzählen. Die Mikroorganismen eine ganz andere! Und Mikroorganismen haben die Erde erst zu dem Planeten gemacht, der sie heute ist. Die Erde als Planet fällt definitiv in die Zuständigkeit von uns Astronominnen und Astronomen. Genauso wie Asteroiden, Kometen, Monde, fremde Planeten und so weiter: Wir wissen zwar noch nicht, ob dort draußen auch irgendwo Leben existiert. Aber wir suchen danach. Und diese Suche beginnt mit der Erforschung der Mikroorganismen.
Es ist auch kein Wunder, dass Mikroorganismen uns einiges zu erzählen haben. Allein die Anzahl der Bakterien in und auf einem einzigen menschlichen Körper beträgt bis zu 100 Billionen. Das entspricht dem 500-Fachen der Anzahl der Sterne in unserer Milchstraße. Insgesamt übersteigt die Zahl der Bakterien auf der Erde die der Sterne im beobachtbaren Universum bei Weitem. Sie sind klein, aber sie sind überall! Will man die Welt verstehen, dann darf man die kleinen Lebewesen nicht ignorieren.
Unsere Geschichte als Menschheit, unser ganz persönlicher Alltag, unser Körper und körperliches Wohlbefinden, unsere Umwelt, unser Planet und die gesamte Grundlage unseres Daseins: All das wird von Lebewesen beeinflusst, deren Existenz uns lange Zeit ebenso unbekannt war wie die von schwarzen Löchern, fremden Galaxien, extrasolaren Planeten oder dunkler Materie. Es gibt kaum einen Bereich auf dieser Welt, der nicht von Mikroorganismen beeinflusst wird. Bakterien, Viren und Co. sind weit mehr als nur »böse« Krankheitserreger, vor denen man sich schützen muss.
Und darum werden wir in unserem Buch auch so gut wie gar nicht von Krankheiten, Seuchen und ähnlichen unerfreulichen Themen sprechen. Sondern von den vielen anderen spannenden Dingen, die Mikroorganismen tun.
Zum Beispiel, dass wir ihnen den Feiertag Fronleichnam verdanken!
Oder davon, wie sie die Architektur, die Kunst und die Religion verändert haben.
Mikroorganismen beeinflussen das Klima der Erde und können uns beim Klimaschutz helfen.
Ohne sie gäbe es keine Schokolade, kein Bier, kein Brot, keinen Käse …
Die Existenz der Nobelpreise, Wintertourismus, radioaktiver Müll, amerikanische Politik, die Kleidung, die wir tragen: Alles hat mit Mikroorganismen zu tun. Genauso wie die Raumfahrt. Wenn wir zum Beispiel zum Mars reisen wollen, werden wir das vermutlich nur in Kooperation mit den richtigen Mikroorganismen tun können. Wir werden sie brauchen, wenn wir Rohstoffe im All abbauen oder in einer Raumstation leben möchten.
Hab ich Bier und Schokolade schon erwähnt?
Kann man gar nicht oft genug tun!
Die Vielfalt der Mikroorganismen und ihr großer Einfluss auf die Welt sind auf jeden Fall höchst erstaunlich. Es ist schlicht unmöglich, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick zu geben.
Weswegen wir am besten einfach darauf verzichten, es auch nur zu versuchen!
Also werden wir einfach 100 Mikroorganismen auswählen, die die spannendsten, lustigsten, skurrilsten, ungewöhnlichsten, eindrucksvollsten Geschichten über die Welt erzählen. Eine Geschichte der Welt in 100 Mikroorganismen. Ein Blick in eine fremde Welt, die zwar unsichtbar ist, aber dennoch jeden Aspekt unseres Lebens beeinflusst.
Anhand von Mikroorganismen können wir den Anfang und das Ende des Lebens verstehen. Mit ihrer Hilfe können wir von mutigen Selbstversuchen im Namen der wissenschaftlichen Erkenntnis ebenso erzählen wie von unmenschlichen Verbrechen. Vom Alltag im Supermarkt, von Nationalstolz und Politik, von den Vorgängen im Inneren der Erde, im fernen Weltraum und all dem, was dazwischen passiert. Sie zeigen uns, wie der menschliche Körper funktioniert, warum wir wurden, was wir sind, und wie wir verhindern können, uns selbst auszulöschen. Die Mikroben waren lange vor uns da, und es wird sie noch geben, wenn wir schon längst verschwunden sind. Es hat gedauert, bis wir unsere treuen Begleiter auf diesem Planeten entdeckt haben, und noch schwieriger war es, sie dazu zu bringen, uns ihre Geschichten zu erzählen. Ihre Existenz wurde angezweifelt, geleugnet, akzeptiert und ignoriert. Wir haben entdeckt, wie sehr die winzigen Lebewesen von uns profitieren, und haben sie im Gegenzug in unseren eigenen Dienst gestellt. Brot und Bier, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft, Leben und Tod: Die Mikroorganismen sind überall. Ihre Geschichte ist unsere Geschichte.
Hui. Nach so einer pathetischen Ankündigung brauch ich erst mal ein Bier.
Prost! Und jetzt geht es los!
1
Die schwierige Klassifikation des Lebens
Wörtlich übersetzt bedeutet Schizomycet so viel wie »Spaltpilz«. Im übertragenen Sinn meinen wir damit heute etwas, das die Spaltung einer Gruppe verursachen kann. Ursprünglich hat man damit aber ganz konkrete Lebewesen bezeichnet — die allerdings definitiv keine Pilze sind. Dafür demonstrieren sie jedoch sehr anschaulich, wie schwierig es ist, die enorme Vielfalt des Lebens auf der Erde halbwegs vernünftig zu klassifizieren. Im Lehrbuch Physiologische Chemie der Pflanzen aus dem Jahr 1882 kann man lesen: »Die Spaltpilze oder Schizomyceten, zu welchen die Bakterien gehören, sind die kleinsten und niedrigsten Organismen, die man bis jetzt kennt.« Damals kannte man die Bakterien also schon und wusste auch, dass sie sich durch »Spaltung« fortpflanzen — sich also einfach teilen und vermehren können. Aber ein systematischer Überblick über die mikroskopischen Lebewesen fehlte; die Bakterien wurden als Spaltpilze den Hefepilzen, Schimmelpilzen und anderen winzigen Organismen zugeordnet.
Und auch heute kann man noch leicht die Übersicht verlieren. In unserem Buch geht es um Mikroorganismen — dabei sind sie gar keine offizielle und klar abgegrenzte Gruppe. Eines der wichtigsten Lehrbücher zum Thema — Brock Mikrobiologie — definiert Mikroorganismen folgendermaßen: »Mikroorganismen sind alle mikroskopisch kleinen, einzelligen Organismen, zu denen auch die Viren zählen, die zwar mikroskopisch klein sind, aber keine Zellen haben.« Mikroorganismen sind somit mit bloßem Auge nicht sichtbar (bis auf ein paar, die es doch sind), sie sind Einzeller (bis auf ein paar, die aus mehr als einer Zelle bestehen), und sie sind Lebewesen (bis auf die Viren, bei denen man das nicht so genau sagen kann). Mit Sicherheit kann man nur sagen, dass Mikroorganismen der Forschungsgegenstand der Mikrobiologie sind — was allerdings auch nicht sonderlich hilfreich ist.
An der Einteilung des Lebens auf der Erde versuchen sich die Menschen schon seit Jahrtausenden. Aristoteles hat sie nach dem Grad ihrer »Perfektion« sortiert und setzte — wenig überraschend — den Menschen ganz an die Spitze seiner »Stufenleiter der Natur«. In der Neuzeit versuchte man statt solcher subjektiven Systeme eine wissenschaftlichere Klassifikation zu finden. Als der schwedische Naturforscher Carl von Linné im 18. Jahrhundert seine Einteilung des Lebens schuf, war alles noch recht übersichtlich. Es gab Pflanzen, und es gab Tiere. Also zwei sogenannte »Reiche«, die damals höchste Stufe der Klassifikation, auf die Untergruppen wie »Klasse«, »Familie« oder »Gattung« folgten (genau genommen führte Linné auch noch »Steine« als drittes Reich der Natur, zu den Lebewesen zählen sie aber definitiv nicht). Wir Menschen etwa sind die Art Homo sapiens, gehören zum Reich der Tiere, darin zur Klasse der Mammalia (Säugetiere), darin zur Familie der Hominidae (Menschenaffen) und darin schließlich zur Gattung Homo.
Aber die simple Teilung von Lebewesen in Tiere und Pflanzen reichte bald nicht mehr aus. Vor allem die immer größer werdende Zahl der mikroskopisch kleinen Organismen und die Evolutionstheorie von Charles Darwin machten neue Klassifikationssysteme nötig. Zuerst fügte man Tieren und Pflanzen als weiteres Reich das der »Protisten« hinzu, in das die diversen Einzeller einsortiert wurden. Im 20. Jahrhundert löste man die Pilze aus dem Reich der Pflanzen und trennte die Protisten in »Eukaryoten« (Lebewesen mit Zellkern) und »Prokaryoten« (Lebewesen ohne Zellkern). Neue Forschungsergebnisse ab den 1970er-Jahren machten eine weitere, diesmal ziemlich dramatische Umstellung nötig. Der amerikanische Mikrobiologe Carl Woese sah sich die — zu der Zeit noch im Reich der Prokaryoten angesiedelten — Bakterien genauer an. Und stellte fest, dass man sie in zwei sehr unterschiedliche Gruppen einteilen kann, ja sogar einteilen muss: Denn auch wenn sie auf den ersten Blick sehr ähnlich aussehen, zeigt eine genetische Analyse, dass sie alles andere als eng miteinander verwandt sind (siehe Kapitel 20). Woese setzte eine neue Struktur über die Ebene der Reiche und teilte das Leben auf der Erde nun in drei »Domänen« ein: Eukaryoten, Bakterien und — ab jetzt neu — die »Archaeen«.
Der Unterschied zwischen Bakterien und Archaeen ist schwer zu fassen, wenn man sich nicht intensiv mit der Mikrobiologe beschäftigt. Betrachtet man ein Bakterium und ein Archaeon unter dem Mikroskop, dann erkennt man auf den ersten Blick kaum einen Unterschied. Ganz anders als etwa der Vergleich zwischen einem Menschen, einer Giraffe und einem Blauwal ausfallen würde. In der Systematik der Biologie kommt es aber nicht auf Äußerlichkeiten an. Wir Menschen sind Eukaryoten, so wie die restlichen Tiere. Wir haben alle die gleiche grundlegende Struktur an Körperzellen, die auch zeigt, wie nah wir alle miteinander verwandt sind. Eine entsprechende genetische Untersuchung an Bakterien und Archaeen zeigt aber enorme Unterschiede. Menschen, Tiere und Pflanzen (alles Eukaryoten) sind vermutlich sogar viel enger mit den Archaeen verwandt als mit den Bakterien.
Die Frage nach der Einteilung der Lebewesen ist noch nicht abschließend geklärt. Immer wieder gibt es neue Vorschläge, wie man die Klassifikation verbessern könnte, und ganze Gruppen an Organismen werden aus einer Schublade geholt und in eine andere gesteckt. Und dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, was man mit den Viren anstellen soll, die mit Sicherheit auch Mikroorganismen sind, aber nicht alle Bedingungen erfüllen, die an echte Lebewesen gestellt werden. Der Wunsch der Wissenschaft nach Ordnung ist verständlich. Die echte Welt hält sich leider nur nicht immer daran.
2
Die Zahnhygiene des Herrn Antoni van Leeuwenhoek
Winzige Tierchen, die so klein sind, dass man sie mit bloßem Auge nicht sehen kann, und die Krankheiten verursachen: Über diese Ungeheuerlichkeit spekulierte der römische Universalgelehrte Marcus Terentius Varro schon vor mehr als 2000 Jahren. Mehr als reine Vermutungen konnte er zur Existenz dieser »wee animalcules«, wie sie der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek später liebevoll nannte, aber nicht anstellen. Der jedoch wusste bereits, wovon er sprach, denn er war der erste Mensch, der diese Lebewesen im Jahre 1676 tatsächlich mit eigenen Augen sah. Eine Entdeckung, die er auch seiner Obsession für saubere Zähne zu verdanken hatte.
Van Leeuwenhoek begann seine berufliche Karriere als Stoffhändler und wurde wegen seiner Zuverlässigkeit in seiner Heimatstadt Delft zum Eichmeister für alkoholische Getränke ernannt; er war also zuständig dafür, dass Wein, Bier und Schnaps in korrekten Mengen abgefüllt und verkauft wurden. Außerdem war er wohlhabend genug, um in seiner Freizeit einem kostspieligen Hobby nachzugehen: Van Leeuwenhoek war fasziniert von Mikroskopen und der Welt, die er damit erforschen konnte. Er lernte, wie man Linsen schleift, und baute sich seine eigenen Geräte. Die waren deutlich besser als das, was anderswo verfügbar war, und dazu in der Lage, Objekte um bis zu 270-mal zu vergrößern.
Van Leeuwenhoek legte alles unter sein Mikroskop, was ihm in die Finger kam (inklusive seiner Finger). Eine Zeit lang interessierte er sich ganz besonders für die Art und Weise, wie der Geschmackssinn funktioniert. In einem Brief vom 19. Oktober 1674 berichtet er von einer Erkrankung, die einen Belag auf seiner Zunge verursacht hatte. Darauf führte er den während seiner Krankheit reduzierten Geschmackssinn zurück. Um diese Hypothese zu überprüfen, besorgte er sich die Zunge eines Ochsen, anhand derer er ganz genau beschreiben und beobachten wollte, wie die Geschmacksknospen durch den krankheitsbedingten Belag beeinflusst werden. Dieses Unterfangen regte ihn dazu an, sich allgemein damit zu beschäftigen, warum Dinge schmecken, wie sie schmecken. Hering zum Beispiel, der entweder gekocht oder roh gegessen wurde, aber immer in Salz eingelegt war. Die Temperatur hatte Einfluss auf die Bildung und Form der Salzkristalle, wie van Leeuwenhoek unter dem Mikroskop feststellte. Bei gekochtem Hering bilden sich spitze Kristalle, während der rohe Hering eher quadratische Salzkristalle aufweist, die, so van Leeuwenhoeks Vermutung, die Geschmacksknospen der Zunge auch entsprechend weniger stark irritieren.
Und warum schmeckt Pfeffer eigentlich so pfeffrig? Um diese Frage zu klären, weichte van Leeuwenhoek ein paar Pfefferkörner einige Tage lang in Wasser ein, damit sie weich genug für eine genaue Untersuchung wurden. Aber auch die pfeffrige Wasserlösung selbst wurde zum Objekt seiner mikroskopischen Analyse — und genau dort beobachtete er am 24. April 1676 mit »großer Verwunderung«, wie er schrieb, einige extrem winzige Lebewesen von der Art, die wir heute »Bakterien« nennen. Im Oktober des gleichen Jahres schrieb van Leeuwenhoek dann seinen heute berühmten Brief an die britische Royal Society. Darin berichtet er von seiner Entdeckung kleiner, im Wasser lebender einzelliger »Tiere«. Und klein bedeutete wirklich klein: 100 der neu entdeckten Winzlinge, so van Leeuwenhoek, entsprachen hintereinander aufgereiht noch nicht einmal der Länge eines Sandkorns.
Als eindeutiger Beleg für die Entdeckung von Bakterien gilt allerdings ein anderer Brief van Leeuwenhoeks, der auch Zeichnungen der kuriosen Lebewesen enthielt. Er schickte ihn am 17. September 1683 an die Royal Society und erzählte darin von seiner persönlichen Hygiene: Van Leeuwenhoek war sehr stolz darauf, wie er sich um seine Zähne kümmerte. Zuerst schrubbte er sie jeden Morgen mit Salz ab und spülte den Mund mit Wasser aus. Nach jeder Mahlzeit benutzte er Zahnstocher, um die Zahnzwischenräume zu säubern, bevor er sein Gebiss mit einem Tuch ordentlich polierte. Und trotzdem fand er zwischen seinen Backenzähnen einen weißen Belag, den er natürlich sofort einer mikroskopischen Untersuchung unterzog. Er entdeckte dabei »viele sehr kleine lebende Tierchen, die sich sehr schön bewegen«, wie er in seinem Brief notierte. Seine Zeichnungen von Form und Größe der Bakterien waren dabei so präzise, dass man sich heute einigermaßen sicher ist, dass er damals Bakterien der Gattung Micrococcus beobachtet hat. Das bedeutet auf Deutsch »kleines Körnchen«, denn genau so sehen diese kugelförmigen Bakterien auch aus. Sie besiedeln nicht nur den menschlichen Körper, sondern sind auch im Erdboden, im Abwasser und in der Luft verbreitet.
Antoni van Leeuwenhoek war der Erste, der die Existenz dieser winzigen Lebewesen nachweisen konnte. Er war der Erste, der ein Bakterium mit eigenen Augen beobachtet hatte. Und darüber hinaus demonstrierte er, wie wichtig es ist, sich regelmäßig die Zähne zu putzen.
3
Der Stolz von New Jersey
Österreich hat in seinem offiziellen Wappen einen »freischwebenden, einköpfigen, schwarzen, golden gewaffneten und rot bezungten Adler, dessen Brust mit einem roten, von einem silbernen Querbalken durchzogenen Schild belegt ist«, wie es in Artikel 8a des Bundesverfassungsgesetzes sehr ausführlich erklärt wird. Der Adler, der das deutsche Wappen ziert, kann sich dagegen in seinen Äußerlichkeiten nicht auf Verfassungsrang berufen, sondern wird in einer Bekanntmachung des Bundespräsidenten Theodor Heuss aus dem Jahr 1950 spezifiziert (ein »einköpfige[r] schwarze[r] Adler […], den Kopf nach rechts gewendet, die Flügel offen, aber mit geschlossenem Gefieder, Schnabel, Zunge und Fänge von roter Farbe). Die Schweiz verzichtet bei ihrem Wappen ganz auf Tiere, hat aber immerhin den Schweizer Franken offiziell zum Staatssymbol erhoben. Von jenseits des Atlantiks wird man aber vermutlich eher mitleidig auf Adler und Co. blicken. Denn in den USA hat nicht nur jeder einzelne Bundesstaat einen offiziellen »Staatsvogel«. Es gibt Staatsamphibien, Staatsschmetterlinge, Staatskrebstiere, Staatsreptilien, Staatsbäume, Staatsfrüchte und jede Menge andere hochoffizielle Staatsflora und -fauna. Inklusive Staatsmikroben.
Am 10. Mai 2019 unterschrieb Phil Murphy, der Gouverneur von New Jersey, das Gesetz, das Streptomyces griseus zur offiziellen Mikrobe des viertkleinsten Bundesstaates der USA machte. Es war eine passende Wahl: Streptomyces griseus wurde zwar schon 1914 von Alexander Krainsky im Boden Russlands entdeckt. Aber 1943 fand man das Bakterium dann auch in amerikanischer Erde, und zwar in New Jersey — und hat es dort an der Rutgers-Universität auch höchst erfolgreich erforscht. So erfolgreich sogar, dass der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie des Jahres 1952 an den Mikrobiologen Selman Waksman verliehen wurde, genauer gesagt »für die Entdeckung des Streptomycins, des ersten Antibiotikums gegen die Tuberkulose«. Abgesehen davon, dass das ein wenig ungerecht war, da neben Waksman auch Albert Schatz und Elizabeth Bugie an der Entdeckung des Streptomycins beteiligt waren, ohne dafür einen Preis zu bekommen, war das ein wichtiger Erfolg für die Medizin. Damals war nur ein einziges Antibiotikum in Verwendung, nämlich Penicillin, und das half nicht gegen Tuberkulose. Das aus Streptomyces griseus gewonnene Medikament schloss diese medizinische Lücke. Bis heute hat man aus verwandten Arten von New Jerseys Staatsmikrobe viele weitere Antibiotika isoliert. Mit ihrer Hilfe war es auch möglich, Techniken zur Massenproduktion von Antibiotika zu entwickeln, was die medizinische Landschaft dramatisch verändert hat.
Man mag darüber lächeln, dass sich die patriotischen Bundesstaaten der USA mit so vielen Staatssymbolen schmücken und nun sogar Mikroben für die offizielle PR rekrutieren. Aber wenn man sein Land in der Öffentlichkeit schon gut dastehen lassen will, dann ist Streptomyces griseus vermutlich ein würdigeres Symbol als all die Vögel, Pflanzen, Wappen und Hymnen, denen man sonst begegnet.
Antibiotika sind heute in der Medizin unentbehrlich und haben Millionen von Menschenleben gerettet. Daher ist es fast überraschend, dass nicht mehr Staaten die Kleinstlebewesen aufs Podest heben, so wie das New Jersey getan hat. In den USA gibt es nur noch den Bundesstaat Oregon, der sich seit 2013 eine offizielle Mikrobe leistet (Saccharomyces cerevisiae, die Back- oder Bierhefe — um die in diesem Staat wichtige Bierproduktion zu würdigen). Und als Symbol auf Staatswappen findet man Bakterien auch nirgendwo. Was man unserer Meinung nach dringend ändern sollte. In Österreich wird es zwar schwierig, den Adler durch ein Bakterium zu ersetzen, denn dazu müsste man erst die Verfassung ändern. Aber zumindest in Deutschland spräche nichts dagegen, die Sache einfach durch eine Bekanntmachung des amtierenden Staatsoberhaupts zu regeln, wie damals durch Theodor Heuss. Anstelle des Bundesadlers könnte man dann eine Bundesbakterie auf der Flagge zeigen. Wie wäre es zum Beispiel mit Aetokthonos hydrillicola, einem Cyanobakterium, das vor allem Adler befällt? Der Name bedeutet übersetzt »Adler-Killer« …
4
Wächter des Atommülls
Das Halobacterium noricense hat das »Bakterium« zwar im Namen, ist aber trotzdem keines. Der Name wurde nämlich vergeben, bevor man aufgrund von genetischen Untersuchungen die Halobakterien nicht mehr den Bakterien, sondern der Gruppe der Archaeen (siehe Kapitel 20) zugeordnet hat. Das Interessante im Namen ist aber sowieso das »Halo«. Dahinter verbirgt sich keine falsch geschriebene Begrüßung. »Halo« stammt vom griechischen Wort für Salz ab. Extrem salzliebende Archaeen, wie eben Halobacterium noricense, werden oft als »Haloarchaea« bezeichnet und haben absolut kein Problem damit, in Umgebungen zu überleben, die extrem versalzen sind.
Das Halobacterium noricense hat man im Salzbergwerk von Altaussee entdeckt, der größten Salzabbaustätte Österreichs, als man ein paar Hundert Meter tief bohrte, in eine Salzschicht, die sich vor mehr als 250 Millionen Jahren gebildet hat. Im Material dieser Bohrkerne fanden Helga Stan-Lotter von der Universität Salzburg und ihre Kolleginnen und Kollegen im Jahr 2004 eine noch nicht beschriebene Art Salz liebender Archaeen, die sie in Bezug auf die frühere römische Provinz Noricum, zu der auch Altaussee gehörte, Halobacterium noricense nannten.
Mindestens ebenso interessant wie diese Entdeckung ist das, was Miriam Bader vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Jahr 2018 bei der genauen Untersuchung des Halobakteriums herausgefunden hat. Sie haben sich dem Mikroorganismus aus einer völlig anderen Richtung genähert, die mit der unangenehmsten Art von Müll zu tun hat, den wir Menschen produzieren. Seit wir nach dem Zweiten Weltkrieg damit begonnen haben, unseren Energiebedarf durch den Einsatz von Kernkraftwerken zu stillen, haben wir auch jede Menge hochradioaktiven Abfall hinterlassen. Der verschwindet leider nicht von selbst und bleibt für extrem lange Zeiten äußerst gefährlich. Bis jetzt ist uns nichts Klügeres eingefallen, als ihn irgendwo tief unter der Erde zu vergraben und zu hoffen, dass ihn dort niemand findet.
Da der Müll dort aber unter Umständen einige Hunderttausend bis Millionen Jahre bleiben muss, bevor die Radioaktivität nachgelassen hat, muss er an Orten untergebracht werden, wo keine großen geologischen Aktivitäten zu erwarten sind und wo vor allem auch kein Wasser eintreten kann, das den Müll wieder an die Oberfläche spült. Als eine Möglichkeit für solche »Endlager« gelten Salzstöcke, also unterirdische Schichten aus Steinsalz, die seit Millionen von Jahren stabil sind und sogar mehrere Eiszeiten unbeschadet überstanden haben. Absolute Sicherheit bietet jedoch auch das nicht, und deswegen haben Bader & Co. ein Worst-Case-Szenario erdacht und erforscht: Was geschieht, wenn Wasser in den Salzstock eindringt und radioaktive Substanzen gelöst werden? Sollten sich die gefährlichen Materialien ungehindert ausbreiten, hätte das fatale Folgen. Aber überraschenderweise kommt uns hier das Halobacterium noricense zu Hilfe. Denn es findet im salzigen Gestein nicht nur einen hervorragenden Lebensraum; es stoppt auch die Ausbreitung des Abfalls. Wenn es mit den radioaktiven Teilchen in Kontakt kommt, setzt es Phosphat frei. Dieses bindet die radioaktiven Atome, und in nur wenigen Minuten entsteht ein Mineral, das nicht mehr wasserlöslich ist. Der Müll ist zwar immer noch da und immer noch gefährlich — aber kann zumindest nicht mehr vom Wasser weiterverbreitet werden.
Die Halobakterien machen das aber nicht, um uns eine Freude zu bereiten, sondern aus reinem Eigennutz. Denn auch für sie sind die radioaktiven Metalle gefährlich, und die Phosphat-Freisetzung ist ein Mechanismus, mit dem sie sich selbst schützen können. Diese Entdeckung kann in Zukunft vielleicht dabei helfen, die Sicherheit von Endlagerstätten besser einzuschätzen. Es ist zwar gut zu wissen, dass es solche natürlichen Wächter gibt, die auf unseren Müll aufpassen. Aber besser wäre es für alle Beteiligten, wenn wir den radioaktiven Abfall gar nicht erst produzieren würden.
5
Mini-Bergarbeiter im Weltall
Der Asteroid Psyche hat einen Wert von zehn Trillionen Dollar. Diese erstaunliche Tatsache konnte man 2017 in vielen Medien lesen, und sie ist ebenso überraschend wie unsinnig. Anlass dafür war der damalige Beschluss der NASA, im Jahr 2022 eine Raumsonde zu diesem 226 Kilometer großen Objekt im All zu schicken. Man ist unter anderem deswegen an Psyche interessiert, weil es sich um den seltenen Fall eines Asteroiden handelt, der fast komplett aus Metall besteht. Hauptsächlich Eisen und Nickel, aber auch alles andere, was man brauchen könnte. Wirtschaftlich bedeutsame Metalle wie die »Seltenen Erden« ebenso wie Gold, Silber oder Platin. Die Masse des Asteroiden liegt bei circa 30 Billiarden Tonnen, und wenn man diese Menge an Metall mit den auf der Erde üblichen Preisen vergleicht, dann kommt man auf die absurd hohe Zahl von zehn Trillionen Dollar.
Sieht man einmal davon ab, dass es auf der ganzen Welt niemanden gibt, der das aufbringen kann, würde auch der Metallpreis dramatisch sinken, brächte man den ganzen Asteroiden auf die Erde. Was technisch derzeit sowieso völlig unmöglich ist. Bei der NASA-Mission geht es dementsprechend auch ausschließlich um die wissenschaftliche Erforschung dieses Himmelskörpers. Prinzipiell aber ist es durchaus sinnvoll, sich über sogenannten Asteroidenbergbau Gedanken zu machen. Nicht, um die abgebauten Metalle hier unten auf der Erde zu verwenden. Sondern, um daraus Dinge direkt im Weltall bauen und darauf verzichten zu können, Material mit Raketen in den Kosmos schießen zu müssen.
Noch sind entsprechende Konzepte mehr Science-Fiction als Realität. Aber wenn sie einmal real werden, dann werden die Bergleute im All höchstwahrscheinlich keine Menschen sein, sondern Mikroorganismen. Die Idee des »Biomining« oder »Bioleaching« wird schon seit Jahrzehnten bei der Gewinnung von Metallen hier auf der Erde eingesetzt. Bestimmte Mikroorganismen sind in der Lage, Metalle wie Eisen für ihren Stoffwechsel einzusetzen und so bestimmte chemische Reaktionen in Gang zu setzen. Schmeißt man — sehr vereinfacht gesagt — jede Menge zerkleinertes Erz und die passenden Mikroben zusammen mit etwas Wasser auf einen Haufen, dann vermehren sich die Mikroorganismen auf dem Gestein. Mit ihrem Stoffwechsel sorgen sie dafür, dass sich die benötigten Metalle aus dem Erz lösen und ins Wasser gelangen. Das fließt unten aus dem Haufen heraus und kann oben wieder dazugegeben werden, so lange, bis das Metall darin ausreichend stark konzentriert ist, um es nutzen zu können.
Diese Technik, die zum Beispiel beim Abbau von Kupfer oder Uran benutzt wird, könnte auch im Weltall helfen, an die Ressourcen in den Asteroiden zu gelangen. Oder wertvolle Metalle aus dem Gestein auf Mond oder Mars zu gewinnen. Wie gut das funktioniert, hat die Europäische Raumfahrtagentur im Jahr 2019 mit dem »BioRock«-Experiment auf der Internationalen Raumstation (ISS) ausprobiert. Dabei wurde Basalt-Gestein, das dem Material auf Mond und Mars ähnlich ist, zusammen mit diversen Mikroorganismen ins All transportiert. Die Organismen befanden sich in einem abgeschlossenen Gefäß, das für die nötigen Umweltbedingungen für ein Wachstum sorgte und das außerdem in einer Zentrifuge die Schwerkraft auf Mars und Mond simulieren konnte. Zwei der drei Bakterien zeigten keine ausgeprägteren Biomining-Fähigkeiten als auf der Erde, egal ob mit Mond-, Mars- oder gar keiner Schwerkraft. Das dritte aber überraschte die Forscherinnen und Forscher: Sphingomonas desiccabilis war im All wesentlich effektiver als auf der Erde. Die fehlende Schwerkraft scheint das Bakterium nicht weiter zu stören.
In weiteren Experimenten soll nun auch getestet werden, wie die Mikroorganismen mit Asteroidenmaterial klarkommen. Es ist noch ein weiter Weg, bis wir große Raumstationen im All bauen oder dauerhafte Siedlungen auf dem Mond oder dem Mars errichten können. Aber wenn es einmal so weit ist, dann werden die Mikroorganismen am Bau ebenso beteiligt gewesen sein wie wir.
6
Das Ende des Eierlegens
Das Humane T-lymphotrope Virus 1 (HTLV-1) ist ein Retrovirus. Was nicht heißt, dass es mit Vokuhila, Jeansjacke und Walkman daherkommt und 80er-Jahre-Popmusik hört. Das »Retro« bezieht sich auf die Art und Weise, wie es seinen Wirt befällt. Viren können sich ohne Hilfe eines Wirts nicht vervielfältigen. Sie bestehen im Wesentlichen nur aus ihrer Erbinformation, die geschützt von Proteinen manchmal von einer Virenhülle umgeben ist, manchmal aber auch nicht. Will das Virus eine Kopie von sich herstellen, muss es in eine lebende Zelle, also den Wirt, eindringen und deren Werkzeuge zur Vervielfältigung der Erbinformation benutzen. Das macht jedes Virus, aber nicht alle am gleichen Ort und nicht alle nach demselben Muster. Manche Viren lassen die Erbinformation der Wirtszelle unangetastet. Manche dringen aber auch direkt in das Genom ein und werden dort integriert. Genau dazu sind Retroviren imstande.
Die Erbinformation, die zum Beispiel in jedem Kern einer menschlichen Körperzelle zu finden ist, wird DNA genannt, die Abkürzung für den englischen Begriff deoxyribonucleic acid (die deutsche Abkürzung »DNS« für Desoxyribonukleinsäure wird nur noch selten verwendet). Das ist die bekannte »Doppelhelix« aus Nukleinsäuren, die in allen Lebewesen die grundlegenden biologischen Informationen trägt. Auch viele Viren haben ihre Erbinformation als DNA vorliegen.
Und normalerweise läuft es dann so: Die in der DNA gespeicherte genetische Information wird in eine RNA umgeschrieben, die zu den Ribosomen wandert. Sie trägt die Information mit sich, mit der dort festgelegt wird, wie und welches Protein zusammengebaut werden soll. Eine sehr fundamentale Aufgabe, denn es sind ja die Proteine, die einen Organismus letztlich am Laufen halten. Aber nicht immer liegt die Erbinformation als DNA vor. Bei den Retroviren findet man sie gleich in Form einer RNA. Diese »Ribonukleinsäure« besteht nicht aus zwei, sondern nur aus einem Strang an Nukleinsäuren. Und dann läuft der Prozess umgekehrt. Retroviren können ihre eigene RNA in eine DNA zurückübersetzen (daher kommt auch ihr Name), und sie tun das mithilfe eines Enzyms, das »reverse Transkriptase« genannt wird. Diese DNA wird dann in die DNA der Wirtszelle integriert.
Das ist ein guter Trick, denn jetzt wird die Erbinformation des Virus vom Wirt wie seine eigene Erbinformation behandelt. Er übernimmt die Vervielfältigung, und das Virus muss sich nicht mehr darum kümmern.
Das erste Retrovirus, das bei einem Menschen gefunden wurde — Anfang der 1980er-Jahre vom amerikanischen Virologen Robert Gallo —, war HTLV-1. Ist man einmal damit infiziert, dann lässt sich das Virus kaum mehr aus dem Körper entfernen und kann unter anderem zu Leukämie führen. HTLV-1 ist zwar wenig bekannt (im Gegensatz zum RetrovirusHIV, das die Krankheit AIDS auslöst), weltweit gibt es aber mehrere Millionen Infizierte.
Ein Retrovirus muss aber gar nicht immer negative Folgen für den Wirt haben. Manches Virus schafft es, sich nicht einfach nur in irgendeinen Zellkern einzubauen, sondern in eine Keimzelle. Nun nimmt es an der Fortpflanzung des Wirts teil, denn Keimzellen sind die Zellen, deren Information an die Nachfahren eines Organismus weitergegeben wird. Und mit ihnen auch die Virus-DNA. So etwas nennt man ein »endogenes Retrovirus«, und wir Menschen haben im Laufe der Zeit jede Menge von ihnen eingesammelt. Acht Prozent unserer DNA stammen von endogenen Retroviren. Sie sind nicht mehr gefährlich für uns, da die ursprüngliche Viren-DNA im Laufe der Zeit durch diverse Mutationen keine krankheitserregenden Viruspartikel mehr bilden kann.
Was aber nicht bedeutet, dass die Viren keinen Einfluss auf uns ausgeübt hätten. Wir haben die Eindringlinge quasi gezähmt und uns ihre Eigenschaften zunutze gemacht. Ein Virus muss zum Beispiel in der Lage sein, seine äußere Schicht mit der Wand einer Zelle zu verschmelzen, um sich an seinen Wirt anheften zu können. Es schadet auch nicht, wenn es dessen Immunsystem ein wenig unterdrücken kann. Beides ist gut für die Fortpflanzung des Virus — aber auch für die Fortpflanzung des Menschen. Ohne die Hilfe der Retroviren müssten wir möglicherweise immer noch Eier legen, so wie es etwa das Schnabeltier tut. Die frühen Säugetiere waren nicht in der Lage, ihre Nachkommen in sich selbst heranwachsen zu lassen. Wenn sie keine Eier legten, dann trugen sie die Embryos in Beuteln mit sich herum, wie es heute noch die Kängurus tun. Dass wir Menschen — und andere Tiere — heute in der Lage sind, unsere Kinder in einer Gebärmutter im Inneren des Körpers auszutragen, verdanken wir auch den Retroviren. Irgendwann vor 50 bis 100 Millionen Jahren muss sich so ein Virus in die Keimzellen unserer Vorfahren eingebaut haben. Seine Fähigkeit zur Verschmelzung von Zellen und der Unterdrückung des Immunsystems waren genau das, was wir brauchten, um im Zuge unserer weiteren Evolution die Plazenta zu entwickeln. Also genau das komplexe Gewebe, mit dem ein Embryo mit dem Blutkreislauf der Mutter in Verbindung steht und das sich an der Wand des Uterus entwickelt. Dabei wächst Gewebe des Embryos in die Schleimhaut der Gebärmutter ein, und die Gene, die wir von den Retroviren übernommen haben, unterbinden die Reaktion des Immunsystems, die ansonsten zu einer Abstoßung des Embryos führen würde.
Viren machen uns krank, und das ist zugegebenermaßen unerfreulich. Aber sie haben uns im Laufe unserer Geschichte auch immer wieder geholfen. Eine Schwangerschaft ist nicht einfach. Aber wer weiß, wo wir wären, wenn wir unsere Kinder als zerbrechliche Eier in einem Nest ausbrüten müssten …
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Klimakrise auf der Alm
Eine Herde friedlich grasender Kühe, die auf einer malerischen Almwiese vor beeindruckender Bergkulisse steht. Solche idyllischen Bilder findet man auf Ansichtskarten und in der Tourismuswerbung. In der Realität hat die Szene aber durchaus apokalyptisches Potenzial, denn sowohl Kühe als auch die Landschaft heizen die Klimakrise an. Verantwortlich dafür sind aber weder die Tiere noch die Almwiese selbst — sondern das, was sich Kuh und Gras als Lebensraum ausgesucht hat.
Methanobrevibacter ruminantium ist ein Archaeon, ein einzelliger Mikroorganismus, der wie viele seiner Verwandten in der Lage ist, Methan zu produzieren (siehe Kapitel 63). Sie sind die derzeit einzigen bekannten Lebewesen, die das können; das restliche Methan in der Atmosphäre stammt aus geologischen Prozessen, wie etwa dem Vulkanismus. Solche »Methanbildner« leben am liebsten dort, wo es keinen Sauerstoff gibt — und das Innere einer Kuh ist für sie daher ein optimaler Lebensraum. Das Methan, das sie dort produzieren, kann aber nicht in der Kuh bleiben. Es entweicht an beiden Enden, sodass rülpsende und furzende Kühe auf der ganzen Welt jede Menge Methan in die Atmosphäre entlassen. Olfaktorisch wäre das kein Problem, denn das, was riecht, sind andere Gase; für das Klima ist der Methanausstoß aber alles andere als hilfreich. Denn Methan ist nicht nur ein Treibhausgas; seine Wirkung ist über 20-mal stärker als die von Kohlendioxid. Der Anteil von Methan — gemessen an allen Treibhausgasen, die in die Atmosphäre gelangen — liegt bei 20 Prozent. Die Tierhaltung hat einen großen Anteil daran: Über 35 Prozent des weltweit freigesetzten Methans stammen aus der Viehzucht.
Für das Klima wäre es am besten, die massenhafte Produktion tierischer Produkte ganz zu vermeiden und damit auch die Zahl der Rinder zu reduzieren. Nicht ganz so effektiv ist es, die Archaeen in den Kühen an der Methanproduktion zu hindern. Dass das zumindest theoretisch möglich ist, haben Forscherinnen und Forscher im Jahr 2013 herausgefunden. Sie entdeckten, dass eine bestimmte Gruppe von Archaeen in den Eingeweiden der Kühe ihre Energie (und damit auch ihr Methan) durch die chemische Umwandlung von Stoffen produziert, die vor allem in Zuckerrüben zu finden sind. Die werden oft als Viehfutter verwendet. Mischt man aber kleine Mengen an Rapsöl darunter, hemmt es das Wachstum dieser Archaeen. Das Öl scheint die Prozesse zu stören, bei denen im Rindermagen Wasserstoff freigesetzt wird. Den aber brauchen die Archaeen als Nahrung. Man hat auch noch andere Möglichkeiten gefunden, das Wachstum der Archaeen im Inneren der Rinder zu reduzieren. Aber die waren schlecht für die Verdauung der Tiere und führten dazu, dass sie weniger Energie aus ihrer Nahrung gewinnen konnten. So oder so, die Abgaswerte der Kühe mit wissenschaftlichen Methoden zu verbessern, gestaltet sich in der Praxis schwieriger als erhofft.
Am Ende ist es ja auch nicht die Schuld der Kuh, dass sie unsere Atmosphäre aufheizt. Wer würde ihr vorwerfen wollen, dass sie ihre Fladen auf die Almwiesen setzt? Dennoch verursachen gerade die das nächste Klimaproblem. In der Natur wird Methan nicht nur freigesetzt, sondern auch wieder aus der Atmosphäre entfernt. Es kann vom Boden aufgenommen werden. Waldböden sind beispielsweise recht gut darin, die Luft von Methan zu reinigen. Ob und wie gut ein Boden als Methan-Filter wirken kann, hängt aber auch davon ab, welche Mikroorganismen darin leben. Forscherinnen und Forscher von der Universität Innsbruck haben 2018 untersucht, wie es sich in diesem Punkt mit den Almen und Weideflächen der Kühe verhält. Das Ergebnis: eher schlecht. Die Rinder fressen die Pflanzendecke ab, die Erde heizt sich auf und kann das Methan schlechter aufnehmen. Dazu kommen die bereits erwähnten Kuhfladen. Sie können Archaeen enthalten, die nun im Boden anstatt im Rind leben — und am Ende produziert nicht nur die Kuh Methan, sondern auch die Alm, auf der sie steht.
Daraus folgt nun aber nicht zwingend, dass man alle Almen aufforsten sollte. Der Klimawandel ist ein kompliziertes und vernetztes Phänomen. Die Erwärmung der Erde sorgt auch für mehr Trockenheit. Wenn aufgelassene Almen von Wäldern überwuchert würden, würden die Bäume mehr Wasser verbrauchen und die Trockenheit verstärken. Es braucht Wald und Wiese, es braucht die richtigen Mikroben am richtigen Ort. Vor allem aber braucht es weniger Treibhausgase in der Atmosphäre. Da können wir uns nicht auf Kühe oder Archaeen herausreden; dieses Problem müssen wir selbst lösen.
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Kunstformen der Natur
Wer im Jahr 1900 die Pariser Weltausstellung durch die »Porte Monumentale« des französischen Architekten René Binet betrat, befand sich mitten in einem gewaltigen Mikroorganismus. Denn die Inspiration für das beeindruckende Bauwerk hat sich Binet aus dem Buch Kunstformen der Natur des deutschen Zoologen Ernst Haeckel geholt. Auf der Bildtafel Nummer 31 findet sich dort eine Zusammenstellung sogenannter Strahlentierchen, und das in der mittleren Reihe ganz rechts abgebildete Lebewesen trägt den Namen Pterocanium trilobum und diente Binet als Vorbild für sein Bauwerk. Wie bei den anderen Vertretern seiner Gruppe handelt es sich hier um einen einzelligen Meeresbewohner, der sich in ein Außenskelett aus Opal gehüllt hat. Wer diese Mikroorganismen unter einem Mikroskop betrachtet, kann kaum anders, als von der Ästhetik und Vielfalt der Formen beeindruckt zu sein.
Das gilt noch viel mehr für die Bilder, die Ernst Haeckel zwischen 1899 und 1904 in seinem Buch veröffentlicht hat. Im Vorwort schreibt er dazu: »Die Natur erzeugt in ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden.« Und im Nachwort stellt er noch einmal klar: »Der Hauptzweck meiner Kunstformen der Natur war ein ästhetischer: ich wollte weiteren Kreisen Zugang zu den wunderbaren Schätzen der Schönheit öffnen, die in den Tiefen des Meeres verborgen oder wegen ihrer geringen Größe nur durch das Mikroskop erkennbar sind. Damit verknüpfe ich aber auch einen wissenschaftlichen Zweck, den Einblick in den Wunderbau der eigentümlichen Organisationen dieser Formen zu erschließen.«
Den ästhetischen Anspruch kann man nicht leugnen; wer durch die Bildtafeln seines Werkes blättert, sieht keine wissenschaftlichen Diagramme, sondern die Kunst der Natur in all ihrer Formen- und Farbenpracht. Es ist also kein Wunder, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Kunst von diesem Werk beeinflussen ließ. In einem Brief an Haeckel schrieb René Binet: »Aufgrund Ihrer Entdeckungen möchte ich auf die wundervollen Prinzipien von Ordnung und Balance aufmerksam machen, die sich in der unendlichen Vielfalt der mikroskopischen Tiere finden, die Sie ans Licht gebracht haben. Ich dachte, dort, wo Naturforscher ein Objekt des Staunens gefunden haben, müssen sich auch die Künstler auf die Suche nach den Ursachen dieser besonderen Schönheit machen.«
Das Ergebnis seiner Suche präsentierte Binet in den Esquisses décoratives. Sie sind voll mit Skizzen, die direkt aus Haeckels Werk stammen könnten. Nur dass hier keine Quallen, Einzeller, Schwämme oder andere Lebewesen zu sehen sind, sondern Lampen, Luster, Lichtschalter, Fliesenmuster und ähnliche dekorative Kunst. Auch andere Künstlerinnen und Künstler übernahmen die Ornamentik der Natur in ihre Arbeiten.
Ernst Haeckels eindrucksvolle ästhetische Präsentation der Natur wurde zu einer Quelle und Inspiration des aufkommenden Jugendstils. Haeckel selbst wollte aber nicht nur die ästhetische Seite der Natur aufzeigen, sondern mit seiner Arbeit auch die Evolutionstheorie von Darwin belegen. Als dessen revolutionäres Buch Über die Entstehung der Arten1859 erschien, war Haeckel gerade mit der Forschung an Strahlentierchen beschäftigt. Nach seinem Medizinstudium wollte er in die Wissenschaft wechseln, was ihm mit der Erforschung der Mikroorganismen gelang. 1861 trat er eine Stelle als Professor an der Universität Jena an und begann gleich damit, Vorlesungen über Darwins Evolutionstheorie zu halten. Er setzte sich massiv dafür ein, die Erkenntnisse seines englischen Kollegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Vielfalt der Lebewesen, die er in seinen Kunstformen der Natur darstellte, schien ihm besonders gut geeignet, um auf die Realität und Bedeutung der Evolution hinzuweisen. Weniger vorbildhaft aus heutiger Sicht ist allerdings Haeckels Einsatz für Eugenik und »Rassenhygiene«.
Die das Skelett eines Strahlentierchens kopierende »Porte Monumentale« in Paris existiert leider nicht mehr. Die Symbiose von Kunst und Kultur kann man sich heute aber immer noch in Jena ansehen. Zum Beispiel in der »Villa Medusa«, dem ehemaligen Wohnhaus Haeckels, das heute ein kleines Museum zum Leben und Werk des Biologen beherbergt. Und vor allem im »Phyletischen Museum«, das Haeckel1907 gegründet hat. Das Innere des Jugendstilgebäudes ist mit zahlreichen Ornamenten dekoriert, die direkten Bezug auf die Kunstformen der Natur nehmen. Neben echten Quallen in einem Aquarium kann man etwa die von ihnen inspirierten Deckengemälde bestaunen. Wissenschaft und Kunst sind dort so eng verbunden, wie sie es eigentlich überall sein sollten.
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Feiertag dank Wunderbakterien
Am Donnerstag nach dem ersten Sonntag nach Pfingsten feiert die katholische Kirche Fronleichnam. Diesen freien Tag nehmen wir (zumindest dort, wo er ein gesetzlicher Feiertag ist) gerne mit, um daraus ein langes Wochenende zu basteln — auch wenn die meisten vermutlich gar nicht so genau wissen, was da eigentlich gefeiert wird. Aber selbst die, die sich mit der kirchlichen Liturgie auskennen, werden selten wissen, dass wir den freien Donnerstag einem Bakterium zu verdanken haben.
Im Jahr 1263 machte sich der böhmische Priester Peter von Prag auf den Weg nach Rom. Während seiner Pilgerfahrt quälten ihn Zweifel an der »Transsubstantiation«, also der Wandlung von Brot und Wein in den realen Leib und das Blut von Jesus Christus während der katholischen Messe. Kein Wunder, immerhin hatte Papst Innozenz III. dieses doch eher erstaunliche Phänomen erst wenige Jahrzehnte zuvor, beim vierten Laterankonzil im Jahr 1215, als offizielles Dogma der Kirche verkündet. Der zweifelnde Peter wurde jedoch bei einem Zwischenstopp in der italienischen Kleinstadt Bolsena bekehrt: Als er dort während der Messe das Brot auseinanderbrach, fand er darin Blutstropfen! Dieses »Blutwunder von Bolsena« hat Papst Urban IV. als echtes Wunder anerkannt und ein Jahr später das »Fest des allerheiligsten Leibes und Blutes Christi« für die ganze Kirche als offiziellen Festtag eingeführt. Wir sagen heute dazu »Fronleichnam«, was ein wenig nach Totenkult klingt, in gewissem Sinne auch ein Totenkult ist, aber vom mittelhochdeutschen Wort »lîcham« für Leib abstammt.
Ähnliche »Blutwunder« gab es auch davor und danach immer wieder. Sie waren auch nicht auf das Christentum beschränkt. Erstmals dokumentiert wurde es im Jahr 332 v. Chr, als im Heer von Alexander dem Großen, das gerade die Stadt Tyros belagerte, blutendes Brot auftauchte. Was dahintersteckt, wusste man damals natürlich noch nicht, das hat ein italienischer Pharmazeut erst im Jahr 1819 entdeckt. Und zwar in einer Portion verdorbener Polenta: Bartolomeo Bizio aus Padua warf den Brei aus Mais aber nicht einfach weg, sondern untersuchte dessen seltsame rötliche Färbung unter dem Mikroskop. Dort fand er jede Menge kleine rötliche Kügelchen, und weil diese Keime nach nichts aussahen, was man damals kannte, gab er ihnen einen Namen: Serratia marcescens, nach seinem Physiklehrer Serafino Serrati und dem lateinischen Wort marcescere, was so viel wie »erschlaffen« bedeutet. Nicht weil der Physiker so ein schlaffer Schwächling war, sondern weil die rötliche Masse schnell matschig wurde.
Heute wissen wir, dass es sich bei Serratia marcescens um ein Bakterium handelt, das so gut wie überall vorkommt: im Boden, im Wasser, auf Tieren und Pflanzen. Es lebt davon, all die organischen Substanzen abzubauen, die so in der Gegend herumliegen. Dabei kann es eine Reihe von rötlichen Farbpigmenten bilden, sogenannte Prodigiosine, vom lateinischen Wort prodigium für »Wunderzeichen«. Auf Brot kann das Bakterium unter den richtigen Umständen sehr gut wachsen, ganz besonders gut auf dem ungesäuerten Brot, das für die kirchlichen Zeremonien verwendet wird. Es ist also gar kein Wunder, dass man unter den unhygienischen Bedingungen des Mittelalters immer wieder »blutendes« Wunderbrot entdeckte.
Sieht man einmal davon ab, dass uns das Wunderbakterium einen netten Feiertag im Frühsommer beschert hat, ist sein restlicher Einfluss auf die Geschichte eher unschön. Es spielte eine tragische Rolle bei diversen mittelalterlichen Pogromen, während denen Juden vorgeworfen wurde, Hostien gestohlen, »gequält« und somit den Leib Christi zum Bluten gebracht zu haben.
Einige Jahrhunderte später, als man die »Blutstropfen« als Bakterium identifiziert hatte, hielt man es für ein harmloses Ding, das uns Menschen nichts anhaben kann, sich aufgrund seiner guten Nachweisbarkeit aber hervorragend zu Forschungszwecken eignet. Deswegen infizierte man Menschen gezielt damit, um die Ausbreitungswege von Infektionskrankheiten zu untersuchen. Im September 1950 war das Wunderbakterium Teil von geheimen und höchst unethischen militärischen Experimenten: Große Mengen des Mikroorganismus wurden von der US Navy vor der Bucht von San Francisco verteilt. Es ging um biologische Kriegführung, und man wollte wissen, wie effektiv sich eine Großstadt im Falle des Falles mit Bakterien kontaminieren ließe. Sehr effektiv, wie sich zeigte: Die sich verbreitenden Keime reichten aus, um die ganze Stadt zu infizieren, und in den Wochen nach dem Experiment tauchten in den Krankenhäusern von San Francisco immer wieder Menschen mit seltsamen Harnwegsinfekten auf. Denn Serratia marcescens ist nicht so harmlos, wie man dachte, sondern ein Krankheitserreger. Das Wunderbakterium führt unter anderem zu Lungen- und Hirnhautentzündungen, Harnwegsinfekten und einer Reihe von Wundinfektionen. Ein Feiertag als ausgleichende Gerechtigkeit ist dafür eigentlich viel zu wenig.
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Pockengötter und Dämonen
Das Virus Orthopoxvirus variolae hat man erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Die von ihm verursachte Krankheit plagt die Menschen aber schon seit Jahrtausenden: Die Pocken sind eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten, die uns je heimgesucht haben, und es ist kein Wunder, dass wir uns in unserer Unwissenheit über ihre Ursache an die Götter gewandt haben.
Bei den von Orthopoxvirus variolae verursachten »echten Pocken« kann die Sterblichkeit bis zu 90 Prozent betragen. Wer nicht stirbt, muss mit Narben von den für die Krankheit typischen Pusteln ebenso rechnen wie mit Hirnschäden, Lähmungen, Taubheit oder Erblindung. An der Mumie des altägyptischen Königs Ramses V., der vor mehr als 3000 Jahren lebte, konnten Pockennarben gefunden werden, und es wird vermutet, dass er auch an dieser Virusinfektion starb. Man findet Hinweise auf die Krankheit im 2. Jahrtausend vor Christus in Indien ebenso wie in China. Man schätzt, dass allein im 20. Jahrhundert weltweit ungefähr 300 Millionen Menschen an den Pocken gestorben sind.
Die Pocken sind eine schreckliche Krankheit, ganz besonders dann, wenn man keine Ahnung von der Ursache hat und nicht weiß, wie man sich davor schützen kann. Die vielen dramatischen Pockenausbrüche