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1963 in Salzburg. Der amerikanische Musikwissenschaftler Richard Gorwess besucht die Festspiele. Eines Abends glaubt er den Mann zu erkennen, mit dem einst seine Frau Carola und ihre Schwester Britta in Ost-Berlin lebten: Boris Jaretzki. Als junger GI hatte Richard 1949 die junge Carola beim Stehlen erwischt. Jahre später sehen sie sich wieder und noch vor dem Mauerbau flieht sie mit ihm aus dem düsteren Berlin nach Amerika. Zwei Jahre lang lebten sie dort glücklich, aber dann wollte Carol noch einmal ihre geliebte Schwester besuchen, und kam nicht wieder. Sie sei ertrunken, hieß es. Nun, ein Jahr später, macht Richard sich in der Salzburger Umgebung auf die Suche nach dem geheimnisvollen Boris. Nach einem Unfall lernt er auf einem Jagdschloss die Geschwister Toni und Seppi Saritz kennen, die ihm helfen wollen, das Geheimnis zu lüften.
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Seitenzahl: 424
Utta Danella
Eine Heimat hat der Mensch
Roman
hockebooks
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Utta Danella: Eine Heimat hat der Mensch. Roman
Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany
Die Originalausgabe ist 1981 im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg erschienen.
Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von canadastock/shutterstock.com
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ISBN: 978-3-957-51346-5
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Eine Heimat hat der Mensch,
doch er wird nicht drin geboren,
muss sie suchen, traumverloren,
wenn das Heimweh ihn befällt.
Aber geht er nicht in Träumen,
geht er achtlos ihr vorüber,
und es wird das Herz ihm plötzlich
schwer bei ihren letzten Bäumen.
Wilhelm v. Scholz
Jagd I
Seit er aus Salzburg weggefahren war, hatte ihn aus der Ferne das Gewitter begleitet; es blitzte über den Seen, es grollte hinter den Bergen, der Himmel wurde immer dunkler, die Autos fuhren mit Licht. Als dann das Unwetter losbrach, befand er sich direkt darunter, es tobte mit einer Urgewalt, wie er es noch nie erlebt hatte. Trotzdem fuhr er weiter.
Das Auto ist ein faradayscher Käfig, das hatte er in der Schule gelernt, ganz abgesehen davon, dass sein Vater ihm solche Dinge schon erklärt hatte, als er noch ganz klein war: Der Blitz kann gar nicht in ein Auto einschlagen.
Nur als ganz in der Nähe ein Baum getroffen wurde, er hörte das Krachen, sah aus dem Augenwinkel den Sturz, duckte er sich unwillkürlich. Wo er sich eigentlich befand, wusste er nicht, er musste total in die Irre gefahren sein. Seine Fragen unterwegs, in Orten, an Tankstellen, waren mit Kopfschütteln oder vagen Hinweisen beantwortet worden. Doch mit der Verbissenheit, mit der er seit Stunden unterwegs war, verfolgte er weiter das unbekannte Ziel.
Kurz bevor der Regen begann, kam er durch ein Dorf, was heißt Dorf, ein Bergbauernhof mit ein paar Hütten drumherum, mehr war es nicht. Eine Frau, ein Huhn in der Schürze, war gerade dabei, ins Haus zu gehen, eilig, denn die ersten schweren Tropfen klatschten herab.
Er hielt, kurbelte das Fenster herunter und rief durch den Lärm des verhallenden Donners: »Ist das hier das Sarissertal?« Die Frau blickte unmutig, die Türklinke schon in der Hand.
Er schrie: »Ich suche das Sarisser Jagdschloss.«
Sie hob die Hand und wies den Weg weiter, bergauf.
Also fuhr er weiter, auch als der Regen zu strömen begann, als die Straße längst keine Straße mehr war, nicht einmal mehr ein Weg, nur ein nasser Glitsch, auf dem die Räder nicht fassten. Manchmal fuhr er über Bohlen, es rumpelte, er nahm das Tempo zurück, starrte ins Dunkel. Es ging bergauf, ziemlich steil; der Scheibenwischer führte einen aussichtslosen Kampf, denn dies war kein Regen, dies war eine Flut, es schien, als sei der Himmel ein Meer geworden, das sich in einem Schwall über die Erde ergoss.
Er tastete nach den Zigaretten, doch die waren in seiner Jacke, und die lag auf dem Rücksitz. Halten konnte er nicht. Wenn er hielt, würde er den Wagen niemals mehr in Gang bringen. Er war sich klar darüber, dass jeder vernünftige Mensch angehalten und eine Besserung des Wetters abgewartet hätte. Aber es war, als sei er gar nicht mehr fähig, diese rasende, unsinnige Fahrt zu unterbrechen. Es schien Stunden her zu sein, seit er die Hauptstraße verlassen hatte, in eine Nebenstraße eingebogen war, von dieser in eine andere, immer weiter in die Berge hinauf; und ob dies nun das verdammte Tal war oder nicht, ob die Frau unter der Tür ihn verstanden hatte, spielte keine Rolle mehr, er fuhr wie ein Automat, nur von einem Gedanken besessen: zu finden, was er suchte.
Die Fahrt nahm von selbst ein Ende. Der Wagen rutschte unter seiner Hand, er packte das Steuerrad noch fester, spürte, wie die Räder durchdrehten, gab Gas, der Wagen schoss vorwärts, das rechte Hinterrad bockte gegen einen harten Gegenstand, er steuerte dagegen, gab nochmals Gas, und dann kippte der Wagen vornüber, bohrte die Nase in den Schlamm einer grabenartigen Vertiefung, die Hinterräder drehten im Leeren.
Sein Kopf schlug hart gegen die Frontscheibe, wurde seitwärts geschleudert, und die Kante des Rückspiegels bohrte sich in seine rechte Schläfe.
Falls er die Besinnung verlor, war es nur für einen Augenblick. Er richtete sich sogleich auf, fluchte laut und drückte gegen die linke Tür, die sich mühelos öffnen ließ.
Er kletterte hinaus, Schwindel überfiel ihn, er taumelte, aber der Regen, der ihn anfiel wie ein wildes Tier, zwang ihn standzuhalten. In Sekundenschnelle war er bis auf die Haut durchnässt. Eine Weile stand er wie betäubt, ließ den Regen an sich hinablaufen, dann kroch er in den kopfstehenden Wagen und angelte die Lederjacke heraus, zog sie über.
Und nun?
Er blickte aufwärts und abwärts, kam zu der Erkenntnis, dass dieser Weg ebenso gut ein leeres Bachbett sein konnte, denn von oben floss jetzt das Wasser stetig herab, aus Rinnsalen wurde ein rasch fließender Bach.
Sarissertal. Wieso eigentlich Tal? Er befand sich hoch in den Bergen, von einem Tal konnte keine Rede sein. Und von einem Jagdschloss hatte er weit und breit nichts gesehen. Nun stak der Wagen fest, und wie er je wieder von hier fortkommen sollte, war ein Rätsel.
Zurücklaufen zu diesem Hof, fragen, ob dort ein paar Leute gewillt waren, ihm zu helfen. Falls der Regen je aufhörte. Blieb zu hoffen, dass die Alte mit dem Huhn nicht der einzige Bewohner war. Wie lange war er seitdem gefahren? Eine halbe Stunde, eine Viertelstunde? Der Zeitsinn war ihm abhandengekommen.
Die Uhr zeigte ihm, dass es erst drei Uhr nachmittags war. Kaum zu glauben. Stand sie? Gegen halb zwölf war er in Salzburg weggefahren, und ihm kam es vor, als habe er seitdem die halbe Welt durchrast.
Er zog die Zigaretten aus der Tasche, steckte sie wieder weg, es würde unmöglich sein, in der Nässe eine anzuzünden. Sein Kopf schmerzte heftig, und das Schwindelgefühl nahm wieder zu. Er zog die Füße aus dem Schlamm und machte ein paar Schritte bergauf. Das ging. Alles an ihm schien heil zu sein. Da er sich nun in Bewegung gesetzt hatte, ging er weiter.
Sinnlos, aber er konnte nicht ewig neben dem havarierten Wagen im Regen stehen bleiben.
Soweit sich erkennen ließ, endete der Weg sowieso ein Stück weiter oben, und vielleicht gab es irgendwo einen besonders großen Baum, unter dem noch nicht alles schwamm. Er musste sich eine Weile hinsetzen, die Beine trugen ihn nicht mehr.
Der Weg war nicht zu Ende, er machte eine Biegung, auf der Talseite wich der Wald zurück und machte Platz für eine sanft geneigte tiefgrüne Almwiese, über der wie ein dichter Schleier der Regen hing. Zur Rechten jedoch …
Er stand und starrte. Fantasierte er?
Da war ein Haus. Das Sarisser Jagdschloss, das musste es sein. Ein Gebäude aus verwittertem dunklem Holz, mit winzig kleinen Fenstern und einem Umgang, so lag es, breit geduckt, unter den Tannen. Es war kaum zu sehen in der Dunkelheit, mit dem Wagen wäre er glatt daran vorbeigefahren.
Er stand wie angenagelt, der Regen floss an ihm hinab, spülte das Blut aus seiner Schläfenwunde, er hatte beide Hände zu Fäusten geballt und merkte es gar nicht.
Hier also. Würde er hier finden, was er suchte? Würde er hier endlich die Wahrheit über Carols Tod erfahren?
Wut und Schmerz waren es nicht mehr allein, die ihn erfüllten, er hatte auf einmal Angst. Er war sicher, dass Boris ihn erkannt hatte, heute Vormittag in Salzburg, ihre Blicke hatten sich gekreuzt. Flüchtig nur, ein Sekundenblitz, aber Boris war viel zu klug, um einen Verfolger nicht zu erkennen. Und warum sonst diese plötzliche Abreise? War er nun hier in diesem Haus, dann wusste er, dass seine Flucht vergebens gewesen war.
Das Haus lag totenstill und dunkel unter den Bäumen, nichts rührte sich darin, es schien leer und unbewohnt. Seitwärts, tiefer unter den Bäumen, erspähte er einen offenen Verschlag, der wohl dazu diente, einen Wagen abzustellen. Doch ein Wagen war nicht zu sehen.
Wie in Trance, Schritt für Schritt, ging er auf das Haus zu, stieg die drei Holzstufen hinauf, die auf den Umgang führten, drückte die Klinke nieder.
Die Tür war offen. Ein langer, dunkler Gang führte geradeaus in das Haus hinein, rechts und links Türen, die im Dämmer verschwanden, kein Lebenszeichen. Das Haus war leer.
Nein. Zwei Anzeichen von Leben: der kurze tiefe Anschlag eines Hundes, ein warmer süßer Duft.
Der Schwindel kehrte zurück, die Benommenheit, und in verstärktem Maße Angst. Seine Stimme klang heiser, als er »Hello?« rief. Und dann noch einmal, lauter »Hello?«
Rechts im Gang, gleich vorn, ging eine Tür auf, ein Lichtschein fiel heraus, und der Wohlgeruch, der ihm schon aufgefallen war, als er das Haus betrat, umhüllte ihn wie eine Wolke.
Eine kleine stämmige Frau erschien unter der Tür, blickte ihn streng, aber ohne allzu großes Erstaunen an, kam dann auf ihn zu und fragte im Flüsterton: »Was wollen Sie?«
Auf diese plausible Frage fiel ihm keine Antwort ein. Das war alles ganz anders, als er es erwartet hatte, und die Frau, eine große weiße Schürze um den Bauch gebunden, hatte nichts Bedrohliches an sich.
»Haben Sie sich verirrt? Maria und Josef, Sie sind ja pitschnass. Kommen S’ mit!«
Wie ein Wassermann tappte er hinter ihr her in die Küche, denn das war der Raum, aus dem sie gekommen war. Es war warm darin, ein Herdfeuer brannte, es roch herrlich. Verlegen blickte er auf seine schlammbedeckten Schuhe. »Entschuldigen Sie«, begann er, »mein Wagen … ich wollte sagen, ich habe hier ein Stück weiter unten meinen Wagen in den Graben gefahren. Ich kann nicht weiter.«
»Hier kann man nur mit einem Landrover oder so einem Ding rauffahren«, sagte sie sachverständig. »Sie bluten ja. Sie haben sich verletzt.«
Jetzt, da der Regen die Wunde nicht mehr wusch, sickerte Blut über seine Wange. Der Kopf schmerzte höllisch. Die Küche, die Frauengestalt, beides schwankte.
Sie bemerkte seinen Zustand.
»Setzen Sie sich.« Sie zog ihm geschickt die nasse Jacke von den Schultern, dann kauerte sie sich nieder und zog ihm die Schuhe aus.
Es war ihm peinlich. »Nein, bitte, lassen Sie … Ich kann schon selbst …«
»Schon gut«, sagte sie ruhig. »Ich mach Ihnen die Wunde sauber und klebe ein Pflaster drauf. Dann legen Sie sich am besten eine Weile hin. Wie kommen Sie eigentlich hier herauf?«
Sie sprach nicht wie eine Österreicherin, ein fremdartiger Akzent, hart, östlich. Das passte. Sein Misstrauen kam zurück.
»Ich suche …« Er stockte. War er in eine Falle gegangen? Sie brachte ein Fläschchen, betupfte die Wunde mit einem getränkten Wattebausch, es brannte, dann klebte sie ein Pflaster darüber.
»Was suchen Sie?« In ihrer Stimme klang Misstrauen.
Es war egal. Wenn er nun schon hier war, gefangen in diesem Haus, und wenn Boris sich in diesem Haus befand, dann war er ihm so oder so ausgeliefert.
»Ich suche das Jagdschloss im Sarissertal.«
»Das ist unser Jagdhaus. Kein Schloss. Sagten Sie Saritzer Tal?«
»Ja.«
Sie verzog keine Miene. »Was also suchen Sie hier?«
»Ich suche einen Herrn … eh, Decanter.«
Ein kurzer scharfer Blick aus kleinen, fast schwarzen Augen.
»Kenne ich nicht. Den suchen Sie hier?«
»Ja. Man hat mir gesagt …« Wieder überfiel ihn der Schwindel, das Gesicht der Frau verzerrte sich vor seinen Augen, seine Hand umklammerte krampfhaft den Rand des Küchentisches, an dem er saß.
»Der ist hier nicht. Und jetzt legen Sie sich hin. Aber ganz leise bitte. Die Kinder schlafen noch. Warten Sie.«
Sie öffnete einen Schrank, nahm eine Flasche heraus und füllte ein nicht zu kleines Glas randvoll. »Trinken Sie. Das wird Ihnen guttun.«
Ich trinke es nicht, dachte er, aber da hatte er das Glas schon in der Hand und trank. Himbeergeist, erstklassiger Himbeergeist, der bis in die Zehen zu rollen schien.
»Kommen Sie«, die Frau ergriff seine Hand und zog ihn vom Stuhl hoch, »legen Sie sich hin. Ich mach grad einen Apfelstrudel, bis Sie aufwachen, ist er fertig.« Jetzt lächelte sie. »Ganz leise, ja?«
Er tappte willenlos hinter ihr her durch den dunklen Gang, stieß sich das Knie an einem harten Gegenstand, eine Tür wurde lautlos geöffnet, sie schob ihn hinein, zerrte ihn vor ein Sofa und drückte ihn energisch nieder. Er saß kaum, da sank er schon um, merkte noch, wie eine Decke über ihn gebreitet wurde.
Er wusste später nicht zu sagen, ob er bewusstlos geworden oder einfach eingeschlafen war. Er hatte auch nicht bemerkt, dass auf einer zweiten Lagerstatt in diesem Raum ein Mann lag und schlief, so tief, dass er die Störung gar nicht bemerkte.
Als Richard erwachte, wusste er verständlicherweise im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Er lag weich und bequem, es war warm und behaglich, nur sein Kopf schmerzte ein wenig. Über sich sah er schwere alte Holzbalken, und dann hörte er das gleichmäßige sanfte Rauschen des Regens. Es hat nachgelassen, es regnet friedlich, dachte er.
Da wusste er auf einmal, wo er war und wie er hergekommen war. Das Sarissertal, das Jagdschloss oder Jagdhaus, wie die Frau gesagt hatte, die Frau, die Apfelstrudel machte. Ein Stück weiter unten lag sein Wagen im Dreck.
Wie lange lag er hier schon? Er hatte geschlafen. Wo war die Frau? War sie der einzige Mensch in diesem Haus?
Er versuchte sich zu erinnern. Sie hatte irgendetwas erwähnt von schlafenden Kindern. Und sie würde den Apfelstrudel nicht allein für einen unerwarteten Besucher backen.
Vorsichtig wandte Richard den Kopf und blickte in die Augen eines Mannes, der auf der anderen Seite des Raumes lag, auf einem niederen Lager, das bis zum Boden von einer Felldecke eingehüllt war.
Nun richtete er sich auf, lächelte freundlich und fragte: »Gut geschlafen?«
In diesem Haus wunderte sich offenbar kein Mensch über hereingeschneite Besucher.
»Danke«, erwiderte Richard, »ausgezeichnet. Hoffentlich habe ich Sie nicht gestört?«
»Woher denn. Wenn ich schlaf, dann schlaf ich. Ich hab gar nicht gehört, wie Sie hereingekommen sind. Wissen S’, ich bin schon eine Weile wach, ich bin nur nicht aufgestanden, weil ich Sie nicht stören wollte.«
Jetzt also stand er auf, reckte sich, trat dann an den viereckigen Eichentisch, der vor dem Kachelofen stand, und fummelte an einer Lampe herum; eine echte Petroleumlampe, wie Richard mit Staunen feststellte, als sie brannte. So etwas gab es also noch.
Der Mann, ein junger Mann, schlank und feingliedrig, mit einem ebenmäßigen, fast mädchenhaft hübschen Gesicht, hob nun die Nase und schnupperte. »Riecht, als ob gebacken würde.«
»Apfelstrudel«, sagte Richard.
»Das sieht der Marika ähnlich. Sie hat immer die besten Ideen. Apfelstrudel, das ist grad recht bei diesem Wetter. Oh, Sie sind verletzt?«
Richard hatte sich aufgerichtet, sein Kopf begann zu dröhnen, er griff mit der Hand an die Schläfe. Er erklärte, so gut es ging, was geschehen war, der junge Mann nickte mehrmals, sein Gesicht drückte lebhafte Anteilnahme aus. »Ein schreckliches Gewitter war’s. Hat den ganzen Tag schon umeinandergebrummt. Schwül und lästig war’s, Wild haben wir gar nicht zu sehen bekommen. Und dann hat’s ja wohl geregnet.«
»So kann man es nennen.«
»Ich schlaf schon seit drei Stunden. Wir warn nach der Morgenpirsch noch mal draußen, geschossen haben wir heut nichts, dann haben wir bisserl was gegessen, und danach brauch ich meinen Schlaf. Früh sind wir schon um vier Uhr raus.«
Jetzt nickte Richard voll Anteilnahme. Er hatte keine Ahnung von Jagdbräuchen, aber wenn sie von einem Menschen verlangten, dass er um vier Uhr seinen Schlaf abbrach, würde er sich sowieso niemals damit befassen.
Der junge Mann trat an eines der kleinen Fenster und schaute hinaus.
»Wird schon heller. Bald hört’s auf zu regnen. Aber was wir mit Ihrem Wagen machen, weiß ich auch nicht. Wir müssen warten, bis der Lois raufkommt. Der ist gleich nach dem Essen runtergefahren, er hat wieder mal irgendwo eine Braut herumsitzen. Kann sein, er kommt erst spät am Abend herauf. Oder in der Nacht. No, das wird sich finden. Jetzt werden wir erst mal jausen. Aber vorher müssen wir Toni wecken. Kommen S’ mit.«
Auf dem Gang stand jetzt auch eine Lampe, wodurch Richard es vermeiden konnte, sich wieder an dem dicken alten Lehnstuhl zu stoßen, der dort stand. Marika steckte den Kopf aus der Küchentür heraus. »Seid ihr wach? Dann mache ich einen Kaffee.«
»Duftet wunderbar, Marikam. Hast auch genug Mandeln reingetan?«
»Back ich oder backst du?«
»Ist Toni schon auf?«
»Ich hab noch nichts gehört.«
Diesmal war es die allerletzte Tür, links im Gang, und dahinter war ein relativ großer Raum, in dessen Mitte ein breites Bett stand, auf dem sich abermals ein Schläfer befand. Genauer gesagt, eine Schläferin. Am Fußende des Bettes lag ein großer schwarzer Schäferhund, der wachsam den Kopf erhoben hatte und seine rechte Vorderpfote wie schützend auf das Knie des Mädchens legte.
»Toni! Schläfst noch?« fragte der junge Mann.
Das Mädchen machte: »Mhm!« Und ohne die Augen zu öffnen stellte es fest: »Riecht nach Apfelstrudel.«
»Den gibt es. Und Besuch gibt es auch.«
»Net wahr?« Sie fuhr mit einem Ruck hoch und blickte Richard mit frohem Erstaunen an. »Wahrhaftig! Besuch!«
Sie griff sich mit beiden Händen in das schulterlange braune Haar, schüttelte es und warf es zurück. Sie trug ein Nachthemd aus hellblauer Seide, das bräunliche schlanke Arme sehen ließ; ihr Gesicht war so fein gezeichnet und hübsch wie das des jungen Mannes.
»Wer ist denn das?«
»Ein verirrter Wanderer. Das heißt, gewandert ist er nicht, er ist mit einem Wagen gekommen und hat ihn in den Graben gefahren. Ich kann mir schon denken, wo’s passiert ist. Du kennst die Stelle sowieso, du bist schon zweimal da hängen geblieben. Ich muss dem Lois mal sagen, dass er sich ein paar Männer holt, den Stubben rausmacht und die Vertiefung aufschüttet. Bei so einem Wetter wie heut, wo man eh nix sieht, ist die Stelle kaum zu umschiffen. Bei Gewitter und Sturm hat’s ihn derbröselt, ihn und den Wagen.« Der junge Mann lachte höchst vergnügt, das Mädchen im Bett lachte auch.
»Hauptsache, er hat’s überlebt.«
»Bisserl lädiert ist er schon. Was mit dem Wagen ist, wissen wir noch nicht. Wir sind grad erst aufgestanden, und es regnet immer noch.«
»Na, mach Sachen.« Sie saß im Bett und strahlte Richard an, als sei er der Weihnachtsmann persönlich. »So schön, dass Sie da sind. War eh so lätschert heut.«
»Dies ist übrigens meine Schwester Toni.« Der junge Mann wies mit einer eleganten Handbewegung auf das Bett.
»Ich heiße Marie Antoinette«, sagte das Mädchen vorwurfsvoll. »Wenn du mich immer gleich als Toni präsentierst, wird mich nie ein Mensch bei meinem richtigen Namen nennen.«
Marie Antoinette! Richard kam es vor, als träume er. Oder hatte er einen größeren Schaden erlitten und fantasierte? Dieses merkwürdige Haus, hoch in den Bergen, diese seltsamen Menschen darin und nun noch dieses Luxusmädchen in einem Luxusbett, ein Toilettentisch stand im Zimmer, ein großer Spiegel, ein blauer Sessel. Nichts in diesem Haus sah so aus, wie man sich das Interieur eines Jagdhauses vorstellte. Jagdschloss, wie der Mann heute Vormittag in Fuschl gesagt hatte, Jagdschloss, das passte schon besser. Nur von außen sah das Schloss nicht aus wie ein Schloss.
Richard, noch in den Anblick des Mädchens versunken, das Marie Antoinette hieß, dachte nebenbei darüber nach, welche Bewohner dieses Haus wohl noch beherbergen mochte. Von Kindern war die Rede gewesen. Diese beiden hier jedoch waren Geschwister. Und über allem stand die Frage, ob Boris, der Mann, den er suchte, in diesem Haus wohnte.
Marie Antoinette schob ein Bein unter der Bettdecke hervor, worauf der Hund mit einem Satz vom Bett sprang.
Sie sagte: »Schleichts euch, ich komme gleich nach. Und, wie gesagt, vergessen Sie nicht, ich heiße Marie Antoinette.«
Wieder durch den Gang, zurück in das Zimmer, in dem er geschlafen hatte und in dem mittlerweile auf weißem Leinen ein Kaffeetisch gedeckt war; goldbraun und duftend, mit Puderzucker bestreut, stand mittendrin der Apfelstrudel.
Der junge Mann, Marie Antoinettes Bruder, umkreiste lüstern den Tisch und meinte: »Sieht gut aus, hm?«
»Kaffee ist gleich fertig«, klang es aus der Küche, aber ehe die Jause begann, gab es noch eine Verzögerung, Toni trat ein, in einer Hose aus schwarzem Samt und einer blauen Bluse, und rief einladend: »Setzt euch! Kaffee kommt gleich. Oh!«
Das Oh! galt Richards Schläfenwunde, die inzwischen das Pflaster durchblutet hatte.
Toni hob vorsichtig den rechten Zeigefinger, tippte nach seiner Schläfe, ohne sie jedoch zu berühren. »Was ist das?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass er verletzt ist.«
»Wer hat Sie denn verpflastert?«
Richard machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Küche, und Toni sagte: »Aha. Die Marika. Sieht ihr ähnlich. Schlampert. Das muss ordentlich versorgt werden, kommen S’ gleich mit mir. Kommen S’, kommen S’, wir gehen ins Badezimmer.«
Richard folgte ihr schweigend, entschlossen, sich über nichts mehr zu wundern. Dieses Haus war kein Schloss, aber es war erstaunlich geräumig. Es hatte kein elektrisches Licht, aber ein Badezimmer.
Allerdings befand sich im Badezimmer keine Badewanne, sondern nur ein großer hölzerner Zuber. Außerdem ein großer Tisch mit zwei Waschschüsseln, mit zwei Krügen, zwei Zahnputzgläsern, alles doppelt, alles perfekt ausgestattet. Auch ein Medikamentenschrank war vorhanden.
»Bisserl primitiv hier«, meinte Toni, »so ist das nun mal in einem Jagdhaus. Kein Grandhotel. Aber ich hab in meinem Schrank hier alles, was ich brauche.«
Sie löste vorsichtig das Pflaster von seiner Schläfe, besah sich ernsthaft und ausdauernd die Wunde, schüttelte den Kopf, machte ts, ts, ts und reinigte darauf die Wunde nochmals sorgfältig. Anschließend bekam Richard einen großen Verband um seinen Kopf.
»Aber das wäre doch nicht nötig wegen der Schramme«, versuchte er sich zu wehren, aber sie unterdrückte energisch jeden Widerspruch.
»Nix. Pflaster können wir morgen wieder draufpappen, jetzt wird das erst mal richtig verbunden. Ich kenn mich aus, ich hab einen Schwesternkurs gemacht.«
Ihr Bruder, der ihnen neugierig gefolgt war und von der Tür aus das ganze Unternehmen beobachtete, klärte Richard weiter auf.
»Sie ist gelernte Krankenschwester, das ist bei uns Familientradition. Alle unsere Großmütter, Mütter und Tanten haben irgendwann in irgendeinem Krieg beim Roten Kreuz gearbeitet. Bestimmt war eine von unserer Familie schon bei Solferino dabei und hat dem Dunant geholfen, das Rote Kreuz zu erfinden.«
»Na, bestimmt weiß ich, dass wer dabei war«, fiel Toni ein. »Das war die Urgroßtante Eugenie, die damals nach Venedig geheiratet hat. Du kennst ihr Bild, es hängt in Vöslau draußen bei den Rosentanten. Das im goldenen ovalen Rahmen, gleich neben dem Flügel. Süß war sie. Goldblondes Haar und pechschwarze Augen. Weißt es nicht?«
»Weiß schon. Urgroßtante Eugenie also. Sie war bestimmt nicht die Erste, die auf einem Schlachtfeld an lädierten Mannsbildern herumgebastelt hat. Wie ich sag, es gehört bei uns zur Familientradition. Tut’s weh?« Die besorgte Frage galt Richard, der aber nicht dazu kam, sie zu beantworten, denn Toni schüttelte für ihn den Kopf.
»Warum soi’s denn wehtun? Ich hab ganz sanfte Finger. Wissen Sie, ich hab den Schwesternkurs gleich nach der Matura machen müssen, da bin ich nicht auskommen. Tut’s am Ende wirklich weh? Sie können ruhig stöhnen, wenn es Sie erleichtert.«
Es tat nicht weh, es tat wohl, diese Finger zu fühlen, die sie selbst als sanft bezeichnet hatte. Sanft, schlank, mit biegsamen Gelenken. Wunderschöne Hände. Alles an diesen beiden jungen Menschen verriet die gute alte Familie, nicht nur das Aussehen, nicht nur die Hände, auch der Charme und die Leichtigkeit, mit der sie plauderten, mit der sie jeder Situation überlegen waren.
Was hatten sie mit Boris Jaretzki zu tun? Oder Decanter, wie er sich jetzt nannte.
Das erste Mal an diesem Tag kam Richard die Idee, dass er sich getäuscht hatte, dass der Mann, den er heute Vormittag in einem beigefarbenen Mercedes vor dem Österreichischen Hof gesehen hatte, doch nicht Boris war, dass er auch vorgestern im Festspielhaus eine Halluzination gehabt hatte.
War Boris aber hier, wann trat er auf in diesem Theaterstück? Und was war eigentlich mit den Kindern?
»Schlafen die Kinder noch?« fragte er.
»Was für Kinder?« fragte Toni.
»Nun, Ihre Marika sagte vorhin …« Noch während er es aussprach, erkannte er den Irrtum. Die Kinder, das waren diese beiden hier. Für Marika jedenfalls waren sie es.
Toni legte die kühle sanfte Hand auf seine Stirn. »Bisserl heiß. Ist Ihnen übel? Haben Sie sich übergeben?«
»Nein.«
»Was nein?«
»Ich habe mich nicht übergeben.«
»Aber übel ist Ihnen?«
Er tat ihr den Gefallen und sagte, ja, ein wenig sei ihm übel.
»Eine leichte Gehirnerschütterung, ich dachte es mir. Weil Sie so schauen. Seh ich Ihren Augen an. Kopfschmerzen haben Sie auch, nicht?« Er nickte.
»Ich hab Cerebraltabletten hier irgendwo. Momenterl. Da sind sie schon.«
Richard sah ihr zu, wie sie in dem Kasten kramte, die Tablette auflöste, ihm das Glas gab, ihn besorgt und geradezu liebevoll musterte. Er fühlte sich überhaupt nicht mehr krank. Aber wenn es bedeutete, dass sie sich weiterhin so mit ihm beschäftigte, wollte er gern krank sein. Boris und alles, was damit zusammenhing, war unwichtig. Einmal frei sein von den quälenden Gedanken an das Geschehene. Dass Carol tot war, blieb so unbegreiflich wie vor einem Jahr, seit man ihn von ihrem Tod informiert hatte.
Marika erschien unter der Tür, meinte, dass der Kaffee nun bald getrunken werden müsse, sonst sei er kalt.
Besorgt musterte Toni ihren Patienten, der abwesend an ihr vorbeischaute.
»Geht’s Ihnen nicht gut?« fragte sie. »Ist Ihnen noch mehr übel als zuvor?«
»Nein, nein, danke, es geht mir sehr gut.«
»Dann kommen Sie.« Sie schob ihre Hand unter seinen Arm.
»Wir werden sehen, ob Ihnen der Apfelstrudel schmeckt. Schmeckt er Ihnen nicht, dann sind Sie sehr krank, und ich stecke Sie ins Bett.«
Der junge Mann sagte: »Sie haben Toni einen großen Gefallen getan. Endlich ein Patient. Es geht ihr mächtig auf die Nerven, wenn alle immerzu gesund sind.«
»Sei du ganz still. Warst du nicht froh, als du in der Wurzel hängen geblieben bist und dir den Haxen verknackst hast – und ich das gleich richtig behandelt hab?« Sie blickte Richard an. »Eine Bänderzerrung hat er gehabt, aber schon so eine. Ohne meine Behandlung tät er heut noch hatschen.«
»Es war im Juni.«
»Ganz recht, Anfang Juni, als wir auf den ersten Bock gegangen sind. Der Lois hat dich runtertragen müssen, war’s net so? Und heut kannst umeinandersteigen, als wenn nichts gewesen wäre.«
Als sie wieder vor dem Apfelstrudel standen, sagte Toni: »Mhm! Schön ist der.« Und zu Richard: »Wissen Sie, was das Schöne daran ist, wenn man jung ist? Dass man essen kann, so viel man will, und nicht dick wird. Wenn man erst anfangen muss, Kalorien zu zählen, macht das Leben keinen Spaß mehr.«
»Ich würde nicht sagen, dass Sie der Typ sind, der Kalorien zählen muss, auch später nicht.«
»Nein?« Sie strahlte. »Hast es gehört, Seppi? Ich kann immer essen, so viel ich will. Ich ess nämlich schrecklich gern.«
Sie saß schon am Tisch und bugsierte sich ein großes Stück Apfelstrudel auf den Teller, Marika füllte mit zufriedener Miene die Kaffeetassen.
»Also ich heiße natürlich auch nicht Seppi«, sagte der junge Mann, während er sich niedersetzte. »Ich heiße Franz Joseph.«
»Nach unserem letzten Kaiser«, erklärte Toni mit vollem Mund.
»Es war nicht unser Letzter, es war der Vorletzte«, korrigierte Seppi.
»Ach ja, der arme Karl, den vergisst man immer. No, wie ist es? Schmeckt es Ihnen?«
Richard hatte noch keinen Bissen gegessen, nur gierig einen großen Schluck Kaffee getrunken. Der Kaffee war ausgezeichnet, danach hatte er sich seit Stunden gesehnt. Der Apfelstrudel war ebenso vorzüglich, und er spürte, dass er auch Hunger hatte, denn seit dem Frühstück hatte er nichts gegessen, und ein Frühstück in Österreich war eine bescheidene Sache, jedenfalls für amerikanische Begriffe.
Marika stand an der Tür, die Hände über der Schürze gefaltet und fragte: »Ist alles recht?«
»Geh, stell net so depperte Fragen«, sagte Toni. »Wir sind net daheim. Setz dich her und iss.«
Auf diese Aufforderung hatte Marika offenbar gewartet, sie nahm ohne Zögern Platz, füllte die vierte Tasse, die ohnehin auf dem Tisch stand, und bediente sich reichlich von dem Strudel.
Eine Weile aßen und tranken sie alle vier schweigend, voll beschäftigt. Außer dem Schäferhund hatten sich nun auch noch ein Dackel und ein Jagdhund eingefunden, alle saßen erwartungsvoll um den Tisch herumgruppiert.
»Habt’s alle ausgeschlafen, wie mir scheint«, stellte Toni fest. Und zu Richard gewendet erklärte sie: »Wissen Sie, wenn wir hier heroben sind, gehen wir in der Früh um drei oder vier los, und da ist man dann halt irgendwann müd. Heut war nix. Ich hab einen kapitalen Feisthirsch im Visier, aber ich krieg den Burschen einfach nicht, jeden Tag steht er anderswo.«
»Der ist zu schlau für dich«, meinte ihr Bruder.
»Scheint so. Macht nix. Haben wir noch eine Weile Spaß miteinander. Bleibst die Woche noch heroben, Seppi?«
»Du weißt ganz gut, dass ich allerhöchstens noch zwei Tage bleiben kann. Also frag net so blöd.«
Toni seufzte und warf einen anklagenden Blick zur Decke. »Er schreibt an seiner Doktorarbeit, und das mitten im Sommer. Wie finden Sie so was?«
Zu antworten brauchte Richard nicht, denn Seppi sagte: »Ich schreib noch lange nicht, das weißt du auch ganz genau, ich bin bei den Vorarbeiten. Und ich bin noch lange bei den Vorarbeiten und werde mindestens noch drei bis vier Jahre brauchen, bis ich die ganze Arbeit geschafft hab.«
»Mei, bist du faul. Wenn jeder so lang brauchen tät, wären die Doktoren längst ausgestorben. Ist eh nur Angabe, dass du den Titel haben willst. Weil du dem General imponieren möchtst. Drum.«
»Wer will das nicht?« sagte Seppi ungerührt, stöhnte ein bisschen und nahm sich noch ein kleines Stück Apfelstrudel. »Ich muss diese Woche in Wien den Lachner treffen, weil ich den brauch, weißt du eh.«
Tonis erster Appetit schien auch gestillt, sie aß langsamer und reichte jedem der Hunde abwechselnd einen Bissen von dem Strudel.
»Du sollst den Hunden nichts Süßes geben«, rügte Seppi. »Ich möchte wissen, wie oft ich dir das schon gesagt hab.«
»Tausendmal mindestens. Und es kriegt auch jeder nur zwei winzig kleine Stückerl. Nur so fürs Herz. Damit sie nicht zuschauen müssen.«
»Zuschauen! Ich hab gesehen, was die heut gefressen haben, wie wir von der Pirsch kamen. Ich dachte, sie platzen.«
Auch wenn sie sich anscheinend über den Besuch eines Unbekannten gefreut hatten, vonnöten war er den Geschwistern nicht. Sie unterhielten sich prächtig miteinander. Sie verstanden sich, liebten sich vermutlich, kabbelten sich und waren mit sich und ihrem Leben rundherum zufrieden. Diesen Eindruck jedenfalls gewann Richard während der ausgedehnten Jause, die mit einem großen Himbeergeist für jeden abgeschlossen wurde.
Als die Flasche auf den Tisch kam, schien sich das Mädchen Toni erstmals wieder auf den fremden Mann zu besinnen.
»Wer sind Sie eigentlich? Und wie kommen Sie hier herauf?« fragte sie ohne Umschweife.
»Das möchte ich auch gern wissen«, murmelte Marika, und es klang ein gewisses Misstrauen aus diesen Worten.
Aber so schnell brachte Richard die verlangte Auskunft nicht an, denn Seppi vermutete: »Wenn er eine Gehirnerschütterung hat, weiß er vielleicht gar nicht mehr, wer er ist und wo er herkommt.«
»Wenn er eine Gehirnerschütterung hat, müsste er sich hinlegen.«
»Siehst es. Du bist mir eine schöne Krankenschwester.«
»Der Strudel hat ihm jedenfalls geschmeckt«, konstatierte Marika, und Richard, leicht verzweifelt um sich blickend, meinte: »Ich habe keine Gehirnerschütterung. Nur ein wenig Kopfschmerzen, und die sind auch schon besser geworden, dank der Tablette und dem guten Kaffee.«
Marika nickte befriedigt, und Seppi stellte fest: »Ich weiß auch, warum er sich jetzt umschaut. Er schaut nach Zigaretten.«
»Die kriegt er auf keinen Fall«, fuhr Toni auf. »In seinem Zustand kommt das überhaupt nicht infrage.«
»Lass es ihn doch versuchen. Verträgt er sie, kann es nicht so schlimm mit ihm sein.«
Sie sprachen über ihn wie einen Gegenstand, fand Richard, oder, noch besser ausgedrückt, wie über ein neues Spielzeug, mit dem sie sich unterhielten. Irgendwie fanden sie ihn komisch, mit oder ohne Gehirnerschütterung, und im Grunde interessierte es sie nicht im Geringsten, wer er war und was er hier suchte.
Das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich wieder. Wie ein Rasender war er von Salzburg weggefahren, ein Jäger auf der Spur, blindlings und töricht obendrein. Statt sein Wild zu stellen, saß er nun mit diesen beiden verspielten Kindern am Kaffeetisch und wusste keineswegs, ob er die richtige Spur verfolgt hatte oder ob er total in die Irre gefahren war.
Er nahm die Zigarette, die Seppi ihm anbot, aber der erste tiefe Zug machte ihn schwindlig. Trotzdem unterdrückte er den Wunsch, die Zigarette sofort wieder auszudrücken, denn Toni beobachtete ihn lauernd.
»Sie haben mich gefragt, wer ich bin und wie ich hierherkomme. Mein Name ist Richard Gorwess, ich bin Amerikaner, und heute komme ich aus Salzburg.«
Weiter kam er vorerst nicht. Ausrufe des Erstaunens, des Entzückens, der Bewunderung wurden laut, und die beiden jungen Leute hatten zunächst wieder ausreichend Stoff für ihren Wechselgesang.
»Aus Salzburg! Sagen S’ nur! Sind Sie am End bei den Festspielen herunt?«
»Ein Amerikaner! Hört man ihm gar nicht an. Er spricht fabelhaft deutsch.«
»Was haben Sie denn gesehen bei den Festspielen?«
»Wieso spricht er so gut Deutsch, wenn er Amerikaner ist? Die lernen doch meist keine Sprache ordentlich.«
»Waren Sie im Rosenkavalier? Ich war bei der Premiere drunten. Ach, der Karajan. Ich leb und ich sterb für den Karajan.«
»Ach, geh, du mit deinem Karajan. Dies Jahr ist die Cosi das Beste. Die Cosi unter Böhm. Sagen Sie bloß, Sie waren da nicht drin. Das müssen Sie einfach gehört haben.«
»Als Amerikaner wird er das doch nicht richtig verstehen, da fehlt ihm ein Organ dafür.«
»Wieso denn? Mensch ist Mensch. Musik kann jeder verstehen, wenn er Musik versteht.«
»Du redest einen Schmarrn daher. Hörst du dir eigentlich manchmal selber zu?«
»Ach, halt doch dei Goschn, ich mein genau, was ich sag. Das Menschsein fangt an mit der Musik. Stimmst mir da zu?«
»Schon. Nur …«
»Sagen wir, ein Mensch hört nicht, was Mozart ist, dann ist er für mich kein Mensch. Aus. Ist er gar nicht vorhanden. Weiß ich gar nicht, wozu er überhaupt lebt. Oder bist anderer Meinung?«
»Nein, bin ich nicht. Nur wissen viele Leute gar nicht, dass sie keine Menschen sind.«
An dieser Stelle musste Richard laut lachen. Der Dialog der Geschwister war in seiner Art so einmalig, dass er es bedauerte, kein Bandgerät laufen zu haben. Das hätte er seinen Studenten gern vorgespielt. Nur verstanden sie leider kein Deutsch, um in den vollen Genuss dieses Meinungsaustausches zu kommen, eine Übersetzung würde da wenig helfen. Wie sich die beiden maßen, mit blitzenden Augen und vor Eifer roten Backen, die Umwelt schienen sie wieder einmal total vergessen zu haben.
Bei alledem kam es Richard so vertraut vor, was er hörte. Sicher, Tonfall und Formulierung waren anders, aber was den Inhalt des Gespräches anging, so hätte seine Mutter ohne Weiteres mit am Tisch sitzen können. Genau dieser Meinung war sie stets gewesen: Wer Musik nicht hören kann, ist überhaupt kein Mensch. Wozu lebt der überhaupt?
Sie hätte es nicht so radikal ausgedrückt, aber in der Sache wäre sie mit Toni und Seppi einig gewesen. Sein Lachen hatte den Dialog gestört, sie besannen sich wieder auf ihn.
Marika schüttelte den Kopf und sagte mahnend: »Aber Kinder, ihr benehmt euch …«
»Waren Sie übrigens am 3. August in der Ersten Brahms?« wollte nun Seppi unbedingt noch wissen. »Waren S’ drin, Herr … eh, … Richard … eh, waren S’ da drin? Es war fulminant. Fulminant.«
»Da hast du mich nicht mitgenommen«, sagte Toni vorwurfsvoll, »da warst mit dem faden Waserl drin, und die hat bestimmt nix davon verstanden, die redet dir doch bloß alles nach. Denkst, das weiß ich nicht?«
»Mir bekannt, dass du sie nicht magst. Weil du eifersüchtig bist. Aber dass sie gar nix versteht, kannst net sagen. Ich geb mir ja Müh, ihr was beizubringen. Wenn ich sie nicht mitnehm, kann sie’s nicht lernen.«
»Und dafür muss ich daheim bleiben. Der Schneiderhan mit dem Mozart-Violinkonzert. Die Erste Brahms. Und ich darf nicht mit, weil du dich als Lehrmeister aufspielen musst. Mit der kannst du genauso gut zu die Schrammeln gehn, das ist für die eh eins.«
»Toni, ich hab dir schon oft genug gesagt, du sollst dich nicht in meine Privatangelegenheiten einmischen!« Er sprach jetzt hochdeutsch. »Es geht dich nämlich gar nichts an, mit wem ich … und überhaupt bist du ungerecht gegen Margot.«
»Mir ist sie wurscht, deine Margot. Heirat sie doch, dann wirst schon sehen, was du hast. Ha! Ich lach mich kaputt, wenn du mit der geschlagen bist. Ich gönn sie dir. Verstehst? Ich gönn sie dir von Herzen.«
Das Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen, beschäftigte die beiden jedoch mit steigender Erbitterung eine erhebliche Weile. Richard schwieg und wartete ab. Irgendwann würden sie ja wohl auch mit dieser Margot zu einem Ende kommen. Er streichelte den Kopf des Schäferhundes, der sich neben ihn gesetzt hatte, und fragte plötzlich in ihren Disput hinein: »Geht der auch mit auf die Jagd?«
Mit dieser Frage brachte er sie glücklich zum Verstummen. Sie sahen ihn an, als hätten sie ihn nie gesehen, dann blickte Toni ärgerlich auf ihren Hund und rief streng: »Carlos, da geh her!« Sodann im Ton tiefster Verachtung zu Richard: »Natürlich nicht.«
»Carlos ist der persönliche Beschützer meiner Schwester«, klärte Seppi den Gast auf. »Sie hat ihn immer und immer dabei. Nur nicht bei der Jagd. Dazu ist er nicht abgerichtet, dafür haben wir andere Hunde. Aber sonst ist Carlos stets ihr Begleiter.«
»Im Rosenkavalier auch?«
Jetzt hatte er sie wirklich mal geschlagen. Große Pause. Fermate.
Marika hob die Flasche.
»Noch ein Stamperl?« Ihre Stimme klang amüsiert.
Toni nickte, Seppi nickte, sie blickten einander an, und erstmals schien ihnen der Redestoff ausgegangen. Auch lag der Ärger wegen Margot noch in der Luft.
Als die Gläser gefüllt waren, hob Richard das seine und sagte lässig: »Cheers!«
Abermals staunende Blicke, dann flüsterte Toni andächtig: »Am End ist er wirklich ein Amerikaner.«
Richard lächelte und hielt ihren Blick eine Weile fest. Große rehbraune Augen, schimmernd wie die eines Kindes.
»Ich bin Amerikaner. Allerdings deutscher Herkunft, also mit deutschen Eltern, und daher spreche ich auch einwandfrei deutsch. Ich bin in den Staaten aufgewachsen, das heißt, ich bin mit neun Jahren dahingekommen, aber da in meinem Elternhaus ausschließlich deutsch gesprochen wurde, ist Deutsch meine eigentliche Muttersprache.«
»Das finde ich aber sehr vernünftig von Ihren Eltern«, sagte Toni artig. »In der Schule haben Sie englisch gesprochen, zu Hause deutsch. Auf diese Weise sind Sie zweisprachig aufgewachsen. Sixt, Seppi, so was ist praktisch.«
»Ihre Eltern waren demnach Emigranten?«
»Ja. Sie sind 1938 von Deutschland fortgegangen.«
»Da fing’s ja grad bei uns richtig an.«
»Das kannst net sagen, Nazis hatten wir schon lang vorher.«
»Aber die Deutschen sind im achtunddreißiger Jahr einmarschiert.«
»Aber den Dollfuß habens’ schließlich schon im vierunddreißiger Jahr umgelegt.«
»Na ja, aber trotzdem hatten wir da noch keine Naziregierung. Wenn man bedenkt …«
Diesmal griff Richard ein, sonst entspann sich abermals ein endloses Palaver zwischen den beiden, diesmal über die Nazis, von denen die beiden, jung wie sie waren, sowieso nicht viel wissen konnten.
»Heute lebe ich in Kalifornien«, sagte er laut. »In Santa Barbara.«
»Klingt hübsch«, meinte Toni höflich. »Da haben Sie sicher meist schönes Wetter.«
»Meist. Und ich bin Musikwissenschaftler. Ich unterrichte Musikwissenschaft an der Universität von Santa Barbara. Das beantwortet wohl auch die Frage, ob ich von Musik etwas verstehe. Und mithin als Mensch gelten kann.«
Er erzielte ungeheuren Eindruck.
»Ein Professor! Was sagst!«
»Ein Musikwissenschaftler! Dem brauchst du was zu erzählen vom Rosenkavalier?«
»Na, und du von deiner Cosi. Die kann er vermutlich mitsingen. Hast du gewusst, dass es Musikwissenschaftler in Amerika gibt?«
»In Amerika gibt’s alles. So ein großes Land.«
»Ich hab immer geglaubt, Amerikaner verstehen nix von Musik.«
»Er ist ja kein richtiger Amerikaner.«
»Na schon, aber wenn er doch so was lehrt an einer Universität, muss er doch ein paar Hörer haben. Haben Sie viele Studenten in diesem Fach, Herr … eh …«
»Gorwess war der Name. Richard Gorwess.«
Er sprach den Namen jetzt absichtlich breit amerikanisch aus, und Toni wiederholte beeindruckt: »Ritschaad!«
»Ich habe alles gesehen und gehört, wovon Sie sprachen. Ich war in Cosi fan tutte, ich war im Rosenkavalier, ich war in der Elektra, auch in der Ersten Brahms, es war wirklich fulminant, wie Sie es nannten. Und ich habe noch den Figaro, die Zauberflöte und ein Konzert vor mir.«
Tiefes Schweigen am Tisch.
Dann Toni: »Allerhand. So viele Karten kriegen wir nie. Könnten Sie mich nicht mitnehmen in den Figaro? Der Fischer-Dieskau singt, also für den leb ich und sterb ich …«
»Toni!«
»Ich mein halt bloß. Kann ja auch sein, er mag gar nicht gehen mit seinem lädierten Kopf.«
»Und da nimmst du ihm gleich die Karten ab, die er noch hat. Das sieht dir ähnlich.«
Sie waren drauf und dran, wieder ein langes Duett vom Stapel zu lassen, da griff sehr bestimmt Marika ein. Sie hob die Hand, blickte die Geschwister streng an, worauf beide sofort verstummten.
»Das wissen wir nun alles«, sagte sie. »Aber ich möchte gern noch wissen, wieso der Herr heute hier heraufgekommen ist.«
»Na ja, klar«, rief Toni. »Wieso eigentlich?«
»Ich bin heute Vormittag von Salzburg weggefahren, auf der Suche nach dem Sarissertal«, sagte Richard. Was der Wahrheit nicht entsprach, er war von Salzburg weggefahren, um Boris zu verfolgen.
Erst hatte er an Gespenster geglaubt. Dann an eine Sinnestäuschung. Wenn man immerzu an einen Menschen dachte, konnte man sich schließlich einbilden, ihn zu sehen. Aber sein Kopf war klar gewesen, da gab es noch keine Spur einer Gehirnerschütterung.
Vor zwei Tagen, im Großen Festspielhaus, Rosenkavalier. Eine Traumaufführung, Karajan am Pult, die herrliche Schwarzkopf als Marschallin.
Als es zu Ende war, ging er inmitten einer berauschten und begeisterten Menschenmenge die Treppe zum Vestibül hinab und überlegte gerade, ob er der Einladung zum Essen in den Hirschen folgen oder lieber einen einsamen Spaziergang machen sollte, um die herrliche Musik, die wundervolle Inszenierung noch eine Weile auf sich wirken zu lassen, statt durch Reden abgelenkt zu werden. Allerdings – hungrig war er nach der langen Oper doch, und später würde er wohl nichts mehr zu essen bekommen. Er hatte nur einen kleinen Lunch gehabt, war dann zum Schwimmen am Wallersee gewesen.
In solche Überlegungen versunken, stieg er langsam die Stufen hinab, ließ den Blick umherschweifen, bewunderte, wie jedes Mal im Festspielhaus, die wundervollen Roben der Damen, sah nackte, glatte Schultern, schimmerndes Haar – und plötzlich, von der halben Treppe aus, erblickte er sie unten im Vestibül, schon nahe einer der hohen Türen.
Da war Boris. Und an seiner Seite Britta.
Boris, kein Zweifel. Der lange, schmale Kopf, die hohe Stirn unter dem gelichteten Haar, der ausgeprägte, fast ausladende Hinterkopf, allerdings kein Bart mehr. Und daneben ihr hochmütiges Profil, das rote Haar. Sie trug etwas Grünes, eine Schulter war frei.
Erst blieb er stehen, wie erstarrt, dann drängte er sich, Entschuldigungen murmelnd, hastig treppab durch die Menge. Aber bis er unten war, bis er zu den Ausgängen kam, fand er natürlich nicht mehr, was er suchte. Die Straße voll von Menschen, Polizei, Autos, ein paar Busse und überall die wehenden, wallenden Kleider der Frauen.
Er stand und starrte rechts und links die Gasse entlang. War das ein Phantom gewesen? Eine Fata Morgana? Hatte er Boris und Britta gesehen oder nicht?
Wenn sie in Salzburg waren, hätte er ihnen längst begegnen müssen. Dann wären sie wohl auch in einer der anderen Vorstellungen gewesen.
Wieso, warum? Man konnte sehr wohl zu einer Vorstellung gehen und dann wieder abreisen. Sie konnten auch gerade erst angekommen sein, und er sah sie an einem anderen Abend wieder. Aber diese Fragen waren nicht entscheidend. Die Frage, die nicht zu beantworten war, lautete: Wie kamen Boris und Britta, die beide in der DDR lebten, beide hinter dem Eisernen Vorhang, beide hinter der Mauer – wie kamen sie nach Salzburg?
Die Frage war lächerlich. Für Boris hatte es den Eisernen Vorhang nie gegeben, warum sollte es die Mauer für ihn geben? Boris war ein Spion, das hatte Richard immer vermutet, das hatte Carol angedeutet. Boris war immer gereist, wohin er wollte. Der Weg in den Westen stand ihm zu jeder Zeit offen. Auch die Mauer würde ihn nicht hindern.
Und wenn er Britta mitnehmen wollte, dann nahm er sie eben mit.
Als Richard in Berlin war, hatte er Britta nicht angetroffen. Sie sei zu Filmaufnahmen in Moskau, hieß es. In ihrer Wohnung traf er keinen an, auf seine Briefe bekam er niemals Antwort. Und von Boris keine Spur.
Richard stand vor dem Festspielhaus, die Leute verliefen sich langsam, die Straße wurde ruhig.
Er ging dann doch in den Hirschen, ein befreundetes Ehepaar aus Los Angeles hatte ihn zum Abendessen eingeladen. Sie waren alle so nett zu ihm, immer bemüht, ihn zu trösten, für ihn zu sorgen, sich um ihn zu kümmern.
Das war vor zwei Tagen gewesen. Und seitdem streifte er durch Salzburg, durch alle Gassen, zur Burg hinauf, an der Salzach entlang, ging in alle Lokale. Wenn sie noch hier waren, musste er sie eines Tages sehen.
Und heute – war es wirklich erst heute gewesen? –, heute fuhr er mit seinem Wagen im dichten Verkehr am Österreichischen Hof vorbei, der Verkehr stockte, vorn war eine rote Ampel, er stand, wandte den Kopf, und aus dem Hotel, geleitet von einem Pagen, trat Boris.
So deutlich zu erkennen, ein Irrtum war nicht mehr möglich. Richard war nahe daran, den Wagen mitten auf der Straße stehen zu lassen, auszusteigen und den Mann zu stellen. Oder seinen Doppelgänger.
Der Mann, in dem er Boris erkannt hatte, bestieg einen beigefarbenen Mercedes, der Page schlug die Tür zu, er fuhr in die andere Richtung, und hinter Richard hupte es, die Ampel vorn stand auf Grün, er behinderte den Verkehr.
Er wendete, sobald er konnte, fuhr zurück zum Österreichischen Hof, brauchte ewig, bis er eine Lücke fand, wo er den Wagen lassen konnte, setzte ihn schließlich schräg auf den Bürgersteig.
Der Portier im Hotel schüttelte den Kopf.
»Ein Herr Boris Jaretzki? Bedauere, der wohnt hier nicht.«
»Aber ich habe ihn gerade gesehen. Er hat vor wenigen Minuten das Hotel verlassen und bestieg einen hellen Mercedes. Ein Page brachte ihn hinaus.«
Er beschrieb den Mann, so gut er es vermochte, und der Page, der in der Nähe stand, sagte: »Der Herr meint den Herrn Decanter, denke ich mir.«
»Ach so, der Herr Decanter. Gewiss, der war grad hier.«
»Decanter?« Richard hatte den Namen nie gehört.
»Und dieser Herr Decanter, wohnt er hier?«
»Bedauere, nein. Früher hat er stets bei uns gewohnt. Jetzt wohnen die Herrschaften in Schloss Fuschl draußen. Der gnädigen Frau war es zu laut in der Stadt.«
Er stand wieder auf der Straße und überlegte.
Dekanter. Decanter. Deganter. So ähnlich hatte der Name geklungen. Und der Mann, von dem er nicht wusste, wie sein Name sich schrieb, sah aus wie Boris. Eine gnädige Frau war auch dabei. Britta.
Der Mann hatte ihn gesehen. Ihre Blicke hatten sich gekreuzt. Keine Bewegung in diesem Gesicht hatte gezeigt, dass er Richard erkannt hatte. Aber das wollte nichts bedeuten. Boris war immer Herr seiner selbst.
Richard fuhr hinaus zum Fuschlsee, und nun, schon gewitzt, fragte er nach Herrn Decanter.
Herr Decanter sei soeben abgereist, hieß es. Überraschend? Ja, ganz überraschend.
Das war der Beweis. Es war Boris, und er hatte Richard erkannt.
»Wissen Sie zufällig, wohin er gefahren ist?«
»Bedauere.« Das höfliche Achselzucken des Portiers war von einem leicht erstaunten Blick begleitet. Man pflegte Fremden nicht über die eigenen Gäste Auskunft zu geben.
Richard lächelte mühsam, steckte sich eine Zigarette an, nicht gewillt, so leicht aufzugeben.
»Wie schade! Mr. Decanter ist ein alter Freund von mir, you see? Wir haben uns lange nicht gesehen, und er sagte mir vor zwei Tagen im Festspielhaus, dass er hier bei Ihnen wohnt, ich solle ihn einmal besuchen. Wir trafen uns im Rosenkavalier, you know.«
Er sprach jetzt mit deutlich amerikanischem Akzent, das wirkte manchmal. Nicht im Salzburgischen, da wimmelte es von Amerikanern. Der Portier drückte noch einmal sein Bedauern aus, aber er habe keine Ahnung, wohin die Herrschaften gefahren seien.
Doch dann fiel das Wort Sarissertal.
Ein Gast des Hotels, der gekommen war, seinen Schlüssel zu holen, hatte das Gespräch mit angehört.
Der Herr war offenbar Berliner, er blickte den Amerikaner interessiert an und sagte rasch: »Wenn ich Ihnen behilflich sein kann, soviel ich weiß, wollte Herr … Decanta in das Jagdschloss im Sarissertal.« Auf den erstaunten Blick des Portiers hin fügte er verlegen hinzu: »Er sprach jedenfalls gestern Abend in der Bar davon.«
»Oh, vielen Dank«, sagte Richard, »thank you so much. Und wie hieß dieses Tal? Wo, sagten Sie, befindet es sich?«
Das wusste der Mann allerdings nicht. Sarissertal oder Sarissatal, so ähnlich hatte der Name gelautet.
Der Portier wusste es auch nicht. Er meinte, wenn der Herr Decanter zur Jagd gehen wolle, müsse dieses Tal wohl irgendwo in den Bergen liegen.
Richard fuhr los. Sinnlos, wie er bald einsah. Er fragte hier und da, bekam niemals eine brauchbare Auskunft. Am Mondsee erst wusste einer: »Mei, da san S’ ganz falsch«, gab eine langatmige Beschreibung, der Richard zu folgen versuchte. Und fuhr weiter.
Jetzt saß er hier, und ob dies das Sarissertal war, wusste er eigentlich noch immer nicht. Ein Jagdschloss jedenfalls war da, seinetwegen auch ein Jagdhaus. Und da waren diese beiden verspielten Geschwister und die alte Frau, die ihn wachsam beobachtete und niemals eine klare Auskunft gab.
Ganz plötzlich kam Richard zu der Erkenntnis, wenn jemand hier etwas wusste, dann Marika. Aber es schien unmöglich, an sie heranzukommen. Einen Herrn Decanter gebe es hier nicht, das hatte sie schon am Nachmittag gesagt, als er kam. Den Namen Boris hatte er bisher nicht ausgesprochen.
Er war gefangen in diesem Haus, sein Wagen lag ein Stück bergab in der Gegend herum, und wenn der Jäger wirklich heute Nacht mit dem Landrover heraufkam, würde er vermutlich draufbrummen. Dann waren beide Wagen hin, und alles in allem kam sich Richard Gorwess aus Santa Barbara im Staate Kalifornien in dieser späten Nachmittagsstunde – oder frühen Abendstunde, wie immer man das nennen wollte – wie ein kompletter Idiot vor. Normalerweise säße er jetzt in der Ariadne, wieder Böhm, und von Musik verstand er eine Menge, war also in den Augen dieser jungen Leute ein Mensch. Das verdankte er seiner Mutter und seinem Vater. Nur verstand er überhaupt nicht, was hinter dieser verdammten Mauer vor sich ging, warum er eigentlich hier in diesem verdammten Bergtal war, wie immer es auch hieß.
Er schob Marika das leere Glas hin, sie füllte es bis zum Rand, er goss es achtlos hinunter, sein dritter Himbeergeist.
Toni blickte ihn besorgt an und meinte: »Ich gönn’s Ihnen ja von Herzen, ich weiß nur nicht, ob es gut ist für Ihren Kopf.«
Und Franz Joseph, genannt Seppi, sagte: »Lass ihn doch. Ist eh wurscht. Wir schlafen noch ein Stückerl, dann sind wir wieder okay.«
»Und warum, Mr. Gorwess«, fragte Marika klar und deutlich, »warum sind Sie nun wirklich heute hier heraufgekommen?«
Sie war hartnäckig, das musste man ihr lassen.
Richard starrte sie an, schob ihr das Glas wieder über den Tisch.
»Was suchen Sie denn hier bei uns heroben?«
Richard nahm das neu gefüllte Glas, hob es aber nicht an die Lippen, ließ es vor sich stehen.
»Ich suche den Mörder meiner Frau«, sagte er.
Es war ein Volltreffer.