Wolkentanz - Utta Danella - E-Book
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Utta Danella

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Beschreibung

Mecklenburg im Mai 1945. Der Krieg ist gerade vorbei, da findet der Bauer Jochen im See eine fremde Frau und rettet sie vor dem Ertrinken. Da sie nach einer Vergewaltigung ein Kind erwartet, wollte sich die schöne Schauspielerin Constanze das Leben nehmen. Jochen und Elsgard, seine Frau, nehmen sie auf und überreden sie, das Kind zur Welt zu bringen. Die kleine Cordelia ziehen sie als ihre eigene Tochter auf. Durch die Bodenreform verlieren sie jedoch ihren geliebten Hof. Auch die Familie von Renkow, auf deren Gut Elsgard aufwuchs, muss sich eine neue Heimat suchen. Der Roman schildert eindringlich das Schicksal der beiden Familien bis in die 68er-Jahre, in Mecklenburg, Berlin, München und im Münsterland. Ein bewegendes Stück Zeitgeschichte vor dem Hintergrund der faszinierenden Welt von Film, Theater und Ballett!

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Seitenzahl: 873

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Utta Danella

Wokentanz

Roman

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Utta Danella: Wolkentanz. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1969 im Knaus Verlag, München/Berlin erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von Max Rewinski/shutterstock.com

ISBN: 978-3-957-51352-6

www.ava-international.de

www.uttadanella.de

I Der Osten

Mai 1945

Der Bauer Jochen Lumin geht im Morgengrauen hinüber zum See, zieht das flache Boot aus dem Holzverschlag, legt die Angel ein und treibt dann langsam am Schilfgürtel entlang, sichernd nach allen Seiten. Kann immerhin sein, dass plötzlich aus dem Wald Schüsse fallen.

Er möchte gern ein paar Schwänze fangen, es ist kaum mehr Essbares im Haus, kein Brot, kein Fleisch, keine Kartoffeln. Zwar sind noch Kartoffeln in der Miete, doch die lässt man zunächst lieber, wo sie sind. Das Geräucherte und der Topf mit dem Schweinefett sind im Keller versteckt, hinter den Kohlen, die bleiben besser auch dort. Ein Ei hat er gestern im Stroh gefunden, obwohl kein Huhn mehr lebt auf dem Hof, seit vor zwei Tagen ein Trupp Russen durchgezogen ist.

Jochen verzieht den Mund zu einer müden Grimasse. Doch, der Hahn und zwei alte Hennen leben noch.

Der Hahn ist klug, er hat sich in die Luke über dem Kuhstall geflüchtet, als er die Schüsse hörte, und seine beiden Lieblingsfrauen, ihm gehorsam wie immer, sind ihm gefolgt. Den anderen Hühnern wurde der Hals umgedreht.

Der Hund war dumm. Jochen hatte ihn von der Kette gelassen und versucht, ihn in den Wald zu jagen. Doch der Hund lief nicht fort, er stürzte sich wütend bellend den Fremden entgegen, ein Schuss streckte ihn nieder. Er war nicht gleich tot, er starb zwei Stunden später, den Kopf in Elsgards Schoß gebettet.

Der Hund war treu und brav gewesen, er war zur Jagd abgerichtet, er lief fast immer frei herum, Jochen hatte ihn nur an die Kette gelegt, damit er nicht in den Wald lief, um Wali und den Hengst zu suchen, denn er vermisste die beiden, sie gehörten zu seinem Leben.

Ich hätte ihn ins Haus sperren sollen, denkt Jochen auf dem See. Aber es ging so schnell, plötzlich waren sie da.

Im Schilf quaken Enten, die er gestört hat, und dann streichen mit schrillem Schrei zwei Wildgänse über dem See ab. Jochen schlägt den Kragen seiner Jacke hoch, es ist bitterkalt an diesem Morgen. Er starrt in den milchig grauen Morgendunst, dann wirft er die Angel aus.

Was heißt, plötzlich waren sie da. Wir wissen schließlich, dass sie da sind, hier und dort und rundherum. Schüsse hat man öfter gehört, es können genauso gut Jäger oder Wilddiebe sein. Kanonen jedenfalls haben wir nicht gehört, nicht hier bei uns. Ist der Krieg nun aus? Und was machen sie mit uns, die Russen, die Polen, die Amerikaner? Was machen sie mit uns, die Sieger? Werden sie uns töten, meine Frau vergewaltigen, meinen Hof anstecken, meine Felder verwüsten, meine Tiere abstechen? Meinen Hund haben sie erschossen.

Er blickt hinüber zum Wald, der hinter der großen Wiese begann und sich um den See bog.

Der Wald war groß, erst ein lichter Buchengürtel, dann wurde er dicht und dunkel, Tannen, Föhren, Kiefern, dort herrschten die Tiere, das Rotwild, das Schwarzwild, die Füchse, die unzähligen Vögel. Nur ein schmaler Pfad führte zum Gut.

Im Haus waren sie natürlich auch, hatten alles mitgenommen, was da lag und stand, die Teller, die Tassen, den großen Suppentopf, das Brot, den Schinken, das letzte Stück Wurst. Die Bilder von den Wänden gerissen, darunter das Bild seines Vaters in der Uniform der Kaiserlichen Kürassiere. Das Bild war mit einem schwarzen Band geschmückt, denn Jochens Vater war im vorigen Krieg gefallen. Das schwarze Band hatte Jochens Mutter angebracht, und es war dort geblieben seit mehr als dreißig Jahren.

Im Schlafzimmer durchwühlten sie die Federbetten, schmissen sie auf den Boden und erschreckten Susu, die graue Katze, die dort schlief. Sie fauchte wütend und rettete sich mit einem Sprung aus dem Fenster.

»Du Uhr?«, schrie einer der Russen und drehte Jochens lahmes Handgelenk um, doch Jochen besaß keine Armbanduhr. Darauf hatten sie die alte Wanduhr heruntergerissen, sie stammte auch noch vom Vater. Ein paar waren ins Gesindehaus gelaufen, doch da war keiner mehr, die Mägde und Knechte alle verschwunden.

Elsgard war nichts geschehen. Sie kam aus dem Kuhstall, das Haar unter einem Kopftuch versteckt, das Gesicht mit Kuhmist verschmiert. Sie hatten von den Flüchtlingen erfahren, dass die Russen Frauen vergewaltigen.

»Sind sie weg?«, fragte sie und blickte furchtsam rundum.

»Es scheint so.«

»Waren es Russen?«

»Ich weiß nicht. Ein paar hatten Uniformen an, die anderen bloß so Lumpen.«

Elsgard streifte das Kopftuch vom leuchtend blonden Haar.

»Sie sind weg«, wiederholte sie. »Die Ersten, die bei uns waren.«

»Die Nächsten werden schon kommen.«

»Sie waren nicht bei mir im Stall.«

Im Stall waren die neun Kühe, die ihnen geblieben waren, und drei Kälber.

»Einer war bei den Pferden.«

»Um Gottes willen!«

Sie liefen beide zum Pferdestall. Die Stute und das Fohlen waren unversehrt, auch die anderen vier Pferde kauten friedlich an ihrem Heu. Als sie aus dem Stall kamen, sah sie den Hund.

»Was ist mit Mutz?«

»Sie haben auf ihn geschossen.«

»O nein!«

Sie trugen den sterbenden Hund ins Haus, legten ihn vorsichtig nieder. Elsgard setzte sich neben ihn auf den Boden, nahm seinen Kopf in die Hände.

»Mutzi«, flüsterte sie. »Mutzi! Hörst du mich? Sieh mich an, Mutzi!«

Der Hund hob mühsam den Kopf und leckte über ihre Hand.

»Der Fluch Gottes soll sie treffen«, sagte Elsgard.

»Gott flucht nicht«, sagte Jochen.

Er stand an die Tür gelehnt, sah die beiden an, die er liebte. Die Stute und ihr Fohlen liebte er auch, und am meisten vielleicht den Hengst. Vermutlich würde er ihn nie wiedersehen, er war schon seit Tagen mit Wali verschwunden.

Das Wort Liebe hätte Jochen nie benutzt. Doch er war ein Mann mit starken Emotionen, außer der Frau und den Tieren liebte er seinen Hof, das wilde Heideland, die Wälder, die Seen und vor allem seine Felder, die im ersten Frühlingsgrün prangten, der Roggen war gut angegangen, die Gerste, der Hafer, und nicht mehr lange, da würden die Kartoffeln blühen.

Sein Land, sein Leben. Das Wort Liebe brauchte man dazu nicht. Er hob das Bild auf.

»Mein Vater«, sagte er.

»Dem tut das nicht mehr weh«, sagte Elsgard hart. »Du musst Sellmer holen.« Und gleich darauf: »Aber du kannst jetzt hier nicht weg.« Sellmer war der Tierarzt, bis ins Städtchen waren es sechsundzwanzig Kilometer. Im Dorf konnte Jochen in einer Viertelstunde sein, wenn er das Fahrrad nahm. Vielleicht konnte man den Arzt anrufen, falls das Telefon noch funktionierte. Aber Doktor Sellmer würde bestimmt in diesen Tagen nicht über Land fahren. Er war alt, und es war fraglich, ob er überhaupt noch ein Auto hatte. Sein Opel war nur mühselig über den holprigen Weg getuckert, als er vor sechs Wochen da war, um nach der Stute zu sehen.

»Dat wird gut geihn«, hatte er gesagt und der Stute über den schweren Leib gestrichen.

»Noch ’n Monat oder so. Wenn ich kann, komm ich.«

Es war Ostersonntag gewesen, Jochen wusste es genau.

Dann hatte der Doktor nach dem Hengst gesehen, sein ungeduldiges Schnauben war aus dem Nachbarstall zu hören.

Sie gingen durch die kleine Verbindungstür in den zweiten Pferdestall, in dem der Hengst jetzt allein stand. Früher, vor dem Krieg, als Jochen noch zwölf Pferde hatte, wurden beide Ställe gebraucht. Der Hengst war jetzt still, Wali der Ukrainer stand bei ihm in der Box, den Arm um seinen Hals gelegt. Dann war der Hengst sofort ruhig, friedlich wie ein Lamm.

»Na, ihr beiden«, sagte der Doktor.

»Und, wie steht’s?«, fragte Jochen.

»Ich weiß nicht mehr als du. Du hast ja auch ein Radio. Die Amerikaner sind am Rhein. Das heißt, jetzt sind sie schon in Frankfurt. Die Russen haben Danzig genommen und belagern Königsberg. Sonst sind sie ja woll mit Ostpreußen durch.« Es klang grimmig.

»Wir können nur hoffen, dass die Amerikaner vor ihnen hier sind. Oder die Engländer.«

»Von Danzig her ist der Weg nicht weit«, sagte Jochen.

Nun waren sie also da. Waren sie im Dorf? Lebte dort noch jemand? Sein Hof lag abseits, sehr einsam, eine Straße konnte man das kaum nennen, die hierher führte.

Er blickte auf den Hund, der sich nicht mehr rührte.

»Es geht zu Ende mit ihm«, sagte er.

»Nein! Nein!«, schrie Elsgard. In ihren Augen standen Tränen. Seit Heiners Tod hatte sie nicht mehr geweint.

»Ich bin schuld, ich hätte ihn nicht loslassen sollen. Ich hätte ihn zu dir in den Kuhstall bringen sollen. Aber es ging so schnell. Auf einmal waren sie da. Sie hätten uns auch erschießen können. Dich und die Pferde und die Kühe. Uns alle.«

»Damit werden sie den Krieg auch nicht gewinnen.«

»Sie haben ihn schon gewonnen.«

»Weißt du das so genau?«

»Sie kämpfen in Berlin, das hast du ja gehört. Was soll noch sein, um den Krieg zu gewinnen?«

»Und was wollen wir jetzt tun?«

»Ich müsste ins Dorf gehen und mal sehen, was da los ist.«

»Du kannst mich nicht allein lassen.«

»Ich könnte dir sowieso nicht helfen.«

Der Hund war nun tot, sie schwiegen eine Weile, dann sagte sie: »Es ist mir egal, ob ich sterbe. Wenn Heiner nicht mehr lebt …« Heiner, Heinrich Lumin, ihr einziger Sohn, war im vergangenen Oktober gefallen, schon in Ostpreußen, auf dem Rückzug. Er war gerade achtzehn.

»In Ostpreußen?«, hatte Elsgard geschrien. »Das ist doch Deutschland. Oder nicht?«

»Mein Vater ist auch in Ostpreußen gefallen. Das war gleich 1914. Bei Tannenberg. Das war ein großer Sieg.«

»Ein Sieg!«, schrie Elsgard. »Ist es ein Sieg, wenn Menschen sterben?«

Dann schrie sie nicht mehr. Sie weinte. Und dann weinte sie auch nicht mehr, sie war still und starr und meistens stumm. Zum ersten Mal an diesem Tag, als der Hund starb, hatte sie Gefühl gezeigt.

Später begruben sie ihn hinter dem Zaun des Gemüsegartens.

Versorgten die Tiere, lauschten. Doch es war nichts zu hören, nur das Mailied der Vögel, der Schrei des Kranichs.

Jochen ging dann über die Wiese bis zum Waldrand, sammelte ein, was da noch lag, unter den Buchen fand er zwei der Hühner, denen sie den Hals umgedreht hatten, die aber noch zuckten. Von der Hühnersuppe lebten sie jetzt.

»Wo willst du hin?«, fragte Elsgard, als er abends noch einmal vor die Tür trat.

»Ich kuck bloß.«

Er machte einen Gang über den Hof, dann in den Pferdestall. Vier waren da noch, alt schon, alle anderen waren beschlagnahmt worden.

Beim Drillen im Herbst war es eine mühsame Arbeit gewesen. Ohne die Ukrainer, die stark und kräftig waren, unermüdlich dazu, hätte er es nie schaffen können. Auf jeden Fall brauchte er bis zur Ernte, falls es je eine Ernte geben würde, noch mindestens zwei Pferde. Die graziöse Stute konnte man weder vor einen Pflug noch vor eine Mähmaschine spannen.

»Wozu braucht ’n Bauer wie du so ein Pferd?«, hatte Giercke, der Ortsbauernführer, im Herbst gefragt. »Die werden wir einziehn. Zur Arbeit ist die doch nicht zu gebrauchen.«

»Sie ist auch nicht zur Arbeit da. Nur für den Kutschwagen.«

»Zum Spazierenfahren? Sag mal, du hast woll Spinnen im Kopp. Wer fährt denn jetzt im Kutschwagen spazieren!«

Jochen sah dem Dicken ruhig ins Gesicht. »Meine Frau«, gab er zur Antwort. »Sie hat großen Kummer. Wenn sie mit dem Pferd zusammen ist, wird sie ein wenig abgelenkt.«

»Abgelenkt, so«, äffte Giercke ihn nach, in geziertem Ton. »Abgelenkt! Wer hat denn so was schon mal gehört.«

Mehr sagte der Dicke dann doch nicht, er wusste schließlich, dass die Lumins vor Kurzem die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhalten hatten. Er wusste schließlich auch, dass die Fuchsstute schon länger im Stall stand, genauso wie er wusste, dass sie ein Geschenk vom Gut war, ein Geschenk für Elsgard persönlich, denn sie fuhr nicht nur mit dem alten Kutschwagen manchmal durch die Heide, noch lieber ritt sie mit Dolka am Wald entlang.

»Und der Hengst?«, fragte Giercke noch. »Wozu brauchste den? Spazieren fahren ist da woll nicht.«

»Zur Siegesparade brauchen wir den. Is ja woll bald soweit, nich?«

Das klang bissig.

»Da kannste sicher sein.«

Giercke stiefelte zu seinem DKW. Über die Schulter knurrte er: »Muss mir demnächst mal deine Hafervorräte ansehen, und dein Heu. Musst ja wohl schlecht abgeliefert haben, wenn du zwei nutzlose Pferde mit versorgen kannst.«

Doch der Ortsbauernführer hatte sich seitdem nicht mehr sehen lassen, auch ihm war wohl klargeworden, dass aus einer Siegesparade nichts werden würde und auf was für wackligen Beinen sein Stuhl und möglicherweise sein Leben stand. Er wusste gut genug, dass ihn die Leute nicht leiden konnten.

In der rechten Ecke des Stalls, in der größten Box, stand Dolka mit ihrem Fohlen. Der Kleine, noch etwas wacklig auf den Beinen, trank gerade bei der Mutter.

»Einen schönen Sohn hast du, Dolka. Einen ganz schönen Sohn.«

Die Stute sah ihn ruhig an, in ihren sanften Augen spiegelte sich das Licht der Stalllaterne.

»Ist noch sehr kalt draußen. Wenn es wärmer wird, könnt ihr auf die Koppel.« Jochen überlegte. »Hoffentlich.«

Wie würde das Leben denn weitergehen? Konnte denn alles so sein wie früher? Wenn wieder so eine Horde kam, was könnten sie mit den Pferden tun? Es wäre ein Leichtes gewesen heute Mittag, die Stute und das Fohlen abzustechen, und die Kälber natürlich auch. Zu essen fanden sie allerdings genug, es gab reichlich Wild. Aber benahmen sie sich wie Menschen, waren sie bloß noch auf Tod und Vernichtung aus?

Die Sieger.

Jochen stand vor der Stalltür, sein Herz war voller Bitterkeit. Was hatte er denn verbrochen, er, seine Frau und sein Sohn, der nun tot war. Sein Vater war damals gefallen, sein Sohn in diesem Krieg, und er selbst hatte einen lahmen Arm. Ein Granatsplitter hatte ihm sein Ellbogengelenk zerrissen.

Sein Vater hatte den Kaiser nicht gekannt, er und sein Sohn nicht den Hitler. Der dicke Giercke war seine Bezugsperson zu Partei und Staat gewesen, dick und laut und unverschämt. Und dass die Renkows vom Gut diesen Hitler und seine Partei nicht leiden mochten, das war ihm gut bekannt. Der alte Renkow hatte nie einen Hehl daraus gemacht.

»Dieses Großmaul da in Berlin hat uns den Krieg auf den Hals gehetzt. Verdammt soll er sein in alle Ewigkeit«, das sprach der Alte ganz ungeniert aus.

Sicher war Jochen davon beeinflusst worden, denn für Politik hatte er sich nie interessiert. Früher war er zu keiner Wahl gegangen, erst als Giercke darauf achtete, dass jeder ging – was war das eigentlich gewesen? Irgendwas mit dem Völkerbund im fernen Genf. Ja, und dann etwas mit der Saar, die interessierte ihn auch nicht. Dann war er gegangen und hatte jedes Mal einen leeren Zettel in die Wahlurne gesteckt.

Jochen lebte für seinen Hof, für seine Arbeit, für seine Frau, für seinen Sohn, für seine Tiere. Das war Lebensinhalt genug.

Und dann war Krieg. Und sie hatten ihn schließlich auch wieder eingezogen, als es gegen Russland ging. Russland und die Bolschewiken dort interessierten ihn auch nicht.

Der lahme Arm war indes ganz nützlich, auf diese Weise war er wieder nach Hause gekommen, Bauern waren wichtig, die Ernährungsschlacht, wie sie das nannten, musste auch geschlagen werden.

Mit der Arbeit wurde er trotz des Armes gut fertig. Erst hatte er noch genug Pferde und auch ausreichend Hilfskräfte auf dem Hof. Am tüchtigsten waren die Ukrainer, die aus Menghetten, aus dem ukrainischen Lager, zur Arbeit auf dem Hof abgestellt wurden. Sie mussten am Abend wieder in das Lager zurück, waren in aller Frühe wieder da. Elsgard war gut mit ihnen ausgekommen und Jochen, als er wieder da war, auch.

Waleri, den sie Wali nannten, war dann einfach nicht mehr zum Schlafen ins Lager gegangen.

»Ich bleiben. Ich aufpassen.«

Das bezog sich vor allem auf den Hengst. Waleri liebte ihn mehr als alles auf der Welt, er ließ ihn kaum aus den Augen, schlief bei ihm im Stall und war stolz, als sei er selbst der Vater, als die Stute tragend war.

Im Lager schienen sie ihn nicht zu vermissen, oder seine Kameraden deckten ihn, es kam nie eine Beschwerde.

»Der hat goldene Pferdehände«, sagte der alte Renkow, als er auf einem Ritt bei ihnen vorbeikam. »Den möchte ich auf dem Gut haben, wenn dieser Dreckskrieg vorbei ist.«

Nun war Waleri mitsamt dem Hengst seit Tagen verschwunden, untergetaucht in der Heide, in der Taiga, in den Wäldern.

»Ich nicht zu Russen. Ich lieber tot. Du verstehen?«, hatte er gesagt. »Stalin mein ganzes Volk totgemacht. Erde in Ukraine verdorren gemacht.«

Jochen wusste, dass Wali eine Waffe besaß, einen Drillich. Vermutlich irgendwo gestohlen, er hatte nicht danach gefragt. Er würde sich und den Hengst erschießen, ehe er sich den Russen auslieferte. Das brachte Jochen wieder auf sein Gewehr, das er am Waldrand, bei der dritten Buche rechts, vergraben hatte. Er würde es morgen holen, besser, es war eine Waffe im Haus.

Sie waren ganz allein auf dem Hof, Elsgard und er. Der alte Kumess war im vergangenen Jahr gestorben, die Knechte waren längst eingezogen, und die Mägde hatten in den letzten Wochen nach und nach den Hof verlassen.

»Ist so einsam hier«, hatte Dorte gesagt, die lange Jahre bei ihnen gewesen war. »Im Dorf ist es besser.«

Die Taglöhner, die sonst hier gearbeitet hatten, waren längst verschwunden, der Himmel wusste, wohin.

Ob es im Dorf besser war, wusste Jochen auch nicht. Zum letzten Mal war er vor zehn Tagen dort gewesen, da waren noch keine Russen da. Immerhin wusste er, was inzwischen alle wussten, dass die Russen klauten, was sie kriegen konnten, und die Frauen vergewaltigten.

Im Dorf gab es eine Menge Flüchtlinge, selbst bei ihm auf dem Hof hatten für einige Tage welche gelebt, aber sie waren weitergezogen.

Auf dem Gut hatten sie viele aufgenommen, sicher auch auf dem Schloss bei den Groß-Landecks. Sie erzählten furchtbare Dinge, und dann wollten sie nichts als fort.

»Ihr solltet am besten gleich mitkommen«, hatte eine junge Frau gesagt, das war im Februar gewesen, als Jochen und Els zum letzten Mal auf dem Gut waren.

Eine junge, vielleicht einmal ganz hübsche Frau, nun völlig verbittert.

»Wir hatten auch so ein Gut wie das hier. Größer noch. Meinen Vater haben sie erschlagen. Meine Mutter, meine Schwestern und mich vergewaltigt. Ich bin dann doch mit einem Treck mitgezogen, bei zwanzig Grad Kälte. Wisst ihr, warum?«

»Warum?«, fragte Elsgard.

»Mein Kind. Mein Baby. Es war gerade erst fünf Monate alt. Ich wollte es retten. Sehen Sie es? Können Sie es sehen?«

Els blickte scheu durch den Raum, es war die Halle auf Gut Renkow, drei andere Frauen saßen noch da, schwiegen.

Max von Renkow legte der jungen Frau den Arm um die Schultern.

»Komm, Mädchen. Lass gut sein.«

Aber sie musste reden. Sie redete ununterbrochen weiter.

»Es ist erfroren, haben sie gesagt. Ich sagte, nein, ist es nicht. Es ist ihm nur kalt. Ich habe es fest in die Arme genommen, wollte es wärmen. Aber es war kalt, so kalt. Alles war kalt, ich auch. Ich konnte das Kind nicht wärmen. Dann hat es mir einer weggenommen, einer vom Treck, der auf unserem Wagen saß, und hat es runtergeschmissen. Einfach weggeschmissen. Ich habe geschrien, meine Schwester hat mich festgehalten, eins der Pferde war zusammengebrochen. Und während sie versuchten, das Pferd wieder auf die Beine zu bringen, bin ich vom Wagen gesprungen und bin zurückgelaufen. Zurück, zurück. Und habe mein Baby gesucht.«

Sie weinte nicht, sie sprach unbewegt, ganz monoton.

»Wir kennen die Geschichte«, sagte Renkow. »Komm, Mädchen, trink einen Korn.«

»Und – haben Sie es gefunden?« Elsgard flüsterte nur.

»Ja, ich habe es gefunden«, sagte die junge Frau triumphierend. »Es war kalt und starr. Ich konnte es nicht mehr wärmen. Es war so tot wie ich.«

»Du bist nicht tot«, sagte Renkow. »Du bist hier und lebst. Komm, trink! Du wirst wieder ein Kind bekommen.«

»Mein Mann ist auch tot. Nie wieder will ich ein Kind. Und wenn ich ein Kind im Bauch habe, das die Russen mir gemacht haben, werde ich es erwürgen, sobald es geboren ist. Ich will nie wieder ein Kind zur Welt bringen. Nicht in diese Welt.«

»Du weißt nicht, ob dein Mann tot ist. Er kann in Gefangenschaft sein.«

»Er ist tot. Alle sind tot. Und er soll lieber tot sein als bei den Russen. Sie sollten uns beschützen, sie haben uns verlassen. Sie haben uns verraten. Sie sollen alle tot sein.«

Kurz darauf brachte Renkow Jochen und Elsgard zum Tor.

»Sie redet den ganzen Tag davon. Sie redet immer dasselbe. Ihr Geist ist verwirrt.«

»Es klang eigentlich ganz klar, was sie sprach«, sagte Els.

»Ist ihr Mann gefallen?«

»Das weiß sie nicht. Sie muss aus gutem Stall sein, das hört man ja, wie sie spricht. Sie kommt von einem Gut aus Ostpreußen. Nein, sie hat von ihrem Mann nichts gehört. Er war bei Stalingrad. Also ist er wohl gefallen oder in Gefangenschaft. Sie fühlt sich verlassen und verraten, ihr habt es gehört. Die Männer sind da, um die Frauen zu beschützen. Das ist in diesem Krieg nicht so, das war niemals so. Vielleicht galt es gerade im vorigen Jahrhundert. Solange es Krieg auf dieser Erde gibt, und es gab ihn immer, wurden die Männer von den Siegern getötet, die Frauen vergewaltigt, die Kinder ins Feuer geworfen. Schau mich nicht so entsetzt an, Els. Du hast doch genug Geschichte gelernt. Ich bin noch im Geist des neunzehnten Jahrhunderts erzogen, kann sein, da war es ein wenig besser. Und das zwanzigste? Es ist schlimmer als alles zuvor. Diesmal machen sie es mit Bomben aus der Luft. Beschützen? Nun kannst du keine Frau, kein Kind mehr beschützen. Wisst ihr, wie es in den Städten aussieht? Ich war in Berlin. Ich war in Hamburg. Sie hat schon recht. Frauen und Kinder kann keiner mehr beschützen. Jetzt werden sie durch Bomben getötet.«

»Dass du noch so herumreisen magst«, sagte Elsgard schüchtern.

»Ich muss es wissen. Falls noch ein Mensch am Leben bleibt, muss er wissen, was geschah. Was geschah, was geschieht, im zwanzigsten Jahrhundert nach Christi Geburt. Bomben! Sie haben immer Krieg geführt, sie haben sich immer getötet. Aber Bomben, die vom Himmel fallen? Das ist das Schlimmste, was es je gab. Kein ehrlicher Kampf. Niederträchtiger Mord. Es zeigt, was aus der Menschheit geworden ist.«

Sie standen am Tor, es war kalt an diesem Abend, der Himmel voll von Sternen.

Max von Renkow legte den Kopf zurück.

»Ein schöner Abend, nicht wahr? Sieh die Sterne, Els! Fern und erbarmungslos. Dieselben Sterne, als Caesar nach Gallien zog, dieselben Sterne, als die Franzosen ihre Mitbürger köpften. Wenn es sie etwas anginge, müssten sie über uns lachen, die Sterne. Aber es geht sie nichts an.«

»Was wirst du tun?«, fragte Elsgard.

»Ich bleibe hier. Wenn die Russen kommen, können sie mich auch erschlagen. Wo soll ich hin, Els? Meine Söhne sind tot.«

»Und Inga?«

»Inga ist in Berlin. Vielleicht auch schon tot.«

»Und die da drin?«

»Sie wollen weiterziehen. Nach Westen, nur nach Westen. Sie wollen überall sonst sein, nur nicht hier, wenn die Russen kommen.«

»Nach Westen«, wiederholte Elsgard nachdenklich. »Da ist doch auch Krieg.«

»Überall ist Krieg.«

»Und wie sollen die Frauen das machen? Im Schnee.«

Max von Renkow blickte über den gefrorenen See.

»Mein Kind, ich weiß es nicht. Es sind Versprengte. Sie haben auf irgendeine Weise den Anschluss an ihren Treck verloren. Die eine, die Jüngste, die hinten in der Ecke saß und überhaupt nicht redete, die ist ganz allein losgezogen. Auf ihrem Pferd. Bis das Pferd unter ihr zusammenbrach und am Wegrand verreckte. Und dann ist sie eine Weile planlos durch die Gegend geirrt. Sie würde am liebsten bleiben, sagt sie. Aber sie hat Angst vor den Russen.«

»Die Russen! Die Russen!«, sagte Elsgard ärgerlich. »Man hört überhaupt nichts anderes mehr. Vielleicht kommen sie gar nicht. Unsere Soldaten kämpfen ja schließlich noch. Und im Radio reden sie doch immer von den großartigen Waffen, die sie haben.«

»Stimmt genau. Davon reden sie. Jetzt macht, dass ihr nach Hause kommt, es ist dunkel im Wald, und der Schnee liegt hoch.«

Er beugte sich, er war sehr groß, und küsste Elsgard auf die Schläfe. »Ich könnte sagen, Gott schütze dich. Aber das hilft wohl auch nicht mehr. Gott hat uns auch verlassen und verraten.«

»Das darfst du nicht sagen«, sagte Elsgard erschreckt. Dann dachte sie an ihren Sohn. »Doch, du hast recht. Er hat uns verlassen und verraten.«

»Wirst du den Weg auch nicht verfehlen, Jochen?«

»Ich kenn mich aus, auch in der Dunkelheit.«

»Wer ist bei euch auf dem Hof?«

»Wali, der Ukrainer. Er ist zuverlässig.«

»Ja, ich kenne ihn. Also tschüs denn. Bleibt übrig. Das sagen sie in Berlin, habe ich gelernt.«

Jochen steht vor der Stalltür, es ist dunkel, die Laterne hat er gelöscht. In dem Stall nebenan ist es still. Wo mögen sie sein, der Ukrainer und der Hengst? Wovon ernähren sie sich?

Es ist totenstill. Keine Sterne, der Himmel ist schwer und dunkel, es wird regnen, wenn nicht gar schneien. Ein merkwürdiges Wetter für Mai. Ein passendes Wetter. Warum sollen Sterne am Himmel stehen, warum soll die Sonne scheinen, wenn die Welt untergeht.

Wir sind hier auf einer einsamen Insel, denkt Jochen. Wir wissen überhaupt nicht, was geschieht, was geschehen ist. Aber nun waren die ersten Russen bei uns. Und ich muss zum Gut, ich muss wissen, ob Renkow lebt. Wenigstens er, wenn schon alle anderen tot sind.

Den Hengst hatte Friedrich von Renkow auf den Hof gebracht.

»Ein schöner Bursche, sieh ihn dir an. Mein Vater will ihn legen lassen, wir haben schließlich einen guten Hengst.«

Es war im Frühjahr ’41, Jochen hatte unbegrenzten Heimaturlaub, Personal gab es noch ausreichend auf dem Hof.

Friedrich hielt den Schwarzbraunen am Zügel, der stand ganz brav, verwirrt von der neuen Umgebung, von den Menschen, die ihn umstanden.

»Er heißt Widukind«, sagte Friedrich.

»Oh!«, rief Elsgard. »Wie dieser Sachsenfürst, der Karl dem Großen so lange widerstand.«

Friedrich lächelte ihr zu. »Du hast beim Geschichtsunterricht gut aufgepasst, Els. Es war übrigens die Idee von Alexander, den Hengst so zu nennen. Er meint, wir brauchen in diesem Land unbedingt mal wieder einen, der sich gegen die Obrigkeit auflehnt. Ich kann allerdings nicht finden, dass sich Hitler mit Karl dem Großen vergleichen lässt.«

Jochen stand und betrachtete den Hengst.

»Er ist wirklich wunderschön«, sagte er andächtig.

»Ich könnte ihn reiten«, schrie Els begeistert.

»Oder ich«, überschrie sie Heiner, damals vierzehn.

»Er ist noch nicht einmal angeritten«, bremste Friedrich ihre Begeisterung. »Wenn ich bleiben könnte, würde ich das selber machen.«

»Musst du denn wieder fort? Ich denke, der Krieg ist vorbei.«

»Da denkst du falsch, kleine Schwester. Ich gehe jetzt nach Afrika.

Das hatte sie sprachlos gemacht. Was hatte ein Mecklenburger Gutsbesitzer in Afrika verloren?

In dieser Nacht, allein vor dem Stall, in dem kein Hengst mehr steht, denkt Jochen an Friedrichs letzten Besuch, das war im Oktober ’42. Jochen war das erste Mal verwundet worden, nicht weiter schlimm, und hatte Heimaturlaub für zwei Wochen.

Friedrich kam vom Gut herübergeritten, saß bei ihnen am Tisch, sah aus wie immer in seinen grauen Reithosen und dem karierten Jackett, trank einen Korn, zog die Jacke aus.

»Schön kühl habt ihr es hier. In Afrika ist es so heiß. Grässlich. Kaum zu ertragen.«

»Ist aber doch besser als Russland«, sagte Elsgard. »So viele Soldaten haben sich die Hände und Füße erfroren im letzten Winter. Ist doch besser, du schwitzt ein wenig.«

»Du hast recht wie immer, Els. Was mich betrifft, möchte ich weder da noch dort sein. Soll’n sich doch die Italiener allein in Afrika rumprügeln. Ohne Rommel wären wir sowieso schon längst im Eimer. Immerhin bin ich jetzt Hauptmann. Wenn der Krieg noch lange dauert, werde ich General.«

»Dauert er denn noch lange, Fritz?«

Daraufhin seufzte Friedrich von Renkow, zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Gib mir noch einen Schnaps.« Er trank, setzte das Glas ab. »Er dauert so lange, wie wir uns das gefallen lassen.«

»Wie meinst du das?«, fragte Els.

»Ja, wie meine ich das wohl, kleine Schwester. Wir müssten einen Aufstand machen. Eine Revolution.«

»Eine Revolution? Warum?«

»Um den Krieg zu beenden. Dazu müsste man die Regierung stürzen.«

»Wie du redest!«, sagte Els entsetzt.

»Das machen die Deutschen nicht«, sagte Jochen.

»Da hast du recht, Jochen. Das machen die Deutschen nicht. Sie haben es 1918 gemacht, als es zu spät war. Und später haben sie sich sehr dafür geschämt. Diesmal? Vermutlich nicht, diesmal geht es bis zum bitteren Ende.«

»Aber wir siegen doch immerzu«, sagte Els.

Sie hatten immerzu gesiegt. Das stand in der Zeitung, das verkündeten die Fanfaren im Radio, das bejubelte der Führer dieses Reiches in seinen Reden.

Friedrich von Renkow sah es anders. Mit dem Siegen war es vorbei, und dass dieser Krieg verloren sein würde, genau wie der letzte, darüber waren sie sich von vornherein klar gewesen, er, sein Vater, sein Bruder Alexander.

Sein Schwager allerdings war anderer Meinung. Er gehörte zur Elite der Nazis, verehrte Adolf Hitler und war überzeugt davon, dass Deutschland den Krieg gewinnen würde.

»Du mit deiner Skepsis! Polen, Norwegen, Frankreich, alles in einem Rutsch. Hat es so etwas schon gegeben?«

»Ja, und jetzt machen wir einen Rutsch nach Russland hinein. Mal sehen, wie weit wir da rutschen werden. Man braucht bloß mal an Napoleon denken, dann …«

»Das musste ja kommen. Alle reden jetzt von Napoleon. Das ist immerhin hundert Jahre her.«

»Sogar schon ein bisschen länger.«

»Eben. Und hatte Napoleon vielleicht Panzer, eh? Oder Flugzeuge, wie? Stukas etwa auch? Und hatte er deutsche Soldaten?«

»Soviel ich weiß, hatte er die auch dabei. Apropos – wann willst du dich eigentlich an der Rutscherei beteiligen? Nur mit der großen Klappe?«

Diese Worte trugen ihm einen giftigen Blick seines Schwagers Berthold ein, der einen ruhigen Posten beim Sicherheitshauptamt in Berlin besetzt hielt.

Das war im Sommer ’41, der Feldzug gegen Russland hatte gerade begonnen, und manche dachten, bei Weitem nicht alle, es würde so weitergehen mit der Siegerei.

Alexander, Friedrichs jüngster Bruder, war mit auf diesem Marsch, und Friedrich sagte zu seinem Vater: »Wir werden ihn nicht wiedersehen.«

Der alte Renkow nickte. Er war der gleichen Meinung wie sein Sohn, was den Fortgang und den Ausgang dieses Krieges betraf, und der Blick, den er seinem Schwiegersohn zuwarf, war nicht giftig, sondern voller Hass. Er liebte seine schöne, zarte Tochter von Herzen und konnte nicht verwinden, dass sie diesen widerlichen Kerl geheiratet hatte. Max von Renkow konnte diesen Mann von Anfang an nicht leiden, obwohl er ein großer Blonder mit markanten Zügen war, ein Bild von einem deutschen Mann.

Inga kannte nichts von der Welt, die Männer, die sie kannte, waren wie ihr Vater, wie ihre Brüder. Sie war auf dem Gut aufgewachsen, zusammen mit Elsgard von einem Hauslehrer unterrichtet worden und kam mit vierzehn in ein Mädchenpensionat nach Rostock, wo sie das Lyzeum besuchte.

Eine Freundin aus dem Pensionat, die schon verheiratet war und in Berlin lebte, hatte sie eingeladen. Ihr Bruder Alexander hatte sie nach Berlin gebracht, bei der Freundin und deren Mann abgeliefert und war weitergereist nach London, denn England gehörte seine große Liebe.

Und dann kam Inga zurück, ein paar Wochen später, und hatte sich verliebt. Sie schwärmte von Berlin, was für eine wunderbare Stadt das sei und wie nett die Leute dort wären, sie war im Theater, in der Oper gewesen, nachmittags bei Kranzler und abends in vornehmen Restaurants.

»Ich kann gar nicht mehr verstehen, wie man es hier auf dem Land aushalten kann«, sagte sie und blickte missbilligend von der schlichten Veranda des Guts in das Mecklenburger Land hinaus.

»So«, sagte ihr Vater.

»Man kann sich so gut unterhalten, weißt du. Die Berliner sind ganz anders als die Leute hier.«

»So«, wiederholte der Alte.

»Ich möchte gern in Berlin leben.«

»Aha«, machte ihr Vater. »Und dein Pferd? Und dein Hund?«

»Mein Gott, Vater, einen Hund kann man in Berlin auch haben. Rosmarie hat sogar zwei, sie haben einen wunderschönen Garten an ihrem Haus. Und reiten kannst du überhaupt großartig. Im Tiergarten oder im Grunewald.« Und triumphierend: »Ich bin da geritten.«

»Aha! Mit wem? Mit Rosmarie?«

»Nein, die kann nicht reiten. Mit einem Freund von Albert.«

Albert war Rosmaries Mann.

»Du hattest doch gar keinen Dress dabei.«

»Den hat er mir besorgt.«

»Wer?«

»Na, der Freund von Albert. Er heißt Berthold Schwarz. Ist das nicht ulkig? Wie der, der das Schießpulver erfunden hat.«

Ein Jahr später war sie verheiratet, lebte in diesem großartigen Berlin, und als der Mann aus Österreich die Macht ergriff, wie sie das nannten, machte ihr Mann, dieser Berthold Schwarz, obwohl er das Pulver nicht erfunden hatte, sehr schnell eine große Karriere, denn er war ein alter Kämpfer, ein Parteigenosse mit dem goldenen Parteiabzeichen, und Inga Schwarz, die geborene von Renkow aus Mecklenburg, führte ein glanzvolles Leben, besuchte Premieren, wurde bei großen Festen eingeladen, lernte den Führer kennen und die Größen des Dritten Reiches und hatte alles in allem an nichts etwas auszusetzen. Ihr Mann war treu und zuverlässig, er liebte sie und wurde ein guter Vater für die drei Kinder, die sie bekam. Eine glückliche Familie, ein erfolgreicher Mann in einem gut geleiteten Staat.

So sah es Inga Schwarz.

Sie fiel aus allen Wolken, als der Krieg begann. Es war nach der Ernte, sie war auf dem Gut und hatte ihren jüngsten Sohn dabei, er war gerade ein Jahr.

»Wir haben Krieg? Aber warum denn?«

»Frag nicht mich«, sagte ihr Vater. »Frag deinen Mann.«

»Ich weiß bestimmt, dass Berthold gegen Krieg ist. Sein Vater ist schließlich gefallen. Und überhaupt! Der Führer will auch keinen Krieg. Er hat immer gesagt …«

»Geschenkt!«, knurrte der Alte. »Wir wissen alle auswendig, was er immer gesagt hat. Ein Glück, dass deine Jungen noch so klein sind.«

»Es wird bestimmt nicht lange dauern.«

Ihr Vater blickte sie eine Weile schweigend an.

»Ich habe nicht gewusst, dass du soo dumm bist«, sagte er dann.

Jetzt an diesem Maimorgen auf dem See, seine unbewegliche Fläche schimmert silbern, es wird langsam hell, denkt Jochen an Inga.

Sie war für ihn immer der Inbegriff von Schönheit und Vornehmheit gewesen, in ihrer Gegenwart wagte er kaum den Mund aufzumachen. Was er über sie weiß, hat er von Elsgard erfahren, für die Inga wie eine Schwester ist. Obwohl Elsgard nur die Tochter des Inspektors war, hatte man sie auf dem Gut wie ein Mitglied der Familie behandelt. Es gab da eine schicksalhafte Verbindung. Elsgards Mutter war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben, und Tanja von Renkow starb bei der Geburt ihrer Tochter Inga, das war ein Jahr später.

Ob Inga noch lebt, denkt Jochen. Die Russen sind in Berlin, sie kämpfen dort, Straße für Straße, und vorher diese Luftangriffe, Berlin soll nur noch ein Trümmerhaufen sein. Warum ist Inga nicht mit den Kindern nach Hause gekommen?

Keiner ist in den letzten Monaten ostwärts gereist, das weiß Jochen auch. Nicht so wie vor zwei, drei Jahren, als die evakuierten Kinder aus dem Rheinland, aus Hamburg zu ihnen gekommen waren, mit ihren Müttern, mit ihren Lehrerinnen, auf der Flucht vor den Bomben. In den Dörfern und Städtchen drumherum war man nicht gerade begeistert über die Einquartierung. Nun, in den letzten Wochen und Monaten sind die Flüchtlinge aus dem Osten gekommen, aus dem Sudetenland, aus Schlesien, aus Ostpreußen. Aber jetzt wollen sie alle weg. Nach Westen, nur nach Westen.

Jochen kneift die Augen zusammen, es wird auf einmal sehr hell, die Sonne wird scheinen an diesem Tag, nicht Regen oder Schnee, wie er erwartet hat. Er hat noch nichts gefangen, er muss die Angel noch einmal auswerfen. Und er wird, das nimmt er sich vor, so bald wie möglich zum Gut gehen. Auf dem schmalen Pfad durch den Wald.

Es gibt auch eine richtige Straße, aber da müsste er fast bis zum Dorf und dann in einem ziemlich großen Bogen zum Gut. Die Pferde kann er nicht anspannen, und mit dem Rad ist es auch zu weit. Der Pfad durch den Wald geht gerade bis zu den südlichen Koppeln der Renkows, bis dahin ist es eine halbe Stunde zu Fuß. Elsgard kann ja mitkommen, falls sie nicht allein zu Hause bleiben will. Soll sie ja auch nicht. Allerdings sind die Tiere allein. Aber er muss wissen, was auf dem Gut passiert ist, ob Max von Renkow noch lebt, ob er Nachricht von Inga hat.

Er lebt nicht mehr. Jochen weiß, dass er nicht mehr lebt. Er kann sich den Weg sparen.

Und wir werden morgen auch nicht mehr leben.

Er sitzt erstarrt, die Angel in der Hand, die er aus dem Wasser gezogen hat, und ist von tiefer Verzweiflung erfüllt. Es ist alles vorbei, es ist alles zu Ende. Warum hat ihn die Granate nicht getötet, dann brauchte er dieses Elend nicht zu erleben. Er muss es nicht erleben. Er wird das Gewehr ausgraben, wird Els und sich erschießen. Die Kinder leben nicht mehr, was hat er noch auf dieser Welt verloren.

Das ist ein Gedanke, der nie und nimmer in sein Vorstellungsvermögen gepasst hatte, der Gedanke an Selbstmord. Und es ist eine Ironie des Schicksals, dass er jetzt, gerade jetzt in diesem Augenblick, sich einem Selbstmörder gegenübersieht.

Er legt die Angel auf den Grund des Bootes, er hat keinen Fisch gefangen, er braucht keinen Fisch mehr.

Die Tote im See

Die Sonne steigt über dem Wald auf, er wendet geblendet den Kopf zur Seite, und da sieht er etwas Blaues im Schilf. Es sieht aus wie ein Ballon, der da schwimmt, sich sacht im Wasser bewegt. Er greift nach dem Holz, treibt das Boot langsam uferwärts, dann wird das Wasser flach, das Boot bleibt im Schilf stecken.

Und dann packt ihn Entsetzen, ein anderes Entsetzen diesmal.

Karolinchen!

Da liegt ein Mensch im Wasser.

Karolinchen kann es nicht sein, sie ist auf dem Els eingebrochen und ertrunken, das ist acht Jahre her. Sie trug ein blaues Mäntelchen. Darum fiel es ihm ein.

Er stakt langsam heran. Eine tote Frau. Das blaue Kleid, das sie trägt, hat sich im Wasser aufgebläht wie ein Segel. Der Kopf mit langen dunklen Haaren liegt zurückgebogen auf einem Kissen von Schilf.

Wie lange liegt sie da? Sie ist ertrunken. Sie sieht nicht aus wie eine Ertrunkene, und ihr Kopf ist nicht im Wasser.

Ist sie wirklich tot? Sie liegt da wie in tiefem Schlaf. Er greift mit der Hand über den Bootsrand nach ihrem Gesicht. Kalt. Sie muss tot sein. Er weiß nicht, was er tun soll. Wenn er das Boot hier im seichten Wasser stecken lässt, kann er an Land waten und sie herausziehen.

Und was macht er dann? Eine tote Frau, was soll er mit ihr tun? Irgendetwas muss er tun. Muss er nicht. Eine tote Frau mehr oder weniger in dieser Zeit spielt keine Rolle. Aber er hat sie gesehen, er hat sie berührt, er muss sie an Land bringen, er kann sie nicht einfach hier im Wasser liegen lassen.

Er klettert aus dem Boot, watet ins Wasser, es ist mühsam, mit einem Arm einen leblosen Körper aus dem Wasser zu ziehen. Er wird nass bis zu den Hüften, und nun gerät auch ihr Kopf unter Wasser, aber als er sie schließlich auf dem Trockenen hat, hört er ein Stöhnen, und sie macht die Augen auf. Nur für eine Sekunde, dann fällt ihr Kopf zur Seite, sie ist wieder bewusstlos oder nun wirklich tot. Er legt den Finger an ihre Halsschlagader, er spürt nichts.

Und was nun? Er kann sie keinesfalls ins Haus transportieren, er muss Els holen, sie wird inzwischen aufgestanden sein.

So schnell er kann, läuft er zurück, vergisst ganz, sich umzuschauen, ob irgendeine Gefahr droht.

Els steht unter der Tür, die Katze auf dem Arm.

»Wo bist du denn?«, fragt sie angstvoll.

Er berichtet hastig, und dann läuft Els mit ihm zum See. Die Frau liegt so, wie er sie liegen ließ, regungslos, leblos. Das nasse blaue Gewand ist nicht mehr gebläht, es ist zusammengesunken, bedeckt die Gestalt bis zu den Füßen.

Els sagt dann auch als Erstes: »Was hat die denn da an? Das sieht aus wie … wie …«

»Was meinst du?«

»Wie ein Abendkleid. Oder …« Sie kniet nieder, beugt sich über das Gesicht der Frau. Ein leiser Wind kommt vom See her, bewegt das Schilf, es wirft Schatten über das blasse Gesicht am Boden, es sieht auf einmal nicht mehr so leblos aus.

Els legt ihre Hand auf die Brust der Frau, legt dann ihr Ohr auf die Brust, lauscht, ob sie einen Herzschlag hört, fasst dann nach dem Puls.

»Es ist nichts zu hören«, sagt sie aufgeregt. »Du denkst, sie ist nicht tot?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber wenn sie doch hier im Wasser gelegen hat.«

»Komm, ich zeig dir, wo.«

Els steht auf, er hebt die Hand, beschreibt die Stelle, wo die Frau lag, wie sie da lag.

Das Boot ist dort an der Stelle, es bewegt sich nicht, der Kiel steckt im Sand.

»Und du hast nicht gesehn, wie sie da hinkam?«

»Nein, ich sage dir doch, ich bin von dort gekommen, und dann …«

Er beschreibt genau, was sich abgespielt hat, von wo er kam, wie er sie gesehen hat, wie das Kleid sich über dem Wasser blähte, wo ihr Kopf lag.

»Sie kann doch nicht die ganze Nacht dort gelegen haben. Das gibt es doch nicht. Es war so kalt. Sie hat die Augen aufgemacht, sagst du?«

»Eine Sekunde. Eine halbe Sekunde.«

Ein Flug Enten steigt plötzlich aus dem Schilf auf, streicht über den See ab, sie erschrecken beide, jetzt sieht sich Jochen in der Gegend um. Nichts. Leer die Wiese, keine Bewegung am Waldrand.

»Wenn sie tot ist, können wir sie hier liegen lassen.«

»Können wir nicht. Die Tiere aus dem Wald werden über sie herfallen.«

»Sollen wir sie vielleicht begraben?«, fragt Els. »Wie stellst du dir das vor? Wie unseren Mutz?« Sie steht, legt die Hand über die Augen, denn die tiefstehende Sonne blendet sie. »Er fehlt mir so«, fügt sie hinzu.

»Im ersten Moment«, sagt er, »bekam ich einen Schreck. Als ich das Blau sah. Ich musste an Karolinchen denken.«

Els wirft ihm einen kurzen Blick zu, schiebt ärgerlich die Unterlippe vor.

»Davon wird nicht geredet«, bescheidet sie ihn. »Also gut, dann bringen wir sie vom See weg, legen sie in die Sonne. Da wird sich dann finden, ob sie lebt oder nicht.«

»Wir nehmen sie mit«, entscheidet Jochen.

»Und wie machen wir das? O doch, ich weiß. Ich hole die Schubkarre.« Sie läuft schon, sie hat einen kurzen Rock an und die schmutzige dunkle Jacke, die sie jetzt immer trägt, wenn sie aus dem Haus kommt. Sie ist schlank und zierlich, und wie sie da über die Wiese rennt, sieht sie aus wie ein junges Mädchen. Wie das Mädchen, in das er sich damals verliebte, er war zweiundzwanzig und sie gerade sechzehn.

Er kannte sie, wie alle Leute vom Gut, seit seiner Kindheit, die kleine Els, die er kaum beachtet hatte, und nun war sie auf einmal kein Kind mehr. Er sah sie mit anderen Augen, aber eigentlich war sie es, die sich in ihn verliebte. Oder jedenfalls zeigte, dass er ihr gefiel. Einmal kam sie mit Alexander zum Luminhof geritten, und dann mit Inga, als die Ferien hatte. Und dann kam sie auch allein, auf dem Pfad durch den Wald.

»Ich muss Ilka bewegen, sie hatte eine schwere Kolik. Der Doktor sagt, sie muss jeden Tag im Schritt rausgehn. Hier, halt mal!«

Sie gab ihm die Zügel in die Hand, sprang vom Pferd und ging dann ins Haus, setzte sich zu seiner Mutter in die Küche.

Es war ein Sonntag, Anfang Oktober. Es war 1923, das Jahr der Inflation, auf dem Gut hatten sie große Sorgen, und Jochen konnte sich keine Taglöhner mehr leisten, er und seine Mutter schufteten bis zum Umfallen.

Elsgard sah hübsch und gepflegt aus, trotzdem sagte seine Mutter, nachdem sie wieder allein waren: »Die arme Deern! Keine Mutter, und dann ist der Vater auch noch gefallen.«

Elsgards Vater war nicht gefallen, er war kurz vor Kriegsende an der Ruhr gestorben, irgendwo in den Vogesen. Er war der Inspektor auf dem Gut gewesen, stammte aber nicht aus Mecklenburg, er kam aus Schleswig, seine Frau war Dänin.

»Sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich. Kannst du dich an die noch erinnern?« Und als Jochen den Kopf schüttelte: »Eine hübsche Frau. Und immer so fröhlich. Sie sprach so ein ulkiges Deutsch. So, als hätte sie eine Kartoffel im Mund. Der Kröger ging dann weg nach ihrem Tod. War ihm wohl sehr nahegegangen. Das Kind wollte er gar nicht ansehen. Ist ja manchmal so, dass Männer dem Kind die Schuld geben, wenn eine Frau bei der Geburt stirbt. Aber Frau von Renkow bestimmte, dass man sich um das kleine Mädchen kümmerte, als gehöre es zur Familie. Und man soll’s nicht glauben, dann stirbt auch sie ein Jahr später. Zwei Söhne hatte sie geboren, und alles war gut gegangen. Ach ja, und dazwischen hatte sie mal eine Fehlgeburt. Und nun hatten sie zwei mutterlose kleine Mädchen auf dem Gut. Was hätten sie bloß ohne Olga gemacht. Eines Tages kam dann der Kröger zurück. Herr von Renkow nahm ihn wieder, ohne Vorwurf, ohne Geschrei, der Kröger war ein guter Mann. Und nun hatte er auch seine kleine Tochter lieb. Jetzt ist er tot. Wie unser Vater auch. So ist das mit dem Krieg nun mal.« Schicksalsergeben, geduldig hatte Jochens Mutter das gesagt. So ist das mit dem Krieg nun mal.

Sie hat es als Schicksal hingenommen, damals. Und wir haben genau dasselbe getan, diesmal. Warum wehren sich Menschen eigentlich nicht? Und wenn heute die Russen wiederkommen und meinen Hof anzünden, nehmen wir es auch hin. Warum sind wir eigentlich so?

Jochen hat sich auf die Wiese gesetzt, neben die tote oder halbtote Frau, während er auf Els wartet. Das Gras ist noch nass, aber er ist sowieso nass aus dem Wasser gekommen. Es ist immer noch kalt, obwohl die Sonne, die Maisonne, versucht, ihn zu wärmen.

Seltsam, dass er jetzt an seine Mutter denkt. Nein, gar nicht seltsam. Seine Mutter und Els waren die wichtigsten Menschen in seinem Leben. Kein Vater, keine Geschwister, nur immer Arbeit von früh bis spät. Und dann kam dieses junge, heitere Mädchen in sein Leben, zeigte ganz unverhohlen, dass sie ihn leiden mochte. Elsgard Kröger vom Gut. Sie war viel klüger als er, hatte viel gelernt. Er war gerade vier Jahre in die einklassige Dorfschule gegangen, später einige Male im Winter für ein paar Wochen. Ein Hof, auf dem der Bauer fehlte, konnte einen Jungen nicht lange entbehren. Sie konnten sich damals in der schlechten Zeit kaum Arbeitskräfte leisten, Herr von Renkow schickte ihnen immer zur Ernte ein paar Leute zur Hilfe.

Einmal kamen Elsgard und Alexander zu Weihnachten mit dem Schlitten vom Gut zu Besuch, es war kalt, und es lag hoher Schnee.

»Els will dich unbedingt besuchen, Jochen. Sie hat Handschuhe für dich gestrickt und eine warme Mütze, die will sie dir bringen. Ich möchte wissen, was sie an dir findet.«

Elsgard wurde zwar rot, doch sie lachte. Sie war nicht sehr verlegen, und gelacht hatte sie immer gern.

»Möchtste gern wissen, was?«

Sie hatte auch für seine Mutter ein Geschenk mitgebracht, ein Medaillon an einem goldenen Kettchen.

»Es gehörte meiner Mutter«, sagte sie.

»Nein, nein«, wehrte sich Jochens Mutter. »Das kann ich doch nicht annehmen. Nein, auf keinen Fall.«

»Aber bitte! Ich hab noch mehr solche Sachen. Und ich möchte dir so gern eine Freude machen, Mutter Lumin.«

Anna Lumin war verwirrt. Ihr Blick ging zwischen ihrem Sohn und dem blonden Mädchen hin und her. Sie hatte bereits begriffen, was sich da anbahnte.

»Dann sage ich denn auch Danke schön. Und wenn ich tot bin, bekommst du es wieder, Els.«

Sie war vor zehn Jahren gestorben, müde und verbraucht nach einem Leben voller Arbeit. Doch die Zeit, nachdem Jochen und Elsgard geheiratet hatten, war die schönste Zeit ihres Lebens gewesen.

Eine junge, fröhliche Frau im Haus, mit der sie sich gut verstand. Dann die beiden Kinder, erst ein Sohn, später eine Tochter. Dass Karolinchen auf dem See einbrach und ertrank, musste Anna Lumin nicht mehr erleben.

Jochen sieht Els über die Wiese kommen mit der Schubkarre. Ihr Haar ist unbedeckt, ihr Gesicht nicht verschmiert. Hat sie eigentlich die Russen vergessen?

»Wir müssen schnell machen«, sagt sie atemlos. »Die Kühe sind unruhig. Ich muss melken.«

Gemeinsam heben sie die Frau in dem langen blauen Kleid auf die Schubkarre und schieben sie über die Wiese zum Hof. Gerade als sie dort ankommen, macht die Tote zum zweiten Mal die Augen auf, große, tiefblaue Augen. So blau wie das seltsame Kleid, das sie trägt. Sie fährt mit der Hand über ihre Brust, an der Hüfte entlang.

»Ich bin ja ganz nass«, flüstert sie.

Und dann scheint sie sich zu erinnern. Sie versucht, sich aufzurichten. Els beugt sich zu ihr, hilft ihr.

Die Fremde schaut sich um. »Bin ich denn nicht tot?«, fragt sie erstaunt.

»Nein«, sagt Els. »Kommt mir nicht so vor. Aber nass sind Sie schon. Wollen Sie mal versuchen aufzustehen?«

Das ist nicht so leicht, sie befindet sich in halb liegender, halb sitzender Stellung in der Schubkarre, aber die holprige Fahrt, die aufsteigende Sonne haben sie wohl ins Leben zurückgebracht.

Jochen und Els stützen sie, und dann steht sie wirklich auf wackligen Beinen, knickt ein, Jochen hält sie fest.

Sie blickt nach rechts und nach links, dann hinauf zum Himmel, an dem sich ein sanftes, helles Blau ausbreitet.

»Das ist ja fürchterlich«, sagt sie. »Ich wollte doch sterben.« Sie sieht Els an. »Sie … Sie haben mich gerettet?«

»Mein Mann hat Sie im Wasser gefunden. Da drüben in dem See.«

»Im See?«

»Nahe am Ufer.«

»Ich bin nicht weit genug hineingegangen. Es war so kalt. Und dann bin ich wohl eingeschlafen. Ich habe Veronal genommen. Ich müsste eigentlich tot sein. Wo bin ich denn eigentlich?«

Sie hat eine klangvolle, ziemlich tiefe Stimme, die Augen hat sie weit geöffnet, sie ist noch nicht ganz da und versteht nicht, was mit ihr geschieht.

Im selben Augenblick hören sie einen Schuss, dann noch einen. Nicht sehr weit entfernt.

Els blickt wild um sich, ergreift dann die Hand der Fremden.

»Los! Wir bringen Sie hinein.«

»Wo bin ich denn?«, fragt sie noch einmal, klagend, fast singend.

»Später. Erst müssen Sie die nassen Sachen vom Leib kriegen. Und wir …« Ihr Blick hängt am Waldrand, woher die Schüsse kamen, auch Jochen späht hinüber. Zu sehen ist nichts. Aus dem Stall brüllen die Kühe.

»Ich muss in den Stall«, sagt Els. »Kommen Sie!«

Rechts und links fassen sie die Frau und schleppen sie ins Haus.

»Setz Wasser auf, Jochen. Sie muss etwas Heißes trinken. Einen Kräutertee.«

»Kaffee wäre besser, wenn sie etwas eingenommen hat«, sagt Jochen. Es soll ein Scherz sein, aber er selber hätte auch großen Appetit auf eine Tasse echten Bohnenkaffee.

Els zieht der Frau das lange blaue Kleid vom Körper, die Schuhe sind auch blau, mit hohen Absätzen. Unter dem Kleid trägt sie ein spitzenbesetztes Seidenhemdchen und ein ebensolches Höschen. Sie hat lang gestreckte schlanke Beine, schmale Hüften, aber …

»So, jetzt sind Sie erst mal das nasse Zeug los. Sie werden sich den Tod holen.«

»Aber das wollte ich ja«, sagt die Frau. Dann sinkt sie auf dem Sofa zusammen, schließt die Augen und ist wieder bewusstlos. Els wickelt sie fest in eine Decke, betrachtet sie eine Weile ratlos.

»Sie wollte sich das Leben nehmen«, sagt sie, als sie zu Jochen in die Küche kommt. »Sie hat das absichtlich getan.«

»Aus Versehen kann man wohl dort nicht ins Wasser geraten.«

»Wie ist sie überhaupt an unseren See gekommen? Und so komisch angezogen. Auch die Schuhe. Wie ist sie damit gelaufen? Wo kommt sie her?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Vielleicht stirbt sie doch noch. Wenn sie Veronal genommen hat …«

»Was ist das?«

»Und weißt du, was mit ihr los ist? Sie kriegt ein Kind.«

»Sie kriegt ein Kind?«

»Ich habe es gesehen, als ich sie auszog. Weißt du, wo der Tee ist? Ich muss in den Stall.«

»Kaffee haben wir wohl gar nicht mehr?«

»O doch, ein Tütchen habe ich schon. Im Wohnzimmer, im Schrank, hinter der Bibel.«

Jochen muss lachen. »Ein guter Platz. Der ist sicher noch von Herrn von Renkow.«

»I wo, den hat mir Giercke geschenkt.«

»Giercke? Wann hast du den denn getroffen?«

»Ungefähr vor drei Wochen im Dorf. Du weißt ja, dass er mich gut leiden kann. Nimm das mal mit, Elschen, hat er gesagt. Wär doch schade, wenn die Russen das alles einstecken.«

»Das hat er wirklich gesagt?«

»So blöd, wie du denkst, ist der nicht. Sicher ist er längst auf und davon. Ich muss jetzt in den Stall. Kaffee kochen kannst du ja gut. Heb mir eine Tasse auf. Und gib ihr zwei Tassen, sie kann das brauchen.«

»Dein Haar«, mahnt er.

Sie bindet sich das Kopftuch um, verhält unter der Tür und lauscht. Nur die Kühe sind zu hören, sonst nichts. Sie hat auch auf einmal gar nicht mehr so viel Angst. Was da heute Morgen passiert ist, füllt ihre Gedanken aus. Eine Frau will sich das Leben nehmen. Sie ist schwanger. Veronal. Das sind sehr stark wirkende Schlaftabletten, sie hat das in einem Roman gelesen. Wo bekommt man das?

Erst die Kühe. Dann müssen die Pferde gefüttert werden.

Lebende

Ich muss eine großartige Konstitution haben, wenn ich das alles überlebt habe«, sagt die Gerettete zwei Tage später.

Sie liegt in Heiners Bett, oben in Heiners Zimmer. Bisher hat keiner in Heiners Zimmer gewohnt, außer Els hat es keiner betreten.

»Das kommt, weil ich gut trainiert bin. Ich habe das goldene Sportabzeichen. Und ich bin eine gute Fechterin. Eine Ausbildung als Tänzerin habe ich auch noch. Schließlich und endlich meine Atemtechnik, das ist die Hauptsache. Hier, schauen Sie mal!« Sie legt die Hand auf den gewölbten Leib, atmet tief ein, hält die Luft eine Weile und lässt sie dann langsam und lange, sehr lange heraus. »Richtig abstützen, das ist das ganze Geheimnis. Ich kann eine Passage von fünf Zeilen bringen, ohne zu atmen. Das hat mir meine Tante beigebracht, als ich noch ein Kind war. Na, und zuletzt Paul, der ist überhaupt ein Meister im Atmen.« Und dann schlägt sie sich mit der geballten Faust kräftig auf den Leib.

Els zuckt zusammen.

»Was glauben Sie, was ich alles unternommen habe, um das Ding loszuwerden. Man sollte es nicht für möglich halten, wie hartnäckig so ein Körper ist, wenn es um die Fortpflanzung geht. Noch eine halbtote Frau kann ein Kind zur Welt bringen. Und durch Hass und Abscheu wird es schon gar nicht vernichtet. Ist es nicht absurd? Millionen von jungen, gesunden Menschen sind in den letzten Jahren getötet worden, und mir gelingt es nicht, diesen verdammten Bastard umzubringen. Aber ich werde ihn zerquetschen wie eine Laus, wenn er je aus mir herauskriecht.«

Els, die auf dem Bettrand sitzt, hört sich das alles mit einer Mischung aus Neugier und Grausen an. Sie muss an die junge Frau denken, die sie im Februar auf dem Gut getroffen haben. Und wenn ich ein Kind im Bauch trage, das die Russen mir gemacht haben, werde ich es erwürgen, sobald es geboren ist.

So empfinden Frauen, die man vergewaltigt hat.

Els hat sich so sehr Kinder gewünscht, sie hatte nur zwei bekommen. Beide sind tot.

Sie gab sich die Schuld an Karolinchens Tod. Die Schlittschuhe hatte das kleine Mädchen zu Weihnachten bekommen, und sie bewegte sich bald mit großer Gewandtheit damit. Sie lief auf dem Weiher, der zwischen dem Hof und dem Dorf lag, dort traf sie auch andere Kinder, manche mit selbstgebastelten Schlittschuhen, andere nur auf einem Brett herumrutschend. Karolines Schlittschuhe waren die elegantesten. Elsgard hatte sie aus Schwerin mitgebracht, als sie vor Weihnachten dort zum Einkaufen war. Es genügte ihr nicht, nach Waren zu fahren, es musste Schwerin sein. Das war noch eine alte Gewohnheit vom Gut her. Max von Renkow war immer mit den Jungen und mit Inga und Elsgard Anfang Dezember zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Meist nach Schwerin, manchmal auch bis Rostock und zweimal sogar bis Lübeck. Dort hatten sie dann übernachtet und waren abends ins Theater gegangen.

Es wurde immer reichlich eingekauft, die Kinder hatten rechtzeitig verlauten lassen, was sie sich wünschten, und jeweils musste derjenige vor dem Laden bleiben, dessen Geschenk gerade besorgt wurde. Doch nicht nur die Familie, auch die Leute vom Gut wurden beschenkt, sie berieten gemeinsam, was der Großknecht, was die Knechte und Mägde bekommen sollten. Zuletzt taten sich die Kinder zusammen, Max von Renkow musste sich in eine Kneipe setzen, und sie kauften für ihn ein.

In jenem Jahr war Elsgard mit Heiner nach Schwerin gefahren, es ging ihnen endlich ein wenig besser, die Bauern erfuhren viel Unterstützung von der Regierung in Berlin, und an Krieg war noch nicht zu denken. Zusammen mit Heiner suchte sie die Schlittschuhe für Karolinchen aus, und dann setzte sie Heiner, wie sie das gewohnt war, mit ausführlichen Ermahnungen versehen, in das Café neben dem Theater und machte sich auf den Weg, um für ihn den Fotoapparat zu kaufen, den er sich so sehnlich wünschte. Das dauerte eine ganze Weile, sie ließ sich umständlich beraten und erstand schließlich nicht die billigste Kamera, sondern eine gute, ziemlich große, deren Vorzüge der Verkäufer ihr ausführlich erklärte und pries.

Heiner hatte inzwischen die Schokolade und das Stück Torte verdrückt, das seine Mutter für ihn bestellt hatte, und fühlte sich, allein gelassen, etwas unbehaglich. Da betrat doch wirklich Fritz von Renkow zu später Nachmittagsstunde das Lokal, sah den Jungen gleich und setzte sich zu ihm.

»Was machst du denn hier ganz solo? Bist du ausgerückt?«, Heiner wies auf den Karton mit den Schlittschuhen, der neben ihm auf dem Stuhl lag, und berichtete, dass seine Mutter nun für ihn etwas einkaufen sei.

»Was denn?«, fragte Fritz.

Heiner grinste. »Weiß ich nicht.«

»Aha. Wie in der guten alten Zeit. Wir taten auch immer so, als ob wir keine Ahnung hätten.«

Heiner bekam noch eine Schokolade und ein zweites Stück Kuchen, und dann kam endlich Elsgard, ziemlich atemlos.

»Wir müssen uns beeilen, sonst kriegen wir den Zug nicht mehr«, war das Erste, was sie sagte. »Tach, Fritz.«

»Setz dich hin und trink in Ruhe eine Tasse Kaffee. Ihr könnt dann mit mir fahren.«

»Das is ja schön«, sagte Els und setzte sich aufseufzend.

»Kleine halbe Stunde noch. Ich hab nur noch was zu tun.«

Er hatte zu der Zeit eine Liaison mit einer jungen Sängerin vom Theater, man gab am Abend den »Wildschütz«, und sie sang das Gretchen. Da war er schon zweimal drin gewesen, musste er nicht unbedingt noch mal sehen. Er würde zu ihr in die Garderobe gehen, eine unerwartete Begegnung mit Freunden seines Vaters vorschieben, sich verabschieden und für den nächsten Tag verabreden, da hatte sie spielfrei.

»Wir müssen uns nun wirklich auch ein Auto kaufen«, sagte Els, als sie heimwärts fuhren. »Ich hab das Jochen schon immerzu gesagt.«

»Au ja«, sagte Heiner. »Ein Auto! Das wäre prima.«

»Ich weiß auch schon, wo wir billig eins kriegen. Der Kobehn in Waren hat erst neulich mit mir darüber gesprochen.«

»Sei man vorsichtig, der ist der geborene Betrüger. Nimm lieber mich mit, wenn du ein Auto kaufen willst. Was für eins willst du denn?«

»Weiß ich nicht. So ein großes wie du können wir uns sowieso nicht leisten.«

Fritz fuhr einen großen Ford, der jetzt lautlos und rasch über die dunkle, enge Straße nach Südosten glitt.

»Kann ich mir eigentlich auch nicht leisten. Vater hat ziemlich geschimpft, als ich damit ankam. Aber ich hab nun mal Spaß an so einem flotten Ding. Mein Schwager in Berlin hat den Kopf geschüttelt. Kannst du denn nicht ein deutsches Auto kaufen, hat er gesagt. Er hat natürlich zwei Wagen, für privat einen Mercedes, und dienstlich fährt er einen riesigen Horch, mit Chauffeur.«

»Und Inga fährt auch damit«, sagte Elsgard.

»Du wirst lachen, sie fährt ein Mercedes Cabriolet, gehört ihr; sie hat den Führerschein gemacht.«

»Oh«, staunte Elsgard, und dann kicherte sie plötzlich. »Ist ja komisch.«

»Was? Dass sie einen eigenen Wagen hat?«

»Nee, dass das Führerschein heißt. Als wenn es was mit dem Führer zu tun hätte.«