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Nina und Adrian stecken mit Ende zwanzig schon im Hamsterrad des deutschen Durchschnittslebens fest und sind damit immer unglücklicher. Das junge Paar sucht nach einer Lösung, die ihre Sehnsucht von Abenteuer, Zusammensein und Ursprünglichkeit vereint, und findet: die perfekte einsame Südseeinsel! Kurzerhand kündigen Nina und Adrian ihre Jobs (übrigens ein sehr befreiendes Gefühl) und machen sich auf gen Paradies. Dort angekommen leben die beiden ihren Traum. Sie ernten Bananen und Papayas, hängen am weißen Sandstrand eine Hängematte auf, grillen bei Sonnenuntergang frisch gefangenen Fisch am Lagerfeuer und schlafen unter dem schönsten Sternenhimmel der Welt. Doch bald bricht die Realität in ihr kleines Paradies ein ...
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Seitenzahl: 359
NINA & ADRIAN HOFFMANN
Eine Insel nur für uns
Eine wahre Geschichte von
Nina und Adrian Hoffmann sind seit ihrem ersten Fidschi-Urlaub vor zehn Jahren der Südsee verfallen. 2010 und 2011 lebten sie für zwölf Monate auf einer einsamen Insel im Königreich Tonga. Erst kürzlich waren sie wieder dort, diesmal mit ihrer drei Jahre alten Tochter. Die Familie lebt heute in Freiburg im Breisgau. Nina ist Grundschullehrerin, Adrian Redakteur einer Tageszeitung.
Vorwort
1 Die Insel
2 Deutschland
3 Fährfahrt
4 Im Ministerium
5 Im Dorf
6 Inselerkundung
7 Einkauf
8 Ankunft
9 Anfänge im Garten
10 Erste Besucher
11 Zyklon
12 Amerikaner zu Besuch
13 Angeln
14 Beulenpest
15 Nahrungssuche
16 Überraschungen
17 Nachschub
18 Autark
19 Segler
20 Barrakudatrauma
21 Seegurkencamp
22 Alltag
23 Grillhähnchen
24 Wale
25 Petroglyphen
26 Déjà-vu
27 Wehmut
28 Abschied
Tausend Dank an
Vielleicht wäre es besser gewesen,wir hätten nie eine einsame Insel betreten.
Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschieden, den Namen »unserer« einsamen Insel nicht zu nennen. Die Vorstellung, dass andere dort ihr Glück finden könnten, treibt Nina und mich in den Wahnsinn. Sorry.
Ich weiß, das klingt egoistisch. Ist es auch. Wer gute Argumente hat, kann uns eventuell überzeugen, alle Infos rauszurücken; und wer das Geheimnis unbedingt ohne unsere Unterstützung lüften will, wird dies vermutlich ohne allzu große Verrenkungen hinkriegen. Ein bisschen Internetrecherche, ein bisschen Herumfragen im kleinen Südsee-Königreich von Tonga. Voilà.
Wir können nicht einmal genau erklären, was denn eigentlich unser Problem damit wäre, wenn andere das Leben auf »unserer« Insel genießen würden. Sie gehört uns nicht, es ist lediglich ein gefühlter Besitzanspruch. Ich glaube, wir fürchten uns davor, eifersüchtig zu werden. Denn bereits wenige Monate nach unserer Rückkehr nach Deutschland ist uns klar geworden: Die Insel zu verlassen, war ein Fehler. Oder der Fehler lag darin, sie überhaupt erst zu betreten. Ansichtssache.
Selbst mit unserer inzwischen drei Jahre alten Tochter sind wir bereits für einige Wochen dort gewesen, im Januar und Februar 2016. Ich würde fast behaupten: Wir könnten den Rest unseres Lebens dort verbringen. Na ja, in der Theorie. Mit Kind ist alles nicht mehr ganz so einfach.
Die Insel war perfekt. Das In-den-Tag-hinein-leben, eine Träumerei ohne Termindruck. Mal fischen, mal im Garten arbeiten. Papayas ernten, Sonnenuntergänge genießen, Feuer am Strand machen, bei Vollmond um die Insel laufen. All das.
Dabei blenden wir immer wieder aus, dass wir ebenso viele negative Erlebnisse hatten. Einige, die uns fast gezwungen hätten, unser Jahr im Paradies frühzeitig abzubrechen. Zum einen die Naturgewalten, zum anderen – der Mensch. Kaum zu glauben, doch er wurde zur größten Bedrohung unserer Inselidylle. Es gab Tage, da ist uns die Lust auf die Südsee gehörig vergangen. Tage, an denen wir Angst um unser Leben hatten.
Trotzdem – mit diesem Buch wollen wir den Lesern, Ihnen, Lust auf die Südsee machen.
Begleitet hat uns außerdem unser junger Mischlingshund Sunday, den wir den weiten Weg bis ans andere Ende der Welt mitgenommen haben. Er heißt so, weil wir ihn als Welpen einst an einem Sonntag auf der Straße fanden. Seitdem gehört er zur Familie. Er ist kniehoch, schwarz-braun-weiß und hat eine auffällige weiße Schwanzspitze. Ihn bis ans Ziel zu bringen, war äußerst kompliziert; wir mussten jede Menge Dokumente ausfüllen, viele Nachfragen bei zuständigen Behörden beantworten. Eine deutsche Steuererklärung ist lächerlich dagegen.
Sunday ist auf der Insel unser »Freitag« gewesen, wenn man so will. Mit ihm konnten wir sprechen, wenn wir Sorgen hatten, und er hat uns immer verstanden. Er war jeden Tag mit mir angeln und hat im Sand nach Krebsen gebuddelt, um sie zum Spielen herauszufordern. Ohne ihn wäre unsere Inselzeit nie das gewesen, als was sie uns in Erinnerung geblieben ist.
1
Der Regen prasselt wild auf das Wellblechdach unserer Hütte. Wenn er so richtig loslegt, ist an schlafen nicht mehr zu denken. Ich mag das.
Es ist gegen Mitternacht, ein paar Tage nach Silvester. Wir sind erst seit ein paar Wochen auf unserer einsamen Insel. Wir liegen auf der klammen Bettwäsche, die wegen des schwülen Klimas in der heißesten Zeit des Jahres kaum trocknen will – selbst wenn wir sie tagsüber auf die Wäscheleine hängen.
»Wenn es so weitergeht, ist der Regentank in fünf Minuten voll«, sage ich zu Nina.
»Ist mir doch egal, ich will weiterschlafen«, murmelt sie und kuschelt sich an mich. Wir hören zu, wie der Regen weitertrommelt. Sunday springt aufs Bett und legt sich in meine Kniekehle. Er hasst Regen, selbst wenn es sich um warmen tropischen handelt.
»Stell dich nicht so an«, flüstere ich ihm zu und ziehe ihn zu mir ans Kopfende, um den Sand und das Meer an seinen weichen Ohren zu riechen. Er knurrt verschlafen.
Es ist schon komisch: Wenn es bei uns in Deutschland regnet, bekomme ich sofort schlechte Laune. Hier auf der Insel freue ich mich. Du sitzt da allein auf einem Fleckchen Sand umringt von Kokosnusspalmen und dem weiten Meer, fast dreißig Flugstunden, zwanzig Bootsstunden und viele Wartezeiten von Deutschland entfernt, und das ganze Wasser dieses Planeten stürzt auf dich herab. So zumindest hört es sich an.
Und endlich höre ich auch, worauf ich gewartet habe: Das Wasser platscht aus dem Überlauf des Regentanks. Ich schiebe das Schlafzimmerfenster nach oben und spähe in die Nacht. Der Tank steht gleich hinter dem Haus, ich sehe den Wasserstrahl.
»Nina, wenn wir jetzt rausgehen, können wir mal wieder richtig duschen«, sage ich. »So, wie wir das kennen.« Heißt: Wir müssen uns nicht Wasser aus einer Blechschale über den Kopf kippen, sondern können uns einfach unter den Duschkopf stellen – in diesem Fall den Überlauf des Tanks. »Eine Eins-a-Dusche«, schwärme ich Nina vor und drücke mich an sie. »Komm schon, es ist ganz warm draußen, kurz runter an den Strand und dann abduschen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, fasse ich sie bei der Hand und ziehe sie raus aus dem Bett, aus der Hütte, hinein in den Regen, runter an den Strand. Drinnen freut sich Sunday, dass er das Bett für sich hat.
Als wir am Strand stehen, sind wir schon komplett nass. Wir blicken zurück und sehen das Kerzenlicht in der Hütte leuchten. Pralle Tropfen klatschen uns die Haare auf die Stirn – prickelnd wie eine Champagnerdusche; aber wer braucht schon Champagner, wenn er im Paradies lebt?
»Wir legen uns ins Meer«, ruft jetzt Nina, doch noch angetan vom Tropenregen. Das Wasser ist bei Ebbe seicht an dieser Stelle und wärmer als der Regen, eine einzige, große Badewanne. Der Mond schimmert leicht durch die Wolken, die Wellen sind sanft. Wir lassen unsere Zehenspitzen aus dem Wasser ragen, hören den Aufprall der Tropfen auf der Oberfläche und das leise Rauschen der Wellen. Bis mir ein Gedanke kommt.
»Nachts im Regen lässt sich bestimmt gut fischen«, sage ich zu Nina.
»Du denkst nur an das Eine«, entgegnet sie und springt auf. Die Vorstellung, dass uns Raubfische anknabbern könnten, verdirbt auch mir die Freude am Baden und ich folge ihr.
Wir rennen händchenhaltend zur Hütte und stellen uns endlich unter den Wasserfall am Überlauf, der Salz und Sand von unseren Körpern spült.
Dann werfen wir uns zu Sunday ins Bett, der sofort runterspringt, weil wir ihm zu nass sind.
Am nächsten Morgen ist Nina die Erste, die nach draußen geht. »Schau dir das an«, ruft sie zu mir ins Schlafzimmer. Ich gehe ihr nach. Wir stehen barfuß am strahlend weißen Strand unter einer Kokosnusspalme und blicken auf die türkisblaue Lagune. Alles ist ruhig und friedlich, das Meer wirkt wie glatt gestrichen und glitzert in der Sonne. Ich gebe Nina einen langen Kuss.
»Willkommen im Paradies«, flüstere ich ihr glücklich ins Ohr.
2
Deutschland. Um fünf Uhr dreißig klingelt das Smartphone. SMS von der Polizei. Unfall mit mehreren Toten auf der Autobahn.
»Ich muss los«, sage ich zu Nina, die noch vor sich hin schlummert.
»Oh nee, schon wieder«, meckert sie.
Manchmal hasse ich meinen Reporterjob. An irgendeinem Unfallort stehen und Autowracks fotografieren – was soll das? Und noch schlimmer, es ist längst zur Routine geworden. Drei Tote, ein Schwerverletzter. Von der Fahrbahn abgekommen, Unfallursache unklar. Das sind die Fakten, die später in der Tageszeitung stehen werden; die Worte für den Text habe ich längst im Kopf. Nüchterne Sätze. Dabei geht es eigentlich um Menschen. Menschen, einfach so aus dem Leben gerissen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit.
Ich schleppe mich zu meinen Klamotten, packe meine Kamera ein, ziehe die neonfarbene Presseweste über. Für Frühstück oder nur einen Kaffee bleibt keine Zeit. Während ich auf der Fahrt zum Unfallort müde auf die Straße sehe, schießen mir plötzlich Bilder in den Kopf. Schöne Bilder, ferne Bilder. Von unserem Urlaub auf einer Insel in Fidschi. Schon eine ganze Weile her. Dort bin ich nachts gern aufgestanden …
Nach getaner Arbeit in der Redaktion angekommen, teilen mir die Kollegen der Onlineredaktion mit, dass der Unfallbeitrag bereits nach kurzer Zeit meistgeklickt ist. In der Konferenz heimse ich ein Lob für den frühmorgendlichen Einsatz ein; vor allem die Fotogalerie, die ich mit dem Smartphone gemacht habe, kommt bei den Lesern an. Deshalb soll ich für die Videoredaktion ein paar Sätze einsprechen, die sie über einen kurzen Clip vom Unfallort legen können. Business as usual; wenn es kein Verkehrsunfall ist, gibt es einen Großbrand oder einen Überfall/Diebstahl/Einbruch.
All diesen Situationen begegne ich mit professioneller Distanz, anders ließe sich mein täglich Brot kaum verdauen. Trotzdem hinterlässt es immer wieder ein schales Gefühl, wenn ich dafür gelobt werde, anderer Leute Unglück in Szene gesetzt zu haben. Und in letzter Zeit blitzt in solchen Situationen immer wieder sie in meinem Kopf auf. Die Insel.
Als ich in der Mittagspause mit einem Kollegen an einem Reisebüro vorbeilaufe, halte ich kurz inne und schaue auf die Palmen, die als Werbung für eine Tropenreise abgebildet sind. Am liebsten würde ich reingehen und sofort buchen, aber der Kollege zerrt mich weiter.
»Für so etwas haben wir heute keine Zeit«, sagt er.
»Als ob wir für so etwas jemals Zeit hätten«, antworte ich. »Es ist ja schon ein Wunder, dass du dich zu einem Kaffee überreden hast lassen.«
»Jammer nicht rum«, lacht der Kollege.
Der versteht das nicht, denke ich und lasse mich mitziehen; durch die Menschenmassen zurück ins Redaktionsgebäude.
Am Nachmittag rufe ich den Polizeisprecher an, um zu klären, ob es bei drei Toten bleibt oder ob der Schwerverletzte inzwischen auch verstorben ist. Es bleibt bei dreien. Ich aktualisiere die Onlinemeldung und schreibe, dass sich der Schwerverletzte nach Angaben der Polizei außer Lebensgefahr befindet. Danach mache ich mich auf den Heimweg.
Feierabendstau, wie zu erwarten war. Im Radio läuft der Song I will love you Mondays. Eigentlich ein Lied über die Anstrengungen der Liebe. 365 Versuche im Jahr, es richtig zu machen. Ich interpretiere es auf meine Weise: 365 Tage im Jahr »running around and going nowhere«. 365 Tage, um die richtige Entscheidung zu treffen – und abzuhauen.
Als ich zur Wohnungstür reinkomme, bin ich gefrustet, wie immer nach so einem Scheißtag. Dabei war der Tag streng genommen nicht einmal scheiße – ich habe meinen Job erledigt, bin dafür gelobt worden und kehre nun heim zu meiner lieben Frau. Trotzdem bin ich schlecht gelaunt, zumal ich Dauerbereitschaft habe und jederzeit aus dem Feierabend gerissen werden kann, obwohl ich den Tag über schon einen Termin nach dem anderen hatte. Ich bringe kaum eine Begrüßung heraus, rede auch sonst kaum ein Wort mit Nina. Wegen Kleinigkeiten motze ich sie an.
»Hast schon wieder keine Butter gekauft, sondern nur die eklige Margarine«, ärgere ich mich, als ich den Kühlschrank aufmache.
»Kauf doch selbst ein«, gibt Nina pampig zurück. Recht hat sie. Und eigentlich brauche ich im Moment nicht einmal Butter. Es hört sich kindisch an: Im Grunde will ich einfach nur ein Bier und mich über etwas aufregen. Meinen Frust ablassen.
»Und, wie war dein Tag?«, fragt Nina als Friedensangebot.
»Frag nicht«, sage ich.
Wenig später sitzen wir im Wohnzimmer und schalten den Fernseher ein. Zappend und schweigsam vergeuden wir den Abend. Eigentlich könnte ich Nina genauso gut fragen, wie ihr Tag in der Grundschule war – sie ist Lehrerin. Aber irgendwie habe ich keinen Nerv dazu. Geschichten von Kindern, die sich danebenbenehmen, und von deren Eltern, die das auch noch gut finden, wegen der Selbstentfaltung und so (dabei sind sie bloß zu faul, ihre Gören zu erziehen – meine Meinung!) – solche Geschichten brauche ich heute nicht auch noch. Auch wenn ich weiß, dass es Nina vielleicht helfen würde, ihren Ballast loszuwerden. Wann haben wir aufgehört, miteinander zu reden?
Wieder denke ich an den Strand. An ein Lagerfeuer unter dem Südsee-Sternenhimmel. Damals haben wir auch nicht immer geredet, aber es war ein gutes Schweigen. Ein gemeinsames.
Während auf dem Bildschirm Werbung für ein sensationell neues Auto läuft und es lautlos durch traumhafte Landschaften fährt, als gäbe es nichts Natürlicheres als einen Haufen Blech in Mutter Natur, geht mir durch den Kopf, dass man hier bei einer banalen Autofahrt völlig sinnlos dem Schicksal zum Opfer fallen kann. Die Auswahl erfolgt absolut willkürlich. Das Risiko, in der Südsee von einem Tsunami überrollt zu werden, ist wesentlich geringer, als im deutschen Straßenverkehr draufzugehen.
Und plötzlich habe ich keine Lust mehr, Zeit zu vergeuden. Sei es im Auto oder vor der Glotze. Uns allen wird so viel Zeit gestohlen jeden Tag, einfach so. Und niemand scheint sich daran zu stören. Im Gegenteil, wir machen einfach mit, weil wir vergessen, was wir sonst noch alles so machen könnten. Dass es andere Dinge gibt, die wir erleben könnten.
In diesem Moment sagt Nina: »Auf der Insel gibt’s weder Butter noch Margarine.«
Ich sehe sie an. Stutze nur einen kurzen Moment. »Du auch?«, frage ich.
»Ja. Die ganze Zeit; seit Monaten.«
»Aber nicht für ein paar Wochen Urlaub, das ist dir schon klar, oder?«
Sie seufzt. »Schön wäre es.«
»Nina«, ich greife nach der Fernbedienung, schalte das Gerät aus und blicke ihr in die Augen. Es ist, als hätten ihre Worte einen Entscheidungswillen in mir wachgerufen, den der Alltagstrott lange Zeit zum Schweigen gebracht hatte. Nun meldet er sich zurück. »Ich will, dass wir nicht nur Träume haben, sondern sie auch umsetzen.«
»An mir liegt es nicht«, erwidert sie bloß. Damit ist es beschlossene Sache, so als hätten wir nur Wochen vorher darüber sprechen müssen. Wir kehren zurück. Wir ziehen auf die Insel.
In den Tagen und Wochen nach diesem Abend fühle ich mich beschwingt, auf eine Art über den Dingen stehend wie ein Superheld, dem nichts und niemand etwas anhaben kann. Auch wenn uns zwischendurch immer wieder Zweifel kommen.
»Überlege mal, was wir alles organisieren müssten.« Mal ist es Nina, die ihre Scheu äußert, mal bin ich es. Es gibt so vieles zu beachten, bis man dem deutschen Alltag entronnen ist – die Wohnung muss gekündigt werden, die Möbel untergestellt, das Auto verkauft, Telefon und Strom abgeschaltet. Bequem ist das nicht. Und das sind nur die Dinge, die uns hier erwarten.
Ist das erledigt, gibt es Abschiedstreffen mit Freunden, mit Nachbarn, mit Kollegen. Verwandtschaft ganz zum Schluss. Und alle werden sie fragen: »Was macht ihr da den ganzen Tag? Wird einem da nicht langweilig? Stumpft man da nicht ab?«
Gegenfrage: »Was macht ihr hier in Deutschland den ganzen Tag? Wird einem da nicht langweilig? Stumpft man da nicht ab?«
An einem schicksalsträchtigen Abend einige unnütze Wochen später, in denen ich sehr oft ins Fenster des Reisebüros gestarrt habe: Nina knallt sich zu mir aufs Sofa, wirft sich regelrecht auf mich und sagt: »Es kann so nicht weitergehen. Wir planen das jetzt endlich, anstatt uns nur auszumalen, was getan werden müsste. Mein Vertrag läuft eh bald aus.«
Nina ist nicht verbeamtet, in diesem Fall gar nicht so schlecht. Ich dagegen muss kündigen, was dem Chefredakteur vermutlich gar nicht schmecken wird. Was soll’s? Wir machen Nägel mit Köpfen. Erstaunlich, wie leicht das plötzlich geht.
Ich bin aufgeregt, als ich meinen Chef zum Geständnis im Biergarten treffe. Die Fassungslosigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben, und er muss erst mal einen tiefen Schluck Weizen nehmen, bevor er etwas sagen kann.
»Ihr meint das schon ernst, oder?« Ich nicke. Er nickt. »Okay. Einsame Insel, ja?« Wieder nicke ich. »Ein ganzes Jahr lang?«
»Jep.«
Mein Noch-Chef schüttelt den Kopf, trinkt noch einen Schluck. Dann nickt auch er. Ich dürfe mich gern wieder melden nach meiner Rückkehr, sagt er.
»Danke«, entgegne ich artig und freue mich wie ein Honigkuchenpferd. Die Vorstellung, nach unserem Ausstiegsjahr wieder für einen Job infrage zu kommen, gibt mir Sicherheit. Trotz unseres Vorhabens, das in den Augen der meisten Menschen reiner Abenteuerlust entspringt, legen Nina und ich großen Wert auf Sicherheit. Es ist eben nicht die Lust am Risiko, die uns auf eine einsame Insel treibt, sondern das Wissen, dass es uns dort besser geht, dass es das ist, was wir gerade brauchen. Dennoch ist es schön, zurückkehren zu können, falls es in die Hose geht.
Als ich nach Hause komme, sehe ich, dass Nina schon erste Umzugskartons vollgepackt hat, die wir bei unseren Familien unterstellen werden.
Ich grinse und rufe ihr zu: »Frei. Wir sind frei!«
3
Die Reise ins Paradies führt durch die Hölle und leider vorbei an jeder Menge Schiffswracks. Es ist früher Abend, die Dunkelheit bricht bereits über den Hafen herein. Bei Tageslicht haben wir von hier aus noch die Bananenstauden und die hochgewachsenen Palmen entlang der Küstenstraße gesehen. Das türkisblaue Meer machte die Umgebung zusammen mit dem Sonnenschein extra grell und nur mit Sonnenbrille genießbar.
Jetzt, um diese Uhrzeit, ist die Südsee verschwunden. Der Himmel ist bewölkt, auch Sterne und Mond spenden kein Licht.
Nuku’alofa heißt der Ort, in dem wir uns befinden – per Definition die Hauptstadt Tongas, aber Hauptdorf trifft es besser.
Nuku’alofa weicht in mancher Hinsicht von dem ab, was wir uns unter Südseeidylle vorgestellt haben. Wir reden immerhin vom Garten Eden auf Erden, wie dieses Gebiet mit seinen abertausenden Inseln zwischen Hawaii, Neuseeland und den Osterinseln im Südosten schon vor Jahrhunderten gern beschrieben wurde.
Dagegen ist Nuku’alofas Anblick ernüchternd. Die Stadt wurde nach dem Tod des Königs im Jahr 2006 halb niedergebrannt. Es gab Unruhen, denen die Forderung nach einer demokratischen Zusammensetzung des Parlaments vorausgingen. Geschäfte wurden geplündert und in Brand gesetzt. Das heutige Zentrum, wenn man es so nennen will, besteht vorwiegend aus Zementfundamenten – Reste der Brandruinen. Obwohl die Stadt mit ihren dreißigtausend Einwohnern vergleichsweise klein ist, herrschen Zustände wie in einer Großstadt: Überall liegt Müll herum, es wird mit Drogen gehandelt und gestohlen. Es kommt auch mal vor, dass ein Räuber mit einer Machete bewaffnet die Bank überfällt.
Wenigstens außerhalb der Stadt gibt es schöne Dörfer, Ecken mit unzähligen Mangobäumen und Strände zu entdecken, und die Südsee wird mehr zu dem, was wir zu finden erwartet hatten.
Nuku’alofas Hafen ist ein kleiner Schrottplatz mit einer kleinen Anlegestelle an der Spitze des Piers. Von den abgenutzten Pollern werden nur noch wenige benutzt. Viele Schiffe liegen auf Grund, Bugspitzen ragen mahnend aus dem Wasser.
»Ob das eine so gute Idee ist?«, höre ich Nina fragen, die erschüttert zu den Wracks hinüberschaut.
»Ich weiß auch nicht so recht«, sage ich.
Der Mietwagen steht außerhalb des Hafengeländes, und wir gehen die restlichen Meter zu Fuß. Unbequem mit den Badelatschen, weil wir ständig in das nächste Schlagloch treten. Schweiß tropft uns von den Augenbrauen, die Luft ist feucht und salzig. Sunday hechelt.
Das einzige Schiff unter dem Dutzend, an dem der Lack hält, ist die hellblau gestrichene Alo’ofa. »Liebe« heißt das. Sie macht einen heruntergekommenen Eindruck. Das Boot liegt am Ende des Piers, etwa fünfzig Menschen haben sich in einer Gruppe versammelt und stehen vor einem Absperrband. Ein Scheinwerfer, der an einen Generator angeschlossen ist, beleuchtet die Schotterfläche vor der kleinen Fähre. Nina stellt den Rucksack ab, der für ihre zierliche Gestalt deutlich zu schwer gepackt ist, und ich stelle die Kanister Benzin dazu.
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen und beginne zu begreifen, zu welcher Herausforderung ich heute antreten werde. Wenn ich auf das dunkle Meer hinausschaue, erkenne ich überall weiße Schaumkronen auf den Wellen.
Mir bleibt keine Wahl. Eine Fahrt mit diesem Boot ist die einzige Möglichkeit, an den Ort zu gelangen, der für das nächste Jahr unsere kleine Traumwelt werden soll – irgendwo mitten im Nichts, in tiefster polynesischer Einsamkeit.
Es wird ein Island-Hopping der anstrengenden Art, die Nacht hindurch, mit mehreren Stopps. Die einsame Insel selbst kann ich mit der Fähre nicht direkt erreichen; ich bin auf einen Fischer angewiesen, der mich von der nächstgelegenen bewohnten Insel dorthin bringt. Für die paar Seemeilen brauche ich so lange wie im Flieger um die ganze Welt.
Nina wird mit Sunday in Nuku’alofa warten und mit den Einkäufen für die ersten Monate auf unserer Insel beginnen, bis ich von der Erkundung zurückkomme und herausgefunden habe, was uns erwartet.
Wir verschaffen uns einen Überblick im Gewusel. Die Leute stapeln Unmengen Gepäck, manche haben Säcke mit Tarowurzeln dabei, eine Frau einen Plastikweihnachtsbaum mit Lichterkette. Viele von ihnen zieht es schon jetzt, Mitte November, zu ihren Familien auf die abgeschiedenen Inseln. Fernab jedes Einkaufsmarkts werden sie die Weihnachtszeit dort verbringen.
Sione, der Mann von der Fähre, erkennt uns wieder. Er ruft unsere Namen über die Köpfe hinweg und winkt uns zu sich. Wir sind in der Menge die einzigen Palangis, wie Weiße im Südseekönigreich von allen genannt werden, und leicht zu erkennen.
»Adrian, bist du startklar?«, fragt er, als wir vor ihm stehen.
Bin ich das?
»Ich denke schon.«
In den ersten beiden Monaten in Tonga hatten wir vergeblich versucht, die abgelegenen Inselgebiete zu erreichen, die uns am meisten interessierten. Die Segler, die wir trafen, lehnten unsere Anfragen nach einem Transfer von vornherein ab. Mit Fischern lief es nicht besser. Wir waren der Verzweiflung nahe. Sione half uns. Als wir ihn kennenlernten, hangelte er sich gerade barfuß von einem benachbarten Wrack über eine Maurerdiele auf die Alo’ofa hinüber, hopste über die Kluft zwischen Schiff und Pier zu mir, blickte mich mit seinen kokosnussbraunen Augen an und antwortete auf meine Frage, die ich ihm schon von Weitem zugerufen hatte: »Yes, my friend.«
Wie sich herausstellte, ist Sione ein wahrer Seenomade. Einer, der alle Inselchen am Ende der Welt kennt. Er ist 44 Jahre alt und verbringt sein Leben ausschließlich auf Booten. Auf der Alo’ofa arbeitet er als eine Art Verwalter, im benachbarten Schiffswrack wohnt er.
Es wird ernst, ich gebe Nina einen Abschiedskuss, von dem sie sich kaum lösen kann, und tätschle Sunday über den Kopf.
»Das klappt schon alles«, flüstere ich Nina ins Ohr. Sie nickt, sagt aber nichts.
Sione weist mich über einen schmalen Balken ins Boot. Bevor ich mir einen Platz suche und Sione zurück an seine Arbeit lasse, frage ich ihn: »Wird es sehr schlimm?«
Er antwortet sehr untypisch für die meisten Tongaer, die allzu gern sagen, was man hören will: »Es wird rau.« Ich hatte es geahnt.
Die Alo’ofa ist in Wahrheit nur ein ehemaliger Fischkutter mit einer überdachten Außenfläche. Innen finden Passagiere keinen Platz. Ich setze mich auf eine schmale Holzbank an der Seite, von wo aus ich nach vorne schauen kann, wo die meisten Leute sind. Sie legen sich auf den Schiffsboden und verwenden ihre Gepäckstücke als Kopfkissen. Ein Mann, in Schwarz gekleidet und eine Flechtmatte aus getrockneten Pandanusblättern um die Hüfte geschwungen, stellt sich vor die Passagiere und beginnt, auf Tongaisch zu sprechen.
»Das ist der Pfarrer«, sagt mir einer der Bootsangestellten. »Er betet für eine sichere Überfahrt.«
Wir legen ab, ich sehe Nina am Pier stehen, im warmen Regenschleier der Nacht, und wir winken uns ein letztes Mal zu.
Jetzt, so kurz nach dem Aufbruch, wirkt alles sehr unwirklich. In weiser Voraussicht hat Nina mir vor Antritt der Fährfahrt ein paar Tabletten gegen Seekrankheit in die Hand gedrückt, besonders hohe Dosis, von denen wir eine ganze Reihe von Packungen aus Deutschland mitgenommen haben. Mit einem Schluck Wasser spüle ich die erste Pille hinunter.
»Was ist das?«, fragt ein Junge, der mich dabei beobachtet.
»Das hilft gegen Seekrankheit«, antworte ich.
»Kann ich auch eine haben?«
»Klar«, sage ich und gebe ihm statt einer Tablette lieber ein Reisekaugummi. Die sind auch ganz gut; vor allem prophylaktisch für Jungs.
Die Alo’ofa tuckert an den ersten kleinen Inseln vorbei, die wenige Kilometer vor Tongas Hauptinsel Tongatapu liegen und deren Umrisse ich, obwohl wir ihnen jetzt so nahe sind, kaum noch wahrnehme im Schwarz der Nacht. Von hier aus begibt sich unser Boot hinaus ins offene Meer.
Ohne eine Phase der Eingewöhnung beginnt die Passage, auf die jeder im Schiff verzichten könnte. Meterhohe Wellen, die ich mehr erahnen als sehen kann, türmen sich vor uns auf. Ich beschäftige mich eingehend damit, mich auf einen Punkt außerhalb des Bootes zu konzentrieren. Allerdings weiß ich nicht, welchen ich nehmen soll, es stehen nicht viele zur Auswahl, und so blicke ich zurück in Richtung Tongatapu, wo ein Licht in einem spärlich ausgestatteten Südseeleuchtturm brennt – eine Lampe auf einem Metallmast.
Minuten später ist auch dieses Licht verschwunden, und ich suche vergeblich nach Halt am Horizont. Es gibt nur noch Dunkelheit. Die Alo’ofa schaukelt auf und ab, manchmal spritzt ein Schwall Wasser vom Bug bis in den Seitengang. Die Plastikplane über der Reling, die Sione nach einer Stunde Fahrt herabgelassen hat, und selbst meine Regenjacke bieten nach einer Weile keinen Schutz mehr vor den Wellen. Mir ist kalt, ich bin nass bis auf die Unterhose. Entnervt drehe ich mich zur Seite, den Blick stur auf Ölfässer gerichtet, die im hinteren Teil des Schiffes stehen. So bekommt nur noch mein Rücken das Wasser ab und die Kapuze meiner Jacke und es rinnt mir nicht mehr über Gesicht und Kinn in den Kragen.
Die Tablette bewirkt, dass ich schläfrig werde, meine Angst vergesse und dem Verlangen nach Schlaf gern nachgeben würde. Aber ich habe einen denkbar schlechten Sitzplatz, bin eingequetscht zwischen zwei dicken Männern. Der Kaugummi-Junge liegt zu meinen Füßen und hat sich eine Decke bis übers Gesicht gezogen, nur seine Augen blicken hervor.
»Schmeckt ganz gut«, sagt er. »Ich glaube, es hilft.«
Auch bei mir wirkt die Tablette eine ganze Weile, und ich hoffe, die Fahrt verhältnismäßig gut zu überstehen. Aber, das war klar, plötzlich ist mir doch speiübel. Ich greife nach der Reling, wanke nach hinten zu den Ölfässern. Gegenüber befindet sich die sogenannte Toilette. Ich schiebe die Holzplatte zur Seite, die als Tür gedacht ist, und stürze voller Dankbarkeit, die Schüssel erreicht zu haben, hinein.
Wie ich erst jetzt bemerke, sitze ich schon die ganze Zeit vor dem Seitenfenster der Toilette, weshalb mir die gesamte Höllenfahrt über der Geruch von Urin in die Nase steigt. Nach dieser ersten Sitzung beschließe ich, fortan zur Reling zu gehen, was auf lange Sicht humaner ist als die Toilettenkabine, in der sich auf dem Boden Salzwasser mit Allerlei vermischt.
Als ich in meine gequetschte Position zurückgekehrt bin, beobachte ich, dass auch andere Passagiere die Reling nutzen, um überflüssigen Mageninhalt loszuwerden. Sie klappen die Plastikplane einen Spalt nach oben und recken ihre Köpfe hindurch in Wind und Wellen.
»Wie geht’s dir?«, fragt der Junge besorgt.
»Ist okay«, lüge ich.
Der Regen wird in der Nacht noch stärker, die Wellen werden noch höher, und nach jedem Kamm beginnt eine steile Talfahrt. Ich frage mich, ob das Gepäck, das im unteren Bugraum verstaut liegt, nicht vielleicht doch zu schwer ist, um die Alo’ofa heil zum nächsten Flecken Land zu bringen.
Immer, wenn wieder Leute zur Reling laufen und zurück oder die nächste Welle reinschwappt, schrecke ich vom Dösen hoch. Die nassen Klamotten auf der Haut sind ungemütlich und sie werden in dieser Nacht nicht mehr trocknen.
Eigentlich soll ich erst acht Stunden, nachdem ich die erste Tablette eingenommen habe, die zweite nehmen. Aber ich entscheide mich für zwei Stunden früher, es ist kurz nach Mitternacht. Ich krame irgendwie die Flasche Wasser aus dem Rucksack, wofür ich den schlafenden Jungen wecken muss, der ihn als Kopfkissen benutzt, und werfe die nächste Tablette ein.
»Kann ich noch ein Kaugummi haben?«
Ich reiche es ihm wortlos. Seekrank sein ist wie sterben.
Obwohl ich mir die Antwort doch immer wieder längst gegeben habe, frage ich mich: Ist es wirklich das Richtige, was wir tun? War es klug, daheim die Wohnung aufzulösen und die Jobs aufzugeben? Für was? Für einen verrückten Traum? Eine Idee, die sich vielleicht gar nicht so verwirklichen lässt, wie wir uns das vorstellen? Was haben wir davon? Ich habe keine Antworten, ich sitze in einem Boot und mir dreht sich der Kopf.
Es gibt einen Zeitpunkt in jener Nacht, an dem ich aufgehört habe, das Ende der Fahrt herbeizusehnen. Mir ist jegliches Zeitgefühl verloren gegangen. Wenn mir jemand erzählen würde, wir seien schon Tage unterwegs, und ich hätte keine Uhr auf dem Handydisplay, würde ich es glauben.
Die Alo’ofa treibt in den Wellen wie eine Flaschenpost, die niemals irgendwo ankommt. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass wir uns voranbewegen. Mittlerweile wäre es mir selbst egal, wenn ich im Halbschlaf von der Bank auf den Boden rutschte und von dort unter der Reling hindurch in die Tiefe. Hauptsache, die Augen schließen sich, ohne dass sich gleich alles dreht im Kopf. Endlich übermannt mich die zweite Tablette.
4
Alles fing an, als Nina und ich zwei Jahre zuvor zu jener Reise durch Tongas benachbarten Inselstaat Fidschi aufbrachen. Wir wollten für eine Weile hinaus aus der alten Welt, raus aus dem Alltag – ein Wunsch, wie ihn viele haben. Manche erfüllen sich diesen Traum direkt nach dem Abitur, gehen erst mal auf Reisen, bevor »der Ernst des Lebens« beginnt. Bei uns ging das nicht, obwohl auch wir schon zu Schulzeiten vom Paradies träumten. Kaum das Abschlusszeugnis in der Hand, hatte sich Nina ins Studium gestürzt und ich mit Zivildienst und Ausbildung begonnen.
Die Zeit verging, es war eine gute Zeit, aber irgendwann war klar: Wenn wir nicht ein Leben lang träumen, sondern unser Paradies wirklich sehen wollten, dann jetzt oder nie. Wir ahnten nicht im Geringsten, dass aus diesem ersten Abenteuer etwas werden würde, das wir heute als unsere persönliche Lebensart begreifen.
Zunächst zog es uns in Fidschis Nordosten, auf eine kleine Insel mit vielen Hügeln, Bächen und sieben Dörfern. Wir fanden eine Bleibe in einer Bucht am Rand einer Siedlung und versuchten, uns in Dorf und Südseekultur zu integrieren. Die Insulaner nahmen uns herzlich auf. Und schließlich nahm das Verhängnis seinen Lauf, denn eines Tages trafen wir Jonny.
Jonny ist ein braun gebrannter und gut gelaunter Mittvierziger aus Südafrika, der nach Fidschi kam, um das Leben zu genießen – und er sagte: »Es gibt da diese Insel, also wisst ihr, die ist ein echter Geheimtipp.«
Wir lauschten neugierig, und je mehr Jonny erzählte, desto faszinierter waren wir. Es handelte sich um eine einsame Insel. Die einsame Insel, dreißig Seemeilen entfernt von der nächsten bewohnten. Mitten im weiten Ozean, mitten im Nichts. Ein kleines Sandkorn auf der Seekarte, auf den meisten Karten nicht einmal vermerkt. Unerreichbar für jeden, der nicht um ihre Existenz weiß. Sie ist etwa vierhundert mal hundert Meter groß; um das bewaldete Inselinnere zieht sich ein Sandstrand, der so breit und lang ist wie Eiweiß bei einem Spiegelei.
Die Schönheit der Insel blendete uns, ihre Unberührtheit raubte uns den Atem. Ohne dass wir darüber gesprochen hätten, war uns beiden klar, dass wir genau das suchten. Die Einsamkeit. Auch wenn wir beide keine Misanthropen sind, sondern im Gegenteil unsere Freunde lieben und brauchen – der Gedanke, für eine Weile nur zu zweit zu sein, reizte uns. Würden wir uns neu kennenlernen, wenn wir nichts und niemanden sonst hätten, der uns voneinander ablenkte? Würde es unsere Beziehung festigen?
Als wir den warmen, weißen Sand der Insel zum ersten Mal unter unseren Füßen spürten, fühlten wir uns, als wären wir die einzigen Menschen auf dieser Welt – am schönsten Ort, den man finden kann. Er wirkte so surreal, so unglaublich perfekt. So, dass wir fast heute noch nicht glauben können, wirklich dort gewesen zu sein. Dass es keine Einbildung war, sondern echt.
Diese Insel sieht aus, als hätte eine höhere Macht jedes Sandkorn einzeln arrangiert, jede Koralle in der türkisfarbenen Lagune extra eingesetzt. Und wir bekamen plötzlich die Chance, für kurze Zeit dort leben zu können. Die Erlaubnis, dort leben zu dürfen. Unser Eintritt ins Paradies. Wir konnten gar nicht anders.
Jonny vermittelte uns an den Sohn des Besitzers, einen Neuseeländer, und der freute sich riesig über unser Interesse. Er habe nie darüber nachgedacht, die Insel und das Strandhaus auf ihr zu vermieten, sagte er, aber das höre sich gut an. »Könnt ihr euch mit euch selbst beschäftigen?«, fragte er. Konnten wir das? Klar konnten wir!
In dieser Inselidylle gab es keinen westlichen Luxus, wie wir ihn kennen. Wir hatten eine Komposttoilette, die aus einer Plastiktonne und einem Holzgestell drumherum bestand. Dafür gab es eine komplett andere Art von Luxus: Wir hatten Zeit, unendlich viel Zeit. Für alle täglichen Dinge des Lebens und vor allem füreinander. Ich glaube, das war es, was die Sehnsucht in uns pflanzte und keimen ließ, bis daraus dieses unbedingte Bedürfnis wuchs, das uns zu Hause nicht mehr glücklich werden ließ.
Es wäre naheliegend für uns gewesen, beim zweiten Mal erneut auf jene Insel zu gehen, wir hatten ja sämtliche Kontakte, doch gab es ein Problem, für das wir einfach keine Lösung fanden: Fidschi erteilt prinzipiell keine Erlaubnis, Hunde aus Europa zu importieren. Auch keine Sondergenehmigung. Keine Diskussion. Doch für uns war klar: Unseren Hund lassen wir nicht zurück.
So kamen wir auf das Königreich von Tonga. Gleich neben Fidschi gelegen, die Inseln laut Reiseführer sogar noch abgeschiedener als das im Laufe der letzten Jahrzehnte touristischer gewordene Nachbarland.
Der nette Herr von der Quarantänestation half uns gleich mit unserem speziellen Hunde-Import-Anliegen. Und: Im Verhältnis zu bewohnten Inseln gibt es in Tonga überproportional viele unbewohnte. Etwa dreißig besiedelt, 340 einsam – kaum vorstellbar, dass wir dort nicht fündig werden sollten.
Wochen vor der unheilvollen Fährfahrt auf die Insel suche ich ein Hinterhofbüro auf, das zum Ministry of Lands, Survey, Natural Resources and Environment gehört. Es ist Mittagspause und duftet nach Magginudeln mit Hühnergeschmack, als ich hereinkomme. Die Mitarbeiter gießen sie in Kaffeetassen auf und rühren so lange darin herum, bis die Nudeln weich genug sind.
Richard, Chef der Unterabteilung Geographic Information System im Ministerium, unterbricht die Angelegenheit, die seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, erhebt sich vom Schreibtischstuhl und kommt mir lächelnd entgegen, um mir die Hand zu schütteln. Er trägt tongaische Geschäftskleidung: einen schwarzen Wickelrock, die obligatorische Pandanusmatte darumgebunden, ein schwarzes Hemd und breite Ledersandalen. Er wirkt gemütlich und höflich, trotzdem wird er mich nach Anhören meines Anliegens aller Wahrscheinlichkeit nach für verrückt erklären.
»Wie kann ich helfen?«, fragt er und schaut mich durch seine eckige Brille erwartungsvoll an. Palangis stehen normalerweise wegen Visafragen vor dem Immigration Office eine Straße weiter, einem Gebäude, das zusammenfallen würde, wenn sich nicht so viele Reisepässe darin stapelten. Oder sie schaffen es mal in das Vorzimmer des Ministry of Lands, um Gebühren für geleastes Land zu bezahlen. Doch hierher, in den mit Wellblech bedeckten Anbau hinter dem Hauptgebäude, kommt nie einer.
»Es ist etwas kompliziert«, sage ich. »Ich kann auch nach der Mittagspause wiederkommen.«
»Nein, nein, das geht schon in Ordnung«, erwidert Richard, rollt mir einen Bürostuhl entgegen und fordert mich auf, mich ihm gegenüber zu setzen.
Ich nehme dankend Platz und schildere ihm mein Anliegen. »Meine Frau und ich suchen eine passende einsame Insel für uns«, sage ich. »Dazu brauche ich einen Überblick und gutes Kartenmaterial.«
Mich überrascht, dass Richard gar nicht verwundert reagiert. Er braucht nur zwei Sekunden, um zu verarbeiten, was ich will. »Und was wollt ihr dort machen?«, fragt er.
»Was die meisten Tongaer auch machen«, antworte ich. »Wir mögen das einfache Leben auf den Inseln, wollen einen eigenen Garten anbauen und ab und zu fischen gehen.«
Richard grinst mich an und holt Luft. »Pflanz bloß kein Marihuana an«, warnt er, und ich weiß nicht recht, ob er das als Witz meint. Er führt mich an einen Tisch in der Ecke des Büros, auf dem Karten im DIN-A1-Format ausgebreitet liegen. Manche zeigen große Inseln im Detail. Andere zeigen ganze Gruppen. Richard zieht eine der Kartonrollen herunter, die auf einem Schrank liegen. Er öffnet den Deckel und holt eine Karte heraus, auf der die gesamte Ha’apai-Inselgruppe abgebildet ist. Die liegt in etwa in der Mitte des Königreichs und ist besonders abgeschieden und wenig erschlossen. Genau, was wir suchen. Die einzelnen Archipele sind so weit versprenkelt, dass man meinen könnte, jemand habe Zuckerstreusel auf die Karte fallen und kullern lassen. Die enorme Weite des Ozeans ist das alles bestimmende Element. Die reine Landmasse macht in der Südsee ein Prozent aus, der Rest der Fläche ist Wasser – sie ist so groß wie die Oberfläche des Mondes.
Auf Richards Karte werden die Entfernungen von Insel zu Insel deutlich – das Kartenmaterial, das wir zuvor im Tourismusbüro bekommen haben, war für uns zu nichts zu gebrauchen. Es sind vier Inseln, die uns aufgefallen sind und über die wir gern mehr erfahren würden. Mit tagelanger Internetrecherche haben wir versucht, so viele Eindrücke wie möglich zu gewinnen. Google Earth funktioniert wegen der schlechten Internetverbindung in Tonga kaum, aber zu manchen Inseln finden wir Beschreibungen von Seglern, die auf ihren Fahrten durchs Archipel vor ihnen geankert haben. Die Beiträge sind mitunter mehrere Jahre alt. In den meisten Fällen ist es zäh, an aktuelle Informationen zu kommen. Mit Glück stoßen wir auf Fotos, die Segler nach ihren Törns online gestellt haben, und erfahren von Früchten, die auf den Inseln wachsen, und Tieren, die dort leben.
Auf einer von ihnen, sehr markant durch glatte, große Felsblöcke am Strand, lebt angeblich mehrere Monate im Jahr ein tongaischer Einsiedler mit seinen Schweinen. Das habe ich abends in einer Strandbar erfahren.
»Ist das noch immer so?«, frage ich Richard.
»Soweit ich weiß, ja«, sagt er.
Damit scheidet Klein-Bora-Bora, wie Segler die Insel nennen, leider aus. Nina und ich, sozusagen Zweisiedler, wollen sicher keinen Einsiedler stören. Wobei die Insel noch einen weiteren Vorteil gehabt hätte: Sie ist an einer Stelle mehr als zehn Meter hoch – ein guter Schutz vor einem Tsunami.
Das sieht auch Richard so, der mir eine Karte zeigt, auf der die Entwicklung eines Tsunamis im September 2009 auf den Niuas, den beiden nördlichst gelegenen Inseln Tongas, dargestellt ist. Die Welle hatte Dutzende Menschen das Leben gekostet.
»Die Tsunamigefahr gilt in den nächsten Jahren als erhöht«, sagt Richard. Ich zucke zusammen. Dass es Tsunamis gibt und sie gefährlich sind, ist ja klar, dass aber die Wahrscheinlichkeit, von einem erwischt zu werden, augenblicklich erhöht ist, höre ich zum ersten Mal.
»Du musst sicherstellen, dass du alle offiziellen Warnungen mitbekommst, egal wie«, empfiehlt Richard und sieht mich eindringlich an. Ich nicke; ich werde das Risiko sicher nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Zwei weitere Inseln scheiden aus; sie sind uns zu klein. Auf ihnen kann man kaum einen Kreis laufen, und wir würden uns nach ein paar Stunden an die Gurgel gehen.
In der Ha’apai-Gruppe gibt es jedoch noch eine kleine Inselkette, die passen könnte. Eine Insel ganz im Süden ist am größten, eineinhalb Kilometer lang und dreihundert Meter breit. Leider kann mir Richard keine Auskunft über sie geben. »Ich bin nie dort gewesen«, sagt er. Auch die Insel wenige Meilen weiter nördlich kennt er nicht. Trotzdem erscheint sie mir als Option, weil sie von Seglern als riesige Bananen- und Papayaplantage beschrieben wird, die vor Jahrzehnten angelegt worden sein muss.
Die dritte unbewohnte Insel im Bunde, weitere Meilen nördlich, ist einen Kilometer lang und misst an der breitesten Stelle fast dreihundert Meter. Sie ragt aus dem Meer wie der mächtige Rücken eines Buckelwals, der zum Atmen auftaucht. Nina hat eine Luftaufnahme von ihr im Internet gefunden. Sie liegt in derselben Lagune wie die frühere Plantagen-Insel, und noch aus tausend Metern Höhe ist das türkisfarbene Wasser um die Strände herum zu erkennen. Sie hat eine auffällig breite Sandspitze im Nordwesten – ein traumhafter Platz für abendliche Lagerfeuer.
»Ich glaube, auf dieser Insel hat ein Palangi ein Haus gebaut«, erwähnt Richard beiläufig.
Schlagartig erhöht sich mein Puls. »Wirklich wahr? Ein Haus? Lebt da jemand?«
»Keine Ahnung.«
Ich dämmere einen Moment in Gedanken vor mich hin. Wenn auf der Insel niemand leben würde, und die Besitzer zu kontaktieren wären und wenn denen unser Vorhaben gerade recht käme – ist das vorstellbar? Mit uns hätten sie jemanden, der das Land pflegt, nach dem Haus schaut. Und für Nina und mich wäre das der schnellste Zugang zur einsamen Insel. Es würde keine weiteren Diskussionen geben mit Behörden oder Landbesitzern. Denn selbst wenn eine Insel offiziell im Besitz der Regierung ist, gibt es in Tonga Adelsleute, die einen Anspruch darauf haben und mit denen zu klären wäre, ob wir uns dort für ein Jahr niederlassen dürften. Beim Privatbesitz eines Weißen würde so vieles einfach wegfallen.
Inzwischen sind wir so verbissen mit der Organisation unserer Inselzeit beschäftigt, dass es uns guttun würde, endlich die Wahl des Ortes zu treffen. Dazu kommt: Ein fertiges Haus würde uns die Zeit sparen, den Bau einer Hütte zu organisieren, das Baumaterial auszuwählen, zu kaufen und mit einem größeren Boot auf die Insel zu bringen.
Weil wir die ganze Zeit davon ausgegangen sind, diese Punkte erledigen zu müssen, haben wir uns in unserem ersten Monat in Tonga bereits um einiges gekümmert. Wir waren im Baumarkt und haben uns Holzbalken und Latten angeschaut, Wellblech für das Dach, Regentanks und ihr Fassungsvolumen, sogar spezielle Metallplatten, die Dach und Holzgerüst zum Schutz vor Zyklonen miteinander verbinden.
»Ich kann eine meiner Mitarbeiterinnen losschicken, um etwas über die Besitzverhältnisse der Insel in Erfahrung zu bringen«, bietet Richard an.
»Ja, bitte, bitte«, flehe ich.
»In Ordnung. Das dauert aber eine Weile«, sagt er. »Komm am besten heute Nachmittag noch mal vorbei.«
Bevor ich gehe, bestelle ich fast sämtliches Kartenmaterial Tongas in DIN-A1-Format: Tongatapu und seine umliegenden Inseln, die nördliche Inselgruppe Vava’u, Tonga im Gesamtüberblick und die Ha’apai-Gruppe. Die Karten sind derart detailliert, dass ich sie unbedingt haben muss, um mit Nina in Ruhe alles zu studieren. Richard ist entzückt, und ich handle ihn um zehn Pa’anga, Tonga-Dollar, auf 150 herunter. Ein Pa’anga entspricht etwa vierzig Cent.
»Ich habe noch nie jemandem Rabatt gewährt«, sagt Richard und grinst.
Als ich später am Tag wiederkomme, zeigt er mir den sauberen Druck der bestellten Karten, und ich nicke zufrieden. Er rollt die Papiere zusammen, steckt sie in Kartenrollen und verschließt sie mit Plastikdeckeln.
»Gibt es Neuigkeiten über die Insel?«, frage ich.
»Leider nicht viele«, sagt Richard. Er hat keine Namen oder Kontaktdaten in Erfahrung bringen können, sondern nur den kryptischen Fantasienamen Far Away Limited, ausgedacht für das Inselgrundstück.
Ich bohre noch einmal nach, ob das wirklich, wirklich alles ist. »Keine weiteren Eintragungen?«
Richard schüttelt den Kopf, seine Mitarbeiterin auch. »Tut mir leid«, sagt sie. »Tongaische Bürokratie. Da ist nichts.«
Vermutlich sind die Akten über diesen Landverkauf auf einem der vielen Feuerhaufen Tongas gelandet, von denen jede Familie einen hinter dem Haus hat, denke ich mir. Mist!
»Vielleicht gibt es bei TCC eine Eintragung«, sagt Richard und verweist mich auf die tongaische Telefongesellschaft, Tonga Communications Corporation. Einen Versuch ist es wert, und die Zentrale liegt nur einen Kilometer entfernt.
Die Dame im Büro der Telefongesellschaft sucht eine Viertelstunde in ihrem Computersystem und in verschiedenen Telefonbüchern nach Informationen mit dem Ergebnis: keine Eintragung. Ich setze mich an einen der Rechner im TCC-Büro und durchforste das Internet.