Eine kurze Geschichte von sieben Morden - Marlon James - E-Book

Eine kurze Geschichte von sieben Morden E-Book

Marlon James

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize

Jamaika, 1976: Sieben bewaffnete Männer dringen in das Haus des Reggae-Musikers Bob Marley ein und eröffnen das Feuer. Marleys Manager wirft sich schützend über ihn und erleidet dabei lebensgefährliche Verletzungen. Marleys Frau Rita wird ebenfalls schwer verwundet, er selbst bleibt mit leichteren Verletzungen an Armen und Brust zurück. Wer waren die Täter? Was waren ihre Motive? Ausgehend von dem Attentat und den Spekulationen, die sich darum ranken, entwirft Marlon James ein vielseitiges Stimmungsbild Jamaikas in den 70er und 80er Jahren voll Gewalt, politischer Willkür, Drogen und Intrigen, ausgestaltet bis ins kleinste Detail.

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Seitenzahl: 1296

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Das Buch

Jamaika, 1976: Sieben bewaffnete Männer dringen in das Haus des Reggae-Musikers Bob Marley ein und eröffnen das Feuer. Marleys Manager wirft sich schützend über ihn und erleidet dabei lebensgefährliche Verletzungen. Marleys Frau Rita wird ebenfalls schwer verwundet, er selbst bleibt mit leichteren Verletzungen an Armen und Brust zurück. Wer waren die Täter? Was waren ihre Motive? Ausgehend von dem Attentat und der Spekulationen, die sich darum ranken, entwirft Marlon James ein vielseitiges Stimmungsbild Jamaikas in den 70er- und 80er-Jahren, voll Gewalt, politischer Willkür, Drogen und Intrigen.

Der Autor

Marlon James wurde 1970 in Kingston geboren. Sein erster Roman John Crow’s Devil wurde als bestes Debüt für den »Los Angeles Times Book Prize« und den »Commonwealth Writers’ Prize« nominiert. Das Nachfolgewerk The Book of Night Women über eine Revolte jamaikanischer Sklavinnen während der Kolonialzeit erhielt den »Dayton Literary Peace Prize« und den »Minnesota Book Award«. Auch Eine kurze Geschichte von sieben Morden wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. erhielt James als erster Jamaikaner den »Man Booker Prize«. Marlon James verließ Jamaika wegen der dort vorherrschenden Ressentiments gegen Homosexuelle und teils gewaltsamer Übergriffe. Er lebt heute in Minneapolis, Minnesota.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel A Brief History of Seven Killings bei Riverhead Books

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2014 Marlon James

Copyright © 2016 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kristof Kurz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

nach einer Gestaltung von © Gregg Kulick

Umschlagmotiv: © Getty Images/Rolf Nussbaumer

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19645-5V003

www.heyne-hardcore.de

Für Maurice James

Ein außergewöhnlicher Gentleman in seiner eigenen Liga

Inhalt

ORIGINAL ROCKERS

2. Dezember 1976

AMBUSH IN THE NIGHT

3. Dezember 1976

SHADOW DANCIN’

15. Februar 1979

WHITE LINES/KIDS IN AMERICA

14. August 1985

SOUND BOY KILLING

22. März 1991

Die handelnden Personen

Kingston und Umgebung ab 1959

Sir Arthur Jennings, ehemaliger Politiker, verstorben

Der Sänger, weltberühmter Reggae-Superstar

Peter Nasser, Politiker, Stratege

Nina Burgess, ehemalige Empfangsdame, derzeit arbeitslos

Kim-Marie Burgess, ihre Schwester

Ras Trent, Geliebter von Kim-Marie

Doctor Love / Luis Hernán Rodrigo de las Casas, CIA-Berater

Barry Diflorio, Chef des CIA-Büros auf Jamaika

Claire Diflorio, seine Frau

William Adler, ehemaliger CIA-Agent im Auslandseinsatz, hat den Dienst quittiert

Alex Pierce, Journalist beim Rolling Stone

Mark Lansing, Filmemacher, Sohn des ehemaligen CIA-Chefs Richard Lansing

Louis Johnson, CIA-Agent

Mr. Clark, CIA-Agent

Bill Bilson, Journalist beim Jamaica Gleaner

Sally Q, Vermittlerin, Informantin

Tony McFerson, Politiker

Officer Watson, Polizist

Officer Nevis, Polizist

Officer Grant, Polizist

Copenhagen City

Papa-Lo / Raymond Clarke, 1960 –1979 Don von Copenhagen City

Josey Wales, seine rechte Hand, 1979 –1981 Don von Copenhagen City, 1979 – 1991 Anführer der Storm Posse

Weeper, einflussreicher Gangster, führendes Mitglied der Storm Posse in Manhattan und Brooklyn

Demus, Gang-Mitglied

Heckle, Gang-Mitglied

Bam-Bam, Gang-Mitglied

Funky Chicken, Gang-Mitglied

Renton, Gang-Mitglied

Leggo Beast, Gang-Mitglied

Tony Pavarotti, Auftragskiller, Scharfschütze

Priest, Kurier, Informant

Junior Soul, Informant, Gerüchten zufolge Spitzel für die Eight Lanes

The Wang Gang, Bande mit Sitz in den Wang Sang Lands, kooperiert mit Copenhagen City

Copper, Gang-Mitglied

Chinaman, Anführer einer Gang in der Nähe von Copenhagen City

Treetop, Gang-Mitglied

Bullman, Auftragskiller

Eight Lanes

Shotta Sherrif / Roland Palmer, 1975 –1980 Don der Eight Lanes

Funnyboy, seine rechte Hand

Buntin-Banton, zusammen mit Dishrag 1972 –1975 Don der Eight Lanes

Dishrag, zusammen mit Buntin-Banton 1972 –1975 Don der Eight Lanes

Außerhalb von Jamaika 1976 – 1979

Donald Casserley, Drogenhändler, Präsident der Jamaica Freedom League

Richard Lansing, CIA-Direktor von 1973 – 1976

Lindon Wolfsbricker, amerikanischer Botschafter in Jugoslawien

Admiral Warren Tunney, CIA-Direktor von 1977 –1981

Roger Theroux, CIA-Agent

Miles Copeland, Leiter des CIA-Büros in Kairo

Edgar Anatoljewitsch Tscheporow, Reporter der russischen Nachrichtenagentur Novosti

Freddy Lugo, Mitglied von Alpha 66, der Vereinigten Revolutionären Organisationen und AMBLOOD

Hernán Ricardo Lozano, Mitglied von Alpha 66, der Vereinigten Revolutionären Organisationen und AMBLOOD

Orlando Bosch, Mitglied von Omega 7, der Vereinigten Revolutionären Organisationen und AMBLOOD

Gael und Freddy, Mitglied von Omega 7, der Vereinigten Revolutionären Organisationen und AMBLOOD

Sal Resnick, Journalist bei der New York Times

Montego Bay 1979

Kim Clarke, arbeitslos

Charles / Chuck, Ingenieur, Alcorp Bauxite

Miami und New York 1985 – 1991

Storm Posse, jamaikanisches Drogensyndikat

Ranking Dons, rivalisierendes jamaikanisches Drogensyndikat

Eubie, Anführer der Storm Posse in Queens und der Bronx

A-Plus, Geschäftspartner von Tristan Phillips

Pig Tails, Mitglied der Storm Posse in Queens und der Bronx

Ren-Dog, Mitglied der Storm Posse in Queens und der Bronx

Omar, Mitglied der Storm Posse in Manhattan und Brooklyn

Romeo, Drogenhändler der Storm Posse in Brooklyn

Tristan Phillips, Häftling auf Rikers Island, Mitglied der Ranking Dons

John-John K, Auftragskiller, Autoknacker

Paco, Autoknacker

Griselda Blanco, Drogenbaronin des Medellín-Kartells, Filiale Miami

Baxter, Mitarbeiter von Griselda Blanco

The Hawaiian Shirts, Mitarbeiter von Griselda Blanco

Kenneth Colthirst, Anwohner 5th Avenue, New York

Gaston Colthirst, sein Sohn

Gail Colthirst, seine Schwiegertochter

Dorcas Palmer, Pflegekraft

Millicent Segree, angehende Krankenpflegerin

Miss Betsy, Leiterin der »God Bless«-Arbeitsvermittlung

Monifah Thibodeaux, Drogenabhängige

Gonna tell the truth about it,

Honey, that’s the hardest part

Bonnie Raitt, »Tangled and Dark«

Wenn’s nicht so war, dann war’s so ähnlich

Jamaikanisches Sprichwort

Sir Arthur George Jennings

Aufgepasst.

Die Toten hören nie auf zu reden. Vielleicht weil der Tod nicht der Tod ist, sondern so etwas wie Nachsitzen in der Schule. Du weißt, woher du kommst, und du kehrst auch immer wieder dorthin zurück. Du weißt, wohin du gehst, aber du scheinst nie dort anzukommen, und du bist einfach bloß tot. Tot. Das klingt endgültig, aber der Tod ist ein Prozess. Du triffst Menschen, die schon viel länger tot sind als du und die ganze Zeit umherlaufen, ohne irgendwo hinzugelangen, und du hörst, wie sie heulen und zischen, denn wir sind alle Geister oder denken zumindest, wir seien Geister, aber wir sind bloß tot. Geister, die in andere Geister hineinschlüpfen. Manchmal schlüpft eine Frau in einen Mann und stöhnt auf in Erinnerung an die Liebe und die Lust. Sie wimmern und klagen laut, aber es dringt nur wie ein Pfeifen durch das Fenster oder wie ein leises Flüstern unter dem Bett hervor, das kleine Kinder dann für ein Ungeheuer halten. Die Toten liegen gern unter den Lebenden, und zwar aus drei Gründen: (1) Wir liegen sowieso die meiste Zeit; (2) Die Unterseite des Bettes sieht aus wie ein Sargdeckel; (3) Über uns ist ein Gewicht, das Gewicht eines Menschen, in den du schlüpfen und den du schwerer machen kannst. Du hörst sein Herz schlagen, während du zusiehst, wie es pumpt, und du hörst die Luft durch die Nase zischen, während seine Lunge arbeitet, und du beneidest ihn noch um den winzigsten Atemzug. An einen Sarg kann ich mich nicht erinnern.

Aber die Toten hören nie auf zu reden, und manchmal können die Lebenden sie hören. Das wollte ich damit sagen. Wenn du tot bist, sind Worte nichts weiter als Schlenker und Umwege, und es gibt nichts weiter zu tun, als eine Weile ziellos umherzuwandern. Nun ja, so machen es zumindest die anderen. Ich will damit sagen, dass die Verflossenen von den Verflossenen lernen, aber das ist ziemlich kompliziert. Ich könnte mir selbst dabei zuhören, wie ich ständig allen, die mich hören können, versichere, dass ich nicht von allein vom Balkon des Sunset Beach Hotel an der Montego Bay gefallen bin, sondern gestoßen wurde. Es bringt nichts, wenn ich sage, halt die Klappe, Artie Jennings, denn jeden Morgen, wenn ich aufwache, muss ich meinen zerplatzten Schädel neu zusammensetzen. Und sogar jetzt, während ich rede, höre ich noch, was ich damals gesagt habe, ist das zu fassen, Leute?, was bedeutet, dass das Leben nach dem Tod keine supertolle Sache ist und schon gar keine irre Shindig-Party. He, Daddy-O, siehst du die Cool Cats da drüben? Die haben immer noch nicht kapiert, dass es hier nix weiter zu tun gibt als zu warten, bis der Typ, der mich umgebracht hat, hier aufkreuzt, aber er stirbt nicht, er wird bloß immer älter und älter und seine Frauen werden immer jünger und jünger, und er zeugt eine ganze Brut von geistesschwachen Kindern und richtet das Land zugrunde.

Die Toten hören nie auf zu reden, und manchmal können die Lebenden sie hören. Manchmal antwortet einer, wenn ich ihn genau in dem Moment erwische, in dem seine Augen im Schlaf zucken, und er redet, bis seine Frau ihm einen Klaps verpasst. Aber ich höre lieber denen zu, die schon länger tot sind. Ich sehe Männer in Kniebundhosen und blutigen Mänteln und höre sie reden, während das Blut aus ihren Mündern fließt, gütiger Himmel, dieser Sklavenaufstand war eine schauderhafte Angelegenheit, und die Queen hat sich wirklich als mordsmäßig nützlich erwiesen, seit die Westindienkompanie ihren ziemlich schäbigen Niedergang erlebt hat, jedenfalls im Vergleich zu der im Osten, und warum schlafen die Neger so unruhig und einfach da, wo es ihnen passt, und verflixt noch mal, ich glaube, ich habe die linke Hälfte von meinem Gesicht verlegt. Wer tot ist, merkt schnell, der Tod bedeutet nicht, zu verschwinden, sondern die Einöde des Totenreichs. Die Zeit vergeht weiter. Du siehst ihr dabei zu, aber selbst bist du unveränderlich wie ein Gemälde mit einem Mona-Lisa-Lächeln. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen einem dreihundert Jahre alten Kehlenschnitt und einem Kindstod zwei Minuten nach der Geburt.

Wenn du nicht aufpasst, wie du schläfst, wirst du dich so vorfinden, wie die Lebenden dich vorgefunden haben. Ich lag auf dem Boden, mein Kopf war zerschmettert, mein rechtes Bein klemmte unter meinem Rücken, und meine Arme waren auf eine Weise verdreht, wie Arme nicht verdreht sein sollten. Vom Balkon dort oben sehe ich aus wie eine tote Spinne. Ich bin gleichzeitig da oben und hier unten, und von dort oben sehe ich mich so, wie mein Mörder mich sah. Es braucht nur eine bestimmte Bewegung, eine Handlung, einen Schrei, und schon sind die Toten wieder dort: in dem Zug, der nicht anhalten will, sondern immer weiter fährt, bis er entgleist, im freien Fall aus dem sechzehnten Stock eines Gebäudes, im Kofferraum eines Autos, in dem die Luft zur Neige geht. Die Körper irgendwelcher Rudeboys, die zerplatzen wie Ballons. Sechsundfünfzig Kugeln.

Niemand fällt von diesem Balkon, wenn er nicht gestoßen wird. Das weiß ich. Und ich weiß auch, wie es sich anfühlt und aussieht, wenn ein Körper fällt und auf dem Weg nach unten in der Luft zappelt und ins Nichts greift und einmal, nur ein einziges gottverdammtes Mal, dich, Jesus, du Sohn einer räudigen Hündin, um etwas anfleht, woran man sich festhalten kann. Und dann landest du in einer eineinhalb Meter tiefen Grube oder sechzehn Stockwerke tiefer auf einem Marmorfußboden, und kämpfst immer noch dagegen an, als der Boden sich dir entgegenwirft, weil es ihn schon lange nach Blut gedürstet hat. Und wir sind immer noch tot, aber wir wachen auf, ich als zermatschte Spinne, er wie eine verbrannte Kakerlake. An einen Sarg kann ich mich nicht erinnern.

Aufgepasst.

Die Lebenden warten und sehen, weil sie sich einreden, sie hätten Zeit. Tote sehen und warten. Einmal habe ich meiner Lehrerin in der Sonntagsschule folgende Frage gestellt: Wenn der Himmel der Ort des ewigen Lebens ist, was ist dann die Hölle, die doch das Gegenteil des Himmels sein soll? Ein Platz für so unverschämte dumme Jungs wie dich, hat sie gesagt. Sie lebt immer noch. Ich sehe sie im Altenheim in Eventide, wo sie immer älter und immer dümmer wird, ihren Namen vergessen hat und mit einer leisen, rauen Stimme redet, sodass niemand hören kann, dass sie Angst vor der Dunkelheit hat, weil dann die Ratten kommen, um sich über ihre Zehen herzumachen. Ich sehe noch mehr als das. Sieh genauer hin oder einfach nur mal nach links und du wirst bemerken, dass das Land immer noch dasselbe ist wie damals, als ich es verließ. Es ändert sich nie, und wohin ich auch komme, sind die Menschen noch genauso wie damals, als ich sie verließ, das Alter macht überhaupt keinen Unterschied.

Der Mann, der Vater einer ganzen Nation war, viel mehr Vater für mich als mein leiblicher, weinte wie eine frisch gebackene Witwe, als er von meinem Tod hörte. Erst wenn du stirbst, weißt du, wie sehr die Träume der anderen mit dir verbunden sind, und dann kannst du nichts mehr tun, nur zusehen, wie sie auf eine andere Art sterben, langsam, Glied für Glied, Organ für Organ. Herzschwäche, Diabetes und andere Krankheiten mit langen Namen, die für ein langes Sterben sorgen. Der Körper wartet ungeduldig auf den Tod, der portionsweise von ihm Besitz ergreift. Er wird noch erleben, wie sie ihn zum Nationalhelden machen, und wenn er stirbt, wird er der Einzige sein, der glaubt, dass er gescheitert ist. Das passiert, wenn man seine Hoffnungen und Träume auf einen einzigen Mann konzentriert. Am Ende ist er nur noch ein literarisches Stilmittel.

Dies ist die Geschichte mehrerer Morde, von Männern, die keine Bedeutung für eine Welt hatten, die sich einfach weiterdreht. Aber wenn sie an mir vorbeigehen, verströmt jeder von ihnen den süßlichen Gestank jenes Mannes, der mich getötet hat.

Der Erste schreit sich die Lunge aus dem Leib, aber wegen dem Knebel erreicht der Schrei nur seine Zähne und schmeckt nach Kotze und Stein. Außerdem hat ihm jemand die Hände fest hinter den Rücken gebunden, aber die Fesseln fühlen sich locker an, weil die Haut abgerissen ist und das Blut das Seil durchtränkt. Er tritt mit beiden Beinen, weil sie zusammengebunden sind, tritt gegen die Erde, die sich einen Meter fünfzig hoch über ihm anhäuft, dann einen Meter achtzig und dann kann er nicht mehr, weil es Schmutz und Erde auf ihn regnet und Dreck und Steine. Ein Stein klatscht auf seine Nase, ein anderer zerschmettert sein Auge, und er bäumt sich auf und schreit, aber der Schrei dringt nur bis zu seinen Zähnen, dreht um und wird wieder verschluckt, und die Erde ist wie eine mächtige Flut, die immer weiter steigt und steigt, und er kann seine Zehen nicht mehr sehen. Dann wacht er auf und ist immer noch tot und er will mir seinen Namen nicht verraten.

ORIGINAL ROCKERS

2. Dezember 1976

Bam-Bam

Ich weiß, ich war vierzehn. Weiß ich noch. Ich weiß auch, dass zu viele Leute zu viel reden, vor allem der Amerikaner, der nie die Schnauze halten kann und immer lacht, wenn er von dir spricht, und es klingt komisch, wie er deinen Namen zusammen mit dem von Leuten sagt, von denen wir nie gehört haben, Allende Lumumba, hört sich an wie das Land, aus dem Kunta Kinte kommt. Der Amerikaner versteckt sich die meiste Zeit hinter seiner Sonnenbrille wie so ein Prediger aus Amerika, der herkommt, um zu den Schwarzen zu reden. Er und der Kubaner kommen manchmal zusammen, manchmal auch allein, und wenn einer redet, sagt der andere nichts. Der Kubaner spielt nicht mit Waffen rum, denn wenn man eine Waffe zieht, muss man sie auch benutzen, sagt er.

Und ich weiß, ich hab auf so einer Pritsche geschlafen, und ich weiß, meine Mutter war eine Hure, und mein Vater war der letzte gute Mann im Getto. Und ich weiß, dass wir dein großes Haus an der Hope Road schon seit Tagen beobachten, und einmal kommst du raus und redest mit uns, als wärst du Jesus und wir wären Judas, und du nickst, als wolltest du sagen, macht halt weiter, und tut, was ihr tun müsst. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich das war, der dich gesehen hat, oder ob einer mir gesagt hat, dass er dich gesehen hat, und jetzt denke ich, ich hab dich auch gesehen, wie du auf die hintere Veranda gekommen bist und ein Stück Brotfrucht gegessen hast, und sie ist wie aus dem Nichts gekommen, als hätte sie um Mitternacht was Ernstes mit dir zu besprechen da draußen, und sie war schockiert, echt schockiert, weil du nichts angehabt hast, und dann hat sie nach deiner Frucht gegriffen, hat was abbeißen wollen, obwohl Rastas das nicht mögen, wenn Frauen so frech sind, und dann ging’s los, und man hat die Frau nicht mehr vom Mann unterscheiden können, und ich hab’s mir auch besorgt, weil’s mich schon bloß vom Gucken und Hören angemacht hat, und dann hast du einen Song drüber geschrieben. Der Junge aus Concrete Jungle kam vier Tage lang auf seinem schwuchtelgrünen Roller morgens um acht und nachmittags um vier vorbei wegen dieses braunen Briefumschlags, bis die neuen Sicherheitstypen ihn wieder weggeschickt haben. Über diese Geschäfte wussten wir auch Bescheid.

In den Eight Lanes und in Copenhagen City kann man bloß zugucken. Der mit der sanften Stimme im Radio sagt, Verbrechen und Gewalt übernehmen das Land, und wenn sich überhaupt jemals was ändert, dann irgendwann, und wir müssen eben abwarten und sehen, was passiert, aber hier in den Eight Lanes sehen und warten wir doch schon die ganze Zeit. Und ich sehe, wie das Abwasser einfach so die Straße runterfließt, und warte. Und ich sehe, wie meine Mutter zwei Männer zu sich nimmt, jeden für zwanzig Dollar, und noch einen, der fünfundzwanzig bezahlt, weil er drin bleiben will anstatt ihn rauszuziehen, und ich warte. Und ich sehe, wie mein Vater die Schnauze voll hat von ihr und sie wie einen Hund verprügelt. Und ich sehe, wie das Zinkdach braun vor Rost wird, und der Regen schließlich Löcher reinschlägt wie bei einem ausländischen Käse, und ich sehe zu, wie sieben Leute in einem Zimmer sitzen und eine ist sogar schwanger, und trotzdem wird gefickt, weil sie so arm sind, dass sie sich kein Schamgefühl leisten können, und ich warte.

Und das kleine Zimmer wird enger und enger, und immer mehr Schwesternbrüdercousins kommen vom Land in die Stadt, die immer größer und größer wird, und es ist kein Platz mehr da zum Tanzen, kein Hühnchen mehr für Curry, und wenn doch, dann ist es zu teuer, und ein kleines Mädchen wird erstochen, bloß weil jemand weiß, dass sie ihr Geld fürs Mittagessen immer dienstags kriegt, und Jungs wie ich werden immer älter und gehen kaum noch zur Schule und können nicht lesen, wollen Coca-Cola, aber Geld liegt keins auf der Straße, also wollen sie ins Studio, einen Song aufnehmen, einen Hit landen und mit dem Riddim aus dem Getto reiten, aber Copenhagen City und die Eight Lanes sind einfach zu groß, und jedes Mal, wenn du die Grenze erreichst, schiebt sie sich ein Stück weiter, läuft vor dir davon wie dein eigener Schatten, und die ganze Welt wird zum Getto, und du wartest.

Ich sehe, wie du hungrig wartest und weißt, es wäre reines Glück, und du lungerst im Studio herum, und Desmond Dekker sagt dem Mann am Pult, er soll dir mal ’ne Chance geben, und der gibt dir diese Chance, weil er den Hunger in deiner Stimme hört, noch bevor du überhaupt was gesungen hast. Du nimmst einen Song auf, aber es wird kein Hit, ist viel zu nett fürs Getto, sogar damals schon, weil solche netten Liedchen den Leuten das Leben nicht mehr leichter machen. Wir sehen, wie du dich schwer ins Zeug legst und versuchst, dich zwölf Inches größer zu quatschen, und wir wollen, dass du’s vermasselst. Und keiner will dich als Rudeboy haben, weil du aussiehst wie einer, dem man nicht trauen kann.

Und als du nach Delaware verschwindest und wieder zurückkommst, versuchst du’s mit Ska, aber Ska ist schon längst aus dem Getto abgehauen und ins Villenviertel gezogen. Ska nimmt ein Flugzeug ins Ausland und zeigt den weißen Leuten, dass es bloß so was Ähnliches ist wie Twist. Da sind die Syrer und die Libanesen vielleicht stolz drauf, aber als wir euch in der Zeitung gesehen haben, wie ihr mit der Stewardess in die Kamera grinst, waren wir nicht stolz, sondern fanden es bescheuert. Du nimmst noch einen Song auf, und der wird ein Hit. Aber mit einem Hit allein kommst du nicht aus dem Getto, schon gar nicht, wenn du ihn für ’nen Vampir aufnimmst. Ein einziger Hit macht dich noch nicht zu einer Skeeter Davis oder zu dem Typen mit den Gunfighter Ballads.

Als ich aus meiner Mutter geflutscht bin, hat sie aufgegeben. Der Priester behauptet, es gäbe eine Leere in uns, die nur Gott füllen kann, aber hier im Getto können die Leute die Leere nur mit Leere füllen. Neunzehn-zweiundsiebzig ist überhaupt nicht wie 1962, und die Leute flüstern, weil sie nicht laut sagen dürfen, dass Artie Jennings den großen Traum mit ins Jenseits genommen hat, als er plötzlich gestorben ist. Keine Ahnung, was für ein Traum das war. Die Leute sind dumm. Der Traum ist ja nicht weg, die Leute kapieren einfach nur nicht, dass es jetzt ein Albtraum ist, obwohl sie mittendrin stecken. Die Leute ziehen ins Getto, weil Delroy Wilson »Better Must Come« singt und der Mann, der Premierminister wurde, auch. Alles muss besser werden. Ein Mann, der aussieht wie ein Weißer, aber quasselt wie ein Naigger, wenn’s sein muss, singt »Better Must Come«. Eine Frau, die sich anzieht wie die Queen und sich nie fürs Getto interessiert hat, bis Kingston explodiert, singt »Alles muss besser werden«.

Aber erst mal wird’s schlechter.

Wir sehen und warten. Zwei Männer bringen Pistolen und Gewehre ins Getto. Einer zeigt mir, wie man damit umgeht. Aber die Leute im Getto haben sich schon lange davor gegenseitig umgebracht, mit allen möglichen Sachen: Schlagstock, Machete, Messer, Eispickel, Wasserflasche. Sie töten für Essen. Sie töten für Geld. Manchmal wird einer getötet, bloß weil er einen anderen blöd anguckt. Fürs Töten braucht man nicht unbedingt einen Grund. Wir sind hier im Getto. Reiche Leute haben Gründe. Wir haben den Wahnsinn.

Der Wahnsinn geht eine ganz normale Straße in Downtown entlang und sieht eine Frau in nagelneuen Klamotten und will sofort zu ihr hingehen und ihr die Handtasche klauen, und er weiß, es geht nicht um die Handtasche oder das Geld, sondern um den Schrei, den sie loslässt, wenn du auf sie losgehst und in ihr hübsches Gesicht starrst, und du könntest ihr die gute Laune aus der Visage prügeln, ihr die geschminkten Augen blau schlagen, sie totprügeln und durchficken, egal ob bevor oder nachdem du sie umgebracht hast, weil das genau das ist, was Rudeboys wie wir mit anständigen Frauen wie ihr machen. Der Wahnsinn bringt dich dazu, einem Mann in einem Anzug durch die King Street zu folgen, dort, wo arme Leute nie langgehen, und ihm dabei zuzusehen, wie er sein Sandwich wegschmeißt, mit Hühnchen drauf, das kannst du riechen, und du fragst dich, wie Leute so reich sein können, dass sie Hühnchen einfach zwischen zwei Brotscheiben legen, und dann kommst du am Abfalleimer vorbei und siehst das Ding, immer noch in Folie eingewickelt, immer noch frisch und nicht vom anderen Müll verdreckt, und keine Fliege sitzt drauf, und du denkst, ja tatsächlich, vielleicht sollte ich das mal probieren, vielleicht muss ich einfach mal testen, wie Hühnchen ohne Knochen schmeckt. Aber du sagst dir, nee, du bist doch nicht irre, und wenn doch, dann nicht wahnsinnig irre, sondern wütend irre, weil du ja weißt, dass der Typ es nur weggeschmissen hat, damit du es siehst. Und du nimmst dir vor, dass du ein Messer mitnimmst, und das nächste Mal, wenn du ihn triffst, packst du ihn und ritzt ihm das Wort Sufferah in die Brust.

Aber er weiß ja, dass Typen wie ich uptown nicht lange rumlaufen können, ohne dass Babylon uns schnappt. So ein Bulle muss bloß sehen, dass ich keine Schuhe hab, und schon sagt er, He du Drecksack, du schmieriger Naigger, was hast du hier unter den anständigen Leuten zu suchen, und lässt mir zwei Möglichkeiten. Wenn ich losrenne, jagt er mich in eine Seitenstraße, wo keiner sieht, wenn er mich abknallt. Er hat ja jede Menge Kugeln im Magazin, da wird schon eine treffen. Oder ich bleibe stehen und lass mich vor den Augen der anständigen Leute von ihm mit seinem Knüppel verprügeln, lass mir die Zähne ausschlagen oder so auf den Kopf hauen, dass ich nie mehr richtig hören kann, während er rumbrüllt, das soll dir eine Lehre sein, und wehe, du wagst es noch mal, die Leute uptown mit deiner dreckigen, stinkenden Anwesenheit zu belästigen. Und ich sehe sie und warte.

Aber dann bist du zurückgekommen, obwohl niemand gewusst hat, wann du weg bist. Die Frauen wollten wissen, wieso du zurückkommst, wo du doch in Amerika jeden Tag so tolle Sachen kriegst wie Reis von Uncle Ben’s. Hast du da drüben ein paar Hits gelandet? Ein paar von uns haben mitgekriegt, wie du durchs Getto bist wie ein kleiner Fisch durch einen breiten Fluss. Heute weiß ich, was du vorgehabt hast, aber damals nicht. Du hast dich hier mit einem Gunman angefreundet, da mit einem Rasta mit ’ner Riesenanlage, hier mit einem Gangster, da mit einem Rudeboy, sogar mit meinem Vater, damit dich alle kannten und mochten, aber niemand ließ dich mitmachen, dafür mochten sie dich nicht genug. Du hast einfach alles gesungen, wirklich alles, um Erfolg zu haben, sogar Sachen, die nur du gekannt hast und sonst keiner. »And I Love Her« zum Beispiel, bloß weil Prince Buster mit seiner Version von »You Won’t See Me« einen Hit hatte. Du hast genommen, was du kriegen konntest, ab und zu sogar eine Melodie, die nicht von dir war, und du hast immer weiter- und immer weitergesungen, bis du dich irgendwann aus dem Getto rausgesungen hast. 1971 warst du schon im Fernsehen. 1971 hab ich meinen ersten Schuss abgefeuert.

Da war ich zehn.

Im Getto ist ein Leben nichts wert. Jemanden umzubringen ist kein großes Ding. Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als mein Vater mich retten wollte. Er rannte von der Fabrik nach Hause. Ich weiß noch, dass mein Kopf gerade mal bis an seine Brust gereicht hat, wie er so vor mir gestanden ist, und er hat gehechelt wie ein Hund. Den Rest vom Abend verbrachten wir zu Hause auf allen vieren. Das ist ein Spiel, hat er gesagt, viel zu laut und zu schnell. Wer zuerst aufsteht, hat verloren. Also steh ich auf, weil ich zehn bin und schon ein großer Junge und keine Lust auf das Spiel hab, aber er brüllt mich an und packt mich und schlägt mir gegen die Brust. Und ich schnaufe und keuche und schnappe nach Luft und muss fast heulen und ich hasse ihn, aber da fliegt schon das erste Ding rein, als hätte jemand einen Kiesel geschmissen, und knallt gegen die Wand. Und dann das nächste und nächste. Und dann über die ganze Wand pap-pap-pap-pap-pap-pap, bis auf die letzte Kugel, die trifft einen Topf und es scheppert, und dann krachen sechs, sieben, zehn, zwanzig Kugeln in die Wand, tschuck-tschuck-tschuck-tschuck-tschuck-tschuck-tschuck. Und er packt mich und will mir die Ohren zuhalten, aber er packt mich so fest, dass er nicht merkt, wie er mir das Auge quetscht. Und ich höre die Kugeln und das pap-pap-pap-pap-pap-pap und das kawuschbumm, und ich spüre, wie der Boden bebt. Und eine Frau schreit und ein Mann schreit und ein Junge schreit, wie man schreit, wenn einem das Leben genommen wird, und du kannst hören, wie die Schreie in dem Blut ertrinken, das aus der Kehle in den Mund schießt, und ein Gurgeln und Würgen. Und er drückt mich nach unten und hält mir den Mund zu, als ich schreie, und ich will ihm in die Hand beißen, weil er mir die Nase zuhält, und bitte Papa, bring mich nicht um, und er zittert, und ich frage mich, ob es wohl der Todeskrampf ist, und der Boden bebt wieder und überall Füße, Füße überall, Männer rennen herum, rennen vorbei und rennen und lachen und schreien und rufen, dass alle in den Eight Lanes jetzt sterben. Und Daddy drückt mich auf den Boden und versteckt mich unter seinem Körper, aber er ist so schwer, dass meine Nase wehtut, und er riecht nach Motoröl und drückt sein Knie oder so was in meinen Rücken, und der Boden schmeckt bitter wegen dem roten Bohnerwachs, und ich will, dass er von mir runtergeht, und ich hasse ihn, und alles klingt, als hätte man einen Strumpf drübergezogen. Und als er mich endlich loslässt, schreien die Leute draußen, aber es ist kein pap-pap-pap-pap-pap-pap mehr zu hören und auch kein kawuschbumm, aber er weint, und ich hasse ihn.

Zwei Tage später kommt meine Mutter lachend nach Hause, weil sie ein neues Kleid hat, das schönste Ding überhaupt in diesem beschissenen R’asscloth-Getto, und er sieht sie, weil er nicht zur Arbeit gegangen ist, weil niemand sich auf die Straße traut, und er geht gleich zu ihr hin und packt sie und sagt, du ekelhafte Bombocloth-Hure, ich riech doch den stinkenden Schwanz von einem anderen an dir. Er reißt an ihren Haaren und schlägt ihr in den Bauch, und sie schreit, dass er kein Mann mehr ist, weil er nicht mal ’nen Floh ficken könnte, und er sagt, ach, ficken willst du? Ich find schon einen Schwanz, der groß genug für dich ist, sagt er und packt sie an den Haaren und zerrt sie ins Zimmer, wo ich unter der Decke liege, weil er gesagt hat, ich soll mich da verstecken, falls in der Nacht ein böser Mann kommt, und ich sehe zu, wie er einen Besenstiel nimmt und sie damit verprügelt, von oben bis unten, von vorne und hinten, und sie schreit, bis sie nur noch wimmern kann, und dann stöhnt sie, und er sagt, wenn du einen großen Schwanz willst, dann kann ich’s dir mit ’nem großen Schwanz besorgen, du beschissene Fotze von einer Hure, und er nimmt den Besenstiel und tritt ihre Beine auseinander. Dann schmeißt er sie aus dem Haus und wirft ihre Klamotten hinterher, und ich denke, das ist das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen hab, aber am nächsten Tag kommt sie zurück, mit einem Verband wie die Mumie in dem Film, den man für dreißig Cent im Rialto Cinema gucken kann, und hat noch drei Männer dabei.

Die drei packen meinen Vater, aber er kämpft, kämpft wie ein Mann, schlägt sogar zu wie John Wayne im Kino, so wie ein richtiger Mann kämpfen sollte. Aber er ist nur einer, und sie sind drei und bald vier. Aber der vierte kommt erst rein, als sie meinen Vater schon zu Brei geschlagen haben wie ’ne matschige Tomate, und er sagt, ich bin Funnyboy, nur der Don ist über mir, aber weißt du, wie dein Name ist? Kennst du deinen Namen? Ich hab gefragt, ob du deinen Namen kennst, du Pussyhole? Und meine Mutter lacht, aber es klingt wie ein Röcheln, und Funnyboy sagt, du glaubst wohl, du bist wer, weil du in ’ner Fabrik arbeitest? Aber die Arbeit in der Fabrik hast du von mir, und ich kann sie dir wieder wegnehmen, Pussyhole. Kennst du deinen Namen, du Pussyhole? Spitzel, das ist dein Name. Und dann sagt er den anderen, sie sollen abhauen.

Und er sagt, weißt du, warum sie mich Funnyboy nennen? Weil ich keinen Spaß verstehe.

Sogar im Dunkeln ist Funnyboy noch heller als alle anderen, seine Haut ist immer rot, er sieht aus, als wär sein Blut direkt unter seiner Haut, oder wie ein Weißer, der zu lange in der Sonne gewesen ist, und seine Augen sind grau wie die von einer Katze. Und Funnyboy sagt meinem Vater, dass er jetzt stirbt, genau jetzt, aber wenn er nett zu ihm ist, dann kann er weiterleben wie der Löwe in Frei geboren, aber er muss raus aus dem Getto. Und er sagt, wenn du leben willst, gibt’s nur eine Möglichkeit für dich, und er sagt noch andere Sachen, aber dann macht er seinen Hosenlatz auf und holt ihn raus und sagt, willst du weiterleben? Willst du weiterleben? Und mein Vater will leben, und er spuckt aus, und Funnyboy hält seine Knarre direkt neben das Ohr von meinem Vater. Und er sagt meinem Vater was vom Land und wo er hingehen darf und dass er den Kleinen mitnehmen darf, und als er das sagt, fang ich an zu zittern, aber es weiß ja keiner, dass ich unter der Decke bin. Willst du leben? Du willst leben? Immer und immer wieder, wie ein kleines Mädchen, und er reibt mit der Knarre über den Mund von meinem Vater, und mein Vater macht den Mund auf, und Funnyboy sagt, wenn du ihn mir abbeißt, dann schieß ich dir in den Hals, sodass du hörst, wie du stirbst, und dann schiebt er ihn meinem Vater in den Mund und sagt, du darfst auch mal dran lecken, du saugst ja wie ’n toter Fisch. Und er stöhnt und stöhnt und stöhnt und fickt meinen Vater in den Kopf und dann zieht er ihn raus und hält den Kopf von meinem Vater fest und schießt. Pap. Kein Knall wie in einem Cowboyfilm oder wie wenn Harry Callahan schießt, einfach nur ein lautes kurzes Pap, das durchs Zimmer hallt. Das Blut spritzt an die Wand. Ich muss nach Luft schnappen, im gleichen Moment, als der Schuss losgeht, daher merkt niemand, dass ich immer noch unter der Decke liege.

Meine Mutter kommt wieder reingerannt und fängt an zu lachen und tritt meinen Vater, und Funnyboy geht zu ihr und schießt ihr ins Gesicht. Sie fällt direkt auf mich drauf, und als er sagt, sucht den kleinen Jungen, gucken sie überall, aber nicht unter meiner Mutter. Funnyboy sagt, könnt ihr euch das vorstellen, dieser kleine Battyboy wollte es mir besorgen wie ’ne Schwuchtel, wollte mir richtig schön einen blasen, damit ich ihn nicht umbringe. Die perverse Sau hat nach meinem Schwengel gegriffen. Könnt ihr euch das vorstellen?, sagt er zu den Typen, die die ganze Zeit nach mir suchen, aber meine Mutter ist ja auf mir drauf und ihre Hand direkt vor meinem Gesicht, und ich lieg da wie in einem Käfig und schau durch das Gitter ihrer Finger und ich muss nicht heulen, und Funnyboy redet weiter, er hätt ja immer schon gewusst, dass mein Vater ein Battyman war, und weil er ein Battyman war, war seine Frau anschaffen, weil es ihr sonst keiner besorgt hat, aber erzählt das nicht Shotta Sherrif, sagt er noch.

Das Haus ist jetzt ruhig. Ich schiebe meine Mutter zur Seite und bin froh, dass es dunkel ist, aber ich kann nicht weg, weil sie mich sonst erwischen, also sehe ich und warte. Ich warte, und mein Vater auf dem Boden steht auf und kommt zu mir und sagt, Englisch ist das beste Fach in der Schule, denn niemand gibt dir Arbeit als Klempner, wenn du nicht gut reden kannst, und das ist das Wichtigste, sogar noch bevor man überhaupt einen Beruf lernt. Und dass ein Mann kochen können muss, auch wenn das Frauensache ist, und er redet und redet und redet viel zu viel, so wie er immer zu viel geredet hat, und manchmal redet er so laut, dass ich mich frage, ob er denen nebenan auch was beibringen will, aber nein, er liegt ja noch immer auf dem Boden und sagt mir, ich soll abhauen, weglaufen, weil sie bald zurückkommen, um die Clarks-Schuhe mitzunehmen, die er an den Füßen hat, und alles andere, was Wertvolles im Haus ist, und sie werden sowieso das Haus auseinandernehmen, weil sie Geld suchen, auch wenn er sein ganzes Geld auf die Bank gebracht hat. Er liegt da drüben bei der Tür. Ich zieh ihm die Clarks aus und sehe seinen Kopf und muss kotzen.

Die Clarks sind zu groß und ich gehe klapp-klapp-klapp zur Rückseite des Hauses, wo nichts ist als ein altes Eisenbahngleis und Gestrüpp, und dabei stolpere ich über meine verdammte Hurenmutter, und die zuckt, als wär sie noch am Leben, aber das ist sie nicht. Ich klettere durchs Fenster und springe. Die Clarks sind zu groß, damit kann ich nicht rennen, also zieh ich sie aus und lauf durch die Büsche über zerbrochene Flaschen und feuchte Scheiße und getrocknete Scheiße und Feuer, das noch keiner ausgemacht hat, und die toten Gleise führen mich aus den Eight Lanes raus, und ich renne und renne und verstecke mich im dornigen Gestrüpp bis der Himmel sich orange verfärbt und dann rosa und dann grau, und dann ist die Sonne weg, und der fette Mond geht auf. Dann sehe ich drei Laster vorbeifahren, wo nur Männer drin sind, und ich renne weiter, bis ich die Müllhalde erreicht habe, wo nichts ist außer Abfall, Schrott und Scheiße meilenweit. Nichts außer dem Zeug, das die Leute uptown wegschmeißen, und der Müll türmt sich auf, zu Bergen und Tälern und Dünen wie in einer Wüste, und überall brennt es, und ich renne immer weiter und hör nicht auf, bis ich wieder das Getto sehe und einen Laster neben einer Straßenblockade, und ich renne drunter durch und immer weiter, und ein Mann schreit und eine Frau kreischt, und die Häuser hier sehen ganz anders aus, stehen enger und dichter, und ich renne weiter, und ein Mann kommt raus mit einer Maschinenpistole, aber eine Frau schreit, das ist doch nur ein kleiner Junge, und er blutet doch, und ich stolpere über irgendwas und falle hin und fange an zu heulen, und zwei Männer kommen zu mir, und einer richtet seine Waffe auf mich, und ich keuche jetzt wie Daddy im Schlaf, und der Mann mit der Waffe kommt näher und schreit mich an, wo kommst du her? Du riechst doch wie so ’ne Schwuchtel aus den Eight Lanes, und der andere sagt, das ist doch noch ’n Kind und schau dir das ganze Blut an, und der andere fragt, hat jemand auf dich geschossen, Junge? Ich kann nicht sprechen, kann nur immer sagen, Clarks ist guter Schuh, Clarks ist guter Sch… und die Waffe des Mannes macht klick, und ein anderer ruft, dieser Bloodcloth Josey Wales ballert gern in der Gegend rum!, aber nicht alles kann man mit Bam-Bam erledigen, und beide Männer gehen weg, aber viele andere stellen sich um mich rum auf, auch viele Frauen. Sie teilen sich wie das Rote Meer bei Moses, und er kommt näher und bleibt stehen.

Erschießt Shotta Sherrif jetzt schon seine eigenen Leute?, fragt er. Weiß er nicht, dass Männer, die was taugen, nicht auf Bäumen wachsen? Ist wohl die Eight-Lanes-Geburtenkontrolle. Alle lachen. Ich sage Mama und Daddy und kriege nicht mehr raus, und er nickt und versteht. Willst du’s ihm heimzahlen?, fragt er, und ich will sagen, ja, wegen meinem Vater, aber nicht wegen meiner Mutter, aber alles, was rauskommt, ist bloß j-j-j-j-j, und ich nicke heftig, als hätte mir jemand einen Schlag verpasst, als könnt ich nicht mehr reden. Er sagt, bald, bald, und ruft eine Frau her, und sie versucht mich hochzuheben, aber ich schnapp mir meine Clarks, und der Mann lacht. Er ist sehr groß und trägt ein weißes Netzhemd, das im Licht der Straßenlaterne schimmert und sein Gesicht beleuchtet, aber das meiste davon ist hinter seinem Bart versteckt, nur nicht seine Augen, die sind groß und leuchten auch, und er lächelt so breit, dass man kaum merkt, wie dick seine Lippen sind oder dass der Bart sein Gesicht wie ein V durchschneidet, wenn er aufhört zu lächeln und dich mit seinen kalten Augen anstarrt. Die sollen wissen, dass hier in Copenhagen City keine Getto-Köter leben, sagt er, und dann sieht er mich an wie einer, der reden kann, ohne zu sprechen, und ich merke, dass er was sieht, das er gebrauchen kann. Bringt dem Jungen hier ein bisschen Kokoswasser, sagt er, und die Frau sagt, ja, Papa-Lo.

Und seitdem lebe ich in Copenhagen City, und ich sehe rüber zu den Eight Lanes und warte auf den richtigen Zeitpunkt. Und die Männer in Copenhagen City haben erst nur ein Messer, dann haben sie Cowboyrevolver, dann ein M16, dann ein Maschinengewehr, das so schwer ist, dass einer allein es kaum tragen kann, und dann werde ich zwölf, jedenfalls glaube ich das, denn Papa-Lo hat gesagt, der Tag, an dem er mich gefunden hat, ist mein Geburtstag, und er gibt mir auch eine Waffe und nennt mich Bam-Bam. Und ich gehe mit den anderen Jungs auf die Müllhalde und lerne, wie man schießt, aber der Rückstoß schmeißt mich fast um, und sie lachen und nennen mich kleine Fotze, und ich sage, so hab ich deine Mutter gestern Nacht auch genannt, als ich sie gefickt hab, und sie lachen, und ein anderer Mann, der Josey Wales heißt, drückt mir die Waffe wieder in die Hand und zeigt mir, wie man zielt. Ich wachse in Copenhagen City auf und sehe zu, wie die Waffen sich verändern, und weiß, dass sie nicht von Papa-Lo kommen, sondern von den beiden Männern, die die Waffen ins Getto bringen, und dem Mann, der mir gezeigt hat, wie man damit umgeht.

Ich, der Syrer, der Amerikaner und Doctor Love draußen in einer Baracke am Meer.

Barry Diflorio

Es hängt nur ein einzelnes Schild draußen, aber das ist so groß, dass man sogar von drinnen die geschwungenen gelben Linien des Logos sehen kann, die bis über den Rand des Dachs ragen. Es ist so groß, dass es eines Tages bestimmt runterfällt, wahrscheinlich genau dann, wenn ein kleiner Junge darunter durchrennt, weil die Schule früher aus war. Tja, und dieser Junge wird genau in dem Moment darunter durchlaufen, in dem das große Schild zu knirschen beginnt, und er wird es nicht mal hören, weil sein kleiner Magen so laut knurrt, und während er noch dabei ist, die Tür aufzuziehen, kracht das Teil auf ihn drauf. Der Geist des armen Jungen wird fluchen wie ein verdammter Matrose, wenn er erst mal kapiert hat, was ihn plattgemacht hat: »King Burger – Home of the Whamperer«.

Weiter unten an der Halfway Tree Road gibt es auch noch einen McDonald’s. Das Logo ist blau, und die Leute, die dort arbeiten, schwören Stein und Bein, dass Mr. McDonald im Hinterzimmer sitzt. Aber ich bin im King Burger, Home of the Whamperer. Keiner hier hat schon mal was von Burger King gehört. Die Plastikstühle sind gelb, die Fiberglastische rot, und die Schrift auf der Speisekarte sieht aus wie auf der Anschlagtafel eines Kinos, die verkündet, Demnächst in diesem Theater. Um drei Uhr nachmittags ist hier nie viel los, was auch der Grund ist, warum ich herkomme. Menschenmassen machen mich immer nervös. Es braucht bloß eine Kleinigkeit schiefzulaufen, und schon reißt es die anderen mit und die Menge wird zum Mob. Ich frage mich, ob das der Grund ist, dass draußen alles vergittert ist. Ich bin seit Januar auf Jamaika.

Auf einem Schild hinter der Kasse steht, dass Ihr Burger umsonst ist, wenn er nicht in fünfzehn Minuten fertig ist. Vor zwei Tagen, als ich nach sechzehn Minuten auf meine Uhr tippte, sagte sie, das gilt nur für Cheeseburger. Gestern, als mein Cheeseburger zu spät kam, sagte sie, das gilt nur für Hühnchensandwichs. So langsam hat die Arme nicht mehr genug Burgersorten, um sich rauszureden. Niemand geht da hin. Eins hasse ich an meinen amerikanischen Mitbürgern: Immer, wenn sie in ein fremdes Land kommen, wollen sie so viel Amerika wie möglich dort haben, selbst wenn es bloß irgendein Fraß in einer beschissenen Cafeteria ist. Sally, die schon seit der Johnson-Regierung hier ist, hat noch nie Akee mit Stockfisch gegessen, obwohl ich wahrscheinlich der zweimillionste Mensch war, der zu ihr gesagt hat, Schätzchen, es schmeckt wie Rührei, nur besser. Meine Kinder mögen es. Meine Frau hätte gerne ein paar Saucen von Manwich oder Ragú im Haus, Hamburger Helper würde es auch schon tun, aber finde das hier mal in einem Supermarkt. Man kann froh sein, wenn man überhaupt was bekommt.

Das erste Mal aß ich Jerk Chicken, als ein Typ an irgendeiner Kreuzung auf der Constant Spring Road zu meinem Wagen kam und schrie, Hey, Boss, schon mal Jerk Chicken probiert?, bevor ich das Fenster mit dem abgebrochenen Griff hochkurbeln konnte. Er war groß und dünn, trug ein weißes Unterhemd und einen riesigen Afro, hatte weiß schimmernde Zähne und glänzende Muskeln, viel zu viele Muskeln für einen so jungen Kerl, aber der Typ roch nach Piment, also stieg ich aus und folgte ihm in seinen Laden, eine kleine, aus Holzbohlen zusammengezimmerte Hütte mit einem Zinkdach darüber, mit blauen, grünen, gelben und orangefarbenen Streifen bemalt. Der Kerl schnappte sich die größte Machete, die ich je gesehen hatte, und schnitt ein Stück von einem Hühnchenschenkel ab, als wäre er aus warmer Butter. Er reichte ihn mir, und ich wollte schon reinbeißen, da schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. Einfach so: Ruhig, friedlich und unmissverständlich. Bevor ich noch irgendwas sagen konnte, deutete er auf einen großen durchsichtigen Bottich, der wohl schon länger da herumstand. Hey, ich bin ein abenteuerlustiger Kerl, meine Frau würde sagen, verrückt. Es war ein riesiger Glasbottich, gefüllt mit Pfefferschotenpaste. Ich tunkte das Hühnchenstück rein und aß es dann in einem Haps. Kennen Sie diese Szene aus den Roadrunner-Cartoons, wo die Bombe losgeht, nachdem der Kojote sie geschluckt hat, und ihm der Rauch aus Ohren und Nase kommt? Oder den Moment, wenn man zum ersten Mal in einer Sushi-Bar sitzt und sich unbedingt beweisen will, dass man einen Teelöffel voll Wasabi runterkriegt? Das hab ich gemacht. Ich glaube nicht, dass der Hühnchenverkäufer sich hätte träumen lassen, wie viele verschiedene Rottöne ein Weißer annehmen kann. Tränen traten mir in die Augen, und ich hatte mindestens eine Minute lang Schluckauf. Als hätte mir jemand Zucker und Benzin in den Mund gegossen und es dann angezündet. Rums. ScheißegottverdammterHurensohn-diesesScheißzeugistderreineWahnsinn!, keuchte ich.

Ich fragte die Kassiererin im King Burger, ob sie je daran gedacht hätten, einen Jerk Burger anzubieten. Getto-Essen?, sagte sie und verzog verächtlich das Gesicht, wie es typisch ist für die jamaikanischen Frauen, schloss die Augen, hob das Kinn und wandte sich ab. Ich gehe fast jeden Tag da hin und werde immer von derselben Frau bedient. Was möchten Sie?, fragt sie. Einen Cheeseburger. Eine Limonade oder einen Milchshake dazu? Nein, nur ein D&G Grape Soda. Wäre das dann alles? Ja. Ein Whamperer schmeckt genauso wie ein Whopper, nur ohne Geschmack. Sogar der Salat scheint zu wissen, dass er mehr verdient hätte, er ist wässrig und bitter. Den Burger bestelle ich jeden Tag bloß so aus Scheiß, damit ich meinen Kindern sagen kann, Wisst ihr, was Papa heute gegessen hat? Einen Whamperer, und sie denken dann, ich würde stottern.

Die Sonne macht sich klammheimlich davon, und der Abend beginnt. Diese Insel bräuchte mal eine gute Disko. Alle drei bis fünf Jahre das Land zu wechseln ist ganz vernünftig, um nicht den Verstand zu verlieren. Obwohl jeder, der für die Firma arbeitet, früher oder später den Verstand verliert. Das Verrückteste, was ich je gehört habe, hat mir mein Vorgänger erzählt, bevor er kurz darauf ernste Gewissensbisse bekam. Sein Sohn ist hier, er kam mit American Airlines, Flug DC301 aus New York. Er ist jetzt seit drei Tagen hier und hat keine Ahnung, dass ich weiß, dass er hier ist. Er kennt mich ja noch nicht mal. Kinder mit zur Arbeit nehmen war nicht gerade die Lieblingsidee seines Vaters. Es ist auch kein Geheimnis, warum er hier ist, aber wenn der Sohn eines ehemaligen Büroleiters der Firma plötzlich auf Jamaika auftaucht, fragt sich sogar ein Insider, ob er womöglich was verpasst hat.

Angeblich ist er Filmemacher oder zumindest einer von diesen reichen Bengeln, die genug Geld haben, um sich eine eigene Kamera zu kaufen. Er kam mit einer Horde Fotografen und Filmleuten wegen des Friedenskonzerts, das dieser inzwischen weltberühmte Reggae-Sänger geben will. Das soll ein ziemlich großes Ereignis werden, und obwohl ich erst seit Januar hier bin, habe selbst ich mitbekommen, dass dieses Land dringend ein bisschen Frieden braucht. Der Typ, der sich zurzeit Premierminister nennt, wird das bestimmt nicht hinkriegen. Also tritt der Reggae-Superstar bei diesem Konzert auf, das die Partei des Premierministers organisiert hat, wodurch dieser Reggae-Sänger selbst fast schon interessant für uns wird. Die Botschaft hat erfahren, dass Roberta Flack herfliegen will, und Mick Jagger und Keith Richards schon da sind. Die gottverdammten Rolling Stones.

Nein, ich hör mir den Reggae-Superstar nicht an. Reggae ist monoton und langweilig, die Schlagzeuger haben den gemütlichsten Job der Welt, gleich nach der Kassiererin im King Burger. Ska gefällt mir besser, Desmond Dekker zum Beispiel. Gestern habe ich die Kassiererin im King Burger gefragt, ob sie »Ob-La-Di, Ob-La-Da« kennt, und sie schaute mich an, als hätte ich wissen wollen, ob ich bei ihr Heroin kaufen kann. Glaube nicht, hat sie gesagt. Ich fragte weiter, Was hören Sie denn so für Musik? Was hört man denn so bei den Jamsessions? Big Youth and Mighty Diamonds. Und ich sage, prima, Mighty Diamonds und Big Youth sind cool, aber wurde einer von denen mal in einem beschissenen Beatles-Song erwähnt, so wie Desmond Dekker? Bitte achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise, sagt sie, in diesem Lokal befolgen wir die Gesetze.

Wie fingiert man einen Unfall? Alle, die für die Firma arbeiten, haben viel zu tun, aber manchmal frage ich mich schon, warum sie nicht einfach jemand anderen anrufen. Immerhin musste ich die Drecksarbeit in Montevideo nicht erledigen. Das hat sich ja zu einem gottverdammten Schlamassel entwickelt. Eine Arbeit, über die ich nicht reden darf, ist mir trotzdem lieber. Dadurch fällt es mir leichter, die anderen Sachen geheim zu halten. Meine Frau hat sich schließlich damit abgefunden, dass es, auch wenn wir verheiratet sind, einige Dinge gibt, von denen sie nie erfahren wird. Sie hat sich damit arrangiert wie alle unsere Ehefrauen. Sie kriegen nur zwei von vier Sachen mit. Erfahren nur von fünf Reisen, wenn es zehn waren, und von einem Todesfall, wenn es fünf waren. Ich glaube nicht, dass sie wirklich weiß, was ich tue. Wobei ich mir diesbezüglich nie so richtig sicher sein kann. Hier auf Jamaika läuft fast alles nach Plan. Eine saublöde Umschreibung dafür, dass alles dermaßen glattgeht, dass es fast schon langweilig ist. Dass die Jamaikaner praktisch immer genauso reagieren wie erwartet, überrascht mich wenig. Für andere mag das ja mal ganz erfrischend oder einfach bloß eine Erleichterung sein.

Also noch mal zurück zu dem Kerl mit dem Jerk Chicken. Das war im Mai, und ich war nicht etwa in der Gegend, weil ich plötzlich das echte Jamaika erleben wollte. Ich folgte einer Zielperson in einem Auto vier Wagenlängen vor mir. Der Mann wurde von einem Chauffeur im Constant Spring Hotel abgeholt. Zuerst dachte ich noch, ich sei hierher versetzt worden, um ihn zu beschatten, aber dann stellte sich heraus, dass er mich beschattete. Er arbeitete für die Firma, bis er auch so einen unheilbaren Anfall von Gewissensbissen bekam. Das kommt davon, wenn die Leute in den oberen Etagen diese Ivy-League-Typen rekrutieren, diese Uni-Schwuchteln, amerikanische Kim Philbys, die nur darauf warten, sich zu outen oder den aktiven Dienst gleich ganz an den Nagel zu hängen. Wie der Spion, der aus der Kälte kam.

Zu dem Zeitpunkt, als ich herausfand, dass er auf Jamaika war, hatte er schon erfahren, dass ich hier bin. Ich bin ja nicht direkt undercover hier – dafür ist es zu spät. Soll heißen, ich durfte nicht zulassen, dass dieser Mann alles durcheinanderbringt und ich hinterher alles aufräumen muss. Leider hatte ich keine Genehmigung, entsprechend vorzugehen. Ich vermisse den Kalten Krieg jetzt schon, obwohl er noch nicht mal vorbei ist.

Bill Adler hat die Firma 1969 ziemlich verbittert verlassen. Vielleicht war er ja bloß ein unzufriedener linksradikaler Commie, aber von denen gibt’s ja jede Menge in der Firma. Manchmal sind die Guten einfach die Schlechtesten. Die Mittelmäßigen sind bloß Beamte, die wissen, wie man eine Abhöranlage installiert. Aber die Guten werden entweder so wie er oder so wie ich. Und er war manchmal richtig gut. Als er mit Ecuador fertig war, wo er vier Jahre lang alles mit, ja, Bravour erledigt hatte, musste ich nur ein paar Scherben hinter ihm aufkehren. Natürlich würde ich ihn lieber an dieses grandiose Durcheinander in Tlatelolco erinnern. Der Boss hat mich mal als innovativ bezeichnet, aber ich habe mich bloß an Adlers Regeln gehalten. Mikros in der Decke, so wie er in Montevideo. Trotzdem hat er die CIA 1969 mit unheilbaren Gewissensbissen verlassen, und seither macht er Ärger und bringt andere Leute in Gefahr.

Letztes Jahr hat er ein Buch veröffentlicht, kein besonders gutes, aber es enthielt einige brisante Informationen. Wir wussten davon, aber wir nahmen es hin, weil wir dachten, es lenkt die Aufmerksamkeit auf längst vergangene Vorfälle und verschafft uns so die Gelegenheit, ein paar wichtige aktuelle Sachen zu erledigen. Es stellte sich allerdings heraus, dass einige Infos ziemlich hochkarätig waren. Wie hätte es auch anders sein können, wenn man mal genauer darüber nachdenkt. Er nannte auch Namen. Von Leuten, die für die Firma arbeiten. Die Chefs in den oberen Etagen haben es nicht gelesen. Miles Copeland schon, noch so eine weinerliche Schwuchtel, die mal das Büro in Kairo geleitet hat. Er ordnete an, dass das Londoner Büro von Grund auf neu organisiert werden müsste. Dann, am 17. November, wurde Richard Welch in Athen von einer zweitrangigen Terrorgruppe ermordet, zu deren Überwachung wir nicht mal eine Krankenschwester losgeschickt hätten. Seine Frau und sein Chauffeur wurden auch getötet.

Aber trotz allem und obwohl ich wusste, wozu er fähig war, hatte ich keine Ahnung, warum Adler hier war. Er war kein offizieller Gast der Regierung, denn das wäre ein nicht wiedergutzumachender Fauxpas des Premierministers gewesen, vor allem nachdem er Kissinger vor einigen Monaten so herzlich empfangen hat. Trotzdem war der Premierminister eindeutig froh über Adlers Anwesenheit. Währenddessen warte ich auf den Befehl aus der Zentrale, was ich tun soll, um die Gefahr, die von diesem Mann ausgeht, zu neutralisieren oder zumindest zu reduzieren. Das Jamaica Council for Human Rights hat ihn eingeladen, was mich dazu zwingt, eine neue Akte anzulegen, wo mein Schreibtisch doch sowieso schon überquillt. Innerhalb weniger Tage hat der Typ schon mehrere Reden gehalten, ziemlich ausführliche Reden über allen möglichen Blödsinn, als wäre er Castro persönlich oder so. Er sagte, dass er mit Leuten wie mir in Lateinamerika war und dass er angewidert sei von dem, was er dort gesehen hätte, vor allem in Chile, als wir Pinochet erlaubten, die Macht zu ergreifen.

Meinen Namen hat er nicht genannt, aber mir war schon klar, wen er meinte. Er nannte uns die Reiter der Apokalypse, die jedes Land, das sie heimsuchen, destabilisieren. Er hat es richtig dramatisch aufgezogen und immer wieder darauf verwiesen, wie viel von alledem nach den Regeln ablief, die er aufgestellt hatte. Und das genügte dem Premierminister schon, so ein hübsches Wort mit vielen Silben wie »Destabilisierung«, um es jetzt ständig wie einen Werbejingle zu wiederholen. Womit er uns komplett in die Defensive gedrängt hat. Ich werde dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Außer den Redakteuren von Penthouse wollte natürlich niemand zuhören. Verdammt, was soll man davon halten, wenn sich das Gewissen Amerikas seine Brötchen damit verdient, Mösen zu retuschieren? Typen wie Adler, die plötzlich glauben, es sei ihre Bestimmung, das böse Amerika zu entlarven, sind doch in Wirklichkeit bloß Weiße mit Schuldkomplexen, die nicht wissen, wann Schluss ist. Und die Firma konnte sich nicht dazu durchringen, mir den Auftrag zu erteilen, ihn rauszunehmen.

Einmal behauptete er, er hätte Beweise dafür, dass die Firma für eine Brandstiftung in einem sogenannten Wohnhaus in der Orange Street, den Mord an ein paar Kubanern auf Jamaika und für Streikunruhen auf der Werft verantwortlich sei. Er sagte, er hätte Beweise dafür, dass die Firma der Oppositionspartei Geld gibt, was einfach nur lächerlich ist, weil es wirklich völlig abwegig ist, sich in der Dritten Welt Vertrauen mit Geld zu erkaufen. Ich weiß nicht, warum er nicht einfach einen Artikel an Mother Jones oder den Rolling Stone geschickt hat. Bevor mir die Firma einen klaren Auftrag erteilte, hatte er sich meinen Informanten zufolge schon nach Kuba abgesetzt. Trotzdem hat der Dreckskerl einigen Schaden angerichtet. Er hat den Jamaikanern Namen genannt. Namen! Nicht meinen, aber die von elf Botschaftsangestellten, wodurch die Tarnung von mindestens sieben von ihnen aufflog. Sie mussten nach Hause geschickt werden, bevor jemandem auffiel, dass er sie unter den angegebenen Namen kannte. Wegen Adler musste ich wieder ganz von vorn anfangen. Mitten im September in einem erbarmungslosen Jahr. Alles von Grund auf neu, was natürlich zu Problemen führte.

Als ich an seinem Büro vorbeikam, hörte ich Louis telefonieren. Es ging um eine spurlos verschwundene Schiffsladung. Ich habe das überprüft. Niemand im Büro hat irgendwas bestellt, und selbst wenn, hätte niemand riskiert, es durch den jamaikanischen Zoll zu schleusen, wo grundsätzlich zwei Drittel von allem geklaut werden. »Kenntnis nur bei Bedarf« mag ja für ihn genauso gelten wie für mich, aber es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn irgendein abtrünniger Agent in Kuba herausfindet, dass etwas verschwunden ist, bevor ich überhaupt gemerkt habe, dass etwas fehlt. Was bedeutet, dass seine kleinen Schnüffler immer noch mehr Durchblick haben als ich, und dabei soll ich den beschissenen Laden hier schmeißen. Louis erzählte es ganz unbekümmert Gott weiß wem, und ich hatte irgendwann keine Lust mehr, vor seiner Tür rumzustehen, als wollte ich irgendwelchen Tratsch belauschen.

Meine Frau hat mich vorhin angerufen und gesagt, ihr seien die Maraschino-Kirschen ausgegangen. Wirklich, ich vermisse den Kalten Krieg schon, obwohl er noch nicht mal vorbei ist.

Papa-Lo

Hört mir zu. Ich habe ihn gewarnt, wisst ihr, edle Herrschaften. Schon lange habe ich Warnungen ausgesprochen, dass andere Leute in seiner Nähe, Freunde und Feinde, ihm einen Haufen Scherereien machen werden. Wir alle kennen so einen, stimmt’s nicht? Einen von denen, die sich einfach nicht ändern wollen. Die immer eine Ahnung haben, aber nie einen brauchbaren Vorschlag. Die ständig was aushecken, aber nie einen Plan haben. So sind manche Leute. Da ist mein Freund der größte Superstar der Welt, aber er ist einer der stursten Kerle, die das Getto je im Guten verlassen haben. Ich nenne keine Namen, aber ich habe den Sänger vor ihnen gewarnt. Du hast da ein paar Leute um dich herum, sage ich zu ihm, die dich irgendwann fertigmachen, hörst du? Ich hab’s satt, ihm das sagen zu müssen. Es steht mir bis obenhin. Aber er lacht nur sein Lachen, dieses Lachen, das den ganzen Raum verschluckt. Dieses Lachen, das klingt, als hätte er schon einen Plan.

Die Leute meinen, ich durchschaue alles bis ins Letzte. Und das ist auch nicht gelogen, wunderbarlichste Herrschaften, aber bei Jah, manchmal bekomme ich zu spät mit, was Sache ist, und wenn man was zu spät spitzkriegt? Dann ist es besser, man weiß es gar nicht, hat meine Mutter immer gesagt. Sonst lebt man in der Gegenwart und muss sich plötzlich mit der Vergangenheit rumschlagen. Wie wenn man mit einem Jahr Verspätung merkt, dass man ausgeraubt wurde.

Also schaut mich an. Seht ihr das alles? Alles westlich vom alten Friedhof, südlich vom Hafen und den ganzen Süden von West Kingston? Das ist mein Gebiet. Die Eight Lanes gehören der PNP, darum kümmern die sich. Dann gibt es noch das Gebiet dazwischen, um das wir kämpfen müssen, und manchmal verlieren wir. Er hat früher in Trenchtown gewohnt, darum halten ihn manche für einen Strohmann der People’s National Party. Aber ich würde mir für ihn eine Kugel einfangen und er sich für mich.

Aber diese neuen Jungs, die Jungs, die nie den Rocksteady tanzen, denen es egal ist, ob schön getanzt wird, die arbeiten für gar niemanden. Ich setze die Interessen der Jamaica Labour Party in Grün durch und Shotta Sherrif die der People’s National Party in Orange, aber diese neuen Jungs, denen geht es nur um die Interessen der Partei in ihren Gesäßtaschen. Die kriegt man nicht unter Kontrolle.