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Annie Ernaux erzählt von einer alles verzehrenden Leidenschaft für einen irritierend teilnahmslosen Mann – unerschrocken gründlich sucht sie nach der Wahrheit hinter einer Existenz, in der sie sich zusehends aufzugeben droht.
Das körperliche Leiden, die Angst des Wartens, die immer nur kurze Erleichterung des Liebemachens, die darauffolgende Lethargie und Müdigkeit, das erneute Verlangen, die kleinen Demütigungen und Erniedrigungen der Besessenheit und des Verlassenseins – mit ruhiger Selbstverständlichkeit berichtet Annie Ernaux von einer schmerzlich langen Episode ihres Lebens; wie sie sich immer heftiger in eine Affäre verstrickt, einem verheirateten osteuropäischen Geschäftsmann verfallen, der eine vage Ähnlichkeit mit Alain Delon hat, schnelle Autos und Alkohol mag und im Französischen keine »obszönen Ausdrücke kennt, oder er hatte einfach keine Lust, sie zu benutzen«.
Annie Ernaux beschreibt einen zweijährigen Schwebezustand, worin jedes Wort, jedes Ereignis und jede andere Person entweder eine dringliche Verbindung zu diesem Mann hat oder aber von ihr mit kalter Gleichgültigkeit beschieden wird. Zu einem Mann, der ihr fremder nicht sein könnte.
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Seitenzahl: 55
Annie Ernaux
Eine Leidenschaft
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag
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Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel Passion simple bei Éditions Gallimard, Paris.Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 1553.
Erste Auflage 2024Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© Éditions Gallimard, Paris, 1991Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Willy Fleckhaus
Umschlagabbildung: Annie Ernaux in Cergy, 1990, Foto: Carlos Freire
eISBN 978-3-518-77840-1
www.suhrkamp.de
Nous deux – die Zeitschrift – ist obszöner als de Sade.
Roland Barthes
Im Sommer habe ich mir zum ersten Mal einen Pornofilm im Fernsehen angeschaut, auf Canal+. Mein Gerät hat keinen Decoder, die Bilder auf dem Schirm waren verschwommen, die Dialoge durch eine merkwürdige Tonspur ersetzt, ein Knistern und Rauschen, eine Art andere Sprache, gleichmäßig und fortlaufend. Man konnte eine Frau in einem Spitzenkorsett ausmachen, mit Nylonstrümpfen, und einen Mann. Die Handlung war unverständlich, nichts war vorhersehbar, keine Bewegung, keine Geste. Der Mann näherte sich der Frau. Es folgte eine Großaufnahme, das Geschlecht der Frau erschien auf dem Bildschirm, deutlich sichtbar im Flimmern, dann das Geschlecht des Mannes, sein erigierter Penis, der in die Scheide der Frau glitt. Sehr lange wurde das Rein und Raus aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Der Schwanz kam wieder ins Bild, in der Hand des Mannes, und Sperma ergoss sich der Frau auf den Bauch. Man gewöhnt sich sicher an den Anblick, das erste Mal ist verstörend. Hunderte von Jahren, Generation um Generation, und erst jetzt kann man so etwas sehen, ein weibliches und ein männliches Geschlechtsteil bei der Vereinigung, das Sperma – was man zuvor nicht betrachten konnte, ohne beinahe zu sterben, kann man sich jetzt anschauen wie ein simples Händeschütteln.
Mir kam der Gedanke, dass man beim Schreiben genau danach streben sollte, nach dieser Wirkung, die die Szene eines Geschlechtsakts hervorruft, Beklemmung und Fassungslosigkeit, ein Aussetzen des moralischen Urteils.
Ab September letzten Jahres tat ich nichts anderes mehr, als auf einen Mann zu warten: darauf, dass er anruft und bei mir vorbeikommt. Ich ging in den Supermarkt, ins Kino, ich brachte Kleider zur Reinigung, ich las, ich korrigierte Klassenarbeiten, ich machte alles genau wie vorher, aber wären mir diese Dinge nicht schon lange zur Gewohnheit geworden, hätte ich sie nicht tun können, oder nur unter gewaltiger Anstrengung. Vor allem, wenn ich redete, hatte ich den Eindruck, es geschehe von selbst. Die Wörter und Sätze, ja selbst das Lachen bildeten sich ohne wirkliches Zutun meiner Gedanken oder meines Willens in meinem Mund. Im Übrigen erinnere ich mich nur noch vage an meine damaligen Aktivitäten, an die Filme, die ich gesehen, die Menschen, die ich getroffen habe. Alles an meinem Verhalten war aufgesetzt. Die einzigen Tätigkeiten, an denen mein Wille, mein Begehren und etwas, das wohl die menschliche Intelligenz ist (vorausplanen, das Für und Wider, die Konsequenzen abwägen), beteiligt waren, hatten alle eine Verbindung zu diesem Mann:
Zeitungsartikel über sein Land lesen (er war Ausländer)
Kleider und Make-up auswählen
ihm Briefe schreiben
die Bettwäsche wechseln und im Schlafzimmer Blumen aufstellen
Dinge notieren, die ich ihm unbedingt das nächste Mal erzählen wollte, weil ich dachte, sie könnten ihn interessieren
Whisky, Obst und etwas zum Knabbern für unseren gemeinsamen Abend kaufen
mir ausmalen, wo in der Wohnung wir gleich nach seiner Ankunft Sex haben würden
In Gesprächen durchbrachen nur Themen mit einem Bezug zu diesem Mann meine Gleichgültigkeit, zu seinem Beruf, zu dem Land, aus dem er kam, zu Orten, an denen er schon einmal gewesen war. Die Person, die mit mir redete, ahnte nicht, dass mein plötzlich intensives Interesse an ihren Worten nichts mit ihrer Erzählweise zu tun hatte und nur wenig mit dem Thema selbst, sondern bloß damit, dass A. eines Tages, zehn Jahre vor unserem Kennenlernen, während seines Einsatzes in Havanna vielleicht einmal in diesem Nachtclub gewesen war, dem »Fiorendito«, den mein Gegenüber mir, ermutigt von meiner Aufmerksamkeit, in allen Einzelheiten beschrieb. Genauso war es, wenn ich ein Buch las, alle Sätze, bei denen ich innehielt, handelten von der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau. Mir schien, sie könnten mir etwas über A. beibringen und das, was ich gern glauben wollte, zur Gewissheit werden lassen. Als ich etwa in Grossmans Leben und Schicksal las, »wer mit offenen Augen küsst, der liebt nicht«, redete ich mir ein, A. würde mich lieben, weil er die Augen beim Küssen schloss. Das restliche Buch war dann wieder das, was jede Tätigkeit ein Jahr lang für mich war, ein Mittel, die Zeit zwischen zwei Treffen mit ihm zu vertreiben.
Meine einzige Zukunft war der nächste Anruf, bei dem wir uns verabreden würden. Jenseits meiner beruflichen Verpflichtungen – deren Zeiten er kannte – verließ ich das Haus so wenig wie möglich, weil ich fürchtete, in meiner Abwesenheit einen Anruf von ihm zu verpassen. Ich vermied es auch, den Staubsauger oder Föhn zu benutzen, weil ich sonst womöglich das Telefon nicht gehört hätte. Bei jedem Klingeln quälte mich eine Hoffnung, die oft nur so lange anhielt, bis ich langsam den Hörer abhob und Hallo sagte. Wenn ich feststellte, dass nicht er dran war, ergriff mich eine so tiefe Enttäuschung, dass ich regelrecht Hass auf die Person am anderen Ende der Leitung empfand. Sobald ich A.s Stimme hörte, war mein endloses, schmerzhaftes, natürlich eifersüchtiges Warten vorbei, und zwar so plötzlich, dass ich den Eindruck hatte, ich wäre verrückt gewesen und schlagartig wieder normal. Ich war erstaunt, wie belanglos diese Stimme im Grunde war und welch übermäßig große Bedeutung sie in meinem Leben hatte.