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Annie Ernaux erzählt von ihrer Mutter und dem aussichtslosen Kampf gegen die Alzheimer-Erkrankung, von einer großen Liebe und der Zerstörungskraft des Vergessens. Und sie verewigt so, im Moment ihres Verschwindens, den Menschen, der ihr das Leben geschenkt hat.
Die Mutter verliert das Gedächtnis – mehr und mehr scheinen ihr die Familie, die Welt, das Leben abhandenzukommen. Annie Ernaux hält die Gespräche mit ihr fest, schreibt sie auf, intuitiv, aus der existenziellen Angst vor dem Verlust, wie gejagt von der Gewalt des Verfalls und der Erinnerungswucht an diese Kranke, die noch immer ihre Mutter ist. Mehr als ein Jahrzehnt bleiben diese Aufzeichnungen in der Schublade.
Und doch entschließt sich Ernaux später, diese Seiten zu veröffentlichen, weil es nicht nur ein Bild ihrer Mutter geben soll: sondern die Vielheit der Wahrheiten. So wird die Chronik eines langsamen Abschieds und einer schrecklichen Zerstörung lesbar – aber auch die Pionierleistung Annie Ernaux`, die schmerzhafte Suche nach der Sprache für eine Krankheit, die damals noch kaum beschrieben war.
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Seitenzahl: 81
Veröffentlichungsjahr: 2025
Annie Ernaux
Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Roman
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag
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Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem TitelJe ne suis pas sortie de ma nuit bei Éditions Gallimard, Paris.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2025.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025© Éditions Gallimard, Paris, 1997
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Umschlaggestaltung nach einem Konzept von Willy Fleckhaus
Umschlagfoto: Annie Ernaux mit ihrer Mutter am Eingang des Cafés, 1959. Privatarchiv Annie Ernaux. Alle Rechte vorbehalten.
eISBN 978-3-518-78195-1
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
1983
Dezember
1984
Januar
Februar
Samstag, 25.
März
Donnerstag, 15.
Samstag, 17.
Sonntag, 18.
Mittwoch, 28.
April
Mittwoch, 4.
Sonntag, 8.
Samstag, 14.
Ostersonntag
Donnerstag, 26.
Sonntag, 29.
Mai
Dienstag, 8.
Sonntag, 13.
Donnerstag, 17.
Freitag, 18.
Dienstag, 22.
Freitag, 25.
Juni
Sonntag, 3.
Donnerstag, 7.
Freitag, 15.
Samstag, 23.
Juli
Donnerstag, 12.
Donnerstag, 26., Boisgibault
August
Samstag, 11.
Montag, 20.
Freitag, 24.
Mittwoch, 29.
September
Montag, 3.
Mittwoch, 5.
Dienstag, 11.
Montag, 17.
Sonntag, 23.
Samstag, 29.
Oktober
Sonntag, 7.
Freitag, 12.
Freitag, 19.
Donnerstag, 25.
Sonntag, 28.
Montag, 29.
Mittwoch, 31.
November
Sonntag, 4.
Samstag, 24.
Dezember
Sonntag, 2.
Sonntag, 9.
Weihnachten
Montag, 31.
1985
Januar
Sonntag, 6.
Samstag, 19.
Februar
Freitag, 1.
Samstag, 2.
Samstag, 16.
Samstag, 23.
März
Samstag, 2.
Sonntag, 24., Pariser Buchmesse
Sonntag, 31.
April
Montag, 15.
Freitag, 19.
Sonntag, 21.
Samstag, 27.
Mai
Samstag, 4.
Samstag, 18.
Pfingstsonntag
Juni
Sonntag, 2.
Sonntag, 9.
Sonntag, 23.
Sonntag, 30.
Juli
Sonntag, 7.
August
Samstag, 17.
Montag, 26.
September
Donnerstag, 5.
Samstag, 7.
Freitag, 13.
Sonntag, 15.
Donnerstag, 19.
Oktober
Freitag, 4.
Dienstag, 8.
Dienstag, 15.
Freitag, 18.
Montag, 21.
Mittwoch, 23.
November
Sonntag, 3.
Montag, 11.
Mittwoch, 13.
Sonntag, 17.
Sonntag, 24.
Dezember
Sonntag, 1.
Sonntag, 8.
Sonntag, 15.
Sonntag, 22.
1986
Februar
Sonntag, 2.
Mittwoch, 12.
Donnerstag, 20.
März
Sonntag, 2.
Sonntag, 16.
Ostersonntag
April
Sonntag, 6.
Montag, 7.
Dienstag, 8.
Donnerstag, 10.
Freitag, 11.
Samstag, 12.
Sonntag, 13.
Montag, 14.
Mittwoch, 16.
Sonntag, 20.
Montag, 28.
Fußnoten
Informationen zum Buch
Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus
Die Gedächtnisprobleme und das seltsame Verhalten meiner Mutter begannen zwei Jahre nach einem schweren Verkehrsunfall, von dem sie sich vollständig wieder erholt hatte – sie war von einem Auto erfasst worden, das über eine rote Ampel gefahren war. Ein paar Monate lang konnte sie weiter ohne Hilfe in dem Seniorenheim leben, in dem sie ein Einzimmerapartment bewohnte, in Yvetot in der Normandie. Im Sommer 83, auf dem Höhepunkt der Hitzewelle, erlitt sie einen Schwächeanfall und kam ins Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass sie seit Tagen nichts getrunken und gegessen hatte. Ihr Kühlschrank war bis auf eine Packung Würfelzucker leer. Sie konnte nicht mehr allein leben. Ich beschloss, sie zu mir nach Cergy zu holen, überzeugt, dass ihre Verwirrtheit in dem vertrauten Umfeld und durch die Anwesenheit meiner beiden großen Söhne, Éric und David, die aufzuziehen sie mir geholfen hatte, verschwinden würde, dass sie wieder zu der energischen, selbstständigen Frau werden würde, die sie noch kurz zuvor gewesen war.
Dem war nicht so. Ihr Gedächtnis wurde schlechter, der Arzt sprach von Alzheimer. Sie erkannte Orte und Menschen nicht wieder, meine Kinder, meinen Exmann, mich. Sie war jetzt eine verwirrte Frau, die ruhelos durchs Haus lief oder stundenlang im Flur auf der Treppe saß. Als sie im Februar 84 immer apathischer wurde und das Essen verweigerte, ließ der Arzt sie ins Krankenhaus von Pontoise einweisen. Sie blieb zwei Monate dort, und nach einem kurzen Aufenthalt in einem privaten Seniorenheim kam sie wieder ins Krankenhaus von Pontoise, diesmal auf die geriatrische Station, wo sie im April 86 mit neunundsiebzig Jahren an einer Embolie gestorben ist.
In der Zeit, als sie noch bei mir wohnte, begann ich, mir Notizen zu machen, auf losen Blättern, ohne Datum, zu Dingen, die meine Mutter gesagt oder getan und die mich mit Schrecken erfüllt hatten. Ich konnte nicht ertragen, dass meine Mutter derart abbaute. Einmal träumte ich, dass ich sie wütend anschrie: »Hör auf, so verrückt zu sein!« Später, wenn ich von einem Besuch bei ihr im Krankenhaus von Pontoise zurückkam, verspürte ich den unbändigen Drang, über sie zu schreiben, über das, was sie sagte, über ihren Körper, dem ich immer näher kam. Ich schrieb sehr schnell, impulsiv, ohne nachzudenken, ungeordnet.
Ständig und überall hatte ich das Bild meiner Mutter an diesem Ort vor Augen.
Mit Schuldgefühlen begann ich Ende 85 eine Erzählung über ihr Leben. Ich hatte den Eindruck, mich in eine Zeit zu versetzen, in der sie nicht mehr sein würde. Auch lebte ich in einer Zerrissenheit, weil ich sie mir beim Schreiben als jungen Menschen, der auf die Welt zugeht, vorstellte, während mich die Gegenwart meiner Besuche mit der unaufhaltsamen Verschlechterung ihres Zustands konfrontierte.
Nach dem Tod meiner Mutter zerriss ich diese unfertige Erzählung und begann eine andere, die 88 erschienen ist, Eine Frau. In der ganzen Zeit, in der ich an diesem Buch arbeitete, las ich mir die Seiten, die ich während der Krankheit meiner Mutter geschrieben hatte, nicht noch einmal durch. Als wären sie mir verboten: Ich hatte die letzten Monate und Tage im Leben meiner Mutter festgehalten, ohne zu wissen, dass es auf das Ende zuging, sogar ihren vorletzten Tag. Die Unkenntnis dessen, was folgt – die vielleicht jedes Schreiben charakterisiert, ganz sicher aber meins –, hatte in diesem Fall etwas Unheimliches. Man könnte sagen, dass mich das Tagebuch der Besuche bei meiner Mutter zu ihrem Tod führte.
Lange Zeit dachte ich, ich würde es nie veröffentlichen. Vielleicht wollte ich von meiner Mutter und von meiner Beziehung zu ihr ein einziges Bild, eine einzige Wahrheit stehen lassen, die nämlich, der ich mich in Eine Frau anzunähern versucht hatte. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass die Einheit, die Kohärenz, auf die jedes Werk hinausläuft – ganz gleich, wie sehr man sich bemüht, äußerst widersprüchliche Gegebenheiten zu berücksichtigen –, so oft wie möglich herausgefordert werden sollte. Indem ich diese Seiten öffentlich mache, bietet sich mir die Gelegenheit dazu.
Ich gebe sie hier genau so wieder, wie ich sie geschrieben habe, in der Fassungslosigkeit und Erschütterung, in der ich mich damals befand. Ich wollte nichts ändern beim Transkribieren jener Momente, in denen ich an der Seite meiner Mutter gewesen bin, außerhalb der Zeit – abgesehen vielleicht von der Zeit einer wiedergefundenen Kindheit –, jenseits jedes Gedankens, außer: »Das ist meine Mutter.« Sie war nicht mehr die Frau, die immer über meinem Leben geschwebt hatte, und dennoch war sie, trotz ihres unmenschlichen Gesichts, durch ihre Stimme, ihre Bewegungen, ihr Lachen mehr denn je meine Mutter.
Auf keinen Fall darf man diese Seiten als objektiven Bericht über die »stationäre Langzeitpflege« lesen und erst recht nicht als Anklage (die meisten Pflegerinnen waren einfühlsam und zugewandt), sie sind einfach nur der Überrest eines Schmerzes.
»Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus« ist der letzte Satz, den meine Mutter geschrieben hat.
Ich träume oft von ihr, davon, wie sie vor ihrer Krankheit gewesen ist. Sie lebt, aber sie ist schon einmal tot gewesen. Beim Aufwachen bin ich eine Minute lang überzeugt, dass sie tatsächlich in dieser doppelten Form existiert, zugleich tot und lebendig, wie diese Gestalten der griechischen Mythologie, die den Fluss der Toten zweimal überquert haben.
März 96
Sie sitzt auf einem Stuhl im Wohnzimmer. Apathisch, mit erschlafftem, reglosem Gesicht. Nicht mit offenem Mund, aber von Weitem sieht es so aus.
»Ich kann es nicht finden«, sagt sie (ihren Kulturbeutel, ihre Strickjacke, alles). Sie hat keine Kontrolle mehr über die Dinge.
Sie will sofort fernsehen. Sie kann nicht warten, bis ich den Tisch abgeräumt habe. Sie versteht nichts mehr, es zählt nur noch, was sie will.
Jeden Abend zur Schlafenszeit bringen David und ich sie nach oben. An der Stelle, wo das Parkett in Teppichboden übergeht, hebt sie den Fuß hoch, als trete sie in Wasser. Wir lachen, sie lacht auch. Vorhin, als sie endlich vergnügt im Bett lag, nachdem sie bei dem Versuch, sich einzucremen, alle Dinge vom Nachttisch geworfen hatte, hat sie zu mir gesagt: »Ich werde jetzt schlafen, vielen Dank, madame.«