Eine neue Familie für Marie - Annika Holm - E-Book

Eine neue Familie für Marie E-Book

Annika Holm

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Beschreibung

Maries Mutter ist gestorben und so muss sie nun bei ihrem Vater leben. Doch ihren Vater kennt sie kaum. Und auch der Vater fühlt sich in seiner neuen Rolle nicht so recht wohl. Anstatt sich fürsorglich um Marie zu kümmern, arbeitet er bis spät in die Nacht. Zum Glück hat Marie aber ihre beste Freundin Mathilda. Bei Mathilda kann Marie ihr Herz ausschütten und sie hat immer ein offenes Ohr für Maries Sorgen. Doch dann wird alles noch schlimmer. Der Vater verliebt sich und will in eine andere Stadt ziehen. Marie ist traurig und wütend zugleich. Niemand nimmt Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und so schmiedet sie zusammen mit Mathilda einen Plan. Doch je mehr sie daran denkt, ihren Vater zu verlassen, bemerkt Marie, dass ihre neue Familie ihr doch langsam ans Herz gewachsen ist.EINE NEUE FAMILIE FÜR MARIE ist eine einfühlsame Geschichte über ein Mädchen, das lernt, mit neuen Lebenssituationen umzugehen. Annika Holm erzählt ohne Sentimentalität aber mit viel Verständnis für die Gefühlswelt junger Menschen. Sehr lesenswert! "Annika Holm schreibt einfühlsam, über die großen und kleinen Schwierigkeiten, denen Kinder gegenüberstehen können, wenn sie sich auf neue Familienmitglieder einlassen müssen." Findefuchs "Maries Geschichte macht Mut und zeigt, wie wichtig Eltern sind, auch wenn sie manchmal nerven." Neue Westfälische Zeitung "Die Autorin schreibt über große Themen ohne Pathos und mit leisem Humor ... Ein erfrischendes Lesevergnügen ist das Buch." Badische Zeitung. -

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Annika Holm

Eine neue Familie für Marie

Eine Mathilda-Marie-Geschichte

Aus dem Schwedischen vonAngelika Kutsch

Saga

Eine neue Familie für Marie

Aus dem Swedish von Angelika Kutsch

Originaltitel: Den stora oredan © 1997 Annika Holm

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711501238

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Marie Månsson bekommt einen Brief

Der Schaft ist ein wenig schwarz geworden und flusig von dem rosafarbenen Flaum, in den er gebettet war. Aber sonst ist er ganz intakt, kein bisschen beschädigt auf dem Postweg von Stockholm nach Göteborg.

Marie wischt die Flusen ab und reibt den Hals mit dem Pulloverärmel blank, hält den kleinen Kontrabass hoch und betrachtet ihn genau. Doch, es ist alles noch dran, vier Saiten, die kleinen Wirbel und der eingerollte Hals. Er ist noch genauso schön wie damals, als er ganz neu war – vor langer, langer Zeit. Vor sehr langer Zeit.

Neben ihr auf dem Bett liegt der Brief von Mathilda zwischen all dem Plastik, der Watte und der Pappe, die den Kontrabass geschützt haben. Sie nimmt den Brief und liest ihn noch einmal.

Weißt du, wo der war?

In Jespers gelbem Laster in Östersund. Im Fahrerhaus. Dort hat er also ein ganzes Jahr gelegen, seit Ostern. Damals haben wir auf dem Fußboden in seinem Zimmer geschlafen. Erinnerst du dich noch?

Was für eine Frage! Natürlich erinnert sie sich, dass sie und Mathilda Ostern in Östersund waren. Wie sollte sie diese Reise vergessen können. Es war ja gerade diese Reise, die ihr ganzes Leben verändert hat. Das wusste sie damals natürlich noch nicht.

Sie erinnert sich allerdings nicht daran, dass sie dort damals ihren silbernen Kontrabass verloren hat. Ist ihr überhaupt aufgefallen, dass sie ihn verloren hat?

Sie steht auf und geht zum Bücherregal, öffnet die grüne runde Schachtel, in der sie besondere Erinnerungen aufbewahrt. Dort liegt das Armband mit dem Herz, das Arne ihr geschenkt hat, und die Friedenstaube, die sie und Mama in England gekauft haben. Und da ist auch noch das Häkchen, an dem der Kontrabass hing. Den hat sie von Runo zu jenem schrecklichen Weihnachtsfest bekommen.

Das erste Weihnachten ohne Mama.

Sie betrachtet den Kontrabass noch einmal. Will sie den eigentlich an ihrem Armband haben? Sie weiß es nicht, hakt ihn aber erst mal fest.

Als sie ihn bekam, hat sie sich gefreut, daran kann sie sich deutlich erinnern. Weihnachten vor etwas mehr als einem Jahr war sie traurig gewesen und trotz allem nicht nur traurig. Damals wohnte sie noch in Stockholm, Mathilda, Arne, Helena und Achim waren noch ihre Freunde und sie hatte gerade erfahren, dass Runo es sich anders überlegt hatte. Sie sollte nicht zu ihm, dem fast unbekannten Papa, in die fast unbekannte Stadt Göteborg ziehen. Er wollte bei ihr in Stockholm wohnen. Wenn sie auch keine Mama mehr hatte, sollte sie einen Papa bekommen, und sie sollte dort mit ihm leben, wo ihr alles vertraut war.

Er war mit dem letzten Zug aus Göteborg gekommen und noch mitten in der Nacht vor Heiligabend war sie zu Mathilda gelaufen und hatte ihr die wunderbare Neuigkeit erzählt. Dann hatten sie einen langen Spaziergang zum See gemacht, Runo und sie. Papa und sie.

Sie hatten über alles gesprochen, warum Sunniva sterben musste und wie es war, wenn man so bodenlos traurig war, dass einem überhaupt nichts mehr Spaß machte.

Sie hatte die meiste Zeit geredet. Runo hatte nicht viel gesagt, aber was er sagte, war jedenfalls richtig – oder wie sollte sie das beschreiben? Es war ehrlich gewesen. Er schien ihr genau zuzuhören und genau darüber nachzudenken, was sie sagte, und versuchte es zu verstehen. Auf dem Rückweg hatten sie über andere Sachen geredet, wie es werden würde – falls er einen Job in Stockholm bekam. Wer abwaschen und wer einkaufen sollte und wie sie sich ernähren wollten.

Es war schön und traurig gewesen, und so war es an jenem Heiligabend auch zu Hause bei Großmutter, schön und traurig zugleich.

Traurig war es, weil Mama nicht mehr da war und nie mehr wiederkommen würde. Schön, weil ... ja, schwer zu sagen. Weil sie drei dasaßen und einander gern hatten: Großmutter, Papa und sie.

Als sie den kleinen Kontrabass auswickelte und die Lichter vom Tannenbaum sich darin spiegelten, war es nur schön gewesen. Noch nie hatte sie so etwas Hübsches geschenkt bekommen, etwas, das nur für sie gemacht war.

»Ich hab einen Kurs im Silberschmieden gemacht«, hatte Runo gesagt. Großmutter hatte ganz erstaunt geguckt und dann hatten alle drei gelacht.

»Redest du von meinem Sohn?«, hatte sie mitten im Lachen gefragt und dann hatten sie noch mehr gelacht.

Aber es stimmte, er war den ganzen Herbst über bei einem richtigen Silberschmied in die Lehre gegangen und der kleine Kontrabass glich dem Kontrabass in ihrem Zimmer bis ins letzte Detail.

Seitdem hatte sie das Armband mit dem Kontrabass immer getragen, aber sie konnte sich nicht erinnern, ob sie überhaupt bemerkt hatte, dass er verschwunden war.

Es gab so viel anderes zu entdecken.

Der Kontrabass hätte ruhig in Östersund im Fahrerhaus von einem alten Spielzeugauto liegen bleiben können. Weg damit, weg mit dem ganzen Armband, in die Schachtel damit ... Weg mit diesem schrecklichen Morgen, an dem sie entdeckte, dass ...

Der erste Morgen in den Osterferien. Vor einem Jahr, als sie noch in Stockholm wohnte.

Sie will sich nicht erinnern, aber die Erinnerung ist stärker als ihr Wille.

2.

Sein Bett war leer

Sie war spät aufgewacht, guckte auf die Uhr und dachte, dass Mathilda jetzt bald auf dem Weg nach Östersund zu ihrer Schwester war. Das würden langweilige Osterferien werden ohne Mathilda.

Aber dann fiel ihr ein, dass Arne und sie sich ein Kinoprogramm zusammengestellt hatten. Heute Abend wollten sie anfangen und morgen würde Runo auch mitkommen. Dann wollten sie sich zusammen diesen 3-D-Weltraumfilm angucken, auf den Arne ganz wild war.

Sie blieb im Bett liegen und hörte sich ein bisschen Simon & Garfunkel an, bevor sie aufstand, um Runo zu wecken und zu klären, wer von ihnen beiden mit Brötchenholen dran war. Sie war ganz sicher, dass er an der Reihe war, und während sie durch den Flur tappte, sang sie »Cecilia, you’re breaking my heart«. Bei »heart« riss sie seine Tür auf.

Da entdeckte sie es.

Sein Bett war leer. Niemand hatte darin geschlafen, es sah noch genauso aus wie gestern Abend, als sie eine Weile hier gesessen und Sunniva Gute Nacht gesagt hatte. Das machte sie immer, wenn sie allein zu Hause war. Tat so, als ob alles wie früher wäre und als ob nicht er jetzt in diesem Zimmer wohnte.

»Warte mal eben, ich will nur noch die Seite zu Ende lesen«, sagte Sunniva und legte ihre Hand auf Maries Hand, während sie las.

»So«, sagte sie und legte das Buch auf ihren Bauch. Sie guckte Marie an und lächelte, fragte, ob sie Spaß gehabt habe.

»Leg dich eine Weile zu mir«, sagte sie dann und Marie legte sich neben sie. Und sie lagen einfach da und fühlten sich wohl, bis Sunniva sie in die Seite stupste.

»Jetzt muss ich schlafen und du auch. Mach bitte das Licht im Flur aus, wenn du gehst.«

Sie schob das Bild von Sunniva beiseite und sah sich im Zimmer um, das nun Runo gehörte. Seine Bücher und sein Bass, seine Kleider auf dem Stuhl, seine Strümpfe auf dem Fußboden. Aber er selber war nicht da.

Obwohl sie wusste, dass sie nichts finden würde, machte sie das, was sie immer tat, wenn sein Bett leer war. Sie suchte nach einer Nachricht. Hörte den Anrufbeantworter ab. Nichts. Guckte auf der Bank im Flur, auf dem Tisch in der Küche, an der Wohnungstür nach. Kein Zettel, nichts. Er war einfach weg. Wie immer.

Sie hätte ihn anschreien mögen. Nein, sie würde ihn schlagen. Ihn zwingen, sich wie ein normaler Papa zu benehmen. So was tut man nicht! Väter tun so was nicht! Väter kommen jeden Abend nach Hause oder wenigstens nachts, falls sie Überstunden machen müssen. Aber sie kommen nach Hause.

Kapierst du das nicht?, möchte sie ihn anschreien.

Aber er war ja nicht da. Er konnte nicht kapieren, was sie meinte.

Sie rief Mathilda an, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Während sie darauf wartete, dass sich jemand meldete, fiel ihr ein, was sie tun würde.

Das geschah ihm recht!

Sie legte auf und rief die Inland-Zugauskunft an. Erfuhr, dass der Zug nach Storlien, der um 18.04 Uhr in Östersund hielt, um 12.10 vom Hauptbahnhof abfuhr. Den Zug musste sie kriegen.

Noch genau zwei Stunden. Das konnte sie schaffen.

In der Spardose lagen fünf Hunderter. Die steckte sie in die Innentasche des Rucksacks, stopfte einen warmen Pullover, Zahnbürste und Unterwäsche hinein, schnappte sich ein paar Bananen und knallte die Wohnungstür hinter sich zu.

Vor dem Haus blieb sie stehen. Sollte sie bei Arne vorbeigehen? Oder ihn anrufen? Sie wollten sich doch so viele Filme angucken.

Aber nach genauerem Nachdenken: nein. Für ihn würde es nur kompliziert werden, wenn er etwas wusste, das er auf keinen Fall weitersagen durfte. Selbst wenn er Geheimnisse für sich behalten konnte – nein, es war besser, nichts zu sagen.

Natürlich würde er sauer und enttäuscht sein, wenn sie nicht zu Hause war und nichts von sich hören ließ. Aber er würde es verstehen, wenn er den Grund erfuhr.

Sie ging geradewegs zur U-Bahn-Station.

3.

Eine Fahrkarte nach Östersund

»Bitte eine Fahrkarte nach Östersund!«

»Hin und zurück oder einfach?«

»Was kostet das?«

Der Mann hinter der Scheibe schien nicht zu merken, dass ihr Herz heftig schlug und ihre Wangen vor Röte brannten. Seine Stimme klang total entspannt, als er antwortete, dass die Hin- und Rückfahrt achthundert Kronen und eine einfache Fahrt vierhundertsieben Kronen kostete, und er zog nicht einmal eine Augenbraue hoch, als sie sagte, sie könne sich nur die einfache Fahrt leisten.

Sie bekam ihre Fahrkarte und dreiundneunzig Kronen durch die kleine Öffnung im Glas. Nachdem sie das Geld und die Karte in der Rucksacktasche verstaut hatte, lief sie im großen Wartesaal Mathildas Mama genau in die Arme.

»Marie, was machst du denn hier? Willst du auch verreisen? Das wusste ich gar nicht.«

»Nein, ich bleibe zu Hause. Wohin sollte ich verreisen?«

Marie lächelte so breit, wie sie konnte, und hoffte, dass Mathildas Mama nicht gesehen hatte, aus welcher Richtung sie gekommen war. Dann fragte sie schnell nach Mathilda.

»Sie fährt doch wohl nach Östersund und nicht du?«

»Genau. Wir haben uns hier um zwölf verabredet. Ich bin ein bisschen eher gekommen, weil ich noch schnell eine Kleinigkeit essen will. Kommst du mit? Ich lade dich ein.«

Mathildas Mama zeigte auf das nächste Café und Marie spürte im Bauch, dass sie eigentlich wollte und etwas essen müsste.

»Nein danke, ich hab’s wahnsinnig eilig, ich wollte nur ...«

»Willst du dich nicht von Mathilda verabschieden? Ich dachte, deswegen bist du hier.«

»Nein, das geht nicht. Ich muss um zwölf ... bei Großmutter sein, ich wollte ihr nur eine Farbe kaufen, Karamellfarbe, gelb also, deshalb ...«

»Hier auf dem Bahnhof?«

Mathildas Mama sah nicht aus, als ob sie Marie verhören wollte, aber doch so erstaunt, dass Marie klar wurde, dass der Zeitungsladen im Hauptbahnhof nicht gerade der Laden ist, in dem man als Erstes nach gelber Karamellfarbe sucht.

»Nein, eigentlich nicht, aber bei uns draußen hatten sie keine, und da dachte ich, vielleicht hier, weil ich ja doch beim Hauptbahnhof vorbeikomme. Hier Farbe zu kaufen, mein ich. Aber jetzt muss ich ...«

»Ruf deine Großmutter an, es ist ihr bestimmt recht, wenn du noch eine Weile hier bleibst. Mathilda muss jede Minute kommen.«

»Ich bin mit Großmutter am Karlaplatz verabredet. Wirklich, ich muss mich jetzt beeilen. Grüß Mathilda.«

Und dann lief sie zur U-Bahn hinunter. Dort trabte sie siebzehn Minuten lang hin und her. Es fehlte noch, dass sie den Zug verpasste, nur weil Mathildas Mama ihre Tochter unbedingt zum Zug bringen musste. Dabei verreiste Mathilda doch nur für eine lächerliche Woche. Idiotisch!

Siebzehn Minuten – konnten Minuten wirklich so langsam vergehen? Vielleicht ging die Uhr falsch? Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und ging wieder in die große Halle hinauf. Dort sah sie hinter der Glasscheibe, dass sich der Bahnsteig, an dem der Zug eingefahren war, mit Menschen gefüllt hatte. Vielleicht konnte sie sich in der Menschenmenge verstecken und sich in den Zug mogeln, ohne dass Mathilda oder ihre Mama sie entdeckten? Aber dann waren ihre Rücken genau vor ihr, als sie den Bahnsteig betrat.

Ein Glück, dass da ein Gepäckwagen stand. Hinter dem konnte sie sich verstecken und an den Wagen entlanggehen und erst bei der allerletzten Schlange stellte sie sich an.

Es funktionierte. Sie stieg ein, als eine Lautsprecheransage die Abfahrt des Zuges ankündigte. Der Zug fuhr langsam an. Sie holte ihre Fahrkarte hervor und stellte fest, dass sie sogar im richtigen Wagen war. Durchs Fenster sah sie Mathildas Mama und viele andere Menschen winken, dann sah sie Gleise und Wasser, Häuser und Dunkelheit und neue Häuser, und als der Zug durch Sollentuna fuhr, begriff sie, dass sie wirklich unterwegs war.

Jetzt galt es, dass auch Mathilda es begriff.

4.

Warum bist du hier?

Sie wartete noch eine Weile, ehe sie nach Mathilda suchte. Und als sie dann den braunen Haarschopf an einem Fenster entdeckte, blieb sie zögernd stehen. Plötzlich war sie unsicher. Wie sollte sie es erklären?

Jemand saß neben ihr, ein junger Mann, er redete in sein Handy und vor sich auf dem Tischchen hatte er einen Laptop. Über ihn hinweg konnte man sich nicht unterhalten.

»Psst! Hallo!«, flüsterte sie, aber Mathilda las in einem Buch und hörte nichts.

»Entschuldigung.« Marie räusperte sich und beugte sich über den Laptop, so dass sie Mathilda am Ärmel berühren konnte.

Mathilda sah auf, schlug ihr Buch zu, steckte es in die Tasche des Vordersitzes, erhob sich, sagte ebenfalls »Entschuldigung«, stieg über die Beine des Mannes hinweg und zwängte sich an seinem Laptop vorbei hinaus in den Gang.

»Mama hat erzählt, sie hat dich auf dem Bahnhof getroffen und ich hab null kapiert. Warum hast du gesagt, dass du zu deiner Großmutter wolltest? Du gehst doch heute Abend mit Arne ins Kino! Warum bist du hier?«

»Ich weiß«, sagte Marie seufzend. »Ich hab ein bisschen gelogen. Aber alles ging so schnell, ich hatte solche Angst, sie würde mich daran hindern.«

»Woran?«

»Wegzufahren.«

»Wohin?«

»Nach Östersund natürlich.«

»Aber ich fahr doch nach Östersund.«

»Genau deswegen.«

»Ich kapier überhaupt nichts.«

»Ich auch nicht.«

»Und Arne?«

»Er wird es verstehen. Aber er weiß es noch nicht.«

»Und Geld? Hast du eine ...«

»Klar hab ich eine Fahrkarte. Ich sitz im letzten Wagen.«

Marie sah Mathilda an und Mathilda starrte Marie an und Marie dachte: Ich hab mich getäuscht. Nicht einmal sie wird es verstehen.

Sie drehte sich um und ging. Mathilda wartete ein paar Sekunden, dann folgte sie ihr. Durch drei Wagen gingen sie in fünfzehn Meter Abstand. Als Marie sich auf ihren Platz gesetzt hatte, setzte sich Mathilda neben sie.

»Erzähl!«, sagte sie.

Marie dachte nach. Wo sollte sie anfangen?

Mathilda wusste ja nichts von den einsamen Nächten, wenn Runo nicht nach Hause kam. Sie wusste nicht, wie das war, Abend für Abend allein in der Wohnung zu sein. Wie es war, sich in das Bett von Mama zu legen und zu warten, und dann kam Papa nicht. Wie es war, unter der Decke zu liegen und an eine Mama zu denken, die es nicht mehr gab. Und dann einzuschlafen und aufzuwachen und zu denken, dass ihm was passiert sein könnte. Warum sonst war er um zwei noch nicht zu Hause? Wenn er doch um sechs schon zur Arbeit musste? Nachts passieren die merkwürdigsten Sachen. Überfälle, Raub, Mord und Verkehrsunfälle, Leute werden auf U-Bahn-Gleise gestoßen, Explosionen und Entführungen, manche verlaufen sich und ...

Davon hatte sie niemandem etwas erzählt, nicht mal Mathilda. Sie hatte sich nicht getraut. Vielleicht hatte sie geglaubt, Mathilda würde es ihrer Mama erzählen, und dann würde ihre Mama es der Lehrerin erzählen, und dann würde die Lehrerin etwas machen, dass Runo ... Nein, sie wusste nicht, was sie gedacht hatte. Sie wusste nur, dass sie es niemandem erzählt hatte.

Vielleicht war das dumm gewesen. Jetzt versuchte sie es also und Mathilda hörte zu, ohne etwas zu sagen. Es war förmlich zu spüren, dass sie zuhörte, und manchmal war an ihrem Luftholen zu hören, wie erstaunt sie war.

Als der Zug in Uppsala hielt, war Marie noch nicht einmal bei dem Schrecken von heute Morgen angekommen. Sie hatte von anderen Morgen im letzten Winter erzählt, was das für ein Gefühl gewesen war, wenn sie in die Schule musste, ohne zu wissen, wo Runo war – und natürlich auch ohne Frühstück. Wie es war, fröhlich auszusehen und so tun zu müssen, als ob nichts passiert war, obwohl sie Bauchschmerzen hatte und nur eins denken konnte: Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist und er nie mehr nach Hause kommt. Wie sie sich das Denken verboten hatte und es schließlich auch ganz gut funktionierte, nach einigen Malen.