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Schlappendorf stand vor einem Geschäft, welches noch richtige Schaufensterpuppen hatte. Nicht solche weißen Unisexmodelle, sondern mit Gesichtern und Haaren auf den Köpfen.
Eine der Schaufensterpuppen, eine schlanke Blonde mit vollen Lippen und langen Wimpern, fiel ihm besonders ins Auge. Sie trug ein nachtblaues rückenfreies Kleid und und passende Highheels aus Lackleder. Sie schien ihn anzulächeln.
›Ob so eine auch kochen kann? Das wäre ja mal ein Weihnachten.‹
Vorsicht! Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt.
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Herrmann Schlappendorf, seines Zeichens erster und einziger Buchhalter der Firma Papier Stapel und Söhne GmbH i.g., stand vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete das Gesicht, welches ihm missmutig entgegenblickte.
Er war fünfundvierzig und für sein Idealgewicht zu klein. Für achtundneunzig Kilo waren Einmeter und achtundsiebzig Zentimeter einfach zu kurz. Er zog seinen Mund schief, mit der Linken die Wange nach unten und schabte mit dem Rasierer darüber.
Herrmann Schlappendorf war ein geschiedener Buchhalter. Nicht dass er seiner Ex nachtrauerte. Sie war ihm zu hektisch, zu liberal, zu tolerant und eben ohne jegliche Prinzipien gewesen. Dennoch fehlte sie ihm manchmal. Na ja, nicht sie die Ex, sondern allgemein. Jemand, bei dem man sich über die vielen Ausländer, die Obdachlosen, die Arbeitsscheuen, die unfähigen Politiker, die Schwulen und das ganze andersartige Gesocks beschweren konnte. Öffentlich ging das ja nicht. Neuerdings durfte ja schließlich jeder alles sein.
Er verzog den Mund zur anderen Seite und schabte dort weiter.
Ja und dann war jetzt auch noch Weihnachten.
Herrmann Schlappendorf mochte Weihnachten. Die feierlichen Lieder, die Kerzen den Tannenbaum mit den vielen Lichtern und den Bratenduft. In diesen Zeiten fehlte ihm die Ex dann tatsächlich. Er kannte außer ihr niemanden, der einen Festtagsbraten zubereiten konnte, wie sie.
Er seufzte tief. Die kleinen Schweinsäuglein füllten sich mit Tränenflüssigkeit, aber er riss sich zusammen. »Keine Schwächen alter Freund«, sagte er in zackigem Ton zu seinem Spiegelbild, während er sich, die nun glattgeschabten Wangen, mit einem heißen Tuch betupfte.
Schlappendorf warf einen Blick auf die Badezimmeruhr und zuckte zusammen. Vor sechsundvierzig Sekunden hätte er hier raus sein müssen. Der heutige Heiligabend war zwar nur ein halber Arbeitstag, aber kein Grund, zu spät zu kommen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Sachen, die er am nächsten Tag tragen wollte, am Vorabend, peinlichst genau auf dem stummen Diener zu platzieren. Heute zahlte sich das aus. Rasierwasser ins Gesicht geschaufelt, die Sachen übergestreift, Brotbüchse eingepackt und schon zog er die Tür hinter sich zu. In seiner Hast, vergaß er sogar, abzuschließen.
Gleich an der Ecke wurde er angesprochen. Ein Bettler hatte sich in diese sogenannte, ›bessere Gegend‹, verirrt. Wahrscheinlich hoffte er auf die Mildtätigkeit der hiesigen Anwohner während der Weihnachtszeit.
»He Alter haste ma nen Euro?«
Noch keine Tasse Kaffee im Magen, noch mit keinem vernünftigen Menschen ein Wort gewechselt, aber schon angebettelt. Hermann Schlappendorf schnaubte empört.»Geh arbeiten du Penner«, knurrte er und stieg die Treppen zur U-Bahn hinunter. Wie an jeden Morgen fuhr der Zug in dem Augenblick ein, in dem der Buchhalter den Bahnsteig betrat.
Der Zug war voll besetzt, trotz des Heiligen Abends. Als die Bahn anfuhr, griff er nach einer der Haltestangen. Dennoch wurde er gegen einen anderen Fahrgast gedrückt.
›Mein Gott, der stinkt ja widerlich‹, dachte er, als ihm dessen Ausdünstungen eine Wolke aus Knoblauch, Schnaps und mangelnder Körperhygiene in die Nase trieb.