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Sherlock Holmes und Doktor Watson reisen einen Tag vor Heiligabend im Jahr 1882 auf dem Rückweg von einem erfolgreich abgeschlossenen Fall in einem Pferdeschlitten durch das ländliche England. Durch einen Unfall werden sie dazu gezwungen, in dem kleinen Ort Christchurch zu übernachten. Dort hören sie des Nachts mysteriöses Glockengeläut und Orgelspiel, am nächsten Tag erfahren sie von einem Mord auf dem Friedhof. Der Täter, Richard Wellesley, ist geflohen und hat seine unglückliche Familie kurz vor dem Weihnachtsfest zurückgelassen. Wird es Holmes und Watson gelingen, das Weihnachtsfest zu retten?
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Edition Weihnachten 2019
© 2019 Francis London
Siebte, überarbeitete und erweiterte Auflage
Inhalt
1. Vorgeschichte 1
2. DerWeihnachtsmorgen 15
3. Der Friedhof von Christchurch 23
4. Zeugnisse 51
5. Der Weihnachtsabend 81
6. In der kalten Winternacht 95
7. Die Ankunft von Father Christmas 123
Glossar 138
Zeitleiste (Auszug) 139
Leseprobe aus »In 80 Tagen um die Welt« 141
Eine Weihnachtsgeschichte
Um uns herum erstreckte sich die traumhafte, mit Schnee bedeckte, winterliche Landschaft des ländlichen Englands. Ich hörte das leise Knirschen des Schnees unter den Kufen des Schlittens, das rhythmische Geräusch des Tritts der Pferdehufe, ein Geräusch, welches, gedämpft durch das frisch gefallene Weiß, als eigentümlich dumpfer, ruhiger Klang an meine Ohren drang.
Vor uns, auf dem Bock, saß der Kutscher, in seinen dicken Mantel gehüllt, ein alter, gemütlicher Bauer aus der Gegend, dessen gelegentliche Rufe die Pferde antrieben, während wir durch die verschneite Winterlandschaft glitten. Schnee war selten in dieser Ecke Englands und so hatte der vor einigen Tagen einsetzende starke Schneefall, ganz unerwarteter Weise, das Land in ein Wintermärchen verwandelt.
Heute jedoch war der Himmel blau, die Sonne strahlte durch die klirrend kalte Luft und so wurde unsere Reise zu einem ruhigen Gleiten durch die sanft gewellte Hügellandschaft, mit ihren prächtigen, mit Schnee bedeckten Bäumen und Sträuchern. Die Landschaft strahlte diese majestätische und gelassene Schönheit aus, die der Weihnachtszeit ihre ganz besondere und wundervolle Stimmung gibt!
Für mich war der Anblick ein Genuss, dem ich mich mit Begeisterung hingab. Während ich, im Anblick dieser Schönheit, die kühle Luft mit einem tiefen Atemzug in mich hineinsog, nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie Holmes mich mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen ansah.
Mein Freund Sherlock Holmes war mir damals noch in vielen Dingen ein Rätsel, in einigen ist er es auch heute noch. Unter den vielen Widersprüchen, die er in sich vereint, empfand ich eben jenen schon immer als besonders unerklärlich: Er war ein begabter Musiker, ein Liebhaber der Kunst und auch der Literatur und Wissenschaft nicht abhold. Doch die Schönheiten der Natur, seien es die jener hinreißenden Landschaft oder auch die der zauberhaften weiblichen Geschöpfe unseres Landes, vermochten es nicht im Geringsten, seine Begeisterung zu wecken.
»Holmes, Sie machen sich doch nicht etwa insgeheim über mich lustig?«, fragte ich ihn mit einer gewissen Unsicherheit.
Holmes stieß mit einem eher verächtlichen Schnauben Luft aus seiner Nase, der weiße Dampf wurde vom Fahrtwind ergriffen und davongetragen: »Ich bewundere Ihre kindliche Naivität, Begeisterung für etwas aufzubringen, dass absolut und ausschließlich dem Zufall geschuldet ist.«
Er deutete mit einer weit ausholenden Geste in die Landschaft: »Nichts hiervon, Watson, ist dem Werk der menschlichen Kraft zugänglich. Ganz im Gegenteil. Der Schnee verdeckt all das, was der Mensch in seiner Kreativität geschaffen hat.«
»Aber die Schönheit der Landschaft, Holmes!«, protestierte ich und suchte, seine Begeisterung zu wecken. »Finden Sie denn keinen Gefallen an dem herrlichen Weiß des Schnees? An dem Blau des Himmels, der klirrend kalten Luft und den wärmenden Strahlen der Sonne?«
»Wo wäre der Gewinn darin, wenn ich es bewundern würde?«, entgegnete Holmes kalt. »Es gibt nichts, was es daraus zu erkennen gäbe, keine Absicht, die sich dahinter verbirgt, kein Rätsel zu lösen. Es entzieht sich meinem Einfluss. Der Schnee behindert unser schnelles Fortkommen, das ist alles, was es an dieser Szenerie zu bemerken gibt.«
Nach einem kurzen Schweigen setzte er hinzu: »Eine unerquicklich einfache Beobachtung, Watson, dieses Urteil müssen Sie mir zugestehen.«
Es war der Tag vor Heiligabend im Jahre 1882. Holmes und ich waren auf dem Rückweg von den erfolgreichen Ermittlungen im Falle der vorgetäuschten drei Juwelen, bei denen Holmes durch die Schwingungen der Gewichte einer deutschen Kuckucksuhr zeigen konnte, wann Henry Cameron sich durch den Raum bewegt haben musste und so das Verbrechen zur Aufklärung bringen konnte.
Jetzt wollten wir die nächstgelegene Bahnstation erreichen, um von dort den Zug nach London zu nehmen, allerdings war der Weg noch weit und die ungewohnten Wetterbedingungen verlangsamten unsere Reise. So saßen wir dick eingepackt auf dem offenen Schlitten, der einzige Schlitten, der sich hatte auftreiben lassen und durchquerten das ländliche England. Die Fahrt war nicht unangenehm, denn die Sonnenstrahlen fühlten sich wundervoll warm auf meinen Wangen an und solange die Nacht noch nicht hereinbrach, würde unser Weg nicht beschwerlich sein, so dachte ich es mir.
Indes, als wir nach einem kleinen Anstieg über eine Kuppe kamen, blies uns plötzlich der winterliche, kalte Ostwind ins Gesicht, als wäre er ein geheimer Vorbote der schrecklichen Ereignisse, die sich, noch ohne unser Wissen, in dem vor uns liegenden Ort ereignet hatten.
Von all dem noch nichts ahnend, zog ich angenehm schaudernd meinen Schal höher und amüsierte mich über Holmes‘ unterdrücktes Stöhnen.
Während unser Schlitten über die Kuppe hinüber glitt und dem Weg abwärts folgte, genoss ich einen atemberaubenden Blick in ein tief verschneites Tal, in dessen tiefstem Punkt das kleine Städtchen Christchurch seinen Platz gefunden hatte.
Der Anblick war von einer so überwältigenden Schönheit, dass mir keine Sekunde auch nur der geringste Verdacht kam, dass mein Freund Sherlock Holmes und ich in Kürze mit einem Verbrechen konfrontiert werden würden, dessen dramatische Folgen eine glückliche Familie beinahe zerstört hätte und dieses weihnachtliche Fest der Liebe fast in einen Triumph des Hasses, der Habgier und der Gewalt verwandelte; ein Verbrechen, mit dessen glücklicher Auflösung Holmes einen jener wichtigen Schritte machen würde, die schließlich seinen hervorragenden Ruf als Detektiv begründeten.
Zunächst jedoch näherten wir uns dem Ort auf der sanft geschwungenen Straße aus westlicher Richtung. Die tief stehende Sonne warf den langen Schatten des Schlittens und der beiden, sich im schnellen Gleichmaß bewegenden, wuchtigen Pferde vor uns auf den schneebedeckten Weg. Bergab ging unsere Fahrt flott voran, der Kutscher bremste vorsichtig ein, um die Hast des Schlittens zu kontrollieren und der, durch die Eisen aufgewirbelte Schnee, bildete ein weiße Schleppe in drehendem Getümmel hinter unserem Gefährt.
Ich konnte erkennen, dass ein zweigeschossiges Gutshaus am Eingang des Ortes lag, dahinter die kleineren Häuser der Ortschaft, die am gegenüberliegenden Anstieg der Straße, in die Hügel hinein, von einem Herrenhaus beherrscht wurde. An diesem vorbei, würde unser Weg das Dorf wieder verlassen.
Meine Augen wurden vom Anblick der herrlichen, mehrere Jahrhunderte alten, großen Kirche von Christchurch angezogen, deren mächtigen, steinerne Wände im Licht der Abendsonne, aus der Ortsmitte heraus, orangerot leuchteten. Der Anblick strahlte so viel Wärme und Ruhe aus, dass ich mich bemühen wollte, Holmes dazu zu verführen, unserer anstrengenden Reise eine angenehme Unterbrechung zuteil werden zu lassen.
»Sollten wir nicht im Ort nach einer Unterkunft und einem Abendessen suchen?«, sprach ich ihn an.
»Ich kann nachvollziehen, dass Sie Christchurch als einen hübschen und friedlichen Platz empfinden, Watson«, antwortete Holmes, sich augenzwinkernd mir zuwendend, »heute aber müssen wir uns beeilen. Der nächste Bahnhof ist noch weit und ich würde ein nächtliches Dinner von Mrs. Hudson in der Baker Street sehr zu schätzen wissen.«
Ich hatte den Verdacht, dass Holmes, trotz der interessanten Vorkommnisse der letzten Tage, die ländliche Ruhe als langweilig empfand und es ihm aus diesem Grund wichtig war, dieser verträumten Gegend so schnell wie möglich zu entfliehen. Ihm fehlte das Treiben der Stadt, ihm fehlten die unerwarteten Ereignisse, die aus der Reibungshitze von fünf Millionen Menschen unvermeidbar und unvorhersehbar hervorbrachen. Er sehnte sich nach dem Besuch eines der Inspektoren des Yards, der, um Rat nachsuchend, Holmes‘ rastlosen, jungen Geist in ein neues Abenteuer treiben würde.
Der Kutscher lenkte seine Pferde hügelabwärts auf das Dorf zu. Doch in dem Moment, als wir an dem ersten Gutshaus vorbeifuhren, brach krachend eine Kufe. Der Schlitten kam mit einem Ruck zu einem abrupten Halt, als sich das gebrochene Eisen in den Schnee bohrte, die Pferde bäumten sich erschrocken auf und brachen in lärmendes Wiehern aus, mit den Hufen ausschlagend, sich gegen den unsichtbaren Feind zu Wehr setzend.
Unser Kutscher hatte alle Hände voll zu tun, ein größeres Unglück zu verhindern, mit einer Schnelligkeit, die ich dem alten Mann nicht zugetraut hatte, fand er Halt auf dem Bock und gewann das Regiment über seine Tiere zurück.
Mich jedoch hatte die Wucht des plötzlichen Halts, mitsamt unseres Gepäcks, aus dem Schlitten katapultiert. Von dieser Kraft über die Straße geschleudert, kam ich unsanft zwischen den Koffern im tiefen Schnee des Wegesrandes zu liegen.
Holmes war es gelungen, sich festzuhalten und so einen Sturz zu vermeiden.
Er kletterte schließlich aus dem schräg stehenden Schlitten, trat auf mich zu und half mir auf. Nachdem er einen Blick auf das beschädigte Gefährt geworfen hatte, sagte er mit leicht ironischem Tonfall zu mir: »Ich habe fast den Eindruck, dass Ihrem Weihnachtswunsch nach Essen und Unterkunft ganz unerwartet stattgegeben wurde. Mit diesem Schlitten werden wir heute unseren Weg nicht mehr fortsetzen können.«
Die Bewohner des Gutshofes waren auf den Vorfall aufmerksam geworden. Vier Kinder rannten auf einem schmalen Weg, auf dem der Schnee durch die regelmäßige Benutzung festgetreten war, neugierig auf uns zu. Die drei Jungen sprangen überdreht um uns und den Schlitten herum, begutachteten den Schaden und plapperten aufgeregt durcheinander. Das Mädchen, ein Kind von vielleicht 15 Jahren, die Älteste der Schar, hielt beobachtend etwas Abstand, während es meinem Blick nicht entging, dass eine Dame aus dem Gutshaus trat. Als sie der Szenerie gewahr wurde, wandte sie sich zum Haus um, rief etwas hinein und trat kurz darauf, begleitet von einem Diener und einer Haushälterin, zu uns.
Holmes hatte seinen grauen Reisemantel mit einer verärgerten Bewegung fest um die Schultern gezogen, unsere Gepäckstücke aus dem Schnee gefischt und am Rand des Weges gestapelt, während unser Kutscher seine liebe Not damit hatte, die tobenden Kinder zurückzuhalten, die Pferde auszuschirren und den Schaden am Schlitten zu begutachten.
Ich war zu Holmes getreten und während ich mich noch nicht dazu entschließen konnte, ob ich meine Aufmerksamkeit den Geschehnissen am Ort unseres Unfalles widmen solle, oder aber lieber den Neuankömmlingen, hatte sich Holmes dazu entschieden, seine Aufmerksamkeit der Dame und ihrem Gefolge zuzuwenden.
Diese Frau war eine gepflegte Erscheinung mit einem sanften Gesicht, das lange, braune Haar hatte einen leichten Stich ins Rötliche und war auf ihrem Kopf von einer Spange so zusammengehalten, dass das Haar zu beiden Seiten fallen konnte und die Stirn freihielt. Sie trug ein langes, dunkelrotes Kleid, das an den Schultern als Puffärmel gearbeitet und durch silberne Spangen an den Oberarmen gehalten war. Ihre Hände steckten in einem weißen Muff aus Fell, der Ausschnitt des Kleides war durch einen hellen, wollenen Schal gegen die Kälte geschützt. Sowohl der Butler als auch die Haushälterin standen einen Schritt hinter ihr und warteten ab, was nun zu tun von ihnen verlangt werden würde.
»Darf ich Ihnen die Unterstützung von Oldfields House anbieten?«, wandte sich die Dame freundlich und ruhig an Holmes, ein Angebot, das er, angesichts der Verzögerung unser Reise, ohne Begeisterung, aber mit einem höflichen Nicken annahm. So fanden wir uns, bereits wenige Minuten nach meiner unfreiwilligen Begegnung mit der verschneiten Erde, auf dem schmalen, begehbaren Teil des Weges zum Gutshaus, welches, in seiner schneebedeckten und vom Licht der Abendsonne beleuchteten Schönheit, nicht den geringsten Verdacht aufkommen ließ, dass darin ein dunkles Geheimnis bereits begonnen hatte, seine zerstörerische Kraft zu entfalten.
Beim Näherkommen musterte ich das Gebäude und sah, dass es aus zwei Stockwerken bestand, durch die dicke Schneelast auf seinem Dach stießen zwei Kamine, von denen einer lustig qualmte und mir Hoffnung auf eine gut geheizte Stube machte. Während der Butler und die Haushälterin sich mit unseren Gepäckstücken hinter uns durch den Schnee bemühten, folgten wir der gütigen Aufforderung, durch die weihnachtlich geschmückte Haustüre einzutreten und fanden uns so in der wohligen Wärme des Hauses wieder.
Holmes hatte sich mit seinem unausweichlichen Schicksal arrangiert, pfefferte schwungvoll seinen Mantel und seine Mütze auf einen Stuhl und wandte sich mit blitzenden Augen interessiert unserer Gastgeberin zu. Diese stellte sich uns als Mrs. Jennifer Wellesley vor, Gutsherrin von Oldfields House.
Obgleich wir von ihr geladen waren, blieb sie von einer seltsam kühlen Distanz, die so wenig mit ihrer Hilfsbereitschaft übereinzustimmen schien. Ich gewann von Anfang an den Eindruck, als wäre sie mit ihren Gedanken abwesend, weit weg und durch eine unsichtbare Barriere von uns getrennt.
»Mein Butler, Mr. Evens wird mit Ihrem Kutscher den Schmied unseres Ortes aufsuchen«, leitete sie die beginnende Konversation, nach wenigen Sätzen, ohne Umschweife zu den wesentlichen Themen über, »ich biete Ihnen gerne an, in unserem Hause Zimmer zu beziehen. Zwei junge Männer wie Sie werden für eine kostenlose Unterkunft dankbar sein und ich habe genügend Räume frei. Der Schaden am Schlitten wird sicherlich morgen behoben werden können.«
Sie drehte sich zu ihrer Haushälterin um: »Eleanor, bitte bringen Sie die Herren in den ersten Stock.« Danach sagte sie, wieder an uns gewandt: »Mrs. Dinnick wird Ihnen die Zimmer zuweisen, wir sehen uns dann später zum Abendessen.«
Wir nahmen dieses Angebot gerne an, verstanden die Unterhaltung als beendet und ließen uns sogleich von der Haushälterin eine hölzerne Stiege nach oben in den zweiten Stock führen wo uns beiden je ein komfortabel eingerichtetes Zimmer zur Verfügung gestellt wurde. Die kleinen Öfen in den Zimmern wurden mit Brennholz versehen und entzündet, so dass die Kälte schnell vertrieben werden konnte.
Wir hatten uns bereits zum Abendessen umgezogen und saßen in Holmes Zimmer beieinander, als der Butler uns nach unten bat. Der große Esstisch im Speisezimmer war aufwändig gedeckt, die Dame des Hauses wartete, bereits am Tisch sitzend, auf uns.
Als wir eintraten, erhob sie sich und trat uns entgegen, um uns zu begrüßen.
»Ich bitte Sie, behalten Sie doch Platz«, entschlüpfte es mir eilig, ich fürchtete, dass mein Verhalten der Dame Anlass gegeben hatte, sich zu erheben. Ich erntete für diese Bemerkung ein flüchtiges Lächeln.
»Verzeihen Sie mir mein unkonventionelles Verhalten«, widersprach meine Gastgeberin den meinigen, zum Ausdruck gekommenen, konventionellen Ansichten, »ich vergesse immer wieder die Sitten und Gebräuche meines Heimatlandes.«
Auf meinen fragenden Blick hin, fügte sie nach einer kurzen Pause erklärend hinzu: »Wir sind erst seit einem Jahr aus den Staaten zurück. Dort tragen Frauen eine ganz andere Last und Verantwortung, so bin ich es gewohnt, die Rollen zu übernehmen, die hierzulande nur einem Mann zustehen.«
Sie reichte auch Holmes die Hand, die dieser, amüsiert über den Bruch der Konvention, mit einem zufriedenen Lächeln nahm. Während wir, auf die Einladung unserer Gastgeberin hin, am Tisch Platz nahmen, rief diese mit lauter Stimme die Kinder, die im Gang vor der Tür deutlich vernehmbar ihren Spielen nachgingen, zur Ordnung und zum Essen. Es schien mir doch in diesem Moment noch ein recht fröhliches und lebendiges Haus zu sein.
Mrs. Wellesley fühlte sich wohl mir gegenüber in der Pflicht, ein paar entschuldigende Worte zu äußern und so erläuterte sie: »Auch meine Kinder sind durch eine Erziehung gegangen, die weniger durch einen Schulmeister, als vielmehr durch die Erfahrungen der Wildnis geformt wurde. Es sind Wildfänge, aufgewachsen in der Prärie und in den Wäldern des Westens.«
Ich war so zu sitzen gekommen, dass der Kleinste, ein Junge von vielleicht acht Jahren, neben mir saß. Das gefiel ihm offensichtlich und er hatte keine Scheu, sich mit mir zu unterhalten. Holmes hatte seinen Platz auf der anderen Seite des Tisches, neben unserer Gastgeberin, gefunden.
Während des Abendessens hatte ich die Gelegenheit, die Dame des Hauses näher zu beobachten. Sie hatte ein hübsches, freundliches Gesicht, aber ich vermeinte, in ihren Augen einen melancholischen Ausdruck von Traurigkeit liegen zu sehen, den sie sorgsam zu verbergen suchte.
Es war der Tag vor Heiligabend.
Ich selbst befand mich schon in dieser gelösten, entspannten Stimmung, die ich am Ende eines arbeitsamen Jahres immer empfand, unmittelbar vor den Feiertagen, nicht weit entfernt vom Start in ein neues Jahr, schon dieses ruhige Nichts zwischen den Jahren genießend.
Die Größe des Hauses, der gewisse ländliche Wohlstand, der seinen Ausdruck in der sorgfältigen und gepflegten Einrichtung fand, die fröhlichen Jungs, all das hatte in mir die Erwartung auf eine gelöste, feierliche Atmosphäre in dieser Familie geweckt.
Jedoch schien mir, trotz der freundlichen und offenen Art, wie sie nur diejenigen unserer Landsleute entwickelt haben, die die Enge unser Insel für einige Zeit mit den Weiten Amerikas eingetauscht haben, die Stimmung sehr angestrengt beherrscht zu sein. In den Momenten, in denen sich Mrs. Wellesley unbeobachtet wähnte, verloren ihre Züge das Lächeln und immer wieder schimmerte eine müde Traurigkeit hindurch. Diese Stimmung konnte ich während des ganzen Abendessens auch bei ihrer Tochter beobachten, die sich keine Mühe gab, eine bessere Laune vorzugeben, als die, die sie hatte. Nur die drei Jungs waren kindlich unbesorgt und zu aller erst damit beschäftigt, im Wettbewerb um das Essen zu stehen.
Während mein Gefährte sich zu Beginn des Mahls darum bemühte, mit Mrs. Wellesley ins Gespräch zu kommen, konnte ich beobachten, dass seine Versuche im Laufe der Zeit seltener wurden und immer längere Phasen der Stille im Gespräch zwischen den beiden herrschten.
Plötzlich, völlig aus dem Nichts, kam es zu einem Eklat zwischen der Tochter und der Mutter. Ich war dem verbalen Schlagabtausch, der dazu geführt hatte, nicht gefolgt, sah jedoch noch aus den Augenwinkeln, wie die Tochter ausholte und mit einem gezielten Wurf voller Wut ihr Glas gegen ein Bild schmetterte, das die Wand zierte. Das Glas zerbarst an dem Bild und beide gingen in einem klirrenden Regen von Splittern zu Boden. Während die herbeieilende Haushälterin sich um die Scherben kümmerte, blieb die Mutter in aller Stille mit gesenktem Blick sitzen.
Die Tochter hatte erregt und fluchtartig den Raum verlassen.
So fand das Essen in einer bedrückenden Atmosphäre sein Ende, die sogar die Jungen berührte, die sich ihrerseits schnell vom Tisch zurückzogen. Im Licht dieser Ereignisse fanden auch Holmes und ich recht bald eine Entschuldigung, um uns auf unsere Zimmer zurückzuziehen, niemand bemühte sich darum, uns zurückzuhalten.
Die seltsamen Ereignisse während des Abendessens waren dazu angetan, meine Weihnachtslaune in Mitleidenschaft zu ziehen, es war mir etwas schwermütig ums Herz geworden. Diesen Gedanken nachhängend, saßen wir einen Moment verdrießlich zusammen und rauchten, bis ich es nicht mehr aushielt und meinen Freund auf die unangenehme Situation beim Abendessen ansprach: »Welche Ereignisse mögen sich in diesem Hause zugetragen haben, Holmes?«
Holmes drehte sich mir zu, zog seine Füße auf das Sofa, auf dem er saß, und lehnte sich gemütlich zurück, die Hände hinter dem Kopf, die Pfeife zwischen die Lippen geklemmt. Er antwortete nicht, nahm in aller Ruhe einen tiefen Zug und ließ dann den Rauch langsam aus seinem Mund zur Decke steigen. Schließlich sah er mich an und sagte mit dem Ausdruck gequälter Langeweile: »Nun, Watson, ich denke, die Frau hat ihren Mann verjagt und ist darüber mit ihrer Tochter in Streit geraten.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Meine Vermutung ergibt sich aus ganz offensichtlichen Beobachtungen. Erstens: Mrs. Wellesley ist jeder meiner Fragen, die ihren Mann betrafen, ausgewichen. Zweitens: Das Bild, das die junge Miss. Charlotte mit einem gut gezielten Wurf ihres Wasserglases von der Wand gefegt hat, zeigte Mrs. Wellesley, Arm in Arm mit einem Mann. Dieser jedoch war nicht der Ehemann von Mrs. Wellesley.«
»Woher können Sie das wissen?«, fragte ich voller Erstaunen.
Holmes musterte mich abschätzig: »Weil dort noch ein anderes Bild hängt, das die Hochzeit der Wellesleys zeigt. Der Mann auf jenem Bild war ein ganz anderer.«
Er stand etwas ungehalten auf: »Ich bin aber wenig geneigt, mich in die Familiengeschichten des ländlichen Englands einzumischen und freue mich darauf, am morgigen Tag unsere Reise nach London fortzusetzen. Ich hoffe, dass wir dann die eher kühle Gastfreundschaft der Mrs. Wellesley nicht überbeansprucht haben.«
Holmes wollte dieses Thema wohl beenden, denn er ging zu seinem Gepäck und zauberte aus einem seiner Koffer die verheißungsvolle Flasche mit Sherry hervor, die wir am Abend vorher bei einem Spirituosenhändler erworben hatten.
Das erinnerte mich wieder daran, mit welch großer Freude ich dem morgigen Weihnachtsabend in der Baker Street entgegen sah, da es erst mein zweites Weihnachten seit meinem Militärdienst in Afghanistan war. Die Weihnachtsfeiertage waren für mich zu einem Zeichen dafür geworden, dass ich wieder in der Zivilisation angekommen war.
Es war natürlich nicht zu erwarten, dass wir etwa Weihnachten feierlich begehen würden, mit einem Menschen wie Holmes wäre eine festliche Stimmung auch gänzlich undenkbar und auch ich selbst bin ohne Familie, jedoch genoss ich den Gedanken daran, dass ich am morgigen Heiligabend, wie auch letztes Jahr, in unserer Wohnung in der Baker Street wieder ein Glas Sherry und ein Mince Pie an den Kamin stellen würde.
Ich weiß nicht, wer es war, der letztes Jahr ein kleines Geschenk für mich auf das Tischchen gelegt und dafür den Sherry getrunken sowie das Pie gegessen hatte. Vielleicht war es Holmes, eher Mrs. Hudson, vermutlich aber doch nicht der sagenumwobene Father Christmas.