Einfach Arbeiten - Monia Ben Larbi - E-Book

Einfach Arbeiten E-Book

Monia Ben Larbi

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Beschreibung

Mila will die Rente nicht. Sie kann sich mit Mitte dreißig einfach kein Leben auf dem Sofa vorstellen. Sie will wirken und etwas in der Welt gestalten. Sie will einfach arbeiten. Im Rahmen verschiedener Maßnahmen und Arbeitsumgebungen wird sie nach und nach selbstbewusster und lernt, nicht mehr immer über ihre Krankheit in Scham zu versinken, sondern ihre Einschränkungen als Motivation für neue Formen der Organisationsentwicklung zu nutzen. Schließlich entwickelt sie - inspiriert von Reinventing Organizations - sogar ein eigenes Organisationsmodell, "Einfach Arbeiten", und erprobt es in diversen Organisationen. Immer wieder schlägt sie sich die Nase blutig, doch sie entwickelt sich Stück für Stück anhand ihrer vielfältigen Erfahrungen zur New Work Expertin. Durch ihre etwas naive, jedoch immer auch humorvolle Art, sich durch die Mühen verschiedener Arbeitswelten zu kämpfen, erhalten wir authentische Einblicke in das, was Arbeiten mit chronischer Erkrankung ausmacht. Zugleich lernen wir viel über New Work, den Alltag von Selbstorganisation und innovative Möglichkeiten, eine menschlichere Arbeitswelt zu gestalten.

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Monia Ben Larbi

Einfach Arbeiten

ein narratives Sachbuch zu Arbeiten mit chronischer Erkrankung und selbstorganisiertem Arbeiten

© 2023 Monia Ben Larbi

Verlagslabel: LLauGH

Lektorat: Alina Ben Larbi & Clara Mentzel

Umschlag: Anne Wilhelm

Foto: Ingo C. Rosche

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN: 978-3-347-88983-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

DANK…

Kleiner Prolog: „Es stimmt fast alles, aber eben nur fast“

Kapitel 1: „Wir haben gute neuigkeiten für sie. wir sind uns einig, dass wir in ihrem fall eindeutig eine verrentung empfehlen.“

Kapitel 2: „Sie sind viel zu gut für hartz IV.“

Kapitel 3: „Am besten arbeiten sie dann in der werbung.“

Kapitel 4: „Ich bin selbst erkrankt und werde aus dem kundenkontakt abgezogen.“

Kapitel 5: „Schlechte noten sind normal, wenn sie etwas neues anfangen.“

Kapitel 6: „Merkst du überhaupt, wieviel besser es dir geht?“

Kapitel 7: „Das muss eine grosse organisation auffangen können.“

Kapitel 8: „Du bist lustig und gut in dem, was du tust.“

Kapitel 9: „Das musste doch auch bei ihm irgendwelche reaktionen auslösen.“

Kapitel 10: „Ich weiss gar nicht, was du hast. du bist doch total verlässlich.“

Kapitel 11: „Drück doch deine gefühle mal deutlich aus.“

Kapitel 12: „Aber so ist das angestelltenleben.“

Kapitel 13: „Ich habe grossen respekt vor ihrer herangehensweise an ihr berufliches leben.“

Kapitel 14: „Könntest du nicht noch einen workshop machen?“

Kapitel 15: „Vielleicht bist du ja einfach nur hochsensibel.“

Kapitel 16: „Sie haben gar keine psychische störung, die eine medikamentöse behandlung benötigen würde.“

Kapitel 17: „Sieh dir doch mal dein leben an!“

Kapitel 18: „Natürlich wenden wir selbst das an, was wir lehren!“

Kapitel 19: „Es entwickelt sich eine neue form von intelligenz.“

Kapitel 20: „Ich weiss gar nicht, warum du mit mir zusammen bist.“

Kapitel 21: „Mila, für dich ist das einfach.“

Kapitel 22: „Es ist an der zeit, dass sie ihren kontrollzwang konfrontieren.“

Kapitel 23: „Ich glaube, es hat niemand was gemerkt.“

Kapitel 24: „Das nicht auszuhalten ist kein zeichen deiner krankheit.“

Kapitel 25: „Wie, du steckst da immer noch fest?“

Kapitel 26: „Sie sagen, dass sie dich nicht mehr zahlen können.“

Kapitel 27: „Ich habe schon lange nicht mehr alles im griff.“

Kapitel 28: „Da muss schnell geld rausspringen.“

Kapitel 29: „Wir haben mit oder ohne krankheit keinen job für sie.“

Kapitel 30: „Mila, das geht hier nicht ohne dich.“

Kapitel 31: „Es ist teil meiner spirituellen ausbildung.“

Kapitel 32: „Irgendwann habe ich gott vergessen.“

Kapitel 33: „Du bist eine geburtshelferin für meine genialität.“

Kapitel 34: „Das ist einfach nur epilepsie.“

Kapitel 35: „Du bist ein richtiger filmstar.“

Kapitel 36: „Wir müssen schon auch einmal arbeiten.“

Kapitel 37: „Wir sind eine familie.“

Kapitel 38: „Du triffst genau die fragen auf den kopf, die uns beschäftigen.“

Kapitel 39: „Im schutz der unsichtbarkeit.“

Kapitel 40: „Du hast es verdient, dass man dich unterstützt.“

Kapitel 41: „Es ist eine frage der balance.“

Kapitel 42: „Dann brauchen sie viel weniger schlaf und können mehr arbeiten.“

Kapitel 43: „Wenn ich dazu komme, bin ich aber wirklich da.“

Kapitel 44: „Diese bettdecke bedeutet nichts.“

Kapitel 45: „Es ist an der zeit, zurückzugeben.“

Kapitel 46: „Siehst du, so geht das wirklich.“

Kapitel 47: „Mein gott, sie haben befristete verträge.“

Kapitel 48: „Das ist genau das, was wir brauchen!“

Kapitel 49: „Ich bin jetzt stark genug für meine todesangst.“

Kapitel 50: „Der tod ist mein freund.“

Kapitel 51: „Werden sie mich online zerreissen?“

Kapitel 52: „Unfassbar: ich unterrichte wieder!“

Kapitel 53: „Was ist denn bloss eine rolle?“

Kapitel 54: „Ist das prävention?“

Kapitel 55: „Wozu braucht es nochmal eine leitung?“

Kapitel 56: „Was genau passiert denn jetzt in dir?“

Kapitel 57: „Sense & Respond“

Kapitel 58: „Ein stuhl? das ist doch albern.“

Kapitel 59: „So schön, dass ihr unser geld nehmt.“

Kapitel 60: „Es ist nicht ganz gerecht, wieviel du verdienst.“

Kapitel 61: „Es geht hier gar nicht um mich. gott sei dank!“

Kapitel 62: „Sieben regeln müssen reichen.“

Kapitel 63: „Wie startet man eine bewegung ohne viel kommunikation?“

Kapitel 64: „Auf keinen fall ein wettbewerb von ‚wer ist der krankeste?‘“

Kapitel 65: „Einfach nur einfach arbeiten.“

Kapitel 66: „Wir haben es so unendlich gut.“

Kapitel 67: „Das geht so nicht. zusammen arbeiten heisst eben auch, sich täglich sehen.“

Kapitel 68: „Wie gut, dass wir alle genau so sein dürfen.“

Kapitel 69: „An gefühlen stirbt man nicht.“

Kapitel 70: „Warum tun die alle nichts?“

Kapitel 71: „Wir übergeben an eine generation, die in verwaltungsstrukturen denkt.“

Kapitel 72: „Wir haben einen gemeinsamen impact von 60.000 schulen.“

Kapitel 73: „Wir haben versprochen, zu tun, was der organisation dient.“

Kapitel 74: „Willst du das nicht mal auf dem dorf vorstellen?“

Kapitel 75: „Ich wäre bereit, die geschäftsführung zu übernehmen.“

Kapitel 76: „Das bin ich.“

Kapitel 77: „Pillepalle!“

Kapitel 78: „Was machen sie denn mit dem systemischen selbsterhalt?“

Kapitel 79: „Das ist zu gut, um es nicht trotzdem zu machen.“

Kapitel 80: „Wir vermitteln keine menschen, nur stellen.“

Kapitel 81: „Ich habe meine mitarbeiter ja schon an der langen leine.“

Kapitel 82: „Du musst ihn zwingen. er braucht das.“

Kapitel 83: „Sie wissen nicht, wie stark sie auf das projekt wirken.“

Kapitel 84: „Wir glauben an ownership.“

Kapitel 85: „Du dachtest, du kannst vor themen wegrennen?“

Kapitel 86: „Manchmal sind menschen eben wirklich nicht arbeitsfähig.“

Kapitel 87: „Ach, wie flauschig das hier ist.“

Kapitel 88: „Nicht du hast deine krankheit, deine krankheit hat dich.“

Kapitel 89: „Boah, was für ein arschlochverhalten aber auch!“

Kapitel 90: „Ein leben im dreieck aus freiheit, macht und güte.“

Kapitel 91: „Das ist eben das robin-hood-prinzip.“

Kapitel 92: „Am schlimmsten sind die erwartungen.“

Kapitel 93: „Das hatte ich mir allerdings ganz anders vorgestellt.“

Kapitel 94: „Es gibt ‚die wirtschaft‘ nicht.“

Kapitel 95: „Oh wow, da ist ja schon richtig viel passiert.“

Kapitel 96: „Krank genug, um gut zu leiten.“

Kapitel 97: „Der südpol gehört niemandem.“

Kapitel 98: „Und kein wirtschaftsjargon bitte, ja?“

Kapitel 99: „Nein, ich muss mich wirklich nicht verraten.“

Kleiner Epilog: „Unfassbar, ich habe ein buch geschrieben.“

Einfach Arbeiten

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Urheberrechte

Kleiner Prolog: „Es stimmt fast alles, aber eben nur fast“

Kleiner Epilog: „Unfassbar, ich habe ein buch geschrieben.“

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DANK…

… all den Menschen, die ich in diesem Buch erwähne, denn sie waren Gefährt: innen und Lehrer: innen auf dieser Reise. Ohne sie und all die Gelegenheiten mich auszuprobieren, die sie mir geschenkt haben, wäre ich nie so weit gekommen.

… allen voran natürlich Udo, der bei jeder meiner Reisen parallel mitgelesen hat und mich mit ehrlichem Feedback immer wieder ermutigt hat, weiterzumachen.

KLEINER PROLOG

„ES STIMMT FAST ALLES, ABER EBEN NUR FAST“

Dieses Buch erzählt meine Geschichte – ganz egoistisch ausschließlich aus meiner Perspektive. Die Frage danach, ob ich selbst Mila bin, kann ich demnach mit einem klaren Ja beantworten. Es ist mir nicht leichtgefallen, nur aus meiner Perspektive zu schreiben, da ich genau weiß, dass andere Menschen die Situationen, die ich beschreibe, komplett anders erlebt und bewertet haben. Normalerweise beschreibe ich gerne die Komplexität von Situationen aus mehreren Blickwinkeln. In diesem Fall habe ich mich aber dazu diszipliniert, wirklich bei meinem ganz subjektiven Erleben zu bleiben. Nach und nach haben zudem die Personen in diesem Buch ein Eigenleben entwickelt: Manchmal wurde aus zwei Personen eine, manchmal stimmt die Chronologie nicht ganz oder aus zwei Situationen wird eine. Meine Befürchtung ist, dass aufgrund meiner Geschichte andere Menschen verurteilt werden, denn ich habe so egozentrisch geschrieben, dass die Geschichten der anderen keinen Raum erhalten. So habe ich dann doch beschlossen, alle Namen zu ändern, denn ich mache hier keine Aussagen über andere, nur über mich selbst.

Mein Appell ist daher: Bitte glaubt nichts, was ich über andere schreibe. Dies ist eine Geschichte und kein Bericht. Verlassen könnt Ihr Euch aber darauf, dass ich so ehrlich und wahrhaftig über mich und mein Erleben schreibe, wie ich kann.

KAPITEL 1:

„WIR HABEN GUTE NEUIGKEITEN FÜR SIE. WIR SIND UNS EINIG, DASS WIR IN IHREM FALLEINDEUTIG EINE VERRENTUNG EMPFEHLEN.“

Ich saß im Flur vor einem Raum – neben mir drei andere sehr aufgeregte Patient: innen. Wir warteten auf das große Gespräch und hatten offenbar alle zur selben Zeit einen Termin. Für mich war es das erste Treffen dieser Art. Doch die Aufregung der schon erprobten Menschen neben mir war enorm ansteckend. Ich spürte, wie es unter meiner Haut zu kribbeln begann. Ich wusste, dass ich zu schnell reden und zu viel lachen würde und abends im Bett mich wieder einmal mit meiner Scham konfrontieren müssen würde. So war die Wahrscheinlichkeit wirklich sehr gering, dass ich diesen ruhigen, aufgeräumten, leicht erhabenen Eindruck machen würde, den ich vor meinem inneren Auge schon so klar hatte. Ich hatte mich auf dieses Gespräch wirklich gefreut. Ich war jetzt seit fünf Wochen in der Reha-Klinik und hatte bewusst die Psychosomatik und nicht die Neurologie gewählt, weil ich die Zusammenarbeit zwischen Psycholog: innen und Ärzt: innen rundum überzeugend fand. Dies war nun endlich der Tag, an dem wir, in meiner Vorstellung, alle gemeinsam aus vielen Perspektiven auf mich blicken und gemeinsam überlegen würden, was jetzt wohl die besten nächsten Schritte sein könnten. Doch die erfahrenen Patient: innen neben mir sprachen im Rechtsjargon: Sie erwarteten ein Tribunal, ein Urteil von einem Gericht, das über ihre Zukunft entscheiden würde. Hier wurden die Entscheidungen über Leben und Tod oder doch wenigstens über die Rückkehr in ein Leben, das sich anfühlt wie Sterben, getroffen. Mir schwammen sofort die Felle weg. Ich war auf Denkpartner: innen vorbereitet, nicht auf ein Gericht.

„Das wird doch nie was!“, schoss es mir durch den Kopf.

Menschen, die mich kaum kennen, finden mich immer äußerst sonderbar. Ich bin nicht gut in ersten Eindrücken – auf jeden Fall nicht in ersten durchschnittlich geistig gesunden Eindrücken. Als ich nun die Reaktionen meines Körpers spürte, wusste ich, dass ich dem nicht gewachsen war… mal wieder nicht. Wieder würde ich nicht Zen genug sein, um nicht die gesamte Maschinerie der Diagnostik anzuwerfen. Wieder einmal würde ich diesen geheimnisvollen Test nicht bestehen, der die Pforte zur Augenhöhe öffnet. Ein Teil von mir blieb jedoch – wie immer – cool und zuversichtlich. Nur weil diese Menschen es als Tribunal empfanden, musste das ja nicht stimmen. Ich habe oft eine andere Wahrnehmung auf Systeme. Vielleicht können oder wollen andere Patient: innen nicht selbst die Verantwortung übernehmen und die Therapeut: innen und Ärzt: innen können gar nicht anders, als dann Entscheidungen für sie zu treffen. Ich freute mich seit Wochen auf dieses Treffen, auf die Beratung aus vielen Perspektiven, auf den Moment des gemeinsamen Forschens und Denkens. Zwar übertrugen sich immer die Gefühle aller Anwesenden auf mich, doch da konnte ich mich ja vielleicht hindurch atmen.

Als ich an der Reihe war, zitterte ich trotz bewusstem Atem leicht. Ich betrat ein winziges Zimmer, in dem fünf Menschen saßen, von denen ich drei noch nie gesehen hatte und ich einen nur aus einem Vortrag in der Einführungswoche kannte. Sie alle saßen im Halbkreis auf Sofas und Sesseln. Quer vor ihnen stand ein Holzstuhl: für mich. Während sie scheinbar bequem gemeinsam im Wohnzimmer saßen – Kaffee und Wasser vor sich – fühlte ich mich winzig, obwohl ich theoretisch über ihnen thronte. Meine Therapeutin, die sonst reizend und herzlich war, übernahm sehr professionell und kühl die Moderation. Nichts deutete darauf hin, dass wir uns gut kannten und seit fünf Wochen intensiv zusammenarbeiteten. Sie gab den Anwesenden einen Überblick über ihre Diagnosen und ihre Einschätzung. Sie diskutierten ein wenig darüber, ob sie denn lieber die eine oder andere Diagnose in die Akte aufnehmen sollten. Von beiden Möglichkeiten hatte ich noch nie etwas gehört. Schließlich fragte mich der Mann, in dessen Richtung alle sprachen – in meiner Fantasie der Chefarzt – in perfekt artikulierten Worten nach meiner eigenen Einschätzung. Es war klar, dass sie eine Antwort in Sekunden und nicht Minuten erwarteten.

„Das kann ich noch nicht“, wollte ich sagen. „Ich habe noch keine fertigen Worte. Die wollte ich mit Ihnen gemeinsam suchen.“

Mein Mund brabbelte allerdings etwas ganz anderes und versuchte, der Situation zu gehorchen. Ich schien seine Meinung bestätigt zu haben. Danach durfte ich wieder gehen. Aus irgendwelchen Gründen bedankte ich mich noch und lächelte freundlich zum Abschied – ein Lächeln, das jedoch niemand erwiderte.

Vor der Tür saßen schon wieder neue Patient: innen und warteten und ich verließ schnell das Gebäude, bevor ich sie mit meiner Übererregung anstecken konnte. Schon auf dem Weg in mein Zimmer spürte ich den Anfall in mir hochsteigen. Ich schaffte es noch bis zum Klo und übergab mich so lange, bis ich auf dem Badezimmerboden einschlief. Später saß ich dann bibbernd mit dem Rücken an den knallheißen Heizkörper gelehnt und wartete, bis die Zuckungen meiner Muskeln wieder abebbten. Wie gut, dass ich mich hier so heimisch fühlte und einen eigenen Ort hatte, an dem mir das nicht peinlich sein musste.

Tatsächlich mochte ich die Reha. Meine Therapeutin war – wenn nicht gerade gefangen in einer professionellen Rolle – herzlich, mitfühlend, streng und ehrlich. Außerdem war sie hübsch, was aus irgendwelchen Gründen guttat. Sie hatte sehr schnell verstanden, was ich konnte und was nicht. Ich hatte sehr wenige Termine und nur solche, die wenig Kommunikation erforderten. Ich ging still in der Gruppe im Wald spazieren und guckte mir Blätter und Pilze an. Das Klinikgelände war riesig und im Spätherbst wunderschön. Ich malte und bastelte, nahm aber nur selten an den Auswertungen in der Gruppe teil. Zweimal in der Woche hatte ich einen Termin bei meiner Therapeutin und zweimal ging ich zu einer reizenden Physiotherapeutin, die mir tolle Dinge beibrachte, die wirklich ein wenig halfen. Ich tanzte. Das wirkliche Geschenk für mich war, dass ich dreimal am Tag ernährt wurde. Die Menschen an meinem Tisch waren meistens nett und die Essenszeiten waren genau das Maß an Kommunikation, das ich vertragen konnte, ohne Anfälle zu kriegen. So war ich nicht einsam, aber gerne allein. An den Wochenenden war meine Tochter Chloë bei mir und wir gingen schwimmen oder in die Stadt. Meine Abende verbrachte ich in der offenen Werkstatt und malte, töpferte, gestaltete und modellierte mich durch verschiedenste Techniken hindurch. Die Anerkennung, die ich für meinen einmaligen Umgang mit den Materialien erhielt, tat gut. Ich fühlte mich insgesamt gut aufgeräumt. Nur Ärzt: innen hatte ich – bis auf die Eingangsuntersuchung – noch keine getroffen. Aber die Wahrheit war, dass ich mich mit Therapeut: innen eh wohler fühlte, denn sie hatten Zeit, mich kennenzulernen. Ich verbrachte viel Zeit damit, darüber nachzudenken, was ich konnte und was nicht. Zudem versuchte ich Worte für meine Symptome zu finden, damit andere Menschen einen Zugang finden und mit mir denken könnten. Alles war gut. Sogar für meine Anfälle, die noch keinen Namen hatten, hatte ich einen sicheren Raum.

Am nächsten Tag erfuhr ich dann von meiner Therapeutin, was die Runde nach meinem Weggang ohne mich beschlossen hatte. Sie war stolz. Sie hatte dafür gekämpft, dass ich eine Somatisierungsstörung und keine Konversionsstörung hatte, was offenbar hieß, dass meine Symptome echt und nicht erfunden oder übertrieben seien. Trotz starker Widerstände der Ärzt: innen hatte sie sich nicht beirren lassen und darauf bestanden, dass sie mich als Einzige wirklich kennen würde. Ich merkte, dass das, was sie für mich getan hatte, sehr anerkennenswert war. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt davon haben sollte, sagte aber brav Danke. Sie meinten zudem, dass ich eine histrionische Persönlichkeitsstörung habe, was aber aus ihrer Sicht ganz normal sei, da ich ja tunesische Anteile habe.

„Die Deutschen reagieren auf traumatische Ereignisse in der Regel mit Angststörungen, die Südländer eher hysterisch“, erklärte sie.

Nun kam die eigentlich gute Neuigkeit. Sie strahlte förmlich. Sie hatte sich durchgesetzt. Die anderen hatten ihr geglaubt, dass es mir wirklich so schlecht ging: Sie waren sich alle einig, dass ich auf keinen Fall arbeitsfähig, ja nicht einmal kontaktfähig war.

„Wir haben gute Neuigkeiten für Sie. Wir sind uns einig, dass wir in Ihrem Fall eindeutig eine Verrentung empfehlen.“

Jackpot. Ich hatte den heiligen Gral der Reha geschenkt bekommen. Doch ich konnte sie jetzt leider nur enttäuschen.

Ich lächelte vorsichtig: „Das ist sehr lieb von Ihnen und ich schätze Ihr Engagement sehr, aber ich werde auf gar keinen Fall mit Anfang Dreißig in Rente gehen. Aber danke nochmals.“

Sie versuchte noch eine Weile, mich zu überzeugen, den ganzen Prozess mit dem Sozialdienst loszutreten. Denn so einfach, wie direkt von der Reha aus würde es nie wieder werden; ich könne ja immer noch nein sagen; ich solle es mir bitte sehr gut überlegen. Natürlich dachte ich brav darüber nach. Ich fühlte auch einmal kurz in mich hinein, doch nicht eine einzige kleine Faser von mir wollte diese Rente haben. Hätte ich vorher schon verstanden, dass im Wesentlichen die kompletten sechs Wochen nur auf diese Entscheidung abzielten, hätte ich ihnen das auch von Anfang an sagen und ihnen viel Arbeit ersparen können. Doch ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, es ginge um die Frage, wie ich wieder arbeiten würde, nicht ob. Ich dachte, es ginge darum, dass Menschen mit verschiedenen Expertisen mit mir gemeinsam eine Lösung suchen würden, die genau zu mir passte. Ich wusste nicht, dass ich gegen das System abgeprüft wurde.

So verließ ich die Reha mit ein paar Ergänzungen für meine lange Liste an möglichen Diagnosen, einem großen Sack selbstgebastelter Weihnachtsgeschenke, Dankbarkeit für die vielen regelmäßigen Mahlzeiten und genauso wenig Ahnung, wie es weitergehen sollte, wie vorher.

KAPITEL 2:

„SIE SIND VIEL ZU GUT FÜR HARTZ IV.“

Mein Therapeut zu Hause blickte mir schmunzelnd entgegen. Sein ganzer Körper sagte: „Ich habe es Ihnen doch gesagt.“ Laut fragte er jedoch nur amüsiert, wie es denn so gewesen wäre. Er hatte es für keine gute Idee gehalten, dass ich zur Reha gefahren war. Seit einem halben Jahr lag ich zweimal in der Woche auf seinem Kanapee und er fand, dass wir jetzt endlich richtig angefangen hatten, als ich für ein paar Wochen ohne einen für ihn sichtbaren Mehrwert seine Therapie unterbrach. Doch obwohl er damals mit mir geschimpft hatte – denn so empfand ich es immer, wenn er etwas nicht gut fand – hatte ich mich trotzdem dafür entschieden. Wie immer, wenn ich einmal klar war, war er sehr unterstützend und versprach mir, nicht eifersüchtig auf die Therapeut: innen vor Ort zu sein. Nach all den Monaten hatte ich noch immer keine Ahnung, wann er etwas ernst oder lustig meinte. Diese ganze Logik der Analyse entzog sich mir vollkommen, was mir unendlich guttat. Ich konnte nicht wissen, was die „richtige“ Antwort war und sie so auch nicht geben. Also konnte ich genauso gut ehrlich sein. Ich war inzwischen bei diesem alten Mann angekommen, der immer eine Zigarre rauchte und niemals in Rente gehen würde. In unserer Kleinstadt war er eine Sagenfigur. Jede: r kannte ihn oder jemanden, der bei ihm in Behandlung gewesen war. Viele Anekdoten ragten um seine unkonventionellen Methoden, wie er beispielsweise aus dem Schrank sprang, um seine Patienten zu erschrecken. In der Realität hielt er sich zwar an keine Regeln, war aber weit weniger effekthaschend in seiner Herangehensweise. Er besaß nicht einmal einen Schrank. Er saß einfach hinter seinem Schreibtisch oder auf einem Stuhl neben dem Kanapee, schrieb oder auch nicht und hörte zu. Manchmal fing er selbst an zu erzählen und sprach von Mythen, an die ich ihn erinnerte. Manchmal schlief er auch ein und ich lag mucksmäuschenstill auf meiner Liege und wartete darauf, dass er wieder aufwachte. In diesen Zeiten sortierte ich meine Gedanken sehr sorgfältig, denn ich wollte ihm ja alle Vorgänge in mir genau erklären, wenn er wieder wach war. Er selbst nannte das nicht schlafen, sondern „mit dem Unterbewusstsein zuhören”. Doch egal was er tat, er war immer wahnsinnig liebevoll mit der kleinen Mila. Er stand immer auf Seiten der Mila, die ich einmal gewesen war und gab mir so ganz untheoretisch Zugang zu einer wahren Liebe zu meinem früheren Ich.

Bei meinem ersten Termin nach der Reha legte ich mich also auf meinen geliebten Platz, machte die Augen zu und fühlte tief in meinen Körper, um herauszufinden, wie es mir wirklich ging. Zunächst war ich unendlich dankbar, wieder hier zu sein. Sogar der alles überdeckende Zigarrengeruch machte mich glücklich. Ich fühlte große Dankbarkeit, die Augen schließen zu können, bei mir sein zu dürfen und mich nicht mit Diagnosen oder Bewertungen rumschlagen zu müssen.

„Das mit der Reha hat mir dann wohl doch nichts gebracht“, sagte ich schließlich.

Trotz geschlossener Augen konnte ich sein Lächeln wahrnehmen. Dann sprachen wir nie wieder darüber und arbeiteten weiter.

Das Thema Arbeit trieb mich immer mehr an. Im letzten halben Jahr hatten wir hauptsächlich über meine Krankheit, meinen Alltag und meine Kindheit gesprochen. Das aktive Ablehnen einer Rente hatte jedoch das Thema ins Zentrum gerückt: Was denn dann? Was könnte ich denn in diesem Zustand leisten?

„Sie sind auch viel zu intelligent und kreativ für Hartz IV“, sagte mein Therapeut und mir schossen sofort die Tränen in die Augen.

Was dachte er denn? Dass das mein Leben war? Dass es für mich kein Alptraum war, dass ich nun so krank war, dass ich den Staat brauchte? Und dann wurde mir abrupt klar: Er dachte, dass das auch schon mein Leben vor der Krankheit gewesen war. Er dachte, dass ich eine von den vielen reizenden Menschen im Oderbruch war, die mal einen Traum vom autarken Leben gehabt hatten und dann für ihre scheinbare Freiheit einen sehr hohen Preis zahlten. Die meisten erhielten Hartz IV und hatten ihren Anspruch auf Selbstversorgertum schon lange aufgegeben. Die Gemeinschaften waren zerbrochen. Und er dachte, ich wäre eine von ihnen. Er kannte mein arbeitendes Ich noch gar nicht.

Während den nächsten Sitzungen erzählte ich viel. Ich erzählte davon, wie ich mit sechsundzwanzig Jahren eine Organisation mit einhundertfünfundsiebzig ehrenamtlichen Mediator: innen aufbaute und leitete. Ich erzählte, wie ich mit selbstorganisierten Arbeitsformen experimentierte. Ich erzählte, wie ich eine Reform mit hunderten von Menschen moderierte, an der ich aus Übermut fast zerbrochen wäre. Ich erzählte von meinen Lieblingsmomenten, in denen ich dabei sein durfte, wenn Menschen zum ersten Mal verstanden, dass es Lösungen gab – für fast alles. Ich erzählte von meiner Prozessexpertise: Dass ich inzwischen so tief in Prozesslogik angekommen war, dass ich zu eigentlich allem auf Anhieb Methoden entwickeln konnte. Ich erzählte davon, dass ich Meisterin der Kommunikation war. Schon als Kind war ich inspiriert von der Figur der Momo, von der ich immer dachte, dass ich die Vorlage für sie gewesen war – so sehr erkannte ich mich in ihr wieder, sogar optisch. Ich spazierte durch die thematischen Tiefen des letzten Studiengangs, den ich entwickelt hatte und an dessen Aufbau ich immer noch mitwirkte, so gut ich eben konnte.

Als ich endlich aufhörte zu erzählen, hatte ich uns beide überzeugt: Arbeiten war mir nicht nur enorm wichtig, ich war darin auch richtig gut. Doch ich, die immer an Lösungen glaubte, war komplett ratlos: Nichts von meiner ehemaligen Arbeit konnte ich umsetzen, solange mein Körper derart heftig reagierte und meine Zeit außerhalb des Bettes ein paar Stunden nicht überschreiten konnte. Musste ich wirklich etwas komplett Neues lernen?

KAPITEL 3:

„AM BESTEN ARBEITEN SIE DANN IN DER WERBUNG.“

In Deutschland wird man unglaublich verwöhnt. Ich hatte nicht nur einen Therapeuten und eine Reha-Infrastruktur, sondern auch einen zuständigen Berater bei der Rentenversicherung. Er war ein junger, sensibler, mitfühlender Mensch, der sich wirklich die größte Mühe gab, zu verstehen. Seine Existenz empfand ich als Luxus: Ein Mensch, dessen Bestreben es war, dass ich wieder arbeitsfähig wurde. Wir hatten dasselbe Ziel. Er verstand nicht ganz, warum ich die Rente abgelehnt hatte, fand es aber irgendwie gut. Gemeinsam überlegten wir also, was die nächsten Schritte sein könnten. Obwohl er sich alle Mühe gab, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, saß ich immer etwas beschämt in seinem Büro. Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, Anspruch auf dieses Verwöhnprogramm zu haben. Ich war selbstständig und hatte nie in die Rentenkasse eingezahlt. Zwar konnte ich von ihr keine finanziellen Zuwendungen erhalten, sie war aber doch irgendwie zuständig, hatte meine Krankenkasse beschlossen. Das war mir unangenehm. Gerade weil meine Krankenkasse enorm viel Geld von mir erhielt, hielt ich es für unangemessen. Ich wurde in meinem Stuhl vor diesem Schreibtisch nie das Gefühl los, eine Schmarotzerin zu sein.

Er dachte so gar nicht. Er verstand, dass es mir ein großes Anliegen war, herauszufinden, was ich konnte und was nicht. Meine innere Prozessdesignerin hatte ihre Arbeit aufgenommen. Ich stellte mir vor, dass ich, wenn ich meine Grenzen und Fähigkeiten klar definieren konnte, ein Auswahlraster von Möglichkeiten haben würde. Im Moment war das alles noch zu diffus. Ich hatte in meinen Symptomen bisher nur wenige Muster erkannt und noch immer keine Sprache gefunden. Ich brauchte einen Rahmen, in dem ich hier Klarheiten erhalten konnte und wünschte mir so sehr so etwas wie eine vorgefertigte Checkliste oder ähnliche Instrumente. Als er das Wort „Feststellungsmaßnahme“ sagte, verliebte ich mich sofort. Genau das brauchte ich: eine Möglichkeit, festzustellen und ein paar verlässliche Pfähle in den Boden zu bringen, die das Feld markieren. Er war sichtlich erfreut, dass ich mich so freute. Zum ersten Mal hatte ich nicht mehr das Gefühl, eine Schmarotzerin zu sein, sondern konnte das Geschenk dankend annehmen.

Die Feststellungsmaßnahme zog sich über mehrere Wochen und war zu meiner Überraschung als volle Fünf-Tage-Woche angelegt. Natürlich war das viel zu viel für mich. Ich konnte ja noch nicht einmal wieder selbst Auto fahren. Aber ich war hoch motiviert und hatte großes Vertrauen, dass sie den Tagesablauf so gestalten würden, dass es für kranke Menschen passend sein würde. Mein mich ewig unterstützender Mann war außerdem bereit, mich täglich dort hinzufahren und abzuholen.

Erstaunlicherweise befand sich besagte Maßnahme in einer Blechbarracke, die aus drei Zimmern bestand: einem Büro, einem kleinen Seminarraum und einem Computerkabinett. Wir waren drei Teilnehmende und wurden von zwei Personen betreut: einer Sozialpädagogin, die uns unterrichtete und einer Therapeutin. Ich war berührt von diesem Betreuungsschlüssel. Sie würden mich so gut kennenlernen und so viel Zeit haben, mit mir zu forschen und „festzustellen“. Die beiden anderen waren weniger begeistert als ich. Er war LKW-Fahrer und sollte nun aufgrund von Rückenschmerzen irgendetwas anderes machen. Sie war Kosmetikerin und in derselben Situation. Ich gewann sie beide sofort lieb, obwohl er lautstark davon genervt war, dass er in diese Maßnahme gezwungen wurde. Sie waren so gerne LKW-Fahrer und Kosmetikerin. Ich mag Menschen, die ihre Berufung leben. Ich war sehr froh, dass sie nun in einer Situation waren, in der man mit ihnen herausarbeiten konnte, was genau sie daran so liebten. So konnten sie vielleicht einen neuen Beruf finden, der genauso gut zu ihnen passte. Sicher gab es viele Berufe, in denen sie ihre Expertise einfließen lassen könnten. Ich war sehr gespannt auf die Methoden, mit denen wir zusammenarbeiten würden.

Im Verlauf der nächsten Wochen lernten wir dann Groß- und Kleinschreibung, machten ein wenig einfache Mathematik und lernten die Grundlagen von Excel. Da ich etwa zehnmal so schnell war wie die beiden anderen, verbrachte ich viel Zeit auf dem Boden im hinteren Teil des Seminarraumes. Ich hatte mir mein komplettes Bettzeug mitgebracht, um den Tag zu überleben. Die Therapeutin sahen wir so gut wie nie. Wir hatten erst einmal nur einfachen Unterricht. Ich konnte die Methodik noch nicht ganz erkennen, ging aber davon aus, dass dies eine Beobachtungsanordnung war. So konnten sie uns im Umgang mit einfachen Aufgaben und miteinander beobachten und sich ein erstes Bild machen.

Für meine Familie war diese Zeit ein Alptraum. Ich kam abends komplett erschöpft nach Hause – ein einziger Haufen absurdester Symptome. Ich zitterte vor Kälte, einzelne Muskeln fielen aus, während andere krampften. Ich verbrachte viel Zeit kauernd vor dem Klo. Meine Geräuschempfindlichkeit war höher denn je. Es reichte schon, dass die Kinder durchs Haus rannten und ich lag schreiend vor Schmerzen auf dem Boden und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Mein Mann verstand nicht, warum ich die Maßnahme machte.

„Du verausgabst Dich komplett damit, dass Du in einem hässlichen Raum Aufgaben aus der zweiten Klasse löst. Wozu das Ganze?“ fragte er.

Trotzdem brachte er mich liebevoll morgens hin und holte mich auch wieder ab, obwohl er oftmals derjenige war, an dem sich meine Überforderung entlud. Die fünf Tage schaffte ich in all den Wochen nicht. Doch vier Tage war ich meistens verlässlich da, fest entschlossen, alles mitzumachen, damit sie genug Material für ihre „Feststellung“ hatten.

In der letzten Woche erhielten wir dann ein Abschlussprojekt in der Gruppe. Wir sollten gemeinsam aus einem leeren Türrahmen ein Regal bauen und anschließen eine Abschlusspräsentation über den Prozess und das Ergebnis halten. An diesen Tagen ging ich gerne hin. Der LKW-Fahrer war handwerklich sehr geschickt und wir bauten ein wunderschönes, bemaltes, symbolbeladenes Regal. Wir standen stolz wie Oskar davor als ich die Abschlusspräsentation hielt, die wir gemeinsam entwickelt hatten. Die beiden Damen waren nur mäßig begeistert und bemängelten, dass ja nur ich gesprochen hätte. Alles Leben verschwand wieder aus dem frustrierten LKW-Fahrer.

Der letzte Tag schließlich war der Tag der Verkündung. Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass ich selbst an meiner eigenen Feststellung aktiv mitarbeiten würde. Ich hatte mir Forschungsgespräche vorgestellt, die nie stattgefunden hatten. Umso gespannter war ich jetzt auf das, was sie im Laufe der Wochen so festgestellt hatten. Ich würde endlich ein ganz individuelles Feedback erhalten. Ich war in so freudiger Erwartung, dass ich in der Nacht vorher kaum schlafen konnte. Welche Kategorien hatten sie wohl zugrunde gelegt? Sie hatten sehr verdeckt gearbeitet. Obwohl ich mich mit Prozessen gut auskannte, war es mir nicht gelungen, Muster in dem zu finden, was sie mit uns machten.

Als wir ankamen, fragten sie uns freundlich, ob wir unsere Ergebnisse lieber einzeln oder gemeinsam erhalten wollten. Wir wollten auf jeden Fall zusammenbleiben. Wir hatten inzwischen ein großes Interesse an der Zukunft der anderen und waren auf deren Ergebnisse fast genauso gespannt wie auf die eigenen. Wir hatten in den letzten Wochen viel übereinander gelernt – über das, was uns glücklich machte, was wir gut konnten und nicht konnten oder darüber, wie wir im Team arbeiteten. Auch wenn dies nie offiziell reflektiert wurde, sprachen wir ja in den Pausen oder während der Wartezeiten auf die nächste Aufgabe über diese Dinge. Der LKW-Fahrer war als erster dran. Ich war ganz sicher, dass er in der Fischerei landen würde, vielleicht auch im Forstamt. Er strahlte dann, wenn er entweder von seinen Fahrten oder von Aktivitäten in der Natur sprach. Er war leidenschaftlicher Angler und organisierte Fahrten seines Angelvereins auf hoher See in viele Länder. Ich war auch gespannt, ob sie ihn auf seine mangelnde Teamfähigkeit ansprechen würden. Doch es ging ganz schnell.

„Wir haben in Ihr Gutachten geschrieben, dass Sie Hausmeister werden sollen.“ Fertig.

Er wurde blass. Dann fing er sofort an zu schimpfen.

„Ich bin doch keine Putzfrau. Sie können mich nicht zwingen, den Dreck anderer Leute wegzumachen“, zeterte er.

Die beiden Frauen sahen sich an. Sie hatten erwartet, dass dieser schwierige Teilnehmer sich danebenbenehmen würde und sich auch eine Strategie zurechtgelegt. Sie blieben unerbittlich.

„Das ist unsere Empfehlung an die Rentenversicherung und Sie können sich ja überlegen, ob Sie weiterhin deren Unterstützung in Anspruch nehmen möchten oder nicht.“

Ich fing beinahe an zu weinen. Er hatte so viele Stärken. Warum spielte das keine Rolle? Warum musste er nun unglücklich werden, verdammt dazu, einen Job zu machen, den er jetzt schon hasste? Wieder fiel mir die Reha ein. War auch dieses ein weiteres System, das gar nicht uns diente, sondern unserer Kategorisierung? Ging es gar nicht darum, festzustellen, was wir konnten, sondern darum, festzustellen, welcher Ziffer wir am besten zugeordnet werden könnten? Während ich meinen eigenen Gedanken nachhing, bemerkte ich, wie neben mir die Kosmetikerin große Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Ich hatte nicht genau zugehört, doch es war etwas mit Büro. Wochenlang hatte sie uns erzählt, wie sehr sie es liebte, dass sie als Kosmetikerin nicht am PC arbeiten musste und so viel Kontakt zu verschiedensten Menschen hatte. Hatten sie denn nie unseren Pausengesprächen zugehört? Ebenso gut hätte sie auch am ersten Tag ein beliebiges Los aus einer Kiste ziehen können. Dieses Urteil hatte überhaupt nichts mit ihr zu tun.

Nun war ich an der Reihe. Ich war überfordert. Ich wusste nicht, wie ich gucken sollte. Meine Hoffnung, dass mir das jetzt etwas bringen würde, war verflogen. Doch ich wusste auch, dass diese beiden Frauen ihren Job sehr ernst nahmen und ihr Bestes gaben. Ich konnte sie ja nicht dafür bestrafen, dass ich einmal wieder das System falsch verstanden hatte. Ich versuchte also, sie anzulächeln und einen Raum in mir zu finden, von dem aus ich vorurteilsfrei zuhören könnte.

„Zunächst einmal, Frau Ben Ayari, sind wir uns einig, dass Sie nicht arbeitsfähig sind und es wahrscheinlich noch eine lange Zeit nicht sein werden. Das ist das Ergebnis unserer Feststellung, die wir so an die Rentenversicherung übertragen werden.“

Dann lächelte sie und sagte: „Abseits jedoch von den formalen Begebenheiten sind wir sehr angetan von Ihrer Kreativität und empfehlen Ihnen dann später einen Job in der Werbebranche.“

Nun war mein Lächeln ehrlich. In meinem Kopf explodierte lautes Gelächter, das ich gerade noch so in ein Lächeln umleiten konnte.

„Danke“, gluckste ich mehr, als dass ich es noch deutlich aussprechen konnte.

Ich beruhigte mich so halbwegs, um den abschließenden Fragebogen auszufüllen. Ich konnte ihnen fast überall Bestnoten geben, denn ich wurde nur gefragt, ob die beiden Frauen das gegebene System gut umgesetzt hatten. Ich glaubte, das hatten sie. Ob das System passte, fragte keiner. Sie würden sich freuen und es war auch als Lob gemeint. Ich schrieb jedoch vorsichtig darunter, dass ich dachte, dass das System doch sehr stark auf feststehende Ausbildungsberufe festgelegt war und es doch noch eine Menge Alternativen gab, die vielleicht Lösungen sein könnten. Dann verließ ich erleichtert den Ort.

Erst abends musste ich dann weinen. Ich war über jede meiner Grenzen gegangen auf der Suche nach differenzierten Antworten. Nun lösten sich nach und nach alle aufgebauten Spannungen und es fiel mir unendlich schwer, herauszufinden, welche Erkenntnisse ich denn nun so teuer bezahlt hatte.

„Ich werde ab jetzt ein Leben innerhalb meiner Grenzen leben“, versprach ich Kai und mein unterstützender Mann versuchte, so zu tun, als würde er mir glauben.

KAPITEL 4:

„ICH BIN SELBST ERKRANKT UND WERDE AUS DEM KUNDENKONTAKT ABGEZOGEN.“

In den Tagen bis zu meinem nächsten Gespräch bei der Rentenversicherung musste ich immer wieder schmunzeln. In der Werbung. Ha! In der Werbung. Ausgerecht in der Werbung. Ich, die als Arbeit nur das definierte, was einen gesellschaftlichen Nutzen hatte. Ich, bei der Kommunikation eine ganze Kettenreaktion körperlicher Symptome auslöste. Ich, die maximal zwei bis drei Stunden am Tag arbeiten konnte. Immer wieder fiel mir eine neues „Ich, die …“ ein und ich musste kichern. Wie gut, dass mein Umfeld es gewöhnt war, dass sie nicht immer wussten, warum ich gerade lachte. Trotzdem war da etwas dran. Ich hatte schon bei der Reha meinen Frieden in der Kreativwerkstatt gefunden und auch bei der Feststellung war ich erst wach geworden, als es um die Gestaltung des Regals ging. Ich würde wohl von meinem sehr kommunikativen beruflichen Vorleben auf ein kreatives gestalterisches Arbeiten umsteigen müssen. Das beruhigte mein Nervensystem, statt es zu überfordern. Ein Studium würde ich auch mit einer Arbeitszeit von wenigen Stunden am Tag schaffen. Dort musste ich keine kompletten Tage in einer Gruppe verbringen. Endlich hatte ich einen Plan und zudem die reizende Rentenversicherung, von der ich inzwischen Geschenke annehmen konnte.

Mein entzückender Berater hörte sich meinen Plan aufmerksam an und musste mich jedoch enttäuschen: Studienberufe wurden von der Rentenversicherung nicht unterstützt, nur Ausbildungsberufe. Das gab sein System leider nicht her. Gerne könne er mich aber an eine Vollzeitausbildung für Mediengestalter: innen oder ähnliches vermitteln. Wir wussten jedoch beide, dass ich das nie durchstehen würde. Doch Ideen gingen mir ja nie aus.

„Wie wäre es mit einem Fernkurs?“ fragte ich.

Er lächelte. „Normalerweise machen wir das nicht, aber ich denke, in Ihrem Fall probieren wir eine Ausnahme. Wenn Sie dieses Formular ausfüllen, beantragen Sie eine Kostenübernahme für einen Online-Kurs in HTML und Grafikdesigner.“

Ich war dankbar. Er hatte verstanden. Wir wussten beide, dass dies unser Abschied voneinander war. Er hatte den kompletten Rahmen seiner Befugnisse für mich ausgeschöpft.

„Frau Ben Ayari, das ist unser letztes Gespräch“, sagte er da auch schon.

Was er danach sagte, hatte ich nicht erwartet.

„Ich bin selbst psychisch erkrankt und wurde daher aus dem Kundenkontakt abgezogen. Heute ist mein letzter Arbeitstag an diesem Platz.“

Wir schwiegen lange – plötzlich Verbündete. Nun wurde klar, warum er seine Arbeit so mitfühlend und gutherzig machen konnte. Er verstand wirklich. Doch auch er, der das System so gut kannte, hatte sich keine Unterstützung organisieren und keine Alternativen entwickeln können. Auch er musste den Job verlassen, den er so liebte und so gut machte. Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich es hier nicht nur mit einem individuellen Problem zu tun hatte, sondern unser Verständnis von Arbeit in eine gesamtgesellschaftliche Schieflage geraten war. Und dass die Rentenversicherung versehentlich eben das System unterstützte, das alle krank machte. Ich würde die nächsten Schritte allein gehen und keine weiteren Geschenke mehr annehmen. Wieder verließ ich einen Ort, nach dem ich keine Sehnsucht haben würde. Doch in diesem Moment hatte ich mehr Mitgefühl mit den Menschen, die hier arbeiteten als mit mir. So viele von ihnen gaben wirklich ihr Bestes, Menschen zu helfen. Wie furchtbar musste es sein, wenn man ehrlich helfen wollte und doch die erlaubten Instrumente so wenig griffen, es teilweise sogar noch schlimmer machten und man es wahrscheinlich vor lauter Systemblindheit noch nicht einmal sehen konnte.

KAPITEL 5:

„SCHLECHTE NOTEN SIND NORMAL, WENN SIE ETWAS NEUES ANFANGEN.“

Meine zwei Fortbildungen genoss ich. Der HTML-Kurs wurde zu einem gemeinsamen Hobby von Kai und mir. Es tat uns gut, ein gemeinsames Projekt zu haben. Fröhlich programmierten wir anhand des Lernmaterials an einer Webseite herum und lernten gemeinsam eine neue Sprache und Logik. Wir fühlten uns so selbstsicher, dass wir sogar die Programmierung der Webseite der Schule unserer Kinder übernahmen. Ich fand es toll, etwas tiefer zu verstehen, was sich hinter den Webseiten verbarg und erste kleine Einblicke in das Potenzial des Internets zu erhalten.

Der zweite Kurs war umfassender und sollte zu einem Abschluss in Grafikdesign führen. Ständig kam neues Lernmaterial an, gepaart mit Aufgaben, die ich einreichen sollte. Die Aufgaben machten mir Freude, auch wenn ich sie teilweise als Zeitverschwendung empfand. Warum sollte ich ausgedachte Aufgaben bearbeiten, statt wie bei HTML direkt an eigenen Projekten zu arbeiten? Ich reichte zum ersten Heft meine Aufgaben ein und erhielt nach ein paar Wochen eine sehr persönliche, handgeschriebene Rückmeldung per Post. Doch so wertschätzend und freundlich erklärend die Worte auch waren, die Drei, die darunter prangte, brachte mich komplett durcheinander. Eine Drei? Ich? Noch nie hatte ich eine schlechtere Note als eine Zwei gehabt und auch das war nur die Ausnahme. Ich ärgerte mich darüber, dass ich dieser kleinen Zahl eine solche Macht schenkte, da sie ja keinerlei Konsequenzen für mein Leben hatte. Doch es ließ mich nicht los: eine Drei?! Meine Motivation schwand. Für die Bearbeitung des nächsten Lehrheftes brauchte ich dreimal so lang, immer noch mit Aufgaben befasst, die im Anschluss einfach in den Müll konnten. Zu den Aufgaben legte ich einen kleinen Brief, in dem ich erklärte, wie sehr mich die Note getroffen hatte, auch wenn ich die Erklärung vollständig verstanden hatte. Ich erhielt sofort eine liebevolle E-Mail. Ich sollte mir keine Gedanken machen.

„Es ist ganz normal, wenn wir uns als Erwachsene in ein ganz neues Lernfeld begeben, dass wir erst einmal schlechter abschneiden.“ Ich solle durchhalten, es würde besser werden.

Aber durch diese Worte wurde mir klar: Ich wollte gar nicht mit Mitte Dreißig einen neuen Beruf erlernen. Ich war so gut in dem, was ich tat. Ich konnte auf so hohem Niveau wirksam sein. Meine Expertise war doch nicht weg, nur weil ich krank war. Ich wollte keine Anfängerin sein und die nächsten fünfzehn Jahre investieren müssen, um ein ähnliches Maß an Wissen und Können zu erreichen. Ich wollte arbeiten, ja, aber ich wollte gut in dem sein, was ich tat.

KAPITEL 6:

„MERKST DU ÜBERHAUPT, WIEVIEL BESSER ES DIR GEHT?“

Ich saß mit Dana am Küchentisch. Vor ihr lagen einige Papiere und eine Liste von Fragen. Als ich ausfiel, war unser Studiengang gerade von beiden Universitäten durch alle Gremien gegangen und wir hatten mit der Umsetzung begonnen. Ich hatte das Konzept geschrieben und war so leider die einzige, die didaktisch tief genug in der Materie steckte, dass sie den Qualitätsanspruch aus dem Konzept nun in die alltägliche Ebene der Macher: innen übersetzen konnte. Dana hatte die Rolle übernommen, mich immer wieder auf meinem Dorf zu besuchen – mit allen Fragen, die sich im Laufe der letzten Wochen aufgetan hatten.

Plötzlich hielt sie mitten im Satz inne und strahlte mich an: „Mila, wir sitzen am Tisch. Merkst Du überhaupt, wieviel besser es Dir geht? Bisher lagst Du immer im Bett, wenn ich hier war.“

Ich hatte an die Zeit nach der OP nur sehr vage Erinnerungen, daher freute es mich immer sehr, wenn andere Menschen mir meine Geschichte hinterhertrugen.

„Am Anfang konntest Du noch gar nicht richtig reden. Du hast alles verstanden und konntest auch alles sagen, aber es waren kurze Sätze. Du hast Dich oft verrannt, musstest wieder von vorne anfangen, bist oft verzweifelt an dem Gefühl, Dich nicht ausdrücken zu können. Und ich konnte nie länger als eine halbe Stunde bleiben, bevor Du Deine Erschöpfung nicht mehr verbergen konntest. Weißt Du noch?“

Sie erinnerte sich weiter für uns beide: „Du hast mir Nachrichten geschrieben, bei denen der Satzanfang und das Satzende gar nicht zusammenpassten. Und wenn das Telefon klingelte, bist Du sofort ängstlich zusammengezuckt.“

Sie hatte recht. Wir saßen am Küchentisch. Meine Sprache war flüssig. Sie war schon seit einer halben Stunde da und ich hatte keinerlei Sehnsucht danach, dass sie wieder ging – im Gegenteil. Das mit dem Telefon war jedoch sogar noch stärker geworden. Die Türklingel war noch schlimmer. Ich hatte wahnsinnige Angst davor, dass Menschen mir Kontakt aufzwingen würden, in Momenten, in denen mein Körper daran kaputt gehen würde: Todesangst. Es half gar nicht, dass ich mir immer wieder vorpredigte, dass man nicht daran sterben konnte, wenn jemand mit einem sprach. Wenn es in einem Moment geschah, in dem meine Reiztoleranz des Tages schon ausgeschöpft war, wurde es zu einer körperlichen und emotionalen Nahtoderfahrung. Ich, die immer vertrauensvoll mit der Welt verbunden gewesen war, wurde gerade zur Angstexpertin.

Langsam fand ich jedoch heraus, dass es nicht nur eine Frage der Quantität war, sondern auch der Qualität. Ich reagierte enorm auf Menschen, die etwas anderes sagten, als sie fühlten. Unempathische Menschen taten mir nicht nur körperlich weh, sondern machten mir Angst, denn sie verletzten ja, ohne es zu merken. Starke Gefühle anderer Menschen, für die sie noch keine Worte hatten, nahmen mir schier den Atem. Dana jedoch war für mich die personifizierte Sicherheit. Sie hörte wirklich zu, wenn ich erklärte, was ich schon konnte und was nicht und hielt sich stets an meine Grenzen, noch weit, bevor ich etwas gesagt hatte. Sie sah mich genau an und nahm dankbar, was ich geben konnte, ohne je Ansprüche an mehr zu stellen. Wir arbeiteten schnell und ohne Umwege, strukturiert, tief und auf den Punkt, kein unnötiges Wort. Vor allem aber mochte ich sie von ganzem Herzen. Ihre Besuche sorgten dafür, dass ich nicht wahnsinnig wurde. Ich hatte die ganze Zeit etwas Konzeptionelles zu denken, schließlich setzten wir gerade nicht nur einen Studiengang, sondern ein komplettes Institut für gesellschaftliche Entwicklung auf. Dadurch, dass sie mich auf dem Laufenden hielt, konnte ich die ganze Zeit – wenigstens in mir – weiterarbeiten. Ab und an kam sie vorbei, erntete meine Gedanken und sorgte dafür, dass sie in die Umsetzung flossen.

„Mila, ich weiß nicht, ob es zu früh ist. Lass uns gemeinsam darüber nachdenken. Aber wir stellen jetzt Mitarbeitende ein. Mindestens eine Geschäftsführung und dann bald sicher auch eine Studiengangsleitung. Ich fände es sehr wichtig, dass sie Dich kennenlernen, dass sie verstehen, dass Du das verkörperst, was wir hier aufbauen wollen. Dass sie das Konzept so tief nachvollziehen können wie Du. Dass sie Dich auch nutzen können, wenn sie konzeptionelle Fragen haben. Sie würden natürlich zu Dir kommen und ich erkläre ihnen vorher ganz genau, was Dir guttut und was nicht. Kannst Du Dir das vorstellen?“

Ganz kurz blitzte mein Versprechen durch meinen Kopf, dass ich jetzt innerhalb meiner Grenzen bleiben würde, doch ich schob es schnell zur Seite. Natürlich! Natürlich würde ich alles tun, was ich konnte, damit unsere Vision, an der wir lange gearbeitet hatten, Wirklichkeit wurde: mit echten Menschen. Ganz sicher würden das ja auch sehr nette Menschen sein. Puh! Neue Menschen. Würde ich schaffen. Irgendwie. Würde schon werden.

„Ok“, sagte ich vorsichtig. Und dann lauter: „Natürlich. Gerne.“

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen: „Sollten wir dann nicht langsam auch anfangen, Dich für Deine Arbeit wieder zu bezahlen?“

Mit diesen Worten landete ich kopfüber in einem riesigen See an Schuldgefühlen: Ich war eine Belastung für meine Umwelt geworden – in erster Linie natürlich für meine Familie. Wäre ich früher auf den Gedanken gekommen, ein Bild von einem kranken Ich zu entwerfen, hätte dieses so in etwa dem der Klara aus Heidi entsprochen: Ich hätte im Rollstuhl gesessen, wäre sanft und freundlich gewesen, dankbar und weise. Die Realität von Krankheit war jedoch eine andere. Durch die kontinuierliche Überforderung traten Persönlichkeitsaspekte an den Tag, die ich vorher nicht kannte. Ich war zickig, teilweise bissig und verletzte meine Liebsten, wenn sie mir zu nahekamen. Natürlich entschuldigte ich mich dann, sobald ich wieder in den Kontakt gehen konnte, doch das änderte ja nichts daran, dass sie sich durch viele unangebrachte Reaktionen arbeiten mussten. Ich wiederum war oftmals lahm gelegt von der Scham, die mein Verhalten in mir erzeugte. Ich schämte mich so sehr, dass mein Körper davon zuckte und ich teilweise meine Scham in die Toilette erbrechen musste, da ich sie schier nicht in mir halten konnte. So wollte ich einfach nicht sein. Da konnten mir die Leute noch so viel erklären, dass das natürlich nur ein Teil von mir war. Ich war diesem Teil noch nie begegnet und er war mir zuwider. Er widersprach allen Werten, an die ich glaubte und an dessen gesellschaftlicher Verbreitung ich so intensiv arbeitete. Wenn ich schon meinem Anspruch als Mutter und Frau nicht genügen konnte, wie konnte ich dann so etwas wie Professionalität an den Tag legen?

Zum hundertsten Mal erklärte mir Dana: „Mila, ich mache das nicht, um Dir zu helfen. Das ist kein soziales, altruistisches Verhalten. Wir brauchen Dich wirklich. Dein Input und Deine Gedanken sind ein ganz zentrales Element unserer Arbeit. Ich weiß, Du fühlst Dich wie ein Sozialfall, aber das bist Du wirklich nicht. Du arbeitest hier. Das ist keine Beschäftigungstherapie.“

Durch einen dicken Nebel aus Schuld und Scham hindurch erreichten mich ihre Worte durchaus. Ich versuchte, mich an ihnen festzuhalten. Ich fühlte mich geliebt und getröstet, doch das gab mir nur noch mehr Anlass zu Dankbarkeit und schlechtem Gewissen, dass sie so viel für mich auf sich nahm und ich nichts hatte, um das wieder aufwiegen zu können. Ich hatte sie im Stich gelassen und nun war all dieses tiefe Wissen in mir und sie hatten gar keine andere Wahl, als es sich zu holen. Mein professionelles Selbstbild definierte sich darüber, dass ich freundlich, unkompliziert, belastbar und hilfreich war. Wie sollte ich arbeiten, wenn ich nichts davon versprechen konnte?

Irgendwann merkte ich, dass ich ihr noch immer eine Antwort schuldig war auf die Frage, ob sie mich wieder bezahlen sollten. Ich öffnete den Mund und versuchte sie in all die Gedanken und Gefühle einzuweihen, die mich alle gleichzeitig durchliefen. Am Ende meines Wortschwalls war jedoch lediglich klar, dass ich noch keine Antwort hatte.

KAPITEL 7:

„DAS MUSS EINE GROSSE ORGANISATION AUFFANGEN KÖNNEN.“

„Wie geht es Dir denn? Was beschäftigt Dich denn im Moment?“, fragte Emilia bei einem ihrer regelmäßigen Besuche.

Sie kam allein, ohne Mann und Kinder und ich war gerührt davon, dass sie mich im Gegensatz zu vielen anderen nie in die Verlegenheit brachte, auszusprechen, dass ich den Lärm von spielenden Kindern nicht aushielt. Ich hielt kurz inne und überlegte: Was ging mir denn im Moment viel durch den Kopf?

„Geld“, sagte ich, „und meine Abhängigkeit vom Staat.“

Kai verdiente genug für sich und seine Jungs, aber nicht für uns alle.

„Hartz IV ist eine große Hilfe, doch das Geld geht im Wesentlichen für meine verschiedenen Behandlungsversuche drauf. Vor allem aber halte ich die Abhängigkeit nur sehr schwer aus.“

Nein, ich würde jetzt nicht weinen. Ich würde analysieren und nicht schon wieder in der Scham versacken.

„Ich bin so dankbar, in einem Land zu leben, in dem man aufgefangen wird, in dem es eine Mindestsicherung gibt. Ich kann sicher sein, dass meine kleine Chloë und ich weder erfrieren noch verhungern werden. Sie haben sogar Chloës Klassenfahrt bezahlt. Ist das nicht unglaublich?“

Emilia war darüber nicht ganz so überrascht. Sie war viel politischer als ich und machte sich sehr viele Gedanken um Chancengleichheit.

„Ich habe ein solches Glück, dass ich in Deutschland krank bin“, fuhr ich fort, „aber Hartz IV ist nur ein Auffangnetz, das man nur in Anspruch nimmt, wenn es nicht anders geht, um dann so schnell wie möglich die Ressourcen wieder freizumachen für andere, die es jetzt zum Überleben brauchten. Meine Zeit ist abgelaufen, das spüre ich einfach.“

Hier musste sie kichern. Sie musste es nicht einmal aussprechen. Sie konnte nicht einmal ihre Kinder mitbringen, aber ich war nicht mehr bedürftig: schon klar! Ich war jetzt aber im Sprechdenken angekommen und konnte nicht mehr aufhören. Ich hatte vor kurzem gelernt, dass das Logorrhoe hieß: Sprechdurchfall – eventuell auch ein Symptom für irgendwas.

„Außerdem hält mich Hartz IV in der Ärztemühle“, fuhr ich fort, „da ich kontinuierlich Atteste benötige und ich mich so immer und immer wieder mit meiner Unfähigkeit konfrontieren muss, mich so zu erklären, dass Ärzte helfen können. Das ist beknackt. Ich muss aus dieser Schuldnummer raus und bei jedem Arztbesuch lande ich wieder tiefer in der Schamspirale. Ich brauche Tage, um mich wieder aufzubauen.“

An dieser Stelle holte Emilia Luft und wollte einsteigen, doch jetzt war ich in Fahrt und ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

„Ich werde auch das diffuse Gefühl nicht los, dass ich mich, solange ich in dem System bin, als bedürftig und nicht als eigenverantwortlich definieren werde. Aber ich kann auf keinen Fall schon genug Stunden arbeiten, um wieder freiberuflich zu überleben. Was soll ich auch tun, wenn ich weder mehr als ein paar Stunden kommunizieren noch reisen kann?“

Ich merkte richtig, wie Emilia in den Berufsmodus überwechselte. Diese große, wildgelockte Frau mit Blümchenspangen und Glitzerhosen war nämlich Vize-Präsidentin an der Uni, an der die meisten meiner Projekte stattfanden und die auch eine der Trägerunis des neuen Studiengangs war.

„Mila, Du bist nicht die Einzige. Wir haben viele Mitarbeiter, die krank werden und es nicht richtig wieder zurückschaffen. Sie fallen immer und immer wieder aus. Ich finde, das muss eine so große Organisation auffangen können. Das ist unsere Verantwortung als Arbeitgeberin. Wir sind auch in Deinem Fall moralisch nicht raus aus der sozialen Verantwortung, nur weil Du freiberufliche Mitarbeiterin warst.“

Sie hatte einen Plan: „An der Uni entwickeln sich gerade immer mehr kleine Projekte zum Thema Konfliktmanagement. Es wird immer deutlicher, dass sich das Thema zu einem ernst zu nehmenden Schwerpunkt der Uni entwickelt. Allerdings machen die ganzen Projekte nur wenig miteinander. Ich würde gerne ein deutsch-polnisches Netzwerk aufmachen, das einerseits Akteure aus beiden Ländern verbindet, andererseits aber auch die Uni-Projekte untereinander und mit der Außenwelt. Ich stelle mir das so vor: Wir schreiben einen Antrag, Du übernimmst die Leitung, Konzeption und inhaltliche Expertise und neben Dir brauchen wir eben ein polnisches Kommunikationstalent, dass Dir so viele menschliche Kontakte wie möglich abnimmt.“

Ehrlich? Ich sollte ein Projekt übernehmen? Verführerisch, ja, aber wie um Himmels willen?

„Wir können Dich hier nutzen, um nach Lösungen zu suchen. Du bist nebenbei quasi ein Experiment, um zu gucken, wie es gehen könnte.“

Mit einer festen Stelle würde ich außerdem das Jobcenter verlassen können, später Anspruch auf Arbeitslosengeld haben und könnte mich zwischendurch immer einmal wieder krankschreiben lassen, wenn es nicht mehr ging. Sie hatte das alles durchdacht.

Meine Bedenken, dass wir ja dann quasi mir einen Krankheitssitz erschlichen, warf sie beiseite: „Hör auf! Du bist die beste Person auf diesem Gebiet in unserer Region und das weißt Du. Wir machen kein Projekt, damit Du einen Job hast. Wir machen ein wichtiges und notwendiges Projekt, das in unsere Kernstrategie passt und die beste Person für diesen Job hat eben Einschränkungen. Mach Dich nicht kleiner als Du bist. Du bist vielleicht die Einzige, die das Vertrauen und den professionellen Respekt aller Beteiligten hat.“

Da war sie wieder: Diese riesige Kluft zwischen der Wahrnehmung der anderen und meiner eigenen. Sie sahen, dass meine besondere Expertise gebraucht wurde und sie waren bereit, kreative Lösungen zu entwickeln. Ich sah, dass ich ein Sozialfall war und meine Freund: innen und Kolleg: innen versuchten, mich zu retten. Ich stand noch immer auf allen Ausbilder: innenlisten, überall wurde mein Platz freigehalten, bis ich wieder kommen konnte. So dankbar ich auch war: Solange sich das System nicht ohne mich neu organisierte, war ich auch eine Belastung und verursachte viel Mehrarbeit. Wie konnte ich das je in meinem Leben wieder gutmachen? Ich könnte nicht einmal für sie dasselbe tun, denn ich hatte ja gar nichts mehr, womit ich hätte helfen können.