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Küche, Keller und Kultur sind die Orientierungspunkte einer Reise vom Südrand der Alpen bis an die Gestade des Mittelmeers, quer durch jene Provinz, die vor hundert Jahren „Küstenland“ geheißen hat. Erwin Steinhauer, der Connaisseur, und Günther Schatzdorfer, der Chronist, reisen auf höchst altmodische Weise, meiden Hauptstraßen und Haubenlokale, suchen die schlichten kulinarischen und kulturellen Wunder, die uns wieder das Staunen und Genießen lehren – und vor allem die Menschen, die diese vollbringen. Als Gäste an den üppigen Tafeln der einfachen Leute erfahren Schatzdorfer und Steinhauer von Gerichten und Geschichten, die sich um dieses einfache und doch so reiche Leben ranken.
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Seitenzahl: 233
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Einfach. Gut.
Eine kulinarisch-kulturelle Reise ins Friaul und nach Triest von Günther Schatzdorfer mit Erwin Steinhauer
Mit Fotos von Ferdinand Neumüller
Wien/Duino
2005
VerlagCarinthia
ISBN: 978-3-99040-140-8
© 2006 und 2014 by Styria regional
in der Verlagsgruppe Styria
GmbH & CO KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchandlung und im Onlineshop
Hinweis: Die Autoren bevorzugen die Beibehaltung der alten Rechtschreibung.
Fotos: © Ferdinand Neumüller, Klagenfurt
Lektorat: Gerhard Maierhofer
Umschlaggestaltung: Bruno Wegscheider
Gestaltung: Pliessnig/TextDesign
Satz & Repro: TextDesign GesmbH, Klagenfurt
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
„Das Essen läutet den Tag ein wie die Liebe ihn aus.“
Jean Paul
„Mai si manja sul stomigo svodo!“
(„Man ißt nicht auf leeren Magen!“)
Altes Triestiner Sprichwort
Dieses Buch ist kein Reiseführer, sondern ein Reiseführer für Menschen, die es bevorzugen, ohne Reiseführer zu verreisen. Es ist geschrieben von zwei Menschen, die von dem schlichten Motiv beseelt sind, dort, wo sie sind, einfach dazusein. Man mag das für Ignoranz halten. Dem Argument steht entgegen, daß jene, die mit dem Finger im Baedeker verreisen, nur das sehen werden, was im Baedeker steht, also wenig von Land und Leuten, auch kaum etwas von den Menschen. Vor allem werden sie nichts über sich selbst erfahren. Wer essen will, wie’s im Kochbuch steht, soll zuhause bleiben und selber kochen. Für den, der sich wegen einem guten Tropfen die Schuhe nicht im Lehm eines Weinbergs schmutzig machen will, für den gibt es den gut sortierten Versandhandel. Wem es schlicht um die Betrachtung feudaler Baudenkmäler geht, der kann auf prächtige Bildbände zurückgreifen und bleibt so vom Wetter unabhängig.
Geschichte und Geschichten sind ätherische Angelegenheiten, deren man nur durch Neugier und Staunen teilhaftig werden kann. Wenn man unbekannte gute Winzer sucht, muß man zum Friseur gehen. Dort kennt man sie. Über die historischen Zusammenhänge sollte man die Pensionisten in der Bar Sport befragen, deren Wirtin auch weiß, wo man einfach gut essen kann.
Je ahnungsloser man verreist, umso mehr erfährt man von Land und Leuten. Wer nichts erwartet, bekommt viel.
Günther Schatzdorfer
Erwin Steinhauer
Die zwei Freunde waren die einzigen Gäste in der Gaststube und warteten auf Prosciutto und Käse; Wasser und Wein stand auf dem Tisch. Sie schwiegen. Eine Uhr tickte laut. Zuerst sah sich der eine um, dann der andere. Es gab keine Uhr im Raum. Da wurde ihnen bewußt, wie still es im Karst sein kann.
Sie begannen zu reden: übers Essen, übers Trinken, über verlorene und ersehnte Lieben, über die Frauen ihres Lebens, mit denen sie in die Provinzen von Triest, Görz und Karnien gereist waren, von unvergleichlichen Sonnenuntergängen, durchwachten Nächten, von der Bora und den großartigen Menschen, denen sie hier begegnet waren; von den schönen Dingen und von der Angst, diese wieder zu verlieren. Sie redeten in die Stille hinein, gegen die Stille. Unter alten Freunden redet es sich friedlich und ernst, auch mit einem Lächeln, selbst wenn beide hungrig sind.
Langsam wie der Schatten einer Sonnenuhr schälte sich die alte Wirtin aus dem Dunkel der Küche; gebeugt und fast lautlos näherte sie sich dem Tisch, in der einen von Arthritis gekrümmten Hand einen Korb mit Brot, in der anderen einen Teller. Auf diesem lagen Scheiben vom Prosciutto, dessen Fett weiß war wie der Schnee auf dem Triglav und dessen Fleisch tiefrot wie der Karst im Herbst leuchtete. Darauf lagen ein paar Stücke Käse: „Tabor“, das slowenische Pendant zum „Montasio“, also Bergkäse. Dieser war frisch und fast cremig weich. Er stammte vom Nachbarn, der gut zwei Dutzend Kühe sein eigen nennt und außer dem Käse sowie Milch und Butter für die umliegenden Dörfer nichts weiter produziert. Der Schinken wird vom Schwiegersohn der Wirtin geliefert, der eigentlich Baumeister ist, aber nebenbei für sie, für sich und für wenige Freunde Prosciutto produziert, welcher im Karst wesentlich würziger wird als etwa in San Daniele oder gar in Parma. Das liegt an der Luft, aber auch daran, daß die Schweine hier unter anderem mit Eicheln, Pinienkernen und Trester gefüttert werden.
Ebenso lautlos, wie die Wirtin erschienen war, zog sie sich wieder in ihr Schattenreich zurück. Die zwei Freunde aßen mit der Mischung aus Andacht und Gier, ließen den nicht filtrierten Malvasia durch ihre Kehlen rinnen. Sie redeten mit vollem Mund, wurden lauter und lauter, lachten. Das war gut gegen die Wehmut. Denn es war die letzte Stärkung vor der Rückreise in die Heimat, den Alltag.
Mildes, kastanienfarbenes Licht fiel durch die winzigen Fenster in die niedrige Stube, in welche eben ein alter Mann eingetreten war, sich niederließ, den Hut vom Kopf nahm und einnickte.
Da sahen sich die beiden Freunde an, lächelten, erhoben die Gläser und beschlossen, ein Buch zu schreiben – über die magischen Augenblicke im Leben, die einfach gut sind. Und deren haben sie viele erlebt, zwischen den Karnischen Alpen, dem Meer, dem Karst und der Tiefebene des Friaul, dort, wohin es sie aus Neugier verschlagen hat und wohin sie aus Lebenslust immer wieder zurückkehren.
Sie traten aus der mittlerweile dämmrigen Stube ins Freie. Gegenüber der Wirtschaft breiteten sich Weingärten in der Abendsonne aus. Tiefer Friede lag über Ceroglie. Nichts erinnerte daran, daß dieses Dorf in beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts zerstört worden war, außer einer Gedenktafel gegenüber dem alten, stillgelegten Dorfbrunnen. Kaum noch jemand erinnert sich daran, daß auf dem Höhenrücken Richtung Osten noch vor dreißig Jahren die Wachtürme des Kalten Krieges standen, ebenso daß der Monte Ermada, welcher das Dorf überragt, mit Kavernen durchlöchert ist wie ein Stück Emmentaler, weil sich in ihm nicht nur Batterien, sondern auch das größte Feldspital des Ersten Weltkriegs sowie die zentrale Heeresküche für die Isonzo-Front befanden. Die Eingänge in dieses Höhlensystem sind mit Gestrüpp und Dornen verwachsen; nur wenige alte Menschen und ein paar Hobbyforscher kennen die Stellen, wo man halbwegs gefahrlos über steile, glitschige Treppen in die Unterwelt gelangt, welche heute von Olmen, Käfern und Flechten bewohnt wird. Es ist ein Segen, daß niemand auf die Idee gekommen ist, hier eine militärhistorische Gedenkstätte wie in Redipuglia oder auf dem Monte San Michele zu errichten. So blieben Ceroglie und das auf der anderen Seite des Berges liegende Medeazza von fragwürdigem Schlachtfeld-Tourismus verschont. Denn die Bevölkerung dieser Dörfer hat endlich – trotz aller ethnischen und politischen Differenzen – zum langersehnten Frieden gefunden. Und als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach – das nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt lag –, solidarisierte man sich gegen jede Form von Gewalt als politisches Mittel, half den Flüchtlingen, die hier scharenweise über die grüne Grenze kamen, egal ob es sich um Bosnier, Albaner oder Kroaten handelte.
Während die beiden Freunde noch einmal die würzige Herbstluft des Karstes einsogen, kam ein alter Mann mit einem Korb des Weges. Er hatte Pilze gefunden: „mazzatamburi“, also Parasole, „chiodini“ (Stockschwämmchen) und Hallimasch. Der Alte lud die beiden ein, mit ihm und Freunden Risotto zu essen, das die Wirtin nun zubereiten werde. Da sahen sie nach langer Zeit wieder einmal auf die Uhr, bedankten sich höflich und gingen zum Auto.
„Wenigstens ein Glas Wein?!“ rief ihnen der Mann nach. Sie taten, als hätten sie nichts gehört.
Sie fuhren gegen Norden, weg von der Sonne, und sprachen wenig. Erst als das Dunkel des Gebirges sie umfing, löste sich die Spannung, und der Schauspieler fragte den Poeten:
„Sag mir, wie machst du eigentlich, Risotto ai Funghi‘?“
In einem Topf wird halb Butter, halb Olivenöl erhitzt. Darin werden eine kleine, feingehackte Zwiebel und feingeschnittener Knoblauch kurz angedünstet. Dann fügt man die grobblättrig oder würfelig geschnittenen Pilze hinzu: Steinpilze (porcini), Eierschwammerl (finferli), Stockschwämmchen, Herbsttrompeten oder welche einem gerade in die Hände gefallen sind. Gerade die „minderwertigen“ Herbstpilze geben den besten Geschmack.
Das Ganze wird gebraten, bis das in den Pilzen enthaltene Wasser verdunstet ist. Dann gießt man mit einem Schöpfer Suppe auf, rührt und wartet, bis auch diese verdampft ist. Nun fügt man den Reis bei, läßt ihn kurz glasig dünsten. Ab nun wird nach und nach mit verdünnter Suppe aufgegossen, sodaß der Reis gerade bedeckt ist, und ständig gerührt. Gewürzt wird mit grobem Meeressalz, schwarzem Pfeffer, feingehackten Kräutern (Petersilie, Thymian, Liebstöckl, Selleriegrün etc.). Unerläßlich sind getrocknete, eingeweichte Pilze, die ausgedrückt werden. Nur das Pilzwasser wird dem Risotto beigefügt.
Nach etwa zwanzig Minuten ist der Reis „al dente“. Man fügt einen letzten Schöpfer Suppe hinzu, deckt den Topf zu, nimmt ihn von der Flamme und läßt den Risotto noch etwa fünf Minuten ziehen, bevor man dieses köstliche Gericht heiß serviert. Die Beigabe von geriebenem Käse wäre eine schwere Sünde.
Die zwei alten Freunde sind noch nicht wirklich alt, ältere Semester vielleicht, aber noch nicht reif genug, um den Torheiten des Lebens zu entsagen. Sie setzen sich zum Beispiel in ein Boot und glotzen stundenlang dahin, wo es außer Horizont nichts zu sehen gibt, und essen alles, was der Arzt ihnen verboten hat, wenn die Wirtin behauptet, es sei hausgemacht und gesund. Sie freuen sich, wenn sie die Trauben persönlich streicheln dürfen, deren vergorenen Saft sie in ein, zwei oder fünf Jahren trinken werden. Kurzum: die Region, von der die Rede ist, stellt für beide ein ideales Revier dar, wo sie einem Hedonismus mit menschlichem Antlitz frönen können.
In diesen und anderen Dingen sind sie sich einig. Darüber, was „einfach“ ist, streiten sich ihre Geister, und darüber, was „gut“ ist, ihre Gaumen. Denn die beiden Freunde sind ziemlich unterschiedlich in Gestalt und Lebensart. Folgt man der klassischen Kretschmerschen Typenlehre, so ist der eine ein leicht ins Pyknische tendierender Athlet, der andere ist leptosom und war nie etwas anderes.
Der eine ist Schauspieler, der andere ist Poet. Für ersten werden selbst noch die primitiv gezimmerten Tische in einer „osmizza“ im Karst sofort zu den Brettern, die die Welt bedeuten, auf denen sich gastronomische Komödien oder Tragödien abspielen. Schinken und Käse werden zu Schicksalsfragen, von zerkochten Nudeln ganz zu schweigen. Die sind für ihn ein Schillersches Komplott. So sitzt er in der Proszeniums-Loge, Hauptdarsteller, Publikum und Theaterkritiker in einem, und bricht – je nachdem – in Begeisterungsstürme oder Buhrufe aus.
Der Poet hingegen benimmt sich in der Öffentlichkeit genauso unauffällig wie in seinem Kämmerchen. Er fühlt sich als Autor. In der Küche nennt man diesen Koch. Also dreht und wendet er die Dinge auf dem Teller und versucht sich einen Reim aufs Rezept zu machen. Er verfällt ins Grübeln darüber, wie man die Sache noch besser formulieren, also würzen hätte können. Er greift nicht zur Pfeffermühle, sondern kramt in seinem gedanklichen Gewürzregal. Meist vergißt er dabei aufs Essen. Selten kommt es vor, daß er findet, er selbst hätte es nicht besser vermocht. Dann allerdings ißt er hurtig und mit Genuß. Für ihn ist es mit der Kulinarik wie mit der Literatur: Schlechte Bücher legt er beiseite, mittelprächtige liest er quer, und die guten verschlingt er.
Man kann sich unschwer vorstellen, daß diese gegensätzlichen Temperamente auf ein und dasselbe Gericht völlig unterschiedlich reagieren. Während der eine in Euphorie ausbricht, verfällt der andere in Depressionen. Dieser Konflikt hat vor allem physiologische Hintergründe.
Ihre Ernährungsgewohnheiten sind völlig unterschiedlich. Wer die beiden Reisenden bei ihrer Nahrungsaufnahme beobachtet, der versteht die Welt und die Naturgesetze nicht mehr. Weshalb ist der Dicke dick und der Dünne dünn? Das bleibt ein Mysterium. Denn der Korpulente setzt auf schlanke, elegante Kost – viel Gemüse, mageres Fleisch, leichte, naturbelassene Fischgerichte. Er ernährt sich bewußt und gesund. Er fürchtet Cholesterin und die Gicht mehr als alle Theaterkritiker Wiens. Also schält er den Fettrand des Prosciutto fein säuberlich vom Fleisch und schiebt ihn mit der Messerklinge und dem Gesichtsausdruck tiefsten Abscheus an den Tellerrand. Legt man ihm „pancetta“ vor, so empfindet er das als feiges Mordkomplott. Gans meidet er wie diese den Fuchs.
Der Dünne hingegen beobachtet derartiges Verhalten mit ironischer Nachsicht. Er schielt sogar nach dem Fett des anderen, während er seines genüßlich kaut. Er zelebriert den Genuß der „pancetta“ – wird dabei selbst zum Schauspieler –, bis sich seinem Gegenüber vom bloßen Zusehen die Galle zusammenzieht.
Zum Ärger des Schauspielers, der sich mit eiserner Selbstdisziplin an die Mahlzeiten hält, futtert der Poet ständig. Nicht genug damit, daß er in seinem Rucksack stets Proviant und Getränke mit sich führt, als sei er auf der Flucht; bei jedem Halt strebt er sofort in eine Bar, um eine „tartina“, ein „tramezzini“ oder ein „dolcetto“ zu verzehren. Dabei nimmt er kein Gramm zu, während der andere selbst bei der Seezunge natur schon wieder an die Waage denkt. Die Ungerechtigkeit scheint ein Naturprinzip zu sein.
Daß die beiden trotz ihrer Gegensätzlichkeit immer wieder miteinander auf kulinarische Entdeckungsreisen gehen, hat seinen Grund nicht nur darin, daß sie sich an ihre merkwürdige Freundschaft gewöhnt haben. Sie profitieren voneinander. Man könnte zur Erklärung ein chassidisches Gleichnis bemühen. Am Abend, nach dem zweiten Menù des Tages und dem dazugehörigen Quantum Wein, betrachtet der Poet den Schauspieler und stellt zufrieden fest, daß man von Essen und Trinken volle Wangen und eine gute Gesichtsfarbe bekommt, während jener seinen Freund mißt und bestätigt findet, daß man selbst von Völlerei nicht sichtbar zunimmt.
Kommt man auf der Autobahn aus dem Gebirge, so empfiehlt es sich, diese spätestens bei Tolmezzo zu verlassen, die nächste Ortschaft aufzusuchen und eine der meist schummrigen Bars zu betreten, wo ein paar Pensionisten Karten spielen und die Dorfjugend vor dem überdimensionalen Fernseher ein Fußballspiel oder den Giro d’Italia verfolgt. Vielleicht ist auch außer der Wirtin niemand in dem Raum, von dem aus eine Tür in die „Sala da Pranzo“ führt, in der es nach kaltem Essen riecht und wo nur noch mittags für die Arbeiter der Umgebung aufgekocht wird. Das erste Glas Wein jenseits der Grenze will getrunken sein, welche zwar nur mehr Erinnerung ist und doch symbolisch präsent bleibt. Freilich gibt es auch in Österreich Wein. Aber der hier schmeckt anders in diesen kleinen, dicken Gläsern, welche der Triestiner „bicèr“ und der Friulaner „tajut“ nennt. Er schmeckt nach Erinnerungen. Dazu gibt es Salame, Prosciutto und ein staubiges Brötchen von vorgestern. Die Qualität ist nicht von Bedeutung. Es zählt nur: wir sind hier.
In Pontebba zum Beispiel, diesem merkwürdigen Städtchen, das seit dem Bau der Autobahn völlig im Abseits liegt. Aber schon Jahre davor hatte es an Bedeutung verloren, 1918, als das Kanaltal bis Tarvis zur Gänze an Italien fiel. Bis dahin war Pontebba eine doppelte Grenzstadt, deren österreichischer Teil Pontafel hieß. Von den großen Zeiten zeugen der überdimensionierte Bahnhof, zwei Rathäuser und zwei Kirchtürme, die um die Wette in den Himmel gewachsen sind, rechts und links des Torrente Pontebbana. Auf der Brücke, die diesen überspannt, kurz bevor er sich in die Fella ergießt, erinnert eine Gedenktafel daran, daß hier die Grenze verlief. Wie überall, wo Zoll, Handel und die damit verbundenen zeitraubenden Aktivitäten eine große Rolle spielen, gab es hier diesseits und jenseits Unmengen von Gasthäusern beziehungsweise Osterie und Herbergen. Einige existieren noch; die meisten davon stehen leer und verfallen.
Der Schauspieler und der Poet haben den kulinarischen Rubikon überschritten und laben sich zur Belohnung für die Entbehrungen der Reise, die sie in Kauf genommen haben, um hierherzugelangen. Die undisziplinierten Verkehrsteilnehmer, die Warteschlange an der Maut und der Nebel auf der Pack sind vergessen. Deshalb schmeckt es ihnen. Sie lachen, sie haben andere Augen. Wahrscheinlich auch einen anderen Gaumen. Das zweite Glas schmeckt noch besser. Ist es die Ahnung vom nahen Meer? Ist es die Seele, die sich plötzlich in eine paradiesische Ebene öffnet wie das Tal? Ganz sicher ist: alles riecht plötzlich intensiver. Das liegt an der milden Luft, aber auch daran, daß es von einem Kilometer zum anderen plötzlich um fünf Grad wärmer ist.
Die Wirtin sieht die beiden Freunde zum ersten Mal in ihrem Leben, versteht kein Wort von dem Unfug, den sie strahlend von sich geben. Aber auch sie lächelt. Und plötzlich steht sie vor ihnen mit einem Teller hauchdünn geschnittener „Ricotta affumicata“ aus dem Raccolana-Tal, frischem Brot und einer Flasche Olivenöl aus dem Triestiner Karst namens „Olio Celo“, dem die beiden Freunde auf ihren Reisen schon öfters begegnet sind und das so schmeckt, wie es heißt: es ist himmlisch. Das ist eine unmißverständliche Liebeserklärung seitens der „padrona“. Um diese zu erwidern, bestellt der Schauspieler Rotwein. Die Wirtin bringt eine Flasche Pignolo von Moschioni aus der Gegend von Cividale, aus den Colli Orientali. Pignolo! Eine uralte, autochthone Rebsorte, die so selten angebaut wird, daß sie nicht einmal in den Statistiken des Winzerverbands aufscheint. Ein trocken ausgebauter, fruchtiger, tief blauroter Wein, der lächerliche fünfzehn Prozent Volumen hat. Dennoch oder deshalb ein göttliches Getränk. Dazu reicht die gute Frau einen Teller mit der Hirschsalame ihres Schwagers, dem es ebenfalls ein Denkmal zu setzen gilt. Die Wurst hat allerdings einen Defekt: man kann sie nicht kaufen.
Der Schauspieler und der Poet gehen fröhlich zum Auto. Wohin? Ans Meer? Ans Meer! Aber an eine längere Fahrt ist nicht mehr zu denken. Also auf ins nahe Tolmezzo, wo es bequeme Hotelzimmer gibt.
Ist in Gourmetkreisen von Tolmezzo die Rede, echot es nur: „Roma!“ Ja, das Roma ist gut. Es war auch einmal einfach. Heute ist es so etwas wie das Steirereck des Friaul, gehört in die Kategorie „Nur vom Feinsten“, wird in sämtlichen Guides hoch dekoriert und genügt den hohen Ansprüchen seines illustren Publikums.
Dem Schauspieler und dem Poeten gelüstete es aber nach einem basisdemokratischen Abendmahl. So checkten sie im Hotel Cimenti ein, das nicht nur so heißt, sondern auch so aussieht: ein scheußlicher postmoderner Betonkasten aus den sechziger Jahren. Aber vom Bett aus sieht man das nicht. Nach einer gebührenden Ruhepause begaben sie sich ins Restaurant im Erdgeschoß, das ebenso wie das Gebäude vor internationalen Architekturpreisen sicher ist.
Hier wird vom Wagen serviert. Die beiden Freunde einigten sich auf ein Degustationsmenù und lieferten sich aus. Zuerst kam – als Aufmerksamkeit des Hauses – eine „Frittata con le ortiche“, ein saftiger Eierkuchen mit Brennesseln. Das „tris“ begann mit „Gnocchi di zucca e ricotta“, setzte sich fort mit „Cjalsòns“, den Friulaner Tortellini, die mit Käse und Kräutern gefüllt waren, bevor mit feingehacktem Prosciutto gefüllte „Gnocchi ripieni“ auf den Tisch kamen. Doch nicht genug damit. Wieder kam der Kellner, wechselte die Teller und servierte neuerlich Gnocchi. Diese, etwas größer als die anderen, waren mit Zwetschgen gefüllt und mit Butterbröseln garniert. Die beiden Freunde protestierten: sie hätten noch kein Dessert bestellt. Milde lächelnd belehrte sie der Maître, daß es sich bei Zwetschgenknödeln in Erdäpfelteig um eine typische Vorspeise in Carnia handle. Also aßen sie widerspruchslos und freuten sich über den köstlichen Geschmack.
Eigentlich waren sie satt und glücklich wie Säuglinge. Eine Flasche Terre Alte von Livio Felluga hatte sie bis hierhin begleitet. Nun kamen aber noch ein Collio Rosso von Roberto Picèch – ein Cuvée von Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon, trocken und rund – und hintennach der Karren mit dem „Bollito misto“: Huhn, Zunge, Cotecchino, Zampone und Fleisch, Fleisch, Fleisch. Dazu gab es jede Menge Beilagen, auch durchaus unübliche: zum Beispiel „Fagioli in tecia“, ein Bohnenpüree, das sich sowohl mit den zu genießenden als auch den genießenden Zungen bestens vermählte. Vor allem aber gab es bunte Saucen: eine Art Apfelkren, „Mostarda di zucca“, sowie hausgemachtes Ajvar. Äußerst fein aber ist die „Salsa verde“, eine Art Pesto aus Petersilie, deren Rezept – das in hundert Varianten existiert – hier verraten sei:
Man nimmt reichlich Petersilie, schneidet sie grob mit der Schere und tut sie in einen Mörser. Hinzu fügt man kleingehackte Silberzwiebeln und Cornichons, Knoblauch, Sardellenfilets, etwas eingeweichtes Weißbrot, einen Schuß besten Weißweinessig und püriert das Ganze mit dem Stößel, während man Olivenöl in einem feinen Faden dazuträufelt.
Sobald die Sauce sämig geworden ist, kann man sie in Gläser füllen. Bedeckt mit Olivenöl hält sie sich tagelang im Kühlschrank. Sie eignet sich nicht nur als Beilage zu gekochtem Fleisch, sondern ebenfalls zugegrilltem Fisch oder Scampi. Auch für zwischendurch, als Aufstrich auf einer „Bruschetta“, ist dieses Pesto köstlich.
Während der Maître das Rezept erklärte, fuhr der Garçon mit den Nachspeisen vor. Berge von Semifreddo, Profiteroles und Cremeschnitten, die hier „Millefoglie“ heißen, türmten sich darauf. Der junge Mann war nervös, vielleicht schon müde, und nahm die letzte Kurve mit überhöhter Geschwindigkeit, was damit endete, daß der „carello“ seitwärts kippte und die süßen Herrlichkeiten auf dem Teppich landeten. Niemand brüllte mit dem Garçon, der nun mit hochrotem Kopf vor dem Desaster kniete und die Cremes und Teigstücke mit den Händen auf die Tabletts schaufelte. Alle lachten, der Maître hob lächelnd und gottergeben die Hände. Auch die beiden Freunde waren nicht böse ob dieser Ungeschicklichkeit. Sie hätten sowieso nichts mehr zu essen vermocht. Dies hinderte sie aber nicht daran, sich kurz unter dem Vorwand der Hilfeleistung zu bücken, ein Profiterol zu mopsen und sich die Finger abzuschlecken.
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