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Als die Meteorologin Shade der Ursache des ungewöhnlich frühen und harten Winterbeginns auf den Grund gehen will, stößt sie im tief verschneiten Wald auf den geheimnisvollen Roque. Ein Blick seiner eisblauen Augen und sie ist wie gebannt. Nie in ihrem ganzen Leben hat sie einen schöneren und gleichzeitig unheimlicheren Mann gesehen. Noch ahnt sie nicht, dass Roque, ein gefallener Engel, nicht nur den Winter gebracht, sondern es auf sie abgesehen hat: Die Mächte der Hölle haben Shades Seele als Opfer auserkoren ...
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Seitenzahl: 423
Das Buch
Als die Meteorologin Shade Mallory in ihre Heimat, eine kleine Stadt inmitten der Sierra Nevada, reist, traut sie ihren Augen kaum: Am Fuße des Mount Jackson herrscht tiefster Winter, während nur einige Kilometer entfernt die milde Herbstsonne den Boden erwärmt. Als sie den verschneiten Berg erklimmt, um das merkwürdige Wetterphänomen zu erforschen, steht plötzlich ein Fremder vor ihr, der bis auf einen Lendenschurz völlig nackt ist. Seine in allen Regenbogenfarben schillernden Augen sind schon faszinierend genug, aber als der geheimnisvolle Fremde dann auch noch ein Paar schneeweißer Flügel entfaltet, glaubt Shade zu träumen. Doch sie weiß nicht so recht, ob es ein guter oder ein schlechter Traum ist. Denn irgendetwas an dem Fremden, der sich selbst als Eisengel und Jäger vorstellt, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Kein Zweifel: Roque, so sein Name, steht in unmittelbarem ursächlichem Zusammenhang mit dem plötzlichen Wintereinbruch. Was aber verbirgt er sonst noch? Und auf wen macht er Jagd? Shade ahnt, dass sie ihm mit größter Vorsicht begegnen sollte – und ist ihm doch schon längst verfallen.
Die Autorin
Sandra Henke lebt in der Nähe von Düsseldorf. Mit ihren Romanen hat sie sich ein großes Publikum erschrieben. So gilt ihr Roman »Loge der Lust« inzwischen als ein Klassiker des Genres. Außergewöhnlich sinnliche Erotik liegt der Autorin ebenso am Herzen wie eine romantische Liebesgeschichte, in deren Mittelpunkt starke Helden stehen.
Lieferbare Titel
978-3-641-04794-8 – Die Mädchenakademie
978-3-641-04539-5 – Der Gebieter
978-3-641-07603-0 – Meister der Lust
SANDRA HENKE
Eisige
Versuchung
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Copyright © 2013 by Sandra Henke
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-08880-4V002
www.heyne.de
Erstes Kapitel
Weißes Wunder
»Was zur Hölle ist das?« Shade Mallory bog auf Höhe des Bridgeport Reservoirs von der Sweetwater Road in einen Waldweg ein, wendete ihren Geländewagen und parkte an der Straße. Staunend neigte sie sich vor, spähte durch die Frontscheibe ihres SUV und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.
Sie sah es mit eigenen Augen und konnte es dennoch kaum glauben.
Um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte, ließ sie das Seitenfenster herunter. Sie lauschte dem Rascheln des Herbstlaubes, lehnte sich heraus und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Wie viel Grad mochten es hier, wo sie stand, sein? Vielleicht fünfzehn?
Somit betrug es fünfzehn Grad mehr als auf der anderen Seite des Staudamms.
Am Morgen war Shade in einer kleinen Maschine von Los Angeles zum Bryant-Field-Flughafen geflogen, hatte sich dort einen Wagen gemietet und war zur Pension Wild Goose gefahren, um ihr reserviertes Zimmer zu beziehen. Ein langärmeliges T-Shirt hatte an diesem goldenen Oktobertag gereicht. Doch bei dem, was sie hier sah, war sie froh, ihre Skijacke auf den Rücksitz gelegt zu haben.
»Verrückt!« Fasziniert keuchte Shade. Dort hinter dem Bridgeport Reservoir schneite es. Und nur dort! Ein Vorhang aus dicken, träge zur Erde schwebenden Schneeflocken hüllte den Mount Jackson ein. Selbst der künstliche See am Fuße des Berges war zur Hälfte gefroren. Während sich hin und wieder das Wasser in der Nähe des Ufers, an dem die Sweetwater Road von Bridgeport zum Murphy Pond entlangführte, kräuselte, weil eine Forelle dicht unter der Oberfläche schwamm, bedeckte gegenüber eine Eiskruste die Randzone.
Shade rieb sich die Augen. Auf dieser Seite des Dammes, der den Walker River am Ostarm staute, herrschte noch Herbst, während der Winter den Mount Jackson bereits fest in der Hand hatte, als würde der Berg in einem anderen Landkreis als dem Mono County liegen.
»Das ist nicht normal!« Sie war im Mammuth Hospital Bridgeport geboren, hatte die ersten zehn Jahre ihres Lebens in der Sierra Nevada verbracht und kannte daher das Wetter im Tal aus erster Hand.
Ein Fremder, zudem wenn er aus dem fernen L.A. stammte, mochte den frühzeitigen Winterbeginn unter »Wetterkapriolen« verbuchen. Tsunamis an den Küsten Asiens waren keine Jahrhundertphänomene mehr. Die Erdbeben in Europa nahmen an Stärke zu. Immer mehr Tornados jagten über den Mittleren Westen der USA hinweg. Vulkanausbrüche auf Hawaii, auf Island und in Chile traten häufiger als zuvor auf. Da waren ein paar vorzeitige Schneeflocken nicht weiter beachtenswert, so schien es.
Shade konnte das Desinteresse ihrer Kollegen verstehen, aber ihre persönliche Erfahrung und ihr Bauchgefühl hatten sie dennoch hierhergeführt. »Wenn ihr das hier sehen könntet, würdet ihr eure Meinung ändern.«
Mühsam hatte sie ihre Vorgesetzte Socorro »Sonny« LaMotta dazu überreden müssen, sie ins Hochgebirge an der Grenze der Staaten Kalifornien und Nevada reisen zu lassen. Sonny hatte Shade zwei Tage zugestanden, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen, aber diese gigantische Wolke, aus der es unablässig auf den Mount Jackson schneite, sicherte ihr mindestens eine ganze Woche zu.
Aufgeregt nahm sie ihre Kamera aus der Fototasche, die neben dem Koffer mit den Messgeräten auf dem Beifahrersitz lag, und schoss ein paar Bilder, um sie Sonny zu mailen, sobald sie zurück in der Pension wäre. An manchen Stellen wirkten die Schneeflocken wie ein weißer Perlenvorhang.
Shade legte den Fotoapparat weg, startete ihren Wagen und lenkte ihn auf die Sweetwater Road zurück. Neugierig fuhr sie schneller als erlaubt die Route 182 hoch bis zum Staudamm. Während sie noch überlegte, wie sie ihren Großeltern erklären sollte, dass sie nicht bei ihnen, sondern im Gasthof Wilde Goose übernachtete, parkte sie den SUV inmitten einer Winterlandschaft auf einem Pfad, den eigentlich nur die Ranger benutzen durften.
Natürlich bestand die Möglichkeit, sich gar nicht bei ihren Großeltern zu melden, aber das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem kannte in der kleinen Gemeinde fast jeder jeden. Shade hatte keine Ahnung, wie viele Menschen aktuell in Bridgeport lebten, aber es war bekannt, dass die Einwohnerzahl seit der Jahrtausendwende stetig zurückging. Zurzeit konnten es nicht mehr als sechshundert Einwohner sein. Womöglich wussten Maud und Albert Grimes, den alle in der Familie nur Baba nannten, jetzt schon, dass ihre Enkelin sich im Ort aufhielt.
Aber Shade konnte nicht bei ihnen wohnen. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass Kid Boyd mit seinen Eltern im Haus nebenan gelebt hatte. Es würde schon schwer genug werden, ihre Großeltern zu besuchen. Selbst nach all den Jahren spürte Shade einen Stein im Magen, wenn sie nur an Kid dachte. Sie war fest davon ausgegangen, dass Mr. und Mrs. Boyd wegziehen würden, nach dem, was vorgefallen war, aber das hatten sie zu Shades Überraschung nicht getan. Bei jedem Besuch stahl sie sich an ihren Fenstern vorbei und hoffte, sie nicht auf der Straße zu treffen. Immer wenn sie mit Maud und Albert zusammensaß, hatte sie den Eindruck, dass alle es tunlichst vermieden, das Gespräch auf Kid zu lenken, auch ihre Eltern oder Nachbarn, wenn diese den Treffen beiwohnten. Besuche bei ihren Großeltern liefen stets verkrampft ab.
Kid Boyd hing wie ein Damoklesschwert über Shades Kopf, wenn sie in Bridgeport weilte. Ein Grund mehr, weshalb sie nie lange blieb und rasch nach L.A. zurückreiste.
Ein weiterer waren die Abgeschiedenheit und das Kleinbürgertum. Sie nahm ihre Wollmütze und schaute in den Rückspiegel. Vorsichtig zog Shade sie an, wusste aber jetzt schon, dass ihre kurzen schwarzen Haare, an denen sie am Morgen kunstvoll so lange herumgezupft hatte, bis sie aussahen, als käme sie frisch aus dem Bett, später am Kopf kleben würden. Seufzend schob sie einige Strähnen unter die Mütze. Am Vortag hatte sie sich ihren Schopf rot getönt, aber er hatte die Farbe nicht intensiv genug angenommen, sodass er nur rötlich schimmerte. Sie befeuchtete ein Papiertaschentuch und wischte unter ihren Augen entlang, weil ihr schwarzer Kajal verschmiert war.
»Kriegsbemalung«, so nannte ihr Dad es, wenn sie sich übermäßig schminkte. Vielleicht hatte er damit gar nicht so unrecht. Warum war sie ausgerechnet am Vortag auf die Idee gekommen, sich ihre Stachelfrisur blutrot zu färben? Am Morgen hatte sie doppelt so viel Wimperntusche wie üblich aufgetragen und ihr größtes Augenbrauenpiercing – eine Banane mit einem Gecko aus Titan, der über ihre Stirn zu laufen schien – ausgewählt.
»Um zu rebellieren wie ein bockiger Teenager.« Sie schnaubte und löste den Gurt. »Wieso musstest du unbedingt herkommen, wenn du eine solche Abneigung empfindest?«
Wie ein Verbrecher, der an den Tatort zurückkehrte. Stöhnend massierte Shade ihren Nacken. Sie war verspannt, nicht nur vom Fliegen, sondern auch, weil sie wieder einmal schlecht geschlafen hatte. Nachts hielt das Rauschen des Verkehrs, das die Großstädter nicht einmal wahrnahmen, sie oft stundenlang wach.
Es wurde langsam kalt im Wageninneren. Shade zog ihre Skijacke an und murmelte vor sich hin: »Das ist deine Chance, Mallory, nutze sie! Lass dich nicht von deiner Angst kontrollieren, sondern kontrolliere deine Angst!«
Wie vor zwei Jahren, als ein Mann sie nachts in eine Seitengasse gedrängt und ihre Geldbörse verlangt hatte. Obwohl er ein Messer in der Hand hielt, hatte sie weit ausgeholt und ihn mit ihrer Laptop-Tasche geschlagen. Aus Wut oder Panik, sie wusste es selbst nicht, hieb sie ihm die Tasche mit den Weinflaschen über den Kopf, was ihn endgültig zu Fall brachte. Danach lief sie weg – aus Furcht, aber auch, weil es ihr unangenehm war, den Cops gegenüber zuzugeben, dass sie so viel Alkohol bei sich trug. Nach diesem schrecklichen Erlebnis besuchte sie einen Selbstverteidigungskurs und gab es augenblicklich auf, ihre Schlafprobleme mit Spirituosen zu bekämpfen.
Als Kind war sie stundenlang durch die Wälder in Bridgeport gestreift. Oft mit Kid zusammen. Seitdem sie jedoch nach L.A. gezogen war, war sie nur in den Wald gegangen, wenn ihr Job es verlangte.
»Sonny!«, fiel es Shade wieder ein. Sie musste ihre Chefin dringend anrufen und einen ersten Bericht erstatten. Aber erst wollte sie ein Stück weit den Hügel hochmarschieren und von einer Anhöhe inmitten des Schnees ein Foto von dem sonnigen Tal schießen.
»Tief durchatmen! Du willst schließlich endlich bessere Jobs zugeteilt bekommen.« Sie wickelte ihren Schal eng um ihren Hals, hängte sich die Kamera um und zog ihre Handschuhe an.
Shade war froh gewesen, als Socorro LaMotte ihr die Stelle gegeben hatte, denn sie hatte zwar ihr Meteorologie-Studium abgeschlossen, aber ihre Noten ließen zu wünschen übrig. Monatelang war sie Klinken putzen gegangen, hatte sich sogar in Seattle und Florida beworben. Vergeblich. Allein in ihrem Studienjahr waren die meisten Absolventen weitaus besser gewesen als sie. Wahrscheinlich hatte Sonny sie nur eingestellt, weil sie billig gewesen war und sie jemanden für die unwichtigen Aufgaben brauchte. Damit musste Shade leben.
Ein Jahr lang war ihr das egal gewesen, Hauptsache, sie verdiente ihr eigenes Geld und konnte endlich bei ihrer chronisch unzufriedenen Mutter ausziehen. Aber jetzt, mit sechsundzwanzig, schmerzte es, nur der Laufbursche zu sein, während ihre gleichaltrigen Kollegen langsam die Karriereleiter emporkletterten. Shade war sich bewusst, dass ihr dasselbe nur gelingen würde, wenn sie engagierter war als ihre Konkurrenten – und wenn ein Wunder geschah.
Shade hoffte, dass ihr Wunder die Farbe Weiß trug.
Als sie aus ihrem SUV stieg, hörte sie es bereits. Menschen, die in der Stadt aufgewachsen waren, glaubten, im Winter wäre der Forst geräuschlos und alle Tiere schliefen entweder oder wären in wärmere Gebiete geflogen. Aber Shade, deren Kinderjahre in der Sierra Nevada sie mehr geprägt hatten, als sie selbst geahnt hatte, wusste es besser: Der Schnee knisterte. Man konnte es hören, wenn man ganz still auf der Stelle stand.
»Wahrscheinlich liegt es daran, dass Städter so wenig über die Natur wissen«, dachte Shade, denn sie hielten kaum inne und lauschten so wie Shade in diesem Moment. Sie blieb vor dem Geländewagen stehen und konnte sich nicht der unterschiedlichsten Gefühle, die auf sie einstürmten, erwehren. Wanderausflüge mit ihrem Paps, ihr Großvater, der ihr jede Pflanze und jedes Insekt erklärte, das Herumtollen mit Kid, aber eben auch die Konsequenzen, die man tragen musste, wenn man sich weiter von Bridgeport entfernte, als es erlaubt war.
Bevor ihr Herz wieder schwer wurde, ging sie zum Heck des SUV, zog ihre Turnschuhe aus und die Boots, die im Kofferraum lagen, an. Sie wünschte, sie hätte sich Schneeschuhe und Skistöcke ausgeliehen, aber als sie von dem verfrühten Wintereinbruch in ihrer Heimat gehört hatte, hatte sie niemals mit so viel Schnee gerechnet!
Jeder ihrer Schritte wurde von einem Knirschen begleitet, das sie als Mädchen so sehr geliebt hatte. Selbst heute noch stapfte sie extra hart auf, damit das Geräusch lauter war und sie es noch mehr genießen konnte. Dann kam sie sich kindisch vor und ließ es bleiben.
Sie hatte erwartet, dass sie ohnehin nicht weit kommen würde, weil es unentwegt schneite und die weiße Schicht, die den Boden bedeckte, immer höher werden müsste, doch das tat sie merkwürdigerweise nicht. Als Shade schon ein gutes Stück weit den Mount Jackson hochgestiegen war, versanken ihre Boots immer noch nur zur Hälfte.
Dicke Flocken fielen zur Erde.
Pausenlos.
Und dennoch blieb die Schneedecke gleich hoch.
»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!« Außer Puste blieb Shade stehen. Sie ging zwar hin und wieder im North Hollywood Park joggen, aber vielmehr, um ihren Freunden und Kollegen gegenüber nicht zugeben zu müssen, keinen Sport zu treiben. In den Bergen machte allein die dünne Luft ihr zu schaffen. Ihre Heimatstadt lag auf zweitausend Höhenmetern. Wie hoch mochte sie inzwischen sein?
Sie schaute sich um und fragte sich, ob das Militär etwas mit diesem seltsamen Phänomen zu tun hatte. Vielleicht führten sie heimlich Wetterexperimente in dieser abgelegenen Region durch, die je nach Saison mehr Touristen als Einwohner aufwies. Zwanzig Meilen nördlich von Bridgeport lag das US Marine Corps Mountain Warfare Training Center. Offiziell wurden die Soldaten in Kriegsführung unterrichtet und trainierten für den Ernstfall. Aber wer wusste schon, was inoffiziell dort vor sich ging?
Tief atmete Shade ein. Kam es ihr nur so vor, oder war die Luft einige Grade wärmer, als sie es bei diesen Witterungsverhältnissen hätte sein sollen? Sie entdeckte Spuren eines Vogels, der einige Male über den Boden gehüpft und dann anscheinend davongeflogen war. Vielleicht hatte er nach Futter gesucht. Auf ihrem Weg noch ein Stück weiter nach oben begegnete ihr ein Igel. Sie sah sogar frische Abdrücke von Bärentatzen im Schnee, aber das Tier schien weitergezogen zu sein. Der plötzliche Wintereinbruch brachte die Natur durcheinander.
»Das ist nicht gut, gar nicht gut.« Falls der Schnee sich vom Mount Jackson ins Bridgeport Valley ausbreitete, würden die Touristen früher als üblich wegbleiben, und das konnte sich das Mono County nicht leisten. Die meisten kamen hierher, um am Walker River zu angeln, zu wandern oder die Geisterstadt Bodie zu besichtigen. Schneetouren fanden wenig Anklang, weil die Städter meistens zu bequem dazu waren. Höchstens Ausflüge mit dem Schneemobil wurden gebucht, aber diese waren vielen zu teuer. Außerdem schlossen der Wohnmobil- und Zeltplatz sowie der Jachthafen am Staudamm, sobald es kalt wurde.
Shade konnte ihre Mutter verstehen. Zwanzig Jahre lang hatte Sybill Mallory ihren Mann zu überreden versucht, endlich aus dieser Einöde wegzuziehen. Connor jedoch liebte die Idylle und Abgeschiedenheit, eben weil er selten in den Genuss kam, sie zu genießen, denn damals arbeitete er als Truckfahrer. Im Valley hatte es schon immer wenige Jobs gegeben. Für ihn war Bridgeport ein Rückzugsort, während Sybill den Ort als Gefängnis betrachtete. Weiter als nach Sonora Junction, wo sie als Schreibkraft in einem Sägewerk angestellt war, kam sie selten.
Als Shade zehn Jahre alt geworden war, hatte Sybill ihrem Mann die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Streitereien klangen Shade jetzt noch im Ohr, auch die Vorwürfe ihrer Mutter, ihr Vater hätte nichts aus seinem Leben gemacht. Um seine Familie nicht zu verlieren, gab er schließlich nach und zog mit ihnen in »die Stadt der Engel«. Doch einen besseren Job fand er aufgrund seiner geringen Qualifikation in Los Angeles nicht. Er lieferte Pakete aus, was ihn zunehmend unzufriedener werden ließ.
In L.A. lebte Sybill auf, Connor jedoch fühlte sich an die Leine gelegt. Nach zwei Jahren reichte er die Scheidung ein, und Shades Mom projizierte ihren Ehrgeiz nicht länger auf ihn, sondern auf ihre Tochter. Shade war die Erste in den Familien Grimes und Mallory, die studierte. Und was hatte sie nun davon? Eine Stellung als Handlanger am Meteorologischen Institut, einen Kredit, den sie bis zu ihrem Lebensende abbezahlen würde, und eine Mutter, die ganze sechs Monate zufriedengestellt gewesen war, bevor sie anfing, bei jedem Treffen zu fragen, wann Shade denn endlich mal eine feste Beziehung zu führen gedachte, denn sie, Sybill, wollte ja irgendwann auch einmal Oma werden.
Mit einem Mal fühlte es sich gar nicht so übel an, weit weg von L.A. zu sein. Shade lächelte und marschierte forscher weiter.
Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr. Zuerst glaubte sie, einen Raubvogel mit großen Schwingen gesehen zu haben, aber als sie in die Richtung schaute, war dort nichts.
Jeder Städter hätte sich aus Angst vor einem Bären oder einem anderen großen Wildtier an den Abstieg gemacht. Shade jedoch, die ihre Herkunft nicht verleugnen konnte, zog rasch ihre Handschuhe aus, stopfte sie in die Jackentasche und packte ihre Kamera. Neugierig lief sie in die Richtung, sodass die herabfallenden Flocken auseinanderstoben.
Sie trieb den Schnee vor ihren Boots her und pflügte durch das weiße Pulver. Die Luft schien nun doch kälter, sie brannte in Shades Lungen, als würde sie sie davor warnen, noch weiter zu gehen. Das Knistern der Schneekristalle wurde lauter, dafür hörte sie das Knirschen unter ihren Sohlen nicht mehr. Irritiert blieb sie stehen und betrachtete ihre Stiefel.
Plötzlich machte sie erneut eine Bewegung aus. Diesmal sah sie schneller hin. Überrascht öffnete sie den Mund.
War da gerade ein nackter Mann zwischen den Bäumen verschwunden?
Zweites Kapitel
Ebenso wunderschön wie eiskalt
Zuerst fragte sich Shade, ob dieser Verrückte etwas mit dem Winter zu tun haben könnte, aber dann schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Angeblich war der erste Gedanke immer der richtige. Das konnte sie hiermit widerlegen, denn ihre spontane Assoziation war kompletter Blödsinn! Sie hatte nur das, was sie sah, nämlich diesen Mann, mit ihren Überlegungen gekoppelt. Herausgekommen war eine Idee, die völlig an den Haaren herbeigezogen war.
Offensichtlich brachte der weiße Niederschlag am Oktoberbeginn nicht nur die Tiere durcheinander, sondern auch die Menschen.
»Damit meine ich ihn, nicht mich«, stellte sie vor sich selbst klar und lief hinter ihm her den Pfad hinauf, so schnell es die Schneedecke zuließ, um ihm zu helfen. Offensichtlich war er in Not. Ihr kam der Gedanke, dass er gefährlich sein konnte, verwirrt und unberechenbar. Aber so, wie sie Menschen davon abhielt, Steine nach streunenden Hunden zu werfen oder nach ihnen zu treten, obwohl Shade dabei Gefahr lief, selbst zur Zielscheibe zu werden, konnte sie auch diesmal nicht anders, als ihrem Beschützerinstinkt zu folgen.
Doch sie kam viel zu langsam voran. Es schien ihr, als würden sich die Flocken am Boden nun doch immer höher türmen. Inzwischen reichten sie schon an den Rand ihrer Boots heran. Das Laufen wurde immer beschwerlicher. Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten, weil es sich anfühlte, als kniffe jemand sie von innen. Keuchend schaute sie sich um. Wo war der Kerl hin?
Dort machte sie Spuren aus. Und dann sah sie ihn auch wieder – wenn auch nur für wenige Sekunden, denn er verschwand hinter zwei dicht nebeneinanderstehenden Tannen. Er schien einen Schwan auf dem Rücken zu tragen. Das wurde ja immer verrückter!
»Entweder spinnt er oder ich«, feixte Shade und gab bei dem Voting ihre Stimme für ihn ab.
Ungläubig rieb sie sich die Augen. Dann trieb sie sich den Hang wieder ein Stück weit hinab, um dem Mann den Weg abzuschneiden. Sie musste ihm schließlich helfen! Er würde hier draußen ohne Kleidung erfrieren. Sie wollte ihm ihre Jacke über die Schulter hängen, ihn zu ihrem Wagen bringen und in die Stadt fahren.
Außerdem würde ein nackter Mann ihr wohl kaum gefährlich werden.
Der Kneifer, der in ihren Hüften saß, fing an, mit einem spitzen Gegenstand ihre Seiten zu traktieren. Trotz Schmerzen kämpfte sie sich weiter. Als sie jedoch bei den Tannen eintraf, kam plötzlich Wind auf. Eine Böe wirbelte ihr Schnee ins Gesicht, sodass sie sich kurz abwenden musste. Danach stellte sie verwundert fest, dass der Fremde nicht mehr in seinem Versteck weilte.
Ein Schatten zu ihrer Linken zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Unbekannte – immer bedacht darauf, sich hinter Bäumen oder Sträuchern zu schützen – hatte sie offenbar getäuscht, denn er floh längst zur anderen Seite und befand sich nun dort, wo sie zuvor innegehalten hatte, um nach Luft zu ringen.
»Schuft!« Das wollte Shade nicht auf sich sitzen lassen. Sie hatte einmal einen Taschendieb in L.A. drei Blocks durch die nahezu verstopften Straßen und Bürgersteige der Innenstadt und über die unheimlichen und ihr bis dato unbekannten Hinterhöfe und Schleichwege verfolgt, bis sie ihn schließlich gestellt hatte. Nun gut, er war erst acht oder neun Jahre alt gewesen, weshalb sie ihm, erschrocken über sein junges Aussehen und den hungrigen Blick, zehn Dollar in die Hand gedrückt und ihn laufen gelassen hatte. Dennoch gab sie nicht so leicht auf, schlechte Kondition hin oder her.
Sie hatte den Nackten nun einmal entdeckt, jetzt fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Auf keinen Fall würde sie ihn im Wald zurücklassen, um irgendwann in den nächsten Tagen in der Zeitung zu lesen, dass ein Verrückter in der Sierra Nevada erfroren war!
»Na warte!«, dachte sie und nahm die Herausforderung an. Sie schlug einige Haken, jagte ihm hinterher, änderte plötzlich ihre Richtung und verwirrte ihn anscheinend, denn er schlüpfte zwischen zwei Sträuchern hindurch, machte zwei Schritte vorwärts und kehrte abrupt zurück, um sich in das Dickicht zu kauern, offenbar davon überzeugt, dass Shade ihn nicht bemerkt hatte.
Als sie vor ihm stand, schrak er auf. Doch sie hatte nicht einmal die Chance, ihn genauer zu betrachten, denn plötzlich fegte ein kräftiger Wind über den Hang. Die Baumkronen bogen sich und schüttelten die Schneeflocken ab. Shade riss ihre Hände hoch, um ihr Gesicht abzuschirmen. Stecknadelgroße Hagelkörner trafen sie. Während sie mit einer Hand ihre Mütze tiefer über ihre Ohren zog und den Kragen ihrer Skijacke hochklappte, hielt sie ihren Arm schützend nach oben.
Blinzelnd hielt sie nach dem Fremden Ausschau. Sie musste ihm ihre Jacke geben, sonst würde er nicht lange überleben. Doch er lief schon wieder weg! Er hatte ihr bereits seinen Rücken zugewandt und stapfte nun davon. Durch den Schneesturm konnte sie vage den Schwan auf seinem Rücken ausmachen. Es musste sich um ein riesiges Tier handeln – oder wohl eher um eine Art Rucksack.
Entweder erkannte er nicht, dass sie ihn retten wollte, oder er wollte nicht gerettet werden. Der Grund für sein ausgeprägtes Fluchtverhalten war zweitrangig für Shade. Sie musste ihn ins Bridgeport Hospital schaffen, so schnell wie möglich.
Langsam wurde sie sogar ein wenig sauer. Impulsiv warf sie sich nach vorn, um den Fremden zu Fall zu bringen. Ungeschickterweise erwischte sie nur seinen Fuß, den er gerade beim Laufen nach hinten streckte. Wie ein nasser Sack fiel sie in den Schnee und kam sich vor, als befände sie sich mit einem Mal in einer dieser Hollywood-Komödien, die ihre Nerven strapazierten, da sich die Figuren darin einfach zu dämlich verhielten. Völlig unrealistisch! Niemand war derart tollpatschig. In diesem Moment revidierte sie ihre Meinung.
Einige Sekunden lang hielt sie sein Fußgelenk noch fest, dann benutzte sie lieber ihre Hände dazu, sich den Schnee von Kinn und Stirn zu wischen. Zumindest hatte sie erreicht, dass er stehen blieb. Er schaute auf sie hinab, das spürte sie.
Aber noch stand sie nicht auf, sondern starrte auf seine Füße, die nicht in Schuhen steckten. Fror er denn gar nicht? Er zitterte nicht einmal.
Ihr Blick glitt höher zu seinen Beinen, die nicht von einer Hose verhüllt wurden. Kräftige Waden, muskulöse Oberschenkel. »Nicht schlecht!«, dachte sie unpassenderweise. Er trieb offenbar mehr Sport als sie. Sie konnte keine Gänsehaut ausmachen. Seine Haut wirkte jedoch wie weißer Marmor – dick, widerstandsfähig und wächsern.
Was mochte sie an seinen Lenden erwarten? Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Nicht hinsehen! Es wäre anständig gewesen, sich zu erheben und ihm ins Gesicht und nirgendwo sonst hinzuschauen, seine Intimsphäre nicht zu verletzen und ihrer Neugierde zu widerstehen. Aber wieso lief dieser Kerl auch im Adamskostüm hier herum! Er hielt noch nicht einmal seine Hände vor sein Geschlecht.
Sie hob ihren Kopf und stockte. Was zum Teufel war das? Staunend klimperte sie mit den Wimpern, um die Flocken, die daran klebten, loszuwerden und klarer zu sehen. Er trug eine Art Lendenschurz und schien aus Watte zu sein. Oder waren das etwa …? Ein verrückter Gedanke keimte in ihr auf. Es machte den Anschein, als hätten sich Schneekristalle an seine Lenden geheftet, um sein bestes Stück zu verbergen. Unweigerlich lief ihr Kopfkino auf Hochtouren, und sie stellte sich den Schaft unter dem Eishöschen vor: zu Rosinengröße geschrumpft.
Beinahe hätte sie losgelacht. Lächelnd musterte sie den muskulösen Oberkörper des Fremden. Doch als sie seine finstere Miene bemerkte, verging ihr das Grinsen sogleich.
Rasch stand sie auf und klopfte ihre Hose und ihre Jacke ab. Hoffentlich war ihre Kamera nicht beschädigt! Als Shade sie eingehend begutachtete, bemerkte der Unbekannte scharf: »Ich würde das lassen!«
Seine Stimme war tief und dunkel. Shade nahm ein Vibrieren darin wahr, das sie als erotisch empfand. Er betonte jede Silbe und strahlte Selbstbewusstsein aus. So aufrecht, wie er vor ihr stand, erinnerte er sie an den Krieger eines Indianerstamms. Nur – was trug er auf seinem Rücken? Waren das zwei Schwerter mit hellen Griffen, die in mit weißen Federn geschmückten Scheiden steckten?
Erst jetzt merkte sie, dass der Sturm aufgehört hatte, offenbar genauso abrupt, wie er angefangen hatte. Allerdings schneite es nun wieder stark, sodass Shade den Fremden wie durch einen Perlenvorhang hindurch sah.
Das alles war sehr merkwürdig. Der vorzeitige Winter, dieser Mann, der die Kälte nicht zu spüren schien, ihre Reaktion auf diesen Sonderling … Statt abgeschreckt zu sein, wurde ihr heiß. Ihr Puls ging schneller, aber sie schaffte es nicht, sich einzureden, dass ihr beherzter Sprung die Ursache dafür war.
Eben noch hatte sie geglaubt, dass ein Nackter ihr nicht gefährlich werden konnte. Nun wusste sie es besser: Dieser Kerl brauchte keine Waffen, um zu kämpfen. Seine Muskeln besaßen gewiss genug Kraft, um sich zu verteidigen oder lästige Verfolgerinnen loszuwerden. Er machte keineswegs einen verwirrten oder schutzbedürftigen Eindruck auf sie – im Gegenteil: Sie hatte plötzlich das Gefühl, diejenige zu sein, die Schutz benötigte – vor ihm.
Dennoch fühlte sie sich auch zu ihm hingezogen. Wie eine Motte zum Licht, das in Wahrheit ihren Tod bedeutete. Denn trotz seines langen silbrigen Haars, das er am Hinterkopf mit einem Lederband straff zusammengebunden hatte, dem alabasterfarbenen Teint und dem weißen Lendenschurz wirkte er zwar wie eine Lichtgestalt … aber er besaß eine finstere Aura.
Als wäre er in Wahrheit ein schwarzes Loch, das alles, was ihm zu nah kam, einsog und auf ewig auslöschte.
Wie ein geheimnisvoller Brunnenschacht, in den man fiel, wenn man zu neugierig wurde und sehen wollte, was sich auf dem Grund befand.
Seine Augen waren so wunderschön, dass Shade ihren Blick nicht von ihnen nehmen konnte, und gleichzeitig waren sie so kalt, dass sie meinte, eine eisige Hand würde nach ihrem Herzen greifen.
»Du hättest mich nicht sehen dürfen«, brummte er.
»Willst du meine Skijacke?«, fragte sie, um ihre aufkeimende Furcht zu überspielen.
Er neigte seinen Kopf zur Seite und runzelte seine Stirn.
»Ich bezweifle, dass sie passt, aber du könntest sie wenigstens über deine Schultern legen.«
Seine Augen weiteten sich, wohl weil er verstand, dass sie um sein Wohlergehen besorgt war. Doch er ging nicht darauf ein. »Meine Beute sollte zu mir finden, nicht du.«
»Beute?«, echote sie mit belegter Stimme.
Ein Grollen drang aus der Tiefe seiner Kehle, als wäre er ein Bobcat und kein menschliches Wesen. »Mein Opfer.«
Bang machte sie einen Schritt zurück, doch ihr Stiefel rutschte auf einer Eisfläche aus, die – das hätte sie schwören können – vorher noch nicht da gewesen war. Sie fiel auf ihren Hintern, richtete sich jedoch hastig wieder auf.
»Ich bin ein Jäger«, erklärte er, worauf Shade sich etwas entspannte. Allerdings wunderte sie sich, wo er sein Gewehr gelassen hatte. »Oder tötet er mit bloßen Händen?«, witzelte sie in Gedanken, bis sie bemerkte, dass sie damit nur ihre Angst weiter entfachte.
»Erwartest du etwa, dass sich die Maultierhirsche freiwillig vor dich stellen, obwohl sie deine Absichten wittern? Du musst sie schon jagen.« Sie betonte das letzte Wort sarkastisch.
Erneut runzelte der Mann die Stirn, und sie fing an zu glauben, dass er doch nicht ganz bei Trost war.
»Hast du überhaupt eine Lizenz?« Er trug sie garantiert nicht bei sich, so viel stand fest. Sie genoss es, ihn immer wieder von oben bis unten anzuschauen. Er war wirklich eine Augenweide.
Sein Blick wurde intensiver. »Keine Tiere.«
»Menschen?« War er ein Kopfgeldjäger? Sie schluckte schwer. Jedenfalls wusste sie, warum er sie nicht sofort verstand: nicht etwa, weil er begriffsstutzig war, sondern weil sie ständig aneinander vorbeiredeten. Als würden sie nicht dieselbe Sprache sprechen. Oder nicht aus derselben Welt stammen.
»Zielpersonen. Es besteht eine magische Beziehung zwischen uns, sodass wir voneinander angezogen werden.«
So, wie er das sagte, klang es nicht nach etwas Gutem. Überraschenderweise reagierte ein Teil von ihr ganz anders auf diese Neuigkeit. Sie war enttäuscht, nicht die Person zu sein, die mit ihm verbunden war, wie auch immer er das mit dem »magisch« meinte. In Shades Ohren hörte es sich jedenfalls romantisch an.
Er musterte sie von oben bis unten, und sein Blick drückte Bedauern aus. »Du bist es nicht.«
»Oh, wie schade!« Ein Teil von ihr meinte es sogar so.
»Trotzdem hätten wir uns niemals begegnen dürfen, nicht so.«
Sie wandte sich ab, um schnell den Hang hinabzulaufen, doch im nächsten Moment stand der Fremde auch schon vor ihr. Er breitete seine Arme aus und das, was er schon die ganze Zeit auf dem Rücken trug, und versperrte ihr den Weg.
Perplex öffnete Shade den Mund. Kein Rucksack, kein Schwan, keine Schwerter in Scheiden, sondern wunderschöne weiße Flügel ragten hinter ihm hervor. Er musste sie zusammengefaltet und vom Körper weggestreckt haben, sodass Shade sie nicht hatte erkennen können. Die Perspektive hatte sie verwirrt, überdies das vermaledeite starke Schneien und das Knistern der Kristalle, das sie nun vielmehr als Wispern wahrnahm – wie Millionen leiser Fistelstimmen, die sie ablenkten. Zudem hatten ihre Augen wohl nicht wahrhaben wollen, was sie sahen, und ihr Gehirn hatte in völlig falsche Richtungen gedacht.
Der Wunsch, die Schwingen zu berühren, wurde beinahe übermächtig. Sie sehnte sich danach, mit ihren Fingerspitzen über die einzelnen Federn zu streicheln und ihre Wange daran zu reiben.
Ebenso faszinierend wie tödlich, denn als der Unbekannte dicht an sie herantrat, fielen ihr einzelne federlose Stege am Rand der Flügel auf. Shade vermochte nicht zu sagen, ob der Fremde das Wissen auf sie projiziert hatte oder ob es sich um ihre eigene Assoziation handelte, aber aus irgendeinem beängstigenden Grund wusste sie, dass diese Kiele tief ins Fleisch stoßen und Wunden reißen konnten, die nie wieder heilten. Vor ihrem geistigen Auge tauchten Bilder von blutverschmierten Schwingen auf. Sie erschauderte vor Grauen.
Eindringlich betrachtete der Mann ihr Gesicht, als würde er prüfen, ob sie nicht doch die Person war, die er jagte. Er wischte mit seinem Zeigefinger über ihre Wange und betrachtete das Schwarz ihres Kajals, der offenbar erneut verlaufen war.
Warum fühlte sich diese Berührung nur so gut an? Shades Herz pochte so heftig, dass ihr schwindelig wurde, aber sie riss sich zusammen und straffte ihre Schultern, um mutiger aufzutreten, als sie war.
Behutsam strich er mit seinem Daumen über den Gecko auf ihrer Stirn und zog ihr die Mütze ab. »Du hast kurze Haare wie ein Mann.«
»Und du lange Haare wie eine Frau.«
»Ich bin ein Eisengel«, erwiderte er, als handelte es sich um ein drittes Geschlecht. Vielleicht war es das sogar.
Sie ließ ihren Blick an ihm hinabgleiten. »Für mich siehst du aus wie ein Kerl.« Und zwar wie einer, dem alle Frauen der Welt zu Füßen gelegen hätten, wenn er nur nicht so grimmig dreingeschaut hätte.
Erneut schaltete sich ihr Kopfkino ein, ohne dass sie es verhindern konnte. Sie fragte sich, was geschähe, wenn sein Schaft sich aufrichtete, weil er sie ebenso attraktiv fand wie sie ihn. Würde er diesen seltsamen Lendenschurz anheben oder durch die Schneeflocken hindurchstoßen und seine kecke Spitze sich ihr entgegenrecken?
Als hätte er ihre frivolen Gedanken erraten, funkelten die Augen des Fremden lüstern. Shade gab einen erstaunten Laut von sich, denn seine Iriden veränderten sich daraufhin. Sie wechselten von einem sehr hellen Blau in ein Kaleidoskop von Farben. Wie Licht, das sich in einem Eiskristall bricht. Doch schon im nächsten Moment wurde der Regenbogen immer dunkler, bis seine Augen schließlich das dunkle Blau eines tiefen kalten Bergsees annahmen.
Shades Furcht gewann die Übermacht, denn sie spürte den Sog des Wassers, so irrsinnig es ihr selbst erschien. Der Wunsch, sich hineinzustürzen, wurde immer drängender, obwohl ihr bewusst war, dass das ihren sicheren Tod bedeutet hätte.
Mühsam riss sie sich los und taumelte den Hang hinab. Doch der Eisengel flog einfach über sie hinweg und landete vor ihr, sodass sie jäh anhalten musste, um nicht mit ihm zusammenzuprallen.
Sie wich nach rechts aus und lief auf derselben Höhe weiter, um nach ein paar Metern erneut zu versuchen, hinabzusteigen, denn sie musste zu ihrem Geländewagen gelangen. Eine andere Chance, dem Unbekannten zu entkommen, sah sie nicht, wenn sie nicht zufällig einem Ranger oder Touristen begegnete. Darauf durfte sie sich nicht verlassen.
Bei jedem Schritt knackte es unter ihren Stiefelsohlen. Die oberste Schicht der Schneedecke gefror, dabei war es gar nicht klirrend kalt. Als der Engel ihr ein zweites Mal den Weg versperrte, rutschte sie aus und fiel schmerzhaft auf ihr Gesäß.
Doch sie rappelte sich ebenso schnell wieder auf und stürmte den Hang hinab. Merkwürdigerweise war der Schnee hier bereits angetaut. Das Laufen glich einer Rutschpartie. Sie ruderte mit ihren Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Plötzlich geriet sie ins Schlittern und konnte sich gerade noch an einem Baum festhalten.
Shade fluchte laut, war allerdings froh, erst einmal Halt zu haben. Sie kam jedoch nicht dazu, durchzuatmen, denn der Eisengel stand längst, an den Stamm gelehnt, neben ihr, roch provokant an ihrer Mütze, die er immer noch in der Hand hielt, und schmunzelte überlegen.
»Na warte!«, dachte Shade keuchend. Gereizt bückte sie sich, hob eine Handvoll Schnee auf und warf sie ihm ins Gesicht. Sie war clever genug, nicht auf seine Reaktion zu warten, sondern setzte ihren Weg ins Tal fort.
Weit kam sie nicht, denn ihre Beine versanken bis zu den Knien im weißen Bodenbelag. Stöhnend stapfte sie voran, als auch schon der Wind wieder einsetzte, doch diesmal wehte er nicht vom Berg herab, sondern kam aus dem Tal.
Das alles ging nicht mit rechten Dingen zu. Inzwischen fielen die Flocken wieder dicht vom Himmel, sodass Shade ständig blinzeln musste. Sie merkte erst, dass der Fremde direkt vor ihr stand, als sie mit ihm zusammenstieß. Ihre Handflächen lagen auf seinem muskulösen Brustkorb. Er hielt sie an den Armen fest und sah ihr tief in die Augen.
Für einen Moment stand die Welt still. Von einer Sekunde auf die andere hörte es auf, zu stürmen und zu schneien. Nicht eine einzige Schneeflocke fiel mehr herab. Der Eisengel musste diesen absonderlichen Winter kontrollieren. Wie das funktionierte, übertraf Shades Vorstellungskraft.
Seine Iriden schimmerten wieder in Regenbogenfarben. Wie gebannt beobachtete Shade das farbige Funkeln, sie konnte gar nicht anders, und krallte ihre Finger in den Oberkörper des Fremden, bis sie spürte, dass sich die Muskeln unter seiner Haut anspannten. Erst da ließ sie lockerer.
War dieses faszinierende Schillern wirklich ein Zeichen seines Begehrens? Oder fungierte dieses Phänomen nicht vielmehr als Köder, der sie ins Verderben stürzen würde? Immerhin wusste sie, was auf das Leuchten folgte: Finsternis.
Bevor seine Augen das Schwarzblau annahmen, vor dem sie sich fürchtete, riss sie sich von ihm los oder versuchte es zumindest. Sein Griff war jedoch zu fest. Sie kam nicht von ihm frei – egal, wie stark sie sich gegen ihn wehrte.
Plötzlich trat hinter dem Engel ein Mann mit grauem Haar und tiefen Falten im Gesicht aus dem Unterholz hervor. Der Lauf seines Gewehrs zielte genau auf Shade.
Drittes Kapitel
Kein Leben ohne Liebe
»Lass sie los, Roque!«, befahl der Alte. Merkwürdigerweise lächelte er dabei, als würde er seinen Sohn rügen, aber nicht ernsthaft böse auf ihn sein.
Erst durch seine Worte begriff Shade, dass das Gewehr gar nicht auf sie, sondern auf den Eisengel gerichtet war. Wie hatte er ihn genannt? Roque. Woher kannte er den Namen des Wesens?
Zuerst verstärkte sich Roques Griff, als wollte er nicht freiwillig hergeben, was seins war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er den Greis eine Weile an. Dabei zogen scheinbar fluoreszierende Nebel über seine dunklen Pupillen, die Shade an Polarlichter erinnerten. Überlegte der Engel, ob er seinem Gegner schneller die Flinte aus den Händen schlagen, als dieser auf ihn schießen konnte? Vermochte eine gewöhnliche Gewehrkugel ihm überhaupt zu schaden?
Erneut versuchte Shade, sich loszumachen, diesmal jedoch vorsichtiger, damit die Situation nicht wegen ihr kippte. Roque schaute sie eindringlich an. Sein Blick – finster, wie er war – ging ihr durch und durch. Obwohl Roque ihr Angst einjagte, fand sie ihn noch immer ausgesprochen anziehend. Faszinierend. Magisch.
Oh, mein Gott, dachte sie, vor ihr stand ein Mann mit Flügeln. Ein wahrhaftiger Engel? Sie konnte es immer noch nicht fassen! Aber Roque war nicht so rein, so ätherisch und strahlend, wie seine Erscheinung auf den ersten Blick durch seine Alabasterhaut und seine silbrig schimmernden schneeweißen Haare wirkte. Wie der Wolf im Schafspelz. Seine Seele war dunkel, Shade hatte es in seinen Augen gesehen.
»Roque, bitte!«, sagte der Alte nun schon etwas mahnender.
Endlich gab der geflügelte Mann sie frei. Für einen Moment spürte Shade eine Enttäuschung, die sie überraschte. Als sie ihre Hände von seinem Brustkorb nahm, stieß sie versehentlich an seine rechte Brustwarze, worauf seine Iriden wieder bunt flimmerten. Hitze stieg ihr ins Gesicht.
Sie ging vorsichtig rückwärts, bemüht, keine abrupten Bewegungen zu machen, verwirrt darüber, dass der Eisengel sich sofort geschlagen gab. In welcher Beziehung stand er zu dem Alten? Da dieser ihn beim Namen genannt hatte, mussten sie sich kennen.
Roque lief fort von ihnen, breitete seine Schwingen aus und hob ab. Mit offenem Mund schaute Shade ihm hinterher, wie er immer höher aufstieg und schließlich über den Wipfeln der Bäume davonflog. Sie neigte ihren Kopf zur Seite, um einen Blick auf seinen Lendenschurz zu erhaschen. Er musste beim Fliegen herabhängen, genauso wie das, was er darunter verbarg. Aber die Antwort auf die Frage, ob Roque zwischen seinen Schenkeln genauso gut gebaut war wie sein restlicher Körper, blieb ihr verwehrt.
Am liebsten hätte sie sich in den Schnee fallen gelassen und ihre heißen Wangen mit der weißen Masse eingeseift, um zum einen ihr in Wallung geratenes Blut abzukühlen und zum anderen wieder klar denken zu können. Aber genau hier lag das Problem: Sie war bei vollem Verstand! Weder träumte sie, noch hatte sie Halluzinationen. Roque war so echt wie der Winter, der viel zu früh auf dem Mount Jackson ausgebrochen war. Es hätte ihn nicht geben sollen, aber er war nun einmal da, ebenso wie der mysteriöse geflügelte Krieger.
»Kommen Sie, Kindchen, ich habe noch Bourbon bei mir zu Hause. Ab und zu verfeinere ich damit meinen Tee oder meinen Kaffee.« Der alte Mann sicherte sein Gewehr und hängte den Riemen über seine Schulter. »Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Hochprozentiges gebrauchen.«
Er wartete nicht auf sie, sondern ging zügig den Hang hinab. Shade schätzte ihn auf Anfang siebzig, aber er schaffte den Abstieg so behände, als wäre er erst fünfzig, was nicht nur an seinen Schneeschuhen lag.
Sie beeilte sich, ihm zu folgen, da sie unbedingt mehr über Roque erfahren musste. Die Kamera um ihren Hals schwang bei jedem ihrer Schritte hin und her. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie zu langsam reagiert und keine Fotos von dem Eisengel geschossen hatte, als dieser weggeflogen war. Imposant wie der Weißkopfseeadler mit seinen riesigen Schwingen, den Shade als Kind mit ihrem Vater am Bridgeport Reservoir eine ganze Stunde lang durch ein Fernglas beobachtet hatte.
»Hören Sie das auch?« Shade blieb stehen und lauschte.
»Fürchten Sie sich nicht vor dem Wolfsgeheul!« Während der alte Mann dank seiner Spezialschuhe leichtfüßig über die Schneedecke schwebte, hielt er sich mit einer Hand am Gewehrriemen fest, die andere schwang vor und zurück, wohl um den Schwung auszunutzen und schneller voranzukommen. Es machte den Eindruck, als tänzelte er über den Belag. »Die Tiere verständigen sich damit nur und stärken das Gruppengefühl im Rudel.«
Sie lief ihm hinterher. »Ich habe keine Angst.«
»Normalerweise wollen Touristen in ihr Hotel zurück, wenn sie die Wölfe hören, dabei ist das in meinen Ohren die schönste Musik.«
»Ich bin in Bridgeport aufgewachsen«, stellte Shade klar und zog im Gehen ihre Handschuhe an, weil ihre Finger kalt wurden. Bisher hatte das Adrenalin sie warmgehalten. Nun, da Roque weg war, kühlte die Glut in ihr ab. Oder beobachtete er sie etwa aus dem Verborgenen heraus? Sie erschauderte. Zu ihrer eigenen Überraschung war dieser Schauer jedoch angenehm und vielmehr wie Fingerspitzen, die sanft über ihren Rücken streichelten.
Über seine Schulter hinweg lächelte der alte Mann sie kurz an. »Sie sehen aus wie eine Städterin.«
»Ich zog mit meinen Eltern nach L.A., als ich zehn war.« Wie zur Bestätigung seiner Worte strich Shade über ihr Augenbrauenpiercing und wuschelte durch ihre Haare, damit sie nicht am Kopf klebten. Wenn man im Mono County ein Tattoo oder ein Piercing haben wollte, musste man vermutlich bis nach Reno hoch fahren. »Mist!«
»Haben Sie etwas verloren?«, fragte er, verringerte jedoch seine Geschwindigkeit nicht.
Langsam machte es für Shade den Anschein, dass er vor etwas floh. Etwa vor Roque? Ahnte er, dass der Eisengel sich nicht so einfach seine Beute abjagen ließ? »Meine Mütze, er hat sie noch.«
Der Alte lächelte milde, als wollte er damit ausdrücken, dass Shade sie abschreiben konnte.
Resigniert zuckte sie mit den Achseln. Sie mochte ohnehin keine Kopfbedeckungen, da sie ihre kunstvoll windzerzauste Frisur ruinierten. »Glauben Sie, er hat etwas mit dem Geheul der Wölfe zu tun?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Er lässt Mensch und Tier in Ruhe, wenn man ihn in Ruhe lässt.«
»Heißt das, ich habe schlichtweg Pech gehabt«, sie japste nach Luft, weil das Stapfen durch den Schnee auf Dauer in diesem Tempo anstrengend war, »weil ich ihm zufällig über den Weg gelaufen bin?«
Plötzlich lichteten sich die Tannen, und Shade sah keine zwanzig Meter von ihnen entfernt eine kleine Hütte. Das Holzhaus stand auf einer Lichtung und wurde an drei Seiten von Bäumen, die noch voll leuchtend buntem Herbstlaub hingen, geschützt. An die linke Seite schmiegte sich ein Carport, in dem ein Schneemobil parkte. Gleich neben dem Scooter war Feuerholz ordentlich aufgestapelt. Der Vorplatz sah aus, als hätte jemand Puderzucker verstreut. Der Schnee wirkte hier viel feiner und lag nur knöchelhoch. Zahlreiche Spuren waren zu erkennen, nicht nur von dem alten Mann, sondern auch von unterschiedlichen Tieren. Erdnüsse lagen neben einem Holzblock, in dem eine Axt steckte.
Der Alte folgte Shades Blick und erklärte: »Ein Eichkätzchen kommt mich täglich besuchen. Ich nenne es Pompom – Puschel. Nicht sehr einfallsreich, ich weiß, aber es hört auf seinen Namen.«
Schmunzelnd ging Shade an der Kate vorbei an den Rand des Plateaus, auf dem die Lichtung lag. Von hier oben aus hatte man einen Ausblick auf das gesamte Bridgeport Reservoir. Die Hütte lag abgeschieden und dennoch nicht einsam. Ein wunderschönes Fleckchen Erde.
»Atemberaubend!« Sie hätte nicht gedacht, dass sie das noch einmal über die Sierra Nevada sagen würde. Denn wenn sie an die Wälder, die sie in ihrer Kindheit fast täglich durchstreift hatte, zurückdachte, sah sie für gewöhnlich nur noch eine Felsspalte, die so tief war, dass man den Grund nicht erkennen konnte. Manchmal träumte sie noch immer von ihr, selbst nach all den Jahren. Dann füllte sich diese Spalte mit Blut. Es stieg immer höher, bis es über den Rand trat und über Shades pinkfarbene Riemchensandalen lief, als wollte die rote zähe Flüssigkeit sie als Sünderin markieren oder greifen und mit hinabreißen.
»Was machen Sie hier auf dem Berg?«, fragte ihr Begleiter.
Sie schreckte aus ihrer Erinnerung auf. »Ich bin Meteorologin und möchte herausfinden, warum es über dem Mount Jackson – und nur hier – so früh im Jahr schneit.«
»Das kann ich Ihnen sagen.« Er zog seine Schneeschuhe aus, klopfte sie ab und stellte sie unter den Carport. Bei den Bärentatzen handelte es sich keineswegs um moderne Modelle aus Aluminium oder Kunststoff, sondern sie waren aus Holz gefertigt und mit Leder bespannt worden – und das vor einer augenscheinlich sehr langen Zeit. Er dämpfte seine Stimme, nicht etwa verschwörerisch oder ängstlich, sondern vielmehr ehrfürchtig, so erschien es Shade. »Mit Roque kam auch der Schnee.«
Ihr Herz pochte schneller – nicht allein, weil sie aufgeregt war, dem Geheimnis um den Winter ein Stück näher zu kommen, sondern auch, da sie mehr über diesen mysteriösen Mann, der ihr ebenso so anziehend wie tödlich vorkam, herausfinden wollte. »Wie meinen Sie das?«
»Ich bin der Ältere von uns beiden, wenn auch nur unwesentlich.« Er zwinkerte und lockerte den grau-beige gestreiften Schal um seinen Hals. »Sind Sie einverstanden, wenn wir uns duzen?«
»Gern.« Sie ging zu ihm, darum bemüht, dass er nicht merkte, wie sie immer wieder kurz in die Baumwipfel spähte, denn sie wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, und schüttelte ihm die Hand. »Ich heiße Shade Mallory.«
»Man nennt mich Art.« Er öffnete die Tür, sie war nicht verschlossen, und ließ Shade den Vortritt. »Arthur Ehrman. Willkommen in meinem bescheidenen Heim! Tritt ein. Drinnen ist es warm. Der Kamin muss ständig brennen, sonst kühlt es zu schnell aus.«
Tatsächlich war es in der Hütte so heiß, dass Shade als Erstes ihre Skijacke ablegte. Schal, Handschuhe und Kamera legte sie auf den Tisch, der rechts neben dem Eingang stand. Das Holzhaus bestand nur aus einem einzigen Raum. Hinter dem Tisch schmiegten sich ein Gasherd und ein Regal mit Tellern, Tassen, Besteck und Kochutensilien an die Wand. Ein dunkelblaues Wollkleid mit einem rosenbestickten Tuch hing auf einem Kleiderbügel an dem Kleiderschrank gegenüber. Lebte er mit einer Frau hier? Das Bett – ein Einzelbett – daneben war genauso ordentlich hergerichtet wie der Rest der Einrichtung. Aber Shade ahnte, dass nicht Arthurs Ordnungsliebe der Grund war, sondern dass er schlichtweg wenig besaß, das hätte herumliegen oder stehen können. Eine weibliche Note wie Blumen, Deckchen oder Figuren erkannte sie nicht.
»Schau nicht so schockiert! Ich liebe mein Häuschen. Kein Schloss könnte schöner für mich sein. Ich fühle mich hier so wohl wie nirgendwo anders.« Er stellte sein Gewehr neben den Eingang und ging zur Küchenzeile. Dort goss er Wasser von einem Eimer, der neben dem Herd stand, in einen Kessel, entflammte ein Kochfeld und setzte den Topf darauf. Erst dann hängte er seinen grau-braun karierten Lodenmantel in den Schrank, schob seinen Schal in einen der Ärmel und drehte sich weg, um seinen Hosenstall zu schließen. Als er zwei Tassen auf den Tisch stellte, hatten seine Wangen sich gerötet.
»Ich stelle es mir nicht einfach vor, hier zu leben.«
»Du meinst ohne Strom- und Wasseranschluss.« Er griff zwischen Bett und Kleiderschrank und holte eine Whiskeyflasche hervor, aus der er einen Schuss in jeden Becher gab. Seine Bluejeans waren verwaschen und an den Knien abgewetzt, aber sauber. Seine Lederstiefel allerdings würden diesen Winter nicht überleben, befürchtete Shade. »Mein Urgroßvater hat diese Hütte gebaut. Als er alt wurde und seine Frau starb, zog er sich hierhin zurück, weil für ihn ein Leben ohne die Liebe keinen Sinn mehr besaß.«
Shade fiel auf, dass keine Fotos herumstanden. »Wie traurig!«
»Keineswegs.« Er nahm eine Packung mit schwarzem Tee aus dem Regal und hängte je einen Beutel in die Tassen. »Die Familie hat ihn so oft besucht, wie es ihr möglich war. Angeblich fanden hier lustige Picknicks und Barbecues statt, und er soll sogar gesagt haben, sie sollten ihn mal in Ruhe lassen, sonst würde er noch beim Feiern sterben, und wie sähe das denn aus.«
Als das Wasser kochte, stellte er den Herd ab und goss die brodelnde Flüssigkeit in die Tassen. »Mein Großvater tat es ihm gleich, weil er so gute Erinnerungen an den Lebensabend seines Dads gehabt hatte. Es wurde zur Tradition, dass die Alten auf den Mount Jackson zogen, wenn ihre Ehepartner dahingeschieden waren. Merkwürdigerweise gingen die Frauen in der Familie immer früher, aber das lag nicht an ihren Männern. Ich verbürge mich für meine Vorväter.« Er lachte schallend. »Die frische Luft und die Nähe zur Natur haben uns über den Schmerz des Verlustes hinweggeholfen. Wir Ehrmans brauchen den Wald, das einfache Leben und die Stille.«
Shade nahm Platz. »Aber ist es nicht zuweilen einsam hier oben?«
Arthur warf einen wehmütigen Blick auf das Kleid. »Die Ehrmans sind alle hoffnungslose Romantiker. Wir verlieben uns nur ein Mal im Leben. Joan bekam schon mit zweiundsechzig Jahren Demenz. Sie lief mir immer wieder weg, weil sie zu ihrem Ehemann wollte. Mich erkannte sie oft nicht und dachte, ich wäre ein Fremder, der sie gefangen hielt. Das brach mir fast das Herz, aber was dann geschah, riss es auf ewig aus meinem Brustkorb heraus.«
Er trank direkt aus der Flasche, schraubte sie umständlich zu und setzte sich neben Shade. Verlegen lächelnd schob er den Bourbon von sich weg. »Einmal habe ich zu spät bemerkt, dass das Fenster im Erdgeschoss offen stand, sie musste hinausgeklettert sein. Ich fand Joan am Straßenrand. Blutüberströmt. Sie atmete nicht mehr. Jemand muss sie angefahren haben und geflüchtet sein. Ich wollte mich neben sie legen und sterben, aber so funktioniert es nun mal nicht.«
Shade wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Kloß in ihrem Hals war so dick, dass sie kaum schlucken konnte. Sie selbst war schon mehrmals verliebt gewesen, aber noch nie hatte sie so tief für jemanden empfunden, wie Art für Joan empfunden haben musste. Warum sie in diesem Moment ausgerechnet an Roque denken musste, wusste sie nicht. Er war kein Mann zum Verlieben, vermutlich nicht einmal ein Mann.
Dann fiel ihr ein, wieso er sich in ihre Gedanken schlich. Keiner hatte sie seit Langem so fasziniert wie er. Allein bei dem Gedanken an ihn beschleunigte sich ihr Puls. Er sah umwerfend aus, wie ein griechischer Gott, und selbst das Dunkle an ihm reizte sie. Sie wünschte sich, ihn noch einmal zu spüren, aber dieser Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen, und das war wahrscheinlich besser so. Innerlich seufzte sie enttäuscht.