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In Dresden treibt ein Serienmörder mit höchst eigenwilligen Vorlieben sein Unwesen. Eine klare Aufgabe für die attraktive Fallanalytikerin Dr. Gloria Siegel. Allerdings verweigert ihr die Bürokratie ein erfahrenes Analyseteam, worauf die gewiefte Profilerin ein ungewöhnliches Projekt ins Leben ruft, ein Jugendprojekt für Studenten und frisch ausgebildete Kommissare.Wie werden sich die vier Neulinge in ihrem ersten Fall schlagen? Sollen sie die Hilfe des geheimnisvollen Alexander Buschbeck annehmen, der wie ein Hellseher ins Herz des Mörders blicken kann? Wie ist dieser Mann wirklich mit dem Täter verbunden? Ist er vielleicht selbst der Mörder?
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Seitenzahl: 325
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HYBRID VERLAG
Ebookausgabe
06/2019
© by Symone Hengy
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © by Hygin Graphix
Lektorat: Diana Spitzer
Korrektorat: Nola Reiber
Satz: Sylvia Kaml
Autorenfoto: Lämmle, Foto Nova
Coverbild ›Extrem‹ und ›Kantschu‹
© by Hygin Graphix
ISBN 978-3-946-82079-6
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
Symone Hengy
Ekstase
- Tödlicher Rausch -
Kriminalroman
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Original Dresdener Eierschecke
DIE AUTORIN
Weitere Bücher der Autorin
Für Michael
In Liebe
Vor fünfzehn Jahren
Der Abend war ungemütlich kalt.
Nieselregen benetzte die Pflastersteine der Straße am Güterbahnhof und machte das Gehen zu einer rutschigen Angelegenheit. Obwohl der harte Winter sein Zepter längst aus der Hand gegeben hatte, wollten bei diesen Temperaturen nicht so recht Frühlingsgefühle aufkommen.
Wohl dem, der an so einem Abend nicht hinausmuss.
Die Bahnhofstraße führte unmittelbar an den Gleisen entlang und wurde auf der gegenüberliegenden Seite von einer annähernd zehn Meter hohen Mauer begrenzt. Seit Fertigstellung der Umgehungsstraße zwei Kilometer westlich von hier war sie für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Vorstehende Mauerbögen bildeten kleine Nischen, die in früherer Zeit für die Lagerung von Baumaterialien für den Gleisbau gedient hatten. Heute waren sie begehrte Wetterschutzplätze für Obdachlose und an einem Abend wie diesem hart umkämpft.
Wohl dem, der an so einem Abend nicht gezwungen ist, auf der Straße zu leben.
Seine Schritte knallten wie Schüsse, und jeder Atemzug gefror augenblicklich zu einem weißen Fähnchen, das seine Nase und den Mund umwedelte.
Gleisbretter und Mauer waren rußgeschwärzt. Trotz des Dauerregens schien ein Schleier von Dreck in der Luft zu liegen. Er atmete wie durch einen Wattebausch.
Überall verwahrloste Gestalten, die sich wie Ameisen in den Nischen tummeln.
Die Misstrauischen blickten auf und warteten sprungbereit, bis die vermeintliche Gefahr vorüber war. Andere wirkten apathisch. Die überwiegende Mehrheit jedoch interessierte sich nicht für das, was um sie herum passierte. Eine Frau unbestimmten Alters sortierte ihre Habseligkeiten aus einem Einkaufskorb und ein alter Mann klebte die Sohlen seiner Stiefel. Einige hatten offensichtlich Spaß beim Kartenspiel und andere versuchten angestrengt, einen feuchten Müllhaufen zum Brennen zu bringen. Scheinbar hatten alle gelernt, die Welt um sich herum auszublenden, zu der sie nicht mehr gehörten. Warum sich für eine Gesellschaft interessieren, die jedes Jahr Milliarden für humanitäre Hilfen ins Ausland pumpte, sich aber für gescheiterte Existenzen im eigenen Land nur sporadisch engagierte?
Da vernahm er ein Streitgespräch:
»He, du kleiner Wichser!« Es war die rasselnde Stimme eines alten oder frühzeitig verbrauchten Mannes. »Verpiss dich gefälligst aus meiner Höhle, sonst mache ich dir Beine!«
»Warum so feindselig?«, fragte die Stimme eines Knaben. »Hier drin ist Platz für eine ganze Fußballmannschaft und du bist ganz allein. Ein Spargel wie ich braucht doch nur ein kleines Plätzchen.«
»Ich bin gern allein«, brüllte daraufhin der Ältere. »Such dir gefälligst ein anderes kleines Plätzchen für deinen Arsch.«
»Sei doch nicht so stur«, bettelte der Kleine. »Es ist saukalt und wir beide könnten viel Spaß miteinander haben. Wann hast du denn das letzte Mal einen wegstecken dürfen? Sieh mal …«
Es folgte eine Pause, in der nur das Rascheln von Kleidung zu hören war.
»Ekelhafte Schwuchtel«, grunzte der Alte, doch seine Stimme klang gierig. »Aber dein kleiner Arsch gefällt mir.«
In der Nische stand eine Blechtonne, aus der ein flackerndes Feuer wohlige Wärme verströmte. Daneben befand sich ein Haufen mit allerlei Brennbarem wie Holz, Kartons und Lumpen.
Der Junge, ein zartes, rotblondes Bürschchen von geschätzten achtzehn Jahren, ließ sich bereitwillig von hinten umfassen und den Gürtel öffnen. Dreckige Pfoten nestelten am Hosenbund und rissen die Jeans mit einem Ruck bis zu den Knien. Dann packte eine Hand in den rotblonden Schopf und drückte den schmalen Körper nach vorn über das Brennmaterial. Die Augen des Jungen blickten gequält, als er den ersten Stoß empfing.
Wohl dem, der sich für ein warmes Plätzchen nicht jedem hingeben muss.
Der gewaltige Schlag ins Gesicht traf den Alten völlig unvorbereitet. Mit einem fiesen Splittern ging er zu Boden. Womöglich waren einige Gesichtsknochen zu Bruch gegangen.
Der Junge taumelte zurück. In seinem Blick lag eine Mischung aus Überraschung, Freude, Dankbarkeit, Scham und Trauer, während er sich die Hosen hochzog. Mit seinen großen Händen und Füßen, die an viel zu dünnen Armen und Beinen hingen, erinnerte er rührend an einen jungen Dobermann.
Oberflächlich betrachtet war der Junge in einem bedauernswerten Zustand. Seine Kleidung war bis auf die Haut durchnässt, verschlissen und alles andere als der Witterung angepasst. Vermutlich hatte er sie seit letztem Herbst auf dem Leib.
Auch er selbst spürte noch die Spuren der dunklen Jahreszeit in seinen Gliedern. Aber als er das Lächeln des Jungen sah, ging in seinem Herzen die Sonne auf.
*
Im elegant eingerichteten Schlafzimmer brannte nur eine Nachttischlampe. Der frisch duftende junge Körper bäumte sich lustvoll vor ihm auf und steigerte seinen Genuss ins Unermessliche. Warm, sanft und fordernd zugleich kreiste der kleine muskulöse Po in seinem Schoß.
Oh, wie gut es sich anfühlte, diesen Jungen von hinten zu stoßen und gleichzeitig seine prachtvolle Männlichkeit zu massieren. Atemlose Lust hämmerte in den Lenden, vernebelte seinen Verstand und öffnete die Tore zu einer verbotenen Welt.
Als dunkelrotes Blut die Laken tränkte, erwachte er aus seiner Trance. Der Junge lag mit weit aufgerissenen Augen vor ihm - tot. Trotzdem spürte er weder Bedauern, noch fühlte er Schuld. Einzig Ernüchterung lag in seinen Eingeweiden. Und zur Ernüchterung kam Hunger.
Teilnahmslos schleppte er den leblosen Körper ins Badezimmer und zerlegte ihn in portionsgerechte Stücke. Zum Nachtmahl entschied er sich für ein Stück aus der Hüfte.
Gegenwart
Die Technische Universität Dresden gehörte zu den größten Universitäten Deutschlands. Gemessen an der Zahl der Studierenden war sie sogar die größte Technische Universität in der Bundesrepublik – und eine der besten.
An diesem Ort studierten über dreißigtausend überdurchschnittlich Begabte in den Fakultäten Mathematik und Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften, Ingenieurwissenschaften und Medizin. Zu einer der beliebtesten Studienrichtungen zählte die Psychologie. Sie gehörte zur Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften, und das vermutlich deshalb, weil sie den Menschen als ein berechenbares Objekt begriff. Aufgrund seines attraktiven, breit gefächerten und klar strukturierten Studienangebots bewarben sich jedes Jahr viermal so viele Abiturienten, wie Studienplätze zur Verfügung standen. Darüber hinaus boten eine hervorragende Forschungsinfrastruktur und international renommierte Arbeitsgruppen dem wissenschaftlichen Nachwuchs beste Startvoraussetzungen.
Alexander Buschbeck sah sich im Eingangsbereich des Andreas-Schubert-Baus um. 1960 als Gebäude für die Fakultät Kerntechnik gegründet, beherbergte es heute neben der Physik und Biologie auch Teile der Fachrichtung Psychologie.
Der Gebäudekomplex bestand aus einem sechsgeschossigen Hochbau, in dem sich das Institut befand, und einem niedrigeren Flachbau, wo der Hörsaal untergebracht war.
Alexander erinnerte sich an seine eigene Studienzeit. Diese lag inzwischen mehr als zehn Jahre zurück – fünfzehn Jahre, um genau zu sein. Damals hatte er nur ein einziges Ziel verfolgt, ein Ziel, das mit seinem heutigen Leben so viel zu tun hatte wie Senf mit Vanilleeis. Es war ein Ziel gewesen, das im Laufe von Jahren immer schärfere Konturen angenommen hatte, um sich schließlich von einem Tag auf den anderen in einem unheilvollen Nebel aufzulösen.
Die daraus resultierende Orientierungslosigkeit, verbunden mit quälendem Selbstzweifel und der Frage nach dem Sinn seines Lebens, hatte nur eine Konsequenz zugelassen: Rückzug.
Freiwillig hätte Alexander dieses Haus nie wieder betreten. Warum Wunden aufreißen, die beinahe verheilt waren? Warum einen Schmerz heraufbeschwören, der längst vergessen schien?
Doch die Welt um ihn herum scherte sich nicht um alte Verletzungen. In seiner Eigenschaft als Fahrer für den Kurierdienst Elbflorenz hatte er eine eilige Lieferung an den Mann zu bringen.
Das war sein Job, und dafür wurde er bezahlt.
Dass der Adressat aber ausgerechnet sein ehemaliger Professor, Johannes Simmering, sein sollte, verursachte bei ihm mehr als nur ein flaues Gefühl in der Magengrube. Nur zu gern hätte er diesen Auftrag einem seiner Kollegen überlassen, hatte aber auf die Schnelle niemanden vom Tausch der Routen überzeugen können.
Ein auffällig bunt gekleidetes Mädchen mit wilden blonden Haaren wirbelte durch das Foyer und zerhackte mit den spitzen Absätzen seiner pinkfarbenen Pumps die lähmende Stille. Es trug eine Collegemappe unter dem Arm, woraus Alexander folgerte, dass es sich um eine Studentin handelte. Ihr Erscheinungsbild war erfrischend fröhlich und so ganz anders als der Anblick einer typischen Studentin zu seiner Zeit, die sich absichtlich nachlässig kleidete, damit ihr Intellekt umso aufgeräumter wirken konnte. Er musste unwillkürlich lächeln. Als sie ihn bemerkte, blieb sie stehen und lächelte ungeniert zurück.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragte sie mit einem draufgängerischen Unterton in der Stimme.
Alexander zeigte auf das Päckchen in seinem Arm. »Ich habe eine persönliche Lieferung für Professor Simmering.«
»Für den Professor persönlich?« Die Studentin bemühte sich um einen ernsthaften Gesichtsausdruck. »So ein Pech aber auch. Der Professor ist erst in einer Woche wieder da.«
»Und wer vertritt ihn so lange?«
»Keine Ahnung.« Sie warf einen hektischen Blick auf ihre Uhr. »Verdammt …« Ihr schlanker Körper wirbelte herum. »Warum gehen Sie nicht ins Sekretariat im ersten Stock?«, rief sie über die Schulter zurück. »Dort hilft man Ihnen sicher gern weiter.« Im nächsten Moment war sie auch schon fort.
»Vielen Dank für …« Alexander verstummte, als sie nicht mehr zu sehen war. Hackende Schritte entfernten sich rasch, wurden leiser und verklangen schließlich ganz.
Auf seinem Weg in den ersten Stock studierte er die Informationstafel im Eingangsbereich. Eine Mitteilung stach ihm sofort ins Auge: Die beiden nächsten Vorlesungen von Professor Simmering über die Psychologie als Hilfswissenschaft bei der Aufklärung von besonders schweren Straftaten wurden von Doktor Gloria Siegel, einer polizeilichen Fallanalytikerin des Landeskriminalamtes Sachsen, übernommen. Dann folgten zwei Termine.
Alexander schaute auf die Uhr. Die erste Vorlesung sollte heute in weniger als einer Viertelstunde beginnen, und seine Tour war mit dieser Lieferung beendet.
Was sprach also dagegen, sich unter die Studenten zu mischen und dieser Frau zuzuhören? Zumal ihn das Thema schon immer interessierte. Gloria Siegel war nicht älter als 33 und hatte bereits erreicht, wovon andere ein Leben lang nur träumen können: Sie war ausgebildete polizeiliche Fallanalytikerin, auf Mediendeutsch Profilerin. Nach ihrem Psychologiestudium an der Uni Dresden hatte sie promoviert, war bereits zwei Jahre später zum Auswahlverfahren der Operativen Fallanalyse, kurz OFA, des Bundeskriminalamtes zugelassen worden und arbeitete seitdem sehr erfolgreich in diesem Beruf. Warum er das alles wusste? Er hatte ihren Werdegang mit Interesse verfolgt, nachdem er ganz zufällig in einem Artikel einer regionalen Tageszeitung erfahren hatte, dass sie von seinem ehemaligen Professor während ihrer Doktorarbeit betreut worden war.
Jetzt aber schnell. Er beeilte sich, ins Sekretariat zu kommen, wo man ihn jedoch wieder ins Foyer schickte. »Der Assistent des Professors ist noch unterwegs, wird aber jeden Moment zurückerwartet.«
Während Alexander auf den Assistenten wartete, näherte sich ein Durcheinander von Stimmen wie eine sich aufbäumende Welle dem Strand. Junge Männer und Frauen mit Collegemappen unterm Arm und Laptops vor der Brust drängten zügig an ihm vorbei in den angrenzenden Hörsaal. Dieser lebendige Fluss schenkte ihm genauso wenig Beachtung, wie es die Elbe getan hätte. Die Gespräche plätscherten dahin und ergaben für ihn als Außenstehenden keinerlei Sinn.
Ein bisschen abgeschlagen folgten zwei weitere Studenten. In dem Mädchen erkannte er sofort die kesse Studentin von vorhin wieder. Augenscheinlich hatte sie eine kleine Auseinandersetzung mit ihrem Kommilitonen.
»Das ist so ungerecht«, schimpfte der junge Mann. »Ich kann machen was ich will, der Prof gibt mir nie die volle Punktzahl.«
»Und deshalb machst du so ein Fass auf?«, lachte das Mädchen. »Deine Arbeit ist toll, Dominik, er hat dir immerhin ein Sehr gut gegeben.«
»Aber nicht die volle Punktzahl.«
»Und was spielt das für eine Rolle?«
»Eine große«, erwiderte Dominik.
»Für wen?«
»Für mich, Charlotte.«
»Und warum?«
»Weil du die volle Punktzahl bekommen hast.«
Charlotte blieb stehen. »Daher weht der Wind also«, sagte sie kühl. »Du missgönnst mir meinen Erfolg.«
»Nein. Ich möchte deine Arbeit nur mal sehen.«
»Vergiss es.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen, aber Dominik hielt sie sanft am Arm fest.
»Bitte«, sagte er weich. »Was spricht denn dagegen, unsere Arbeiten zu vergleichen?«
»Wozu?«, fragte Charlotte. »Willst du dich mit dem Prof anlegen?«
»Natürlich nicht. Ich brauche nur eine Bestätigung für mein angekratztes Ego.«
»Was denn für eine Bestätigung?«
»Dass deine Arbeit nicht besser ist, sondern nur wieder einmal besser bewertet wurde.«
Charlotte schnappte nach Luft.
»Mit anderen Worten: Du willst nach Schwachstellen in meiner Arbeit suchen«, sagte sie und schleuderte angewidert seine Hand von ihrem Arm.
»Was ist daran auszusetzen?«
»Alles«, sagte sie und ließ ihn stehen.
»Sei nicht albern, Charly«, rief Dominik hinter ihr her und setzte sich ebenfalls in Bewegung. »Jeder halbwegs gebildete Deutsche weiß doch, dass Frauen immer einen Bonus bekommen. Bei gleicher Eignung werden sie bevorzugt. Das heißt im Klartext: Bei gleicher Leistung schneiden Frauen besser ab.«
Charlotte antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung und wollte weitergehen. Aber als sie Alexander erblickte, blieb sie stehen.
»Sie sind ja immer noch hier«, sagte sie überrascht. Alexander antwortete mit einem bedauernden Lächeln. »Es kommt sicher gleich jemand«, rief sie aufmunternd.
»Ich hoffe es«, antwortete Alexander und erwiderte ihr Lächeln.
»Charly«, bettelte Dominik, als er wieder aufgeschlossen hatte.
»Nix Charly«, entgegnete Charlotte kalt. »Was du hier abziehst, ist eine ganz miese Nummer. Anstatt bei dir selbst nach den Fehlern zu suchen, diskreditierst du die Leistung von Frauen.«
»Das ist doch nicht wahr …«
»Und ob. Aber denk mal an unsere Grundschulzeit zurück. Wer hatte die besseren Noten? Es waren die Mädchen.«
»Weil die Jungen permanent gehemmt waren. Es gab nur weibliche Lehrkräfte, kein Wunder, dass sie da unter hormonellem Stress standen.«
»Dass ich nicht lache«, rief Charlotte. »Und beim Abi? Waren da auch die Hormone Schuld?«
»Ich habe mein Abitur mit einer glatten Eins abgeschlossen.«
»Du ja, aber der Durchschnitt gibt uns Mädchen recht.«
»So ein Schwachsinn.«
»Kein Schwachsinn«, entgegnete Charlotte und blieb vor der Damentoilette stehen. »Mädchen sind fleißiger und wissen deshalb einfach mehr.«
»Sie wissen nicht mehr, sie wissen nur immer alles besser.«
»Und warum beenden dann viel mehr Frauen als Männer ein Studium?«
»Und warum sitzen in den Chefetagen mehr Männer als Frauen?«
Charlotte suchte vergeblich nach einer passenden Erwiderung und funkelte ihn böse an. »Na, dann sind wir uns wenigstens in dem Punkt einig, dass es die Männer sind, die unsere Wirtschaft regelmäßig in die Scheiße reiten. Und nun entschuldige mich.«
Sie zeigte auf das Schild der Damentoilette.
»Ich muss mal für kleine Besserwisser.«
Dominik blieb allein zurück. Auf seinem Gesicht lag ein hochzufriedenes Lächeln, als er den anderen Studenten in Hörsaal E28 folgte.
Alexander schaute wieder auf seine Uhr. Bis zum Beginn der Vorlesung von Doktor Gloria Siegel blieben nur noch wenige Minuten. Hoffentlich würde der Assistent kommen, bevor die Türen geschlossen wurden.
Just in diesem Augenblick trat ein junger Mann zu ihm.
Vor den Fenstern des Hörsaals lächelte der Frühling. Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel und kitzelte den Duft aus den Blüten des Flieders, der in Büschen vor den Fenstern wucherte.
Doktor Gloria Siegel betrat in einem perfekt geschnittenen Kostüm und mit hochgesteckten Haaren den Hörsaal und legte ihre Aufzeichnungen auf das Pult vor sich. Erst dann hob sie den Kopf und blickte in die erwartungsvollen Gesichter. Sie wirkte gelassen, aber die Lippen waren blass und das Blau der Augen in ihrem schmalen Gesicht flackerte etwas unruhig wie eine aufgewühlte Wasserfläche. Wer sie näher kannte, hätte ihr angesehen, dass sie sich in diesem Moment nicht besonders souverän fühlte. Schließlich war es das erste Mal, dass sie vor mehr als zweihundert Studenten eine Vorlesung halten würde. Aber zum Glück kannte sie hier keiner näher. Alle sahen nur, was Doktor Siegel bereitwillig vorzeigte, nämlich die antrainierte Coolness einer Frau, die gelernt hatte, mit schwierigen Situationen umzugehen und sich durchzusetzen.
»Mein Name ist Gloria Siegel«, begann sie mit auffallend klangvoller Stimme, die mühelos den Saal füllte. »Ich bin polizeiliche Fallanalytikerin beim Landeskriminalamt und werde Professor Simmering für die nächsten zwei Vorlesungen vertreten.«
»Von einer so schönen Frau darf sich unser Prof ruhig öfter vertreten lassen«, meldete sich ein Student aus der Mitte des Saals. Er erntete dafür zustimmendes Gelächter von seinen männlichen Kommilitonen und setzte nach: »Ganz im Ernst: Oftmals sind Frauen entweder schön oder intelligent. Sie sind beides, das ist selten.«
Inzwischen hatte Gloria den Zwischenrufer in der Menge ausgemacht und lächelte milde. »Vielen Dank. Und wie heißen Sie?«
Der junge Mann stand auf und schloss den mittleren Knopf seines Jacketts. »Dominik Bach«, stellte er sich mit einem angedeuteten Kratzfuß vor.
»Sieh an, ein Gentleman«, sagte Gloria mit einem winzigen Spritzer Ironie in der Stimme. Während sie sprach, verließ sie ihren Platz hinter dem Pult und trat näher an die Sitzreihen heran. Sie verschränkte ihre schlanken Arme über der Brust und musterte den vorlauten Zuhörer eine Weile. »Wollen Sie wissen, was wirklich selten ist, Herr Bach?«
Im Saal herrschte gespannte Stille.
Schließlich räusperte Dominik sich verlegen und nickte.
»Klar doch.«
»Junge Männer wie Sie«, sagte Gloria gedämpft. »Junge Männer, die äußerlich blitzsauber und modisch durchgestylt sind, im Inneren aber den Staub von Jahrhunderten mit sich herumtragen. Gentlemen, die ein aufgeräumtes Verhältnis zu Frauen zur Schau stellen, in Wahrheit aber geistigen Müll und verbalen Unrat vergangener Generationen sammeln. Wie nennt man umgangssprachlich Menschen, die Müll sammeln, Herr Bach?«
Wieder kam zustimmendes Gelächter, diesmal allerdings vorwiegend von der weiblichen Zuhörerschaft.
Dominik wirkte gekränkt. Und während er sich linkisch hinsetzte, fuhr Gloria für die Allgemeinheit fort: »Wussten Sie, dass es eine schöne Engländerin mit Namen Augusta Ada Lovelace war, die 1843 den ersten Computer entwickelte? Zu dieser Zeit war noch nicht einmal der Großvater unseres Computergottes geboren. Den ersten wirklich funktionierenden Scheibenwischer erfand 1903 die attraktive Amerikanerin Mary Anderson. Und die wohlgeformte Dresdener Hausfrau Melitta Bentz hatte 1908 die geniale Idee, den Kaffeesatz mit einem Papierfilter aufzufangen.«
Die Studenten redeten nun alle durcheinander.
Gloria ging mit festen Schritten an ihr Pult zurück.
»Schönheit und Intelligenz schließen sich also keineswegs aus«, sagte sie und einige Studenten nickten beipflichtend. Sie straffte ihre Haltung und sah ernst in die Runde. »Aber das ist heute nicht unser Thema. Ich wurde eingeladen, um Ihnen etwas über meine Arbeit als Fallanalytikerin zu erzählen. Falls Sie jedoch größeres Interesse an den Verdiensten von Frauen in unserer Gesellschaft haben, dann …«
»Nicht nötig«, unterbrach sie eine heisere Stimme aus der rechten Flanke. »Wir sind nicht alle so zurückgebliebene Holzköpfe wie Herr Bach.«
Mit klopfendem Beifall signalisierte das gesamte Auditorium Einigkeit mit dem Sprecher.
»Da bin ich ja beruhigt«, erwiderte Gloria mit gespielter Erleichterung. »Noch etwas, bevor ich beginne: Wenn Sie Fragen haben, dann munter von der Leber weg.«
In diesem Augenblick fiel in einer der hinteren Reihen etwas Schweres zu Boden.
Verärgerte Gesichter schnellten herum. Mit genervten Zischlauten ließ man den Störenfried wissen, dass man nun keine Zeit mehr verlieren wollte.
Gloria honorierte diese Bemühungen mit der Andeutung eines Kopfnickens. Sie gab sich nun sehr konzentriert. »Bei der Aufklärung besonders schwerer Straftaten spielt die Psychologie eine immer größere Rolle«, begann sie. »Sobald ein Verbrechen stark psychisch motivierte Komponenten besitzt, ist davon auszugehen, dass der Täter eine krankhafte Veranlagung oder ein gestörtes Sozialverhalten hat …«
Die ersten Worte kamen noch relativ stockend über ihre Lippen, aber schon nach wenigen Sätzen bewegte sich Gloria vor dem Auditorium in beinahe traumwandlerischer Sicherheit.
»Ein Diebstahl zum Beispiel ist eine verhältnismäßig klare Angelegenheit. Ein solches Verbrechen wird in der Regel aus Habgier begangen. Aber warum verstümmelt ein Mensch einen anderen? Warum isst er Körperteile seiner Opfer auf?«
Sie hielt inne, bis sie sicher war, der Fantasie ihrer Zuhörer genug Raum für die entsprechenden Bilder gegeben zu haben.
»So ein krankhaft veranlagter Täter«, fuhr sie fort, »bezweckt meistens nichts anderes, als Menschen auf ebenso krankhafte Weise zu zermürben oder gar zu töten. Oftmals kennen sich Täter und Opfer nicht einmal. Wo soll die Polizei in so einem Fall ansetzen? Wie dem Täter auf die Schliche kommen, wenn vollkommen unklar ist, wie er sich seine Opfer ausgesucht hat?«
Das Wort Profiling geisterte im Flüsterton durch die Reihen, Gloria konnte die Anspannung förmlich spüren. Zwar war sie davon ausgegangen, auf interessierte Zuhörer zu treffen, dass mehr als einhundert Studenten jedoch wie gebannt an ihren Lippen hängen würden, überwältigte sie beinahe. Vielleicht sollte sie für ihre spätere Zukunft eine Professur in Erwägung ziehen …?
Schreibgeräte schnurrten über Papier und Tastaturen klapperten.
»In einem solchen Fall ist die Polizei gezwungen, sich in die Psyche des Täters hineinzuversetzen. Kann sie irgendwo ein Muster ausmachen, hat sie einen ersten Anhaltspunkt für ihre Ermittlungsarbeit und vielleicht die Chance, ihn zu schnappen.«
»Sprechen Sie vom Profiling?«, fragte Dominik.
Ihm war nicht anzumerken, dass er sich erst vor wenigen Minuten verbale Blessuren zugezogen hatte, aber das wunderte sie nicht. Er schien nicht der Typ zu sein, der nach einer verlorenen Schlacht in Selbstmitleid badete und seine Wunden leckte. Außerdem interessierte ihn das Thema Profiling offenbar mehr als das, was andere von ihm hielten.
»In Deutschland sprechen wir von Operativer Fallanalyse«, erklärte Gloria. »Dieser Begriff meint zwar das Gleiche, beschreibt aber unsere Arbeit detaillierter. Beim so genannten Profiling geht es nicht nur um die möglichst genaue Umschreibung einer Person, sondern auch darum, den gesamten Fall in seine Bestandteile zu zergliedern und alle Elemente zu untersuchen.«
»Und was bedeutet das genau?«, fragte eine junge Frau.
»Wir versuchen, den Fall aus kriminalistischer und kriminologischer Sicht zu verstehen und daraus Schlüsse für die Aufklärung zu ziehen. Um es kurz zu sagen: Wie hat der Täter was aus welchem Grund getan?«
»Und das funktioniert?«
»Die Antwort auf diese Frage hängt vom jeweiligen Anspruch ab. Wir Profiler erarbeiten aus Fakten und Spuren Wahrscheinlichkeiten. Eine Wahrscheinlichkeit ist aber keine Garantie. Manchmal treffen wir den Nagel auf den Kopf, manchmal nicht. Manchmal helfen wir den Ermittlern, den Täter zu erwischen, manchmal geben wir ihnen nur einen neuen Denkansatz, durch den der Täter vielleicht überführt werden kann.«
Nun redeten alle durcheinander. Das allgemeine Interesse war zu allgemeiner Begeisterung geworden und Gloria gab sich die nächste Dreiviertelstunde redlich Mühe, alle Fragen zu beantworten.
»Trotzdem ist die Polizeipsychologie in der Bundesrepublik eine relativ junge Disziplin«, sagte sie schließlich. »Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo schon in den siebziger Jahren Methoden des Profiling entwickelt wurden, steckt unser Profiling praktisch noch in den Kinderschuhen. Selbst die Österreicher und Niederländer sind schneller gewesen.«
»Aus welchem Grund?«, fragte ein hübsches Mädchen in der ersten Reihe. »Soviel ich weiß, hat es eine vergleichbare Systematik schon in der DDR gegeben.«
»Das ist richtig«, antwortete Gloria. »In der DDR wurde die Operative Fallanalyse unter dem Begriff Versionsbildung praktiziert. In der Bundesrepublik galt dagegen die Devise: Warum etwas ändern, was gut läuft? Warum Neues lernen, wenn die alten Methoden auch zum Ziel führen? Warum Untersuchungs- und Ermittlungsverfahren wissenschaftlich hinterfragen, wenn sich alte Hasen erfolgreich auf ihr Bauchgefühl verlassen?« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und beobachtete aufmerksam die Reaktionen ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer. Einige Studenten nickten beipflichtend, andere schauten verständnislos und wieder andere irritiert.
»Die Vorbehalte haben erst in den letzten zwei Jahrzehnten nachgelassen«, sagte sie. »Inzwischen beauftragt uns die Kripo aber immer häufiger mit der Analyse schwerer Straftaten. Eine Zusammenarbeit ist beinahe selbstverständlich geworden und die Psychologie fester Bestandteil der Polizeiarbeit.«
Die Studenten klopften begeistert auf ihre Pulte.
»Weitere Fragen?«
Dominik hob die Hand. »Wie wird man Profiler?«
Gloria ließ ihren Blick über die Sitzreihen gleiten, wo erneut Schreibgeräte und Laptops in Stellung gebracht wurden, und fragte: »Wer von Ihnen liebäugelt denn mit diesem Beruf?«
Unzählige Arme flogen nach oben.
Gloria wich überrascht einen Schritt zurück und unternahm erst gar nicht den Versuch, sie zu zählen. »Das sind aber eine Menge …«
Natürlich hätte sie jetzt sagen können, dass der Bedarf an ausgebildeten Profilern in Deutschland für die nächsten Jahre abgedeckt war. Zahllose Träume würden zerplatzen wie Seifenblasen und nichts zurücklassen als verdunstende Spritzer von Enttäuschung. Aber damit würde die Tür endgültig zuschlagen – sogar für die außergewöhnlichen Talente unter ihnen, die neben der Begeisterung auch eine überdurchschnittliche Begabung mitbrachten. Das wollte sie nicht riskieren. Sie wollte aber auch nicht die ermutigen, die ihre Entscheidung aus einer Modelaune heraus getroffen hatten. »Wer sich für diesen Beruf entscheidet, hat zwei Möglichkeiten. Ein Weg führt über den gehobenen Polizeidienst, der andere über das Psychologiestudium. Wählt man den ersten Weg, absolviert man nach dem Abitur und einem bestandenen Einstellungstest ein dreijähriges Fachhochschulstudium. Dann folgt je nach Personalbedarf eine Praxisphase zwischen drei und zwanzig Jahren.«
Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal.
»Zwanzig Jahre?«, fragte eine Studentin mit extrem starkem Überbiss. »Da wird man ja alt.«
»Alt und hässlich«, ergänzte jemand, der nicht erkannt werden wollte.
Gelächter erhob sich und lockerte für kurze Zeit die angespannte Atmosphäre auf.
»Und damit nicht genug«, sagte Gloria und setzte noch eins drauf. »Kommt man erfolgreich durch das Auswahlverfahren der Operativen Fallanalyse, dauert die Ausbildung zum polizeilichen Fallanalytiker weitere fünf Jahre.«
»Macht eine Orientierung in diese Richtung dann überhaupt Sinn?«, fragte ein junger Mann.
»Für Psychologiestudierende schon«, antwortete Gloria. »Um für das Auswahlverfahren der OFA zugelassen zu werden, sind der Studienabschluss und eine zwei- bis fünfjährige Berufserfahrung Voraussetzung. Dann allerdings heißt es, noch einmal fünf Jahre die Schulbank zu drücken.«
Sie sah nun in überwiegend enttäuschte Gesichter.
So trennt sich also die Spreu vom Weizen.
Bei einer durchschnittlichen Studienzeit von sechs Jahren würde die Ausbildung im besten Fall zwölf bis dreizehn Jahre in Anspruch nehmen. Eine sehr lange Zeit für sehr junge Menschen, die darauf brennen, die Welt zu verändern. Das wusste sie nur zu gut.
»Wer sich für diesen anspruchsvollen Beruf begeistert, den schrecken ein paar Jahre mehr oder weniger nicht ab«, fügte sie aufmunternd hinzu. »Wie schon Konfuzius sagte: Der Weg ist das Ziel. Selbst wenn Sie ausgebildete Fallanalytiker sind, hört das Lernen nicht auf. Wer in einem Beruf wirklich gut sein will, wird niemals fertig. Das gilt für die Friseurin genauso wie für den Profiler.«
Ihr Blick fiel auf Dominik, der sich mit seiner Banknachbarin einen hitzigen Schlagabtausch lieferte.
»Darf ich fragen, was Ihre Gemüter so erregt, Herr Bach und Frau …?«
»Hiller«, vollendete das Mädchen. »Charlotte Hiller. Aber alle nennen mich nur Charly.«
»Sehr erfreut, Charly«, sagte Gloria. »Was gibt’s denn?«
Die junge Dame streifte ihren Kommilitonen mit einem verächtlichen Blick.
»Herr Bach meint, dass Frauen in diesem Beruf nichts zu suchen hätten.«
»So habe ich das nicht gesagt«, protestierte dieser halbherzig.
»Er stützt seine Meinung auf die Tatsache, dass in Deutschland überwiegend männliche Profiler arbeiten.«
»Was nicht heißen soll, dass es keine Ausnahmen gibt«, beeilte sich Dominik zu ergänzen und wies auf Gloria.
»Er sagt, dass die wenigen Frauen ihre Jobs allein der Frauenquote wegen bekommen hätten.«
»Stopp! Allein habe ich nicht betont!«
»Und dank dieser Frauenquote könnten Männer seit Jahren ihre Familien nicht mehr ernähren.«
Gloria trat hinter dem Pult hervor und stemmte ihre Arme in die Hüften.
»Sie sind ein harter Brocken, Herr Bach«, sagte sie amüsiert.
»Er ist ein Blödmann«, zischte Charlotte.
»Aber er hat leider recht«, sagte Gloria. »Noch überwiegt in Deutschland der Anteil männlicher Profiler.«
»Meine Rede«, grinste Dominik.
Gloria drohte mit dem Zeigefinger.
»Aber die Betonung liegt auf noch, Herr Bach.« Sie nahm wieder ihren Platz hinter dem Pult ein und stützte sich rechts und links am Tisch ab. »Unser Beruf verlangt ein hohes Maß an Flexibilität. Während sich Männer ganz selbstverständlich ihrer Karriere widmen können, ohne auf die Gründung einer Familie verzichten zu müssen, stehen Frauen vor der Entscheidung: Karriere oder Familie.«
»So ein Pech aber auch …«
»Und immer mehr Frauen entscheiden sich inzwischen gegen eine Familie und erobern Positionen, von denen Sie, lieber Herr Bach, gegenwärtig nur träumen können.«
Der Student kaute auf seiner Unterlippe herum, um sich eine passende Entgegnung zu überlegen. Aber so auf die Schnelle fand er kein schlagendes Argument.
Gloria schaute auf ihre Uhr und stellte verwundert fest, dass die Zeit wie im Flug vergangen war.
»Für heute sind wir am Ende. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Mit einem euphorischen Klopfen zollten ihr die Studenten Respekt und Gloria empfand eine Befriedigung, wie sie sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Innerlich vollkommen gelöst – einerseits erschöpft, andererseits glücklich – sortierte sie ihre Aufzeichnungen und verstaute die Unterlagen in ihrer eleganten braunen Aktentasche.
Der Saal leerte sich.
Als sie zum Ausgang schaute, fiel ihr Blick auf einen hochgewachsenen Mann Mitte dreißig in einem zweifarbigen Overall in Gelb und Blau, der just in diesem Moment das Auditorium verließ. Fasziniert sah sie ihm nach. Nicht, weil er ganz offensichtlich kein Student war, sondern weil eine Anziehungskraft von ihm ausging, der sie sich einfach nicht entziehen konnte.
Der Dresdener Altmarkt war einer der wichtigsten Plätze der sächsischen Landeshauptstadt. Hier gab es Geschäftshäuser mit Läden, Boutiquen, Einkaufspassagen, Restaurants, Clubs und Cafés. Das eindrucksvollste Gebäude am Altmarkt war aber die Kreuzkirche. Mit mehr als dreitausend Sitzplätzen war sie der größte Kirchenbau Sachsens.
Gloria saß im Café Kreutzkamm und aß die Spezialität des Hauses: Dresdener Eierschecke. Genießerisch schob sie sich die Gabel in den Mund und schloss die Augen. Wie herrlich dieser weiche Hefeteig roch. Überzogen mit einer Schicht Quark und einem fluffigen Deckel aus cremig gerührtem Eigelb, das mit Butter, Zucker, Eischnee und Vanillepudding veredelt wurde, war es für sie der Innbegriff von Köstlichkeit. Die Schecke knisterte auf ihrer Zunge, während der Cappuccino, den sie dazu bestellt hatte, einen verführerischen Duft verströmte.
Das altehrwürdige Café lag direkt an der Fußgängerpassage in bester Lage und war trotzdem nicht überlaufen. Die Einrichtung wirkte altmodisch, aber gemütlich.
Gloria kam oft hier vorbei. Sie liebte die traditionellen Kuchen, aber vor allem die ruhige und freundliche Atmosphäre. Hier gab es weder dudelnde Ganztagsbeschallung noch grölende Teens. Das Café wurde überwiegend von älteren Leuten frequentiert, die sich gedämpft unterhielten.
Ausgerechnet heute hatten sich aber auch etliche junge Leute eingefunden. Teenager auf Klassenfahrt, vermutete Gloria. Ein paar Tische weiter entdeckte sie aber zwei bekannte Gesichter: Dominik Bach und Charlotte Hiller. Die beiden verhielten sich auffällig unauffällig und gaben sich redlich Mühe, das Zusammentreffen wie einen Zufall aussehen zu lassen.
Sie lächelte amüsiert und bückte sich nach ihrer Aktentasche, wo sie die Aufzeichnungen für eine Ortsbegehung mit der Staatsanwaltschaft suchte, die in einer Stunde stattfinden sollte. Als sie sich wieder aufrichtete, schaute sie in ein anderes bekanntes Gesicht.
Schräg neben ihr, mit dem Rücken zur Tür in einer Ecke, saß der geheimnisvolle Fremde aus ihrer Vorlesung. Er trug noch immer den Overall vom Kurierdienst. Ihr Atem stockte. Sein Blick war direkt auf sie gerichtet und im Gegensatz zu ihr wirkte er gar nicht überrascht. Irritiert erwiderte sie seinen stillen Gruß und vertiefte sich dann in ihre Unterlagen.
Währenddessen ließen sich Charlotte und Dominik ihren Baumkuchen schmecken und schlürften dazu Milchkaffee. Immer wieder blickte sie verstohlen zu ihnen hinüber. Charlotte war eine flippige blonde junge Frau mit fröhlicher, bunt zusammengewürfelter Garderobe und verrückter Frisur. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sich hinter der dick aufgetragenen Schminke und den schreienden Farben ihrer Outfits ein tiefgründiger Charakter verbarg.
Ihr Begleiter hingegen hatte tiefschwarzes Haar und mochte es eher klassisch. Er trug einen gut geschnittenen Anzug und schien auch sonst großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen.
Und trotzdem wirkten sie wie Geschwister. Sie gingen so uncharmant und so vertraut miteinander um, wie man es nur von Bruder und Schwester kannte. Vielleicht waren sie miteinander aufgewachsen, die Kinder zweier Frauen, die schon seit Kindertagen wie Kletten aneinanderhingen. Vom Tag ihrer Einschulung an unzertrennlich gewesen, hatten sie die gleiche Musik gehört, dieselben Bücher gelesen und für dieselben Jungs geschwärmt. Und als es an der Zeit gewesen war, eine Familie zu gründen, hatte sich jede einen lieben Mann gesucht, sie hatten Doppelhochzeit gefeiert und im Jahr darauf ihre Kinder Charlotte und Dominik geboren.
Ja, so könnte es sein, verifizierte Gloria ihre Fantasie. Sie wollte sich wieder ihren Unterlagen widmen, als sie Charlotte in ihre Richtung nicken sah und spitzte die Ohren.
»Sie ist einfach perfekt«, hörte sie Charlotte flüstern. »Sie ist attraktiv, gebildet und sie hat Stil. Meinst du, ich kann so werden wie sie?«
Dominik verdrehte die Augen. »Du bist wie sie«, sagte er ebenso leise.
Charlotte strahlte. »So attraktiv und klug?«
»So emanzipiert.«
»Und du bist ein Idiot.« Schmollend setzte sie ihren Milchkaffee an die Lippen und nahm einen großen Schluck. »Was hast du gegen emanzipierte Frauen?«
Amüsiert führte Gloria ihren Cappuccino an die Lippen, um ihr Grinsen zu verbergen, und trank einen Schluck. Jetzt bin ich aber gespannt.
Dominik schien kurz zu überlegen und ging dann ein Stück auf Abstand. »Nichts … solange sie knackige Hintern und dicke Brüste haben.«
Charlotte wollte ihm eine runterhauen, verfehlte ihn aber knapp. »Ekel! Ich sollte mich gar nicht mit Typen wie dir abgeben.«
Dominik grinste. »Mit Typen nicht, aber mit mir.«
Plötzlich stürmte ein Polizist ins Café. Er wirkte, als käme er direkt aus einem Kugelhagel. Seine Uniform saß schlecht und er atmete schwer. »Alle mal herhören«, bellte er sächsisch. »Vor wenigen Minuten wurde eine alte Frau am Bankautomaten nebenan überfallen. Zeugen sagen aus, der Täter sei in dieses Café verschwunden. Er ist um die sechzehn und dunkel gekleidet. Hinweise bitte an mich.« Gloria beobachtete, wie die Leute erschrocken um sich blickten. Manche Frauen drückten ihre Handtaschen eng an die Brust, und mancher Mann versicherte sich, ob das Portemonnaie in seiner Hosentasche noch da war. »Ich habe bereits Verstärkung angefordert«, fuhr der Polizist fort. »Solange wir den Täter nicht haben, verlässt niemand dieses Objekt.« Gloria dachte an die Ortsbegehung und warf einen Blick auf ihre Uhr. Eigentlich müsste sie jetzt aufbrechen, um pünktlich anzukommen. Sie packte ihre Sachen zusammen und winkte nach der Rechnung.
Der Beamte, ein untersetzter Mann um die fünfzig, sah sie streng und von oben herab an. »Habe ich mich unklar ausgedrückt, junge Frau?«
Gloria zeigte ihren Dienstausweis, der sie als Beamtin des LKA auswies. »Ich habe einen wichtigen Termin mit der Staatsanwaltschaft. Ich muss gehen.«
»Sie bleiben, bis meine Kollegen vor Ort sind«, entgegnete der Beamte unbeeindruckt. »Wenn Sie trotzdem gehen, dann werte ich das als Widerstand gegen die Staatsgewalt.«
»Obwohl Ihr Täter ein männlicher Jugendlicher ist?«, rief der geheimnisvolle Fremde aus seiner Ecke herüber und schüttelte verständnislos den Kopf. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Herr Wachtmeister!«
Der Beamte hob demonstrativ sein Kinn.
»Ich habe meine Anweisungen.«
»Eine Frau festzuhalten, die quasi auch eine Kollegin von Ihnen ist und einen wichtigen Termin mit der Staatsanwaltschaft hat?«
Der Beamte sah eine Weile wortlos auf Gloria hinab, als müsse er sich erst davon überzeugen, dass sie tatsächlich eine Frau war. Er zögerte kurz, entschied sich dann aber, konsequent zu bleiben. Um die Situation jedoch nicht unnötig zu verkomplizieren, schlug er einen versöhnlichen Ton an.
»Sobald meine Kollegen die Personalien aller Anwesenden aufgenommen haben, können Sie gehen«, sagte er. »Meine Kollegen verstehen ihr Handwerk. Das dauert nicht lange. Ihr Freund braucht sich also nicht so aufzuspielen.«
»Dazu müssten Ihre Kollegen aber erst einmal eintreffen«, gab Gloria zu bedenken.
»Die kommen gleich, verlassen Sie sich darauf.«
»Und wann wird das sein?«
»In zwanzig Minuten, spätestens …«
»So viel Zeit habe ich nicht mehr.«
Gloria griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer der Staatsanwaltschaft.
»Die Handys bleiben in den Taschen«, rief der Polizist mit Nachdruck durch das Café. »Wir wollen nicht riskieren, dass uns ein Komplize des Täters alles vermasselt.«
Gloria seufzte und warf ihrem vermeintlichen Freund einen hilflosen Blick zu.
»Na super«, stöhnte dieser, stand auf und schaute sich um. »Dann wird mir wohl nichts weiter übrigbleiben, als die Sache hier zu beenden, bevor es Tote gibt.«
Gloria verkniff sich mit Mühe ein amüsiertes Auflachen.
Der Beamte stutzte. »Was haben Sie vor?«, fragte er.
»Ich werde den Täter bitten, sich freiwillig zu stellen.«
»Sie werden ihn bitten?«, spottete der Beamte. »Was für eine bescheuerte Idee …«
»Lieber eine bescheuerte Idee als keine Idee.«
Als er tief durchatmete, seine Haltung straffte und die Hände ineinanderlegte, sah ihn der Beamte schräg von der Seite an. »Wer sind Sie eigentlich?« Er beugte sich bedrohlich vor. »Machen Sie ja keinen Fluchtversuch, das Café hat keinen Hinterausgang.«
»Das will ich auch hoffen«, sagte der Angesprochene, während er jeden einzelnen Gast mit den Augen streifte.
Im Café hielten sich an diesem Nachmittag geschätzte fünfzig Personen auf, und keiner von ihnen rechnete wirklich damit, dass sich der Täter freiwillig stellen würde. Als er aus seiner Ecke heraustrat, hatte sich die Intensität seines Blickes verstärkt. Der Polizist, der offenbar schon viele Krimis gesehen hatte, in denen ein cleverer Gauner den Hilfsbereiten mimte, um sich bei der nächsten Gelegenheit aus dem Staub zu machen, zog seine Waffe. »Halt! Keinen Schritt weiter!«
»Stecken Sie die Waffe weg, um Himmels willen«, seufzte der Mann im Overall, der aus der Nähe betrachtet atemberaubend gut aussah. In einem entsprechenden Outfit könnte er James Bond das Wasser reichen. »Passen Sie lieber auf, dass uns der Schuldige nicht entwischt.«
Zum Erstaunen aller Anwesenden gehorchte der Beamte. Er steckte seine Pistole in das Halfter zurück und versperrte mit seinem massigen Körper die Tür.
James Bond nickte ausdruckslos.
»Gut so.«
»Von wegen gut so«, brummte der Beamte. »Als würde ich mir von einem Zivilisten sagen lassen, wie ich mich zu verhalten habe. Das wäre ja noch schöner.«
»Schscht«, machte der Liebling von Miss Moneypenny und schloss die Augen. »Ich muss mich konzentrieren.«
»Worauf?«
»Das werden Sie schon sehen.«
Der Beamte schwieg einen Augenblick. Das war offenbar genau die Zeit, die er brauchte, um die Situation neu einzuschätzen.
»Sie sind ein Spaßvogel, hab ich Recht?«, grinste er und tat, als hätte er eben den Jackpot geknackt. »Wo sind die Kameras? Na, sagen Sie schon! Wer steckt hinter dieser Nummer?«
»Keine Kameras. Keine Nummer.«
Das Grinsen auf dem Gesicht des Polizisten fiel enttäuscht in sich zusammen.
»Was denn dann?«, fragte er. »Sind Sie geistesgestört oder verrückt?«
»Das ist das Gleiche«, berichtigte ihn ein älterer Herr mit weißem Haupthaar.
»Ist mir egal«, brummte der Beamte. »Ich lass mich nur nicht gern verarschen.«
»Lassen Sie diesen jungen Mann doch machen«, rief eine alte Frau mit brüchiger Stimme. »Der hat wenigstens Schneid, im Gegensatz zu Ihnen.«
Klare Worte, dachte der Beamte wohl, während er sich den Hinterkopf rieb, ging aber nicht drauf ein.
»Was haben Sie denn zu verlieren?«, ertönte eine Stimme aus der anderen Ecke des Raums.
»Na, wen wohl? Den Täter natürlich.«
Ein paar Mutige lachten.
»Eine bescheuerte Idee ist besser als keine Idee«, zitierte eine andere Stimme.
Der Beamte wusste, dass er verloren hatte, und gab sich geschlagen. Von ein paar wenigen Zweiflern abgesehen waren aus seiner Sicht wohl alle bereits dem Theater dieses Komödianten verfallen. Jetzt hieß es: Ruhe bewahren, einen kühlen Kopf behalten und auf die Kollegen warten.
Der Hauptakteur bekam von alldem nichts mehr mit. Er schien sich längst in anderen Sphären zu befinden. Mit leiser Stimme, fast schon flüsternd, trat er an die einzelnen Tische heran und musterte jeden Café-Gast wie durch ein Mikroskop.