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Eine Studentin, bestialisch im Schlaf ermordet. Grund genug, um das Team rund um die Profilerin Gloria Siegel an diesen Fall zu setzen. Unterstützt von dem mysteriösen Alexander Buschbeck, dem hellseherische Fähigkeiten nachgesagt werden, finden sie in dem Bruder der Toten rasch einen Verdächtigen. Doch so eindeutig scheint der Fall nicht zu sein. Dazu kommt, dass es jemand offenbar auf die Profilerin abgesehen hat. Eine Serie von Anschlägen auf Gloria erschwert nicht nur den Fall, sondern bedroht sogar ihr Leben und das ihrer Mitmenschen.
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Seitenzahl: 441
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HYBRID VERLAG
Ebookversion
03/2018
© by Symone Hengy
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © by Hygin Graphix
Lektorat: Diana Spitzer, Paul Lung
Autorenfoto: Michael Hengy
Coverbild ›Wonders Macht‹
© 2018 by Creativ Work Design, Homburg
Coverbild ›Eibe‹
© by Creativ Work Design
ISBN 978-3-946-82024-6
www.hybridverlag.de
Symone Hengy
Extrem
- Mord ist dicker als Blut -
Der dritte Fall für
Profilerin Gloria Siegel
Kriminalroman
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Für Seelenzwilling
Steve
Im Gegensatz zur Kriminalistik und zur Kriminologie stand die Kriminalpsychologie lange Zeit im Ruf, keine exakte Wissenschaft zu sein. Einige hielten sie für eine Modeerscheinung, die zusammen mit dem Begriff Profiling aus den Vereinigten Staaten von Amerika nach Europa geschwappt war, andere schlichtweg für Spinnerei.
Dabei basiert die Verbrechensbekämpfung immer auch auf psychologischen Fakten. Die Kriminalisten bedienen sich ihrer, um aus der Vorgehensweise, wie ein Verbrechen verübt wurde, auf eventuelle Motive zu schließen. Dadurch wurden sie in die Lage versetzt, auch ohne potenzielle Verdächtige einen möglichen Täterkreis zu benennen und so weit wie möglich einzugrenzen.
Die Kriminologen brauchten sie, um wirksame Gegenmaßnahmen zu erarbeiten, durch die ein Verbrechen im besten Falle von vornherein unmöglich gemacht wurde. Obwohl zwei strikt voneinander getrennte Disziplinen, begriffen beide, sowohl die Kriminalistik als auch die Kriminologie, die Kriminalpsychologie als einen Bestandteil ihrer eigenen Wissenschaft. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Operative Fallanalyse, kurz OFA, die vom Bundeskriminalamt als eine separate Disziplin der Kriminalistik eingeführt wurde, inzwischen auch in allen Landeskriminalämtern eine Einheit gebildet hatte.
Die Vorbehalte hielten sich hartnäckig. Davon konnten besonders die Profiler, zu Fallanalytikern ausgebildete Beamte der Kriminalpolizei, ein Lied singen. Einerseits wurden sie belächelt, weil man ihre Arbeit nicht ernst nahm, andererseits aber auch angefeindet, weil man durch die vermeintliche Abgabe von Kompetenzen seine eigene Position in Gefahr sah. Dabei war ihr Einsatz gar nicht immer erforderlich. Eigentlich nur dann, wenn die Kripo in besonders schweren Straftaten wie etwa Tötungs- und Sexualdelikten, Brandstiftungen und Terroranschlägen ermittelte. Oder wenn es keine heißen Spuren gab.
Oder wenn die heißen Spuren kalt geworden waren.
Fallanalytiker griffen also lediglich dann in die Ermittlungen ein, und auch in diesen Fällen nur unterstützend, wenn herkömmliche Ermittlungsmethoden ins Leere zu laufen drohten. Vorausgesetzt, ein entsprechendes Hilfeersuchen der ermittelnden Behörden wurde eingereicht. Wurde so eine Verbindung, die vielleicht mit einer Zweckehe vergleichbar war, von Erfolg gekrönt, hing der Himmel voller Geigen. Brachten die psychologischen Analysen jedoch keine neuen Erkenntnisse, war eine Scheidung schnell vollzogen und die Vorurteile flammten wieder auf.
Doktor Gloria Siegel, Profilerin beim Landeskriminalamt Sachsen, hatte längst aufgehört, sich darüber zu ärgern. Sie wusste, wie anspruchsvoll und wichtig ihre Arbeit war, aber auch wie kräftezehrend und nervenaufreibend, wenn man sich Stunden, Tage oder Wochen das Hirn über einen bestimmten Aspekt zermarterte, um am Ende festzustellen, dass ein winziges Detail übersehen worden war. Ein klitzekleines Tüpfelchen, das alle bisherigen Ermittlungen ad absurdum führte. Aber wer es wie sie immer wieder schaffte, sich nach einer solchen Niederlage aufzurappeln, um von vorn zu beginnen, der konnte über die ewigen Sticheleien aus Richtung der Ermittler allenfalls müde lächeln. Zumal die herabsetzenden Vorurteile vornehmlich von Kollegen gepflegt wurden, die noch nie mit ihr zusammengearbeitet hatten. Ganz im Gegenteil zu denen, die mit ihr und ihrer Arbeit vertraut waren und selbst in Fällen, in denen normalerweise kein Fallanalytiker hinzugezogen werden musste, ihren Rat einholten. Ob Kleinkriminalität oder Schwerverbrechen, im Grunde folgte die Aufklärung immer gleichen Regeln: Wer in der Lage war, die Zusammenhänge eines Verbrechens in seiner Gänze nachzuvollziehen und die Motive des Täters wenigstens im Ansatz zu verstehen, der war auch in der Lage, Rückschlüsse auf seine Person zu ziehen und ihn zu fassen.
Nur wer weiß, wie ein Apfel aussieht, wird ihn unter anderen Früchten erkennen.
Jede Geschichte beginnt mit einem Anfang. Genau wie jede Tat. Und genau wie bei einer Geschichte, gibt es auch bei der Tat viele verschiedene Möglichkeiten, ihren Hergang zu erzählen. Der Profiler erzählt sie anhand von Hypothesen. Je detaillierter es ihm gelingt, die tatsächliche Ausgangssituation zu rekonstruieren, desto näher werden diese Hypothesen dem tatsächlichen Verlauf der Tat kommen und desto genauer wird das zu erarbeitende Täterprofil den Verbrecher beschreiben.
*
Beim Verlassen des Frischemarktes für Obst und Gemüse zog Profilerin Doktor Gloria Siegel unwillkürlich ihren Hals ein und schaute zum Himmel. Im Verlauf ihres kurzen Einkaufs hatte sich das flatternde Zwielicht der Dämmerung bereits in der völligen Dunkelheit nächtlicher Finsternis verloren.
Dabei hatte der Abend gerade erst begonnen. Aber auch das Klima hatte sich in der Zwischenzeit verändert. Es fühlte sich eisiger an, aggressiver. War es vorhin einfach nur ungemütlich gewesen, sprang ihr die Kälte jetzt mitten ins Gesicht und biss sich fest. Zudem hatte der Wind merklich aufgefrischt, der ihre Kleidung scheinbar mühelos durchdrang. Die vorhin noch trockenen Straßen waren jetzt von riesigen Wasserarmen gesäumt, in denen sich die Lichter der Straßenlaternen und die Scheinwerfer der Autos widerspiegelten, der Gehweg ein Parcours aus Pfützen.
Gloria stöhnte unwillkürlich auf. Vielleicht hätte sie doch das eigene Auto nehmen sollen, anstatt sich von einem Kollegen hierher mitnehmen zu lassen. Obwohl es im Augenblick nicht nach Regen aussah, rechnete sie sich keine guten Chancen aus, trockenen Fußes nach Hause zu kommen. Nicht bei diesen Straßenverhältnissen! Jetzt schon frierend, verspürte sie wenig Lust, auch noch von oben bis unten nassgespritzt zu werden. Auf eine Erkältung konnte sie nämlich gut und gerne verzichten. Im Moment herrschte wenig Verkehr, dennoch zögerte sie.
Die Lichter eines rasch näherkommenden Wagens zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Abwartend verfolgte sie seine Fahrt durch die Fluten, die er überraschend vorsichtig und nur im Schritttempo durchquerte, von einem dumpf klingenden, gurgelnden Schleifen begleitet. Wasser spritzte seitlich vom Wagen ab, ohne den Gehweg neben der Fahrbahn zu erreichen.
Gut gemacht …!
Im Vertrauen darauf, dass auch andere Autofahrer Rücksicht auf Fußgänger nahmen, wollte Gloria sich gerade auf den Weg machen, als ein schwarzer Sportwagen heranschoss und ungebremst durch die Wasserflächen pflügte. Fontänen aus dreckiger Brühe flankierten die Seiten des Wagens wie Flügel, bevor sie in hohem Bogen auf den Gehsteig schwappten und ihn überschwemmten. Selbst die asphaltierte Fläche vor dem Laden bekam einen Schwall von der Brühe ab.
Gloria wich zurück. In einer Hand die Papiertüte mit den Weintrauben und Bananen, in der anderen die Hand den Griff ihrer Aktentasche, schaute sie den Rücklichtern hinterher und schüttelte verärgert ihren Kopf. Die Wohnung ihres Freundes lag nur ein paar Straßenecken weiter, im Dachgeschoss eines aufwendig rekonstruierten Gründerzeithauses. Doch der Weg führte an der Hauptstraße entlang, vorbei an den Pfützen.
Oder auch nicht, schoss es ihr durch den Kopf, weil sie sich plötzlich an eine Abkürzung erinnerte, einen Schleichweg durch die Hinterhöfe, den sie im Sommer einmal zusammen mit Alexander gegangen war, als die Hauptstraße wegen eines Unfalls vollständig gesperrt werden musste. Genau genommen war es ein Pfad durch mehrere unterschiedlich angelegte Areale eines einzigen großen Hinterhofes, an den sieben mehrstöckige Gründerzeithäuser grenzten. Im Moment fuhren keine Autos. Würde sie sofort loslaufen, könnte sie den Zugang wahrscheinlich ohne Zwischenfälle erreichen.
Ohne lange nachzudenken, hängte sich Gloria den Halteriemen ihrer Aktentasche um den Hals, schlüpfte mit dem Arm der nun freien Hand durch die Schlaufe und jagte los. Die Augen starr auf den Gehweg gerichtet, schritten ihre Füße so rasch voran, dass die Sohlen ihrer Schuhe den Belag nur flüchtig berührten. Immer wieder floh ihr Blick ihren Schritten voraus, bis endlich jene Lücke zwischen den Häusern auftauchte, die für Unkundige wie eine Zufahrt zu einem PKW-Stellplatz aussah.
Vollbracht!
Mit sicherem Abstand zum Fahrbahnrand blieb Gloria erst einmal stehen und verschnaufte. Ihre leichten Lederstiefeletten trieften vor Nässe, die Fußspitzen fühlten sich feucht an, kalt. Als ein Auto vorbeifuhr, gefolgt von einem zweiten, dritten, huschte dennoch zufriedenes Lächeln über ihre Lippen.
Doch die Freude währte nicht lange. Von ihrer jetzigen Position aus gesehen, schien dieser Weg nämlich nach weniger als zwanzig Schritten direkt vor einer Mauer mit aufgesetztem Zaun zu enden.
Sollte sie sich so geirrt haben?
Verunsichert setzte sie sich in Bewegung und atmete erleichtert auf, als am rechten Ende der Mauer der Anfang eines Pfades auftauchte. Ein schmaler von kahlen Büschen gesäumter Weg, über den sie, wenn ihre Erinnerung stimmte, nach nur wenigen Metern in den Hinterhof gelangen sollte. Tatsächlich glaubte sie, einen großen Baumstumpf wiederzuerkennen, der im Sommer von einer Schar Gartenzwerge besiedelt und umstellt worden war.
Diese Erinnerung löste eine wahre Kettenreaktion in ihrem Gedächtnis aus und ließ auch andere Eindrücke und Empfindungen wiederaufleben. Zum Beispiel die hellen Stimmen sorglos spielender Kinder, die wie aus der Ferne an ihr Ohr drangen, während der Duft frisch gewaschener Wäsche um ihre Nase wehte, vermischt mit dem appetitanregenden Geruch eines Gartengrills, auf dem köstliche Bratwürste über glühender Holzkohle brutzelten.
Herrlich, wenn die auflodernden Flammen mit einem Spritzer Bier gelöscht werden …!
Die Erinnerungen waren so präsent, dass ihr augenblicklich das Wasser im Munde zusammenlief. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, eine andere Klimazone zu betreten. Statt der trockenen kontinentalen Hitze zwischen den Häuserzeilen, die den Sommer in der Stadt unerträglich machten, waren Alexander und sie von subtropischer Behaglichkeit empfangen worden. Über ihnen ein Dach üppig belaubter Baumkronen, das sich wie ein einziges Sonnensegel über vier Ecken des Hofes spannte, die von oben drückende Hitze des Elbtals abschirmte und die Luft nach unten durch ihre unglaubliche Verdunstungsleistung abkühlte.
Als Gloria den Rand des Hofes erreichte, erkannte sie ihn kaum wieder und blieb überrascht stehen. Die knorrigen alten Bäume hatten ihr Laub fast vollständig abgeworfen, waren so gut wie kahl. Und was an Blättern noch übrig war, schaukelte im schneidenden Wind wie aufgespießte Fetzen durchweichter Pappe. Hatte dieser Ort im Sommer auf Gloria noch eine wohltuend heimelige Atmosphäre ausgestrahlt, spürte sie nun wachsendes Unbehagen in sich aufsteigen. Im diffusen Licht der erleuchteten Fenster wirkten die kahlen Riesen wie furchteinflößende Kreaturen aus einer anderen Welt. Ihre regensatten schweren Äste hoben und senkten sich wie Fangarme auf alles Darunterliegende, knackten und quietschten bedrohlich.
Sollte sie vielleicht doch lieber die Straße nehmen?
Kaum gedacht, verwarf sie den Gedanken wieder. Das Risiko, von einem rücksichtslosen Autofahrer klatschnass gespritzt zu werden, war ihrer Ansicht nach größer, als von einem herabstürzenden Knüppel brechender Äste getroffen und verletzt zu werden. Der Wind blies zwar ungemütlich, aber nicht stürmisch. Außerdem ging von alten Bäumen dieser Größe immer eine gewisse Gefahr aus, selbst bei schönstem Wetter.
Genau wie von Flugzeugen und Meteoriten …
Wirklich überzeugend klangen diese Argumente nicht. Dennoch stand ihr Entschluss fest, die Abkürzung durch den Hof zu nehmen. Zumal sie keinen weiten Weg zurückzulegen hatte. Einmal gerade über den Hof, zur Hintertür des Hauses auf der gegenüberliegenden Seite hinein und zur Vordertür desselben Hauses wieder hinaus. Fertig! Alles in allem maximal drei Minuten.
Bevor sie sich jedoch in Bewegung setzte, verharrte sie noch einen Moment in Stille und ließ den friedvollen Anblick der beleuchteten Fenster auf sich wirken. Selbst auf die Gefahr hin, dass ihre positiven Emotionen noch nicht stark genug waren, sich gegen ihre Rivalen aus der Vergangenheit zu behaupten. Kaum gedacht, regte sich auch schon ein schneidendes Gefühl in ihr, eine blasse Erinnerung an die Sehnsüchte ihrer Kindheit. Aber zum Glück waren diese Zeiten vorbei. Heute stand sie mit beiden Beinen im Leben und hatte ihren Platz gefunden. Sowohl im Beruf, als auch im Privatleben.
Gloria lächelte. Vielleicht würde sie sogar schon bald eine eigene Familie haben …
Von Vorfreude ergriffen, hatte sie es auf einmal sehr eilig, nach Hause zu kommen, und lief los. Das matschige Laub auf dem mit Kieselsteinen befestigten Weg dämpfte ihre Schritte. Unter den Sohlen ihrer flachen Halbstiefel schmatzte es, ein an sich schwaches Geräusch wie ein Wispern, das jedoch von den nackten Fassaden der umstehenden Häuser merkwürdig verändert zurückgeworfen wurde. Ein Echo?
Oder waren es die Schritte eines Anderen?
Gloria blieb stehen und drehte sich um. Niemand zu sehen. Sie lauschte … nichts! Kein Geräusch außer dem Pfeifen des immer stärker auffrischenden Windes und dem knarzenden Ächzen schwankender Äste.
Sie ging langsam weiter, beschleunigte aber instinktiv ihre Schritte, als sich ihre Nackenhaare unverhofft aufrichteten. Und plötzlich hörte sie den Wind nicht mehr, und auch die schweren Äste der kahlen Bäume wankten still. Als erfahrene Polizistin realisierte sie sofort, dass sich jede Faser ihres Körpers auf Hab-Acht-Modus umgestellt hatte, eine unbewusste Reaktion ihrer geschulten Sinne auf eine mögliche Gefahr. Wie automatisiert, blendete das Gehör alle nicht relevanten Geräusche aus, damit sie sich ganz auf die Identifizierung der Gefahrenquelle konzentrieren konnte. Und tatsächlich …
Das scheinbar merkwürdig veränderte Geräusch, das ein Echo ihrer Schritte hätte sein können, war kein wiegendes Schmatzen, sondern ein dumpfes Blubb. Oder ein Dogg.Auf keinen Fall jedoch eine Reflektion ihrer Schritte.
Abgesehen vom Geräusch, stimmte auch der Takt nicht. Der Rhythmus des Blubb oder Dogg deckte sich nicht einmal annähernd mit dem Rhythmus ihrer Schritte.
Gloria blieb stehen und riskierte einen schnellen Blick über die Schulter und zuckte zusammen. Neben den Silhouetten kahler Bäume vor dem Hintergrund einzelner, erleuchteter Fenster, zog ein abweichender Schattenriss ihre Aufmerksamkeit auf sich, der aussah wie ein leicht gebückter Mensch. Instinktiv griff sie nach dem Holster ihrer Dienstwaffe und … ins Leere. Ihre Waffe lag, wie immer nach Dienstschluss, sicher verwahrt, im Stahlschrank ihrer Dienststelle.
Und nun? Davonlaufen oder nachschauen? Die Polizistin in ihr entschied sich dafür, der Sache auf den Grund zu gehen. Ohne das Objekt aus den Augen zu lassen, bewegte sie sich langsam darauf zu und hätte um ein Haar laut aufgelacht, als sie erkannte, wovor sie sich gefürchtet hatte. Vor einer Konifere nämlich, deren Spitze sich leicht zur Seite neigte, während ein paar jüngere Triebe seitlich der Hauptwachsrichtung abstanden.
Eine tolle Polizistin bist du, schalt sie sich und wurde das ungute Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Aber von wo aus? Sie erstarrte. Hinter dem schlanken Gehölz könnte sich ein erwachsener Mann mühelos verbergen. Mit einem wachsenden Kloß in der Kehle bückte sich Gloria nach einem dicken Knüppel und näherte sich dem vermeintlichen Versteck mit erhobenem Arm. Alles blieb still, nichts rührte sich.
Plötzlich ein Rascheln. Hitze schoss ihr ins Gesicht. Mit angehaltenem Atem duckte sie sich instinktiv weg, als hinter der Konifere ein schwarzer Schatten auftauchte. Doch es war nur eine Krähe, die mit ohrenbetäubendem Kreischen flatternd aufstieg. Der Vogel flog so dicht an ihr vorbei, dass sie den Luftzug seines Flügelschlages auf der Haut spüren konnte.
Phu …!
Während sie darauf wartete, dass sich ihr Pulsschlag normalisierte, schweifte der Blick ihrer Augen unermüdlich über das Gelände. Irgendwo verbarg sich ihr Verfolger. Aber wo? Und warum verfolgte er sie? War er zufällig hier oder hatte er ihr aufgelauert?
Gloria machte sich nichts vor. Auch wenn sie für ihren Job mehrheitlich bewundert oder wenigstens geschätzt und geachtet wurde, gab es Menschen, die sich ihr nicht gerade freundlich verbunden fühlten. Kriminelle zum Beispiel, die aufgrund ihrer Mithilfe gefasst worden waren, oder deren Angehörige, die sich rächen wollten. Da erging es ihr aber nicht anders als den Streifenpolizisten, die eine gesuchte Person identifizierten, den Ermittlern, die den Personen eine Straftat nachwiesen, den Staatsanwälten, die diese Straftaten zur Anklage brachten und den Richtern, die auf der Grundlage aller Indizien und Beweise das Urteil sprachen. Berufsrisiko …!
Gloria setzte ihren Weg über den Hinterhof fort. Auch wenn im Ernstfall jede Minute zählen würde, blieb sie alle paar Meter stehen, um sich sogleich wieder in Bewegung zu setzen. Ein Test, den sie mehrere Male wiederholte. Abrupt. Ohne Vorwarnung. Wie erwartet, gab es jedes Mal diesen Nachklang, der sich wie ein Stolpern anhörte. Zudem vernahm sie jetzt auch noch ein weiteres, nicht zu definierendes Geräusch, ein verhaltenes Schaben oder Kratzen. Sobald sie stehenblieb, verstummte auch das.
Jetzt nur nicht durchdrehen, schalt sie sich selbst, um die aufsteigende Beklemmung zu bekämpfen. Du bildest dir das alles nur ein!
Doch zu diesem Zeitpunkt hatte die Panik sie längst erfasst. Ohne noch einen klaren Gedanken fassen zu können, verfiel sie erst in einen lockeren Laufschritt und sprintete dann los. Ihre Kopfhaut kribbelte, als würden sich ihre Haare kräuseln.
Endlich tauchte die Hintertür des Hauses aus der Dunkelheit vor ihr auf. Mit langen Sprüngen, die Einkaufstüte irgendwie festhaltend, hastete sie auf den rettenden Eingang zu. Nur noch wenige Schritte! Ohne ihren Lauf abzubremsen, warf sie sich noch im Flug gegen die Tür und drückte die Klinke hinunter. Doch das massive Holz hielt mit einem höhnisch klingenden Knarzen Stand.
Abgeschlossen, verdammt …!
Ein bitterer Geschmack rollte über ihre Zunge, und als sie sich umblickte, überschwemmte sprudelndes Schäumen ihre Ohren. Im nebeligen Dunst, der sich wie ein Drache von den Bäumen niederließ, strebte ihr eine helle Gestalt entgegen. Mit weit ausladenden Schritten kam sie näher und näher. Eindeutig die Silhouette eines Mannes, der sehr groß war und schlank.
Anfangs noch mit dem Hintergrund verschmolzen, traten seine verschwommenen Umrisse immer weiter hervor, nahm seine Gestalt Konturen an.
Im nächsten Moment konnte Gloria sogar seine Kleidung ausmachen, ein weißer Overall, wie sie von der Spurensicherung an Tatorten benutzt wurden, die Kapuze eng um das Gesicht zusammengebunden.
Der papierähnliche Stoff des Anzuges, der diesem Träger offensichtlich viel zu weit war, gab ein für Papier typisches Knittergeräusch von sich, jenes Schaben und Kratzen, das sie nicht hatte einordnen können.
Auch Mörder tragen solche Anzüge, schoss es ihr siedend heiß durch den Kopf. Sogenannte Ganzkörperkondome, um weder Fremd-DNA aufzunehmen, noch eigene Spuren zu hinterlassen.
Und nun?
Vor ihr die verschlossene Tür, hinter ihr eine unheimliche Gestalt, die direkt auf sie zustrebte. Rechts und links neben der Tür rankten blattlose Sträucher mit Dornen. Weglaufen war also keine Option. Laut Hilfe rufen aber auch nicht. Unterschiedlichen Erfahrungsberichten zufolge reagierten Nachbarn und Passanten schneller, wenn in Notsituationen Feuer gerufen wurde. Aber befand sie sich tatsächlich in einer Notsituation, die so einen Hilferuf rechtfertigte? Was, wenn ihr Verfolger sie nur einschüchtern, bedrohen oder erpressen wollte? Womöglich hatte er gar nicht vor, sie zu verletzen und würde sich erst durch ihr Schreien genötigt fühlen, sie zum Schweigen zu bringen. Und das möglichst rasch!
Dann blieb ihr unter Umständen nicht einmal genug Zeit, ein zweites oder gar drittes Mal um Hilfe zu rufen. Inzwischen hatte er sich nämlich so weit genähert, dass sie seine ranzigen Ausdünstungen einatmete.
Und plötzlich passierte etwas mit ihr, das sie so noch nie erlebt hatte. Ihr ganzer Körper begann unkontrolliert zu zittern, während ihre Zähne, wie von einer Maschine angetrieben, leise ratternd gegeneinanderschlugen. Eine Reaktion, die nichts mit der Kälte um sie herum zu tun hatte. Schmerzlich presste sie ihre Kiefer fest aufeinander, um wenigstens das Klappern zu unterdrücken, wenn schon das immer stärker werdende Zittern nicht in den Griff zu bekommen war. Hinzu kamen Atemnot und Übelkeit.
Die Verzweiflung überrollte sie. Im vollen Bewusstsein, ihre Situation dadurch nicht im Geringsten zu verbessern, rüttelte sie mit beiden Händen an der Klinke und stieß mit der Fußspitze gegen die Tür.
»Hallo …?«
Es war die Stimme eines alten Mannes, so nah, dass ihre Rauheit über ihren Nacken kratzte.
Gloria erstarrte und drehte sich ganz langsam um.
Die Gestalt stand dicht vor ihr. Mit dem mäßigen Licht der beleuchteten Fenster im Rücken, klaffte ihr aus der Kapuze ein schwarzes Loch entgegen.
»Ich habe Sie doch hoffentlich nicht erschreckt?«
Klang dieser fiese Singsang in der Stimme nicht verdächtig nach Serienmörder …?
Mit ungelenken Fingern, vermutlich Rheuma, löste er den Knoten an seiner Kapuze und schob sie vom Kopf. Zum Vorschein kam das durchschnittliche Gesicht eines Mannes um die sechzig, aus dem ihr freundliche blaue Augen entgegenblickten.
Doch aufzuatmen wagte Gloria noch nicht. Während er nicht aufhörte, sie anzusehen, nestelten seine krummen Finger am Reißverschluss des Overalls herum. Die eine Hand zog den Zipper herunter, die andere verschwand im Inneren.
Gloria vernahm ein metallisches Geräusch und rechnete jeden Moment damit, die Klinge eines Messers aufblitzen zu sehen. Als das Klappern eines Schlüsselbundes ertönte, fiel ihr deshalb ein ganzes Gebirge vom Herzen.
»Darf ich mal …?«, fragte der Mann und schob sich an ihr vorbei zur Haustür. »Vorsicht, dass ich Sie mit meinem Anzug nicht nass mache.« Er kicherte. »Aber solange die Gullys überlaufen, möchte ich mich nicht in normaler Straßenkleidung in der Stadt bewegen.«
»Dann haben Sie immer einen Einweganzug dabei?«, fragte Gloria und bemühte sich, beiläufig zu klingen.
»Natürlich nicht«, antwortete der Alte und suchte nach dem passenden Schlüssel. »Ich arbeite bei der Stadtreinigung, da komme ich bei Bedarf immer an so ein Ding ran.« Er hob den Zeigefinger. »Gegen Bezahlung natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte Gloria, um überhaupt etwas zu sagen. »So ein Glück habe ich leider nicht. Deshalb wollte ich eine Abkürzung nehmen.«
»Sie wissen aber schon, dass das kein öffentlicher Durchgang ist?« Er hatte den Schlüssel gefunden und schloss die Tür auf.
»Eigentlich nicht«, seufzte Gloria, noch immer innerlich zitternd. Sie hoffte, dass sie sich souveräner anhörte, als sie sich fühlte. »Aber jetzt weiß ich es, danke!«
»Na, hoffentlich …« Er grinste noch immer, hielt die Tür auf und ließ sie vorbei. Hinter ihr verschloss er die Türe wieder.
»Nicht, dass das zur Gewohnheit wird! Wenn ich nicht gekommen wäre, hätten Sie den ganzen Weg zurückgehen müssen.«
»Es gibt Schlimmeres«, erwiderte Gloria und spürte, wie sich der Druck auf ihrer Brust langsam löste.
Sie folgte ihm durch das Haus zum Vordereingang. Keiner sprach ein Wort. Auch diese Tür war bereits abgeschlossen und der Alte öffnete sie für sie.
»Einen schönen Abend, die junge Dame«, schmunzelte er und schloss hinter ihr die Türe zu, bevor sie seinen Gruß erwidern konnte.
Erst jetzt fiel die Angst endgültig von ihr ab. An der Hauswand abgestützt, beugte sie sich vornüber und atmete tief durch. Was würde wohl Alexander von dieser Geschichte halten? Obgleich sie sich ihrer Angst nicht zu schämen brauchte. Sie war ein ganz normales Symptom, die einem Lebewesen bei Gefahr die körperliche oder seelische Unversehrtheit, im Extremfall also das Überleben sicherte. Jeder Mensch bringt eine für ihn typische Angstdisposition von Geburt an mit, die sich aber durch entsprechende Lernprozesse erheblich verändern lässt.
Für ihren speziellen Job kam es im Wesentlichen darauf an, bestimmte Ängste als Gefahrensignale im Gedächtnis zu behalten, um jederzeit die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Zum Selbstschutz. Demnach eine ganz andere Art von Angst, als die, die ihr jetzt gerade durch die Eingeweide gefegt war, die ihren Verstand gelähmt hatte, anstatt in irgendeiner Weise hilfreich zu sein.
Lag es an ihrem Alter? Sie war Mitte dreißig und damit längst nicht mehr so unerschrocken wie noch vor zehn Jahren. Damals hatte ein Übergewicht an Neugierde, Lässigkeit, Mut und auch Übermut jeden Anflug von Bedenken einfach weggewischt. Oder lag es daran, dass sie inzwischen so viele verschiedene Gefahrensignale abgespeichert hatte, dass sie eine brenzlige Situation viel schneller und genauer einzuschätzen vermochte? Eine dritte Möglichkeit war, dass sie einfach nur überreagierte, aus Furcht, etwas zu verlieren, was früher überhaupt keine Rolle gespielt hatte: ihre Pläne für die Zukunft.
Früher hatte sie immer nur im Hier und Jetzt gelebt, ohne die Verantwortung für einen Partner, eine Familie oder Freunde - war mit leichtem Gepäck gereist, wie man so schön sagt. In ihrer Erinnerung schien es das Leben eines anderen Menschen gewesen zu sein. Nicht ihres.
Es fühlte sich fremd an, als passe es gar nicht zu ihr, wie ein Kleidungsstück, das einem nach vielen Jahren zufällig in die Hände fällt und man nicht glauben kann, je so etwas Geschmackloses getragen zu haben.
Hatte sie deshalb so große Angst? Weil sie befürchtete, das zarte Pflänzchen Glück, das eigentlich ein Baum werden sollte, könnte zertreten werden?
Dass ich keine Zeit mehr habe, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen …?
Sie wollte nur noch nach Hause. Zu Alexander.
Erst jetzt realisierte sie, dass sie die Tüte mit dem Obst nicht mehr in der Hand hatte und erinnerte sich an den Moment, als sie mit beiden Händen die Türklinke umfasst und daran gerüttelt hatte. An den Zeitpunkt, an dem sie das Obst fallenließ, erinnerte sie sich aber nicht. Sie hob ihre Faust, um an die Tür zu klopfen. Wenn sie Glück hatte, war der alte Mann noch in Hörweite.
Und wenn nicht …?
Sie verspürte wenig Lust, einer dritten Person erklären zu müssen, warum sie noch einmal in den Hof zurückwollte und weshalb sie ihr Obst überhaupt fallengelassen hatte.
Dann eben kein Obst heute Abend …
Das LKA Sachsen wirkte samstags wie eine leere Hülle. Von ein paar wenigen Beamten und dem Objektschutz abgesehen, befanden sich sämtliche Mitarbeiter in ihrem wohlverdienten Wochenende. Nur im Büro der Profilerin herrschte an diesem Morgen eine illustre Stimmung.
Gloria sah zufrieden in die Runde. Ihr Fallanalyseteam, einst aus der Not heraus gebildet worden, hatte sich wieder einmal bewährt. Mit ihrer Hilfe war es Hauptkommissar Plauschke und seinen Ermittlern gelungen, einen Serienmörder zu fassen.
Zum Dank hatte er dieses Sektfrühstück spendiert.
»Mit besten Grüßen von Hauptkommissar Plauschke«, hatte die freundliche Mitarbeiterin eines nahegelegenen Cafés gesagt und einen Servierwagen voller leckerer Kanapees mit Lachs, Käse und Salami, frisch gebrühtem Kaffee und zwei Flaschen Sekt in ihrem Büro abgestellt.
Zur Freude ihres Teams, gebildet aus den Psychologiestudenten Dominik Bach und Charlotte Hiller, die in wenigen Monaten ihren Abschluss an der TU Dresden machen würden, und den Kommissaren Marlies Bender und Clemens Fritzmann, die trotz ihrer Jugend bereits dem Morddezernat angehörten.
Und natürlich Alexander. Sie spürte mehr als nur Dankbarkeit, als ihr Blick über seine Person streifte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Hauptkommissar Plauschke stürmte ins Zimmer. Gloria ahnte sofort, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Alle Augen richteten sich auf ihn.
Der Polizist räusperte sich. »Tut mir leid«, antwortete er und fing den Blick aller Anwesenden der Reihe nach auf. Als Alexander an der Reihe war, huschte etwas, das wie Erleichterung aussah, über sein Gesicht. »Wir müssen die Feier leider beenden«, fuhr er bedauernd fort. »Wegen eines neuen Mordfalls, bei dem ich auf Ihrer aller Hilfe zähle.«
Die ungezwungene Atmosphäre kippte schlagartig. Hände und Mundwinkel ergaben sich der Schwerkraft und fielen nach unten, die Augen waren groß, die Gesichter starr geworden.
»Wieder ein Serienmord?«, flüsterte Marlies.
Plauschke schüttelte den Kopf. »Keiner von den Fällen, für die wir normalerweise ein Profilerteam hinzuziehen würden.«
»Warum dann diesmal?« Die Frage kam von Clemens, der die Sektgläser einsammelte. Er stellte sie zum schmutzigen Geschirr auf den Servierwagen und sah seinen Chef erwartungsvoll an.
»Aufgrund der Brutalität der Vorgehensweise«, antwortete dieser zurückhaltend. »Unserem Opfer, einer einundzwanzigjährigen Jurastudentin mit Namen Laura Behrens, wurde nachts, während sie in ihrem Bett schlief, der Schädel eingeschlagen und das Gesicht zerschlagen.«
Charlotte schüttelte sich. »Wie grauenvoll! Geht die Polizei von Mord aus?«
»Natürlich Mord«, lachte Clemens freudlos auf.
»Obwohl man kein Polizist sein muss, um das zu erkennen«, entgegnete Dominik belehrend. »Das Mordmerkmal Heimtücke ist allzu offensichtlich.« Er half Clemens, den Servierwagen mit den Resten der Kanapees und dem schmutzigen Geschirr aus dem Weg zu schieben, um Platz zu schaffen.
Gloria verdrehte unwillkürlich ihre Augen. Auch wenn sich inzwischen niemand mehr an dem übergroßen Ego von Dominik zu stören schien, ging er ihr zeitweise gehörig auf die Nerven. Dominik war dann auch der Erste, der auf dem Sofa der Sitzgruppe Platz nahm, die von der Tür aus gesehen, rechts neben ihrem Schreibtisch stand. Die anderen folgten seinem Beispiel wie Herdentiere.
Gloria wechselte einen Blick mit Alexander, der neben ihr am Fenster stand, und ging zum Schreibtisch. Sie wies dem Hauptkommissar einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch zu und setzte sich, nachdem er Platz genommen hatte, dahinter.
»Bitte fahren Sie fort, Herr Hauptkommissar!«
Plauschke öffnete seinen Mund, ohne dass ein einziger Laut herauskam. Seine Lippen lächelten zwar, doch der trübe Blick seiner wissenden Augen zeigte seine wahren Regungen. Gloria kannte den Hauptkommissar gut genug, um zu wissen, dass er ganz offensichtlich noch immer unter dem Einfluss seiner ersten Eindrücke vom Tatort stand. Ohne die nötige professionelle Distanz fängt man jedoch keinen Mörder.
»Die Frau wurde erschlagen, während sie schlief«, fasste sie seine Einleitung nüchtern zusammen. »Und im Hinblick auf ihre völlig arg- und wehrlose Situation suchen wir nach einem Mörder.«
»Das stimmt leider«, erwiderte Plauschke rau und räusperte sich. »Können Sie sich etwas Argloseres vorstellen, als einen Menschen, der schläft?« Er blickte in zustimmende Gesichter. »Umso unverständlicher, dass der Täter oder die Täterin mit so einem Übermaß an Gewalt vorgegangen ist.«
»Ein Overkill?«, wollte Gloria wissen.
»Ja, ein Overkill«, seufzte er. »Laura Behrens ist eindeutig übertötet worden.«
Während es in den Köpfen ihres Teams zu arbeiten begann, hielt sie sich nicht mit Betroffenheitsbekundungen auf, sondern konzentrierte sich auf die nüchternen Fakten. »Könnte es sich um ein Sexualdelikt handeln?«
Plauschke sah sie überrascht an. »Bisher deutet nichts darauf hin«, antwortete er. »Aber die Kollegen ermitteln selbstverständlich auch in diese Richtung.«
»Andere Anhaltspunkte?«
»Nichts Offensichtliches. Lauter Kleinigkeiten, die einen Sinn ergeben könnten oder auch nicht. Näheres wird sich erst im Verlauf der weiteren Ermittlungen ergeben. Was wir aber bisher herausgefunden haben, steht Ihnen und Ihrem Team, wie gehabt, im Intranet zur Verfügung. Vorausgesetzt, Sie sind an einer Zusammenarbeit interessiert.« Bei seinen letzten Worten blickte er sich demonstrativ um und heftete seinen Blick schließlich erwartungsvoll an Alexander, der nach wie vor am Fenster stand und zu Boden blickte.
Alexander schien zu überlegen. Doch genau genommen hatte er die ganze Zeit mit gesenktem Kopf zugehört, was es für Gloria unmöglich machte, seine Emotionen einzuschätzen.
»Natürlich sind wir interessiert«, tönte es aus der Ecke, in der die jungen Leute saßen. »Oder? Frau Doktor Siegel?«
»Ich bin dabei«, sagte Gloria in Richtung Alexander, worauf er den Kopf hob und eine gefühlte Ewigkeit in ihrem Gesicht zu forschen schien.
»Dann bin ich es auch«, sagte er schließlich und schenkte ihr ein zärtliches Lächeln.
»Wunderbar«, rief Plauschke und klatschte beinahe euphorisch in seine Hände. »Dann heiße ich Sie alle herzlich willkommen im Team und hoffe auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.«
Alle bedankten sich.
»Ich will Sie auch gar nicht länger aufhalten.« Zufrieden lächelnd erhob er sich und trat an den Servierwagen heran. Sein Zeigefinger tippte auf die Platten mit den Häppchen. »Darf ich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapelte er ein paar Kanapees auf seiner Handfläche und steckte sich eins in den Mund. »Mhm …!«
Tiefe Betroffenheit und trotzdem solch einen Appetit? Gloria konnte sich darüber nur wundern. Andererseits folgten Emotionen keinen vorgeschriebenen Normen. Während manche Menschen in ihrem Kummer alles in sich hineinstopften, bekamen andere nichts herunter.
»Nochmal vielen Dank dem edlen Spender«, sagte Gloria, die nichts mehr herunterbekam. »Im Namen von uns allen.«
»Doch nicht dafür«, erwiderte Plauschke. »Schade nur, dass Sie dieses herrliche Frühstück nicht wirklich genießen können.«
»Ach, machen Sie sich da mal keine Sorgen, Chef«, winkte Marlies ab. »Wir sind noch jung.«
»Und was heißt das?«
»Dass wir mit solchen Situationen besser fertig werden, als al…«
Plauschke verschluckte sich. »Bitte …?«
Marlies lächelte entschuldigend. »Der Mensch muss essen, oder?« Sie sah sich nervös um. »Außerdem wäre es doch schade um diese edlen Leckerbissen.«
Dominik war der Erste, der in Gelächter ausbrach. Alle anderen stimmten mit ein. Und als auch der Hauptkommissar mit dem Finger auf Marlies zeigte und zu lachen begann, ließ auch sie sich mitreißen. Selbst auf dem sonst so ernsten Gesicht von Alexander zeigte sich der Anflug eines Lächelns.
Die allgemeine Fröhlichkeit verstummte abrupt, als das Telefon klingelte. Gloria trat an ihren Schreibtisch und nahm den Hörer ab.
»Bitte …! Hauptkommissar Plauschke …? Ja, der ist noch hier … In Ordnung, Herr Polizeipräsident, ich werde es ihm ausrichten.«
»Was hat er denn so dringend auf dem Herzen, dass es nicht noch eine Viertelstunde warten kann?«, fragte Plauschke, nachdem sie aufgelegt hatte. »Ich bin doch bereits so gut wie auf dem Weg zu ihm.«
»Er möchte, dass ich Sie begleite.«
Plauschkes Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Aber gerne …«
»Nur sollten wir dann möglichst bald aufbrechen, damit ich im Anschluss noch genug Zeit für mein Team habe.«
»Kein Problem.«
Gloria wandte sich an die Gruppe.
»Tut mir leid, Leute, aber wenn der Polizeipräsident ruft …« Sie öffnete bedauernd die Hände. »Sie dürfen aber gerne fertig essen. Wir treffen uns dann später …« Sie schaute auf ihre Uhr. »Sagen wir, in einer Stunde im Gruppenarbeitsraum 0.40 der Universitätsbibliothek?«
Die jungen Leute nickten und auch Alexander gab sein Einverständnis.
»Na, dann«, sagte Gloria zu Plauschke. »Auf zum Chef!«
Charlotte trat gemeinsam mit ihren Kollegen Marlies, Clemens und Dominik, die während ihrer gemeinsamen Aufgaben im Fallanalyseteam zu echten Freunden geworden waren, aus dem LKA ins Freie. Ihre Gemüter waren so erhitzt, dass sie nichts von der frostigen Kälte spürten, mit der sich der nahende Winter ankündigte.
Sie störten sich weder an dem Eisnebel, der in Wangen, Nasen und Ohren zwickte, noch am schneidenden Wind, der seine scharfe Klinge durch die undichten Maschen und Nähte ihrer Kleider trieb.
Ihre vermeintliche Abschiedsparty hatte soeben mit einem unverhofften Paukenschlag geendet, dessen wunderbar warmer Klang noch immer in der Mitte ihrer Körper nachwirkte.
Die Aussicht, noch einmal an der Seite der Profilerin Doktor Gloria Siegel arbeiten zu dürfen, weckte euphorische Gefühle und ließ alles andere nebensächlich erscheinen. Es war ein Privileg, dass sie einem Jugendprojekt verdankten, welches mit dem Ziel ins Leben gerufen worden war, potentiellem Nachwuchs einen unverklärten Einblick in das Berufsbild eines Profilers zu ermöglichen. Ein Privileg, das jedoch enden würde, sobald sie und Dominik ihr Studium abgeschlossen hatten. Danach würden die Vier einem Fallanalyseteam erst dann wieder angehören dürfen, wenn sie selbst ausgebildete Profiler waren. Und das konnte dauern …
Charlotte hatte gemischte Gefühle. Bei all der Freude über die erneute Chance, bereits als Studentin der Psychologie an einem echten Kriminalfall mitarbeiten zu dürfen, verspürte sie auch Trauer. Ein kummervolles Gefühl, das sich in einem undefinierbaren Schmerz ausdrückte, der oberhalb ihres Bauches seinen Ursprung hatte und in alle übrigen Glieder ausstrahlte. Ein junges Mädchen war gestorben, jünger als sie selbst. Sie hatte sich mit Wünschen, Zielen und Sehnsüchten ins Bett gelegt und war von jetzt auf gleich brutal aus ihrem Leben gerissen worden. Allein die Vorstellung darüber versetzte sie in einen Hauch von Schockstarre. Nur ganz zart, um nicht handlungsunfähig zu sein, aber doch so stark, damit sie sich bei jeder Bewegung und jedem Luftholen daran erinnern musste.
»Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mir der alte Brummbär von Plauschke mal so sympathisch werden würde«, rief Dominik überschwänglich und stellte mit eingezogenem Hals seinen Mantelkragen auf. »Nach diesem Frühstück könnte ich ihn direkt knutschen.«
»Wundert mich gar nicht«, stieg Marlies lachend in diese Konversation ein. »Man sagt schließlich nicht umsonst, dass Liebe durch den Magen geht.«
Charlotte schmunzelte. Denn dafür, dass sich die Beiden anfangs überhaupt nicht leiden konnten, verstanden sie sich mittlerweile ganz prächtig.
»Ich rede doch nicht vom Essen«, brüskierte sich Dominik und verdrehte genervt seine Augen.
»Sondern?«
»Von dem ganzen Drumherum!«
»Wieder typisch, dass du selbst an den edlen Kanapees und dem teuren Schampus etwas auszusetzen hast!«
»Und es ist typisch für dich, dass du einem das Wort im Munde umdrehst!«
»Leute, bitte …«, begann Clemens, verstummte jedoch, als Charlotte ihn am Ärmel zog. Seinen erwartungsvollen Blick beantwortete sie mit einem schnellen Seitennicken zu Dominik und Marlies. Fiel ihm denn nicht auch auf, dass die Beiden nur Theater machten? Während sie sich angeblich stritten, funkelte in Marlies Augen der Schalk und auch Dominik schien eine diebische Freude an diesem Geplänkel zu haben.
»Ich rede davon, dass er uns Amateure diesmal ganz ohne Glorias Zureden in der Oberliga mitspielen lassen will«, sagte er gerade leise, beinahe liebevoll und sah Marlies an, als wollte er sie mit den Augen verschlingen. »Verstehst du?«
Dieser Blick …! Charlotte gab einem unbewussten Schluckreiz nach. Hatte sie ihren Freund in Gegenwart einer Frau jemals zuvor so demütig gesehen? Auch die sonst so taffe Marlies schien der Welt entrückt zu sein, als sie seinen Blick erwiderte. Auf einmal fühlte sich Charlotte irgendwie deplatziert, wie ein Spanner, der heimlich in die Privatsphäre anderer Menschen eindringt. Was tun?
Sich diskret zurückziehen und die Beiden allein lassen? Sie schaute zu Clemens, der aber auch nur ratlos mit den Schultern zuckte.
Andererseits hatten sie gerade einen neuen Fall übertragen bekommen und auch in Liebesdingen galt die Devise: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!
»Plauschkes Auftritt war wirklich ganz großes Kino«, nahm sie deshalb den Faden von vorhin wieder auf. »Dabei dachte ich immer, der Herr Hauptkommissar kann uns Psychoheinis überhaupt nicht ausstehen.«
»Das dachte ich allerdings auch«, beeilte sich Clemens mit arrogant gespitzten Lippen hinzuzufügen.
»Bezeichnete er es nicht als Firlefanz, einen Fall nach psychologischen Aspekten beurteilen zu wollen?«, fuhr Charlotte in ihrer scheinbaren Verwunderung fort.
»Original der Begriff, den er in diesem Zusammenhang verwendet hatte …«
»Und jetzt so etwas! Was ist nur in ihn gefahren?« Charlotte gab die Nachdenkliche. »Der wird doch nicht etwa …?«
»… zu Verstand gekommen sein, meinst du?«, feixte Clemens. »Auf seine alten Tage?«
Beide lachten ein künstliches Lachen.
»Altersdemenz wäre auch eine Erklärung«, brachte sich nun auch Dominik sichtlich belustig ins Gespräch ein.
»Wie gemein«, begehrte Marlies halbherzig auf und versetzte Dominik einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. »Unser Chef ist ein feiner Mensch. Er ist unglaublich intelligent, unglaublich kritisch und unglaublich ehrlich … Einen besseren Vorgesetzten kann ich mir nicht vorstellen. Er ist … wie ein Vater.«
»Ein Vater, der seine eigenen Kinder stets in den Himmel hebt, an fremden Kindern aber kein gutes Haar lässt«, entgegnete Dominik.
»Ein Vater, wie ihn sich Kinder wünschen«, erklärte Marlies.
Charlotte warf Clemens einen zufriedenen Blick zu. Die zwei Turteltauben waren also wieder in der Spur, wie man so schön sagt, und man konnte endlich zur Tagesordnung übergehen. In nicht ganz einer Stunde würden sie auf Gloria treffen und dann wäre es kein Fehler, sich im Vorfeld schon mal über den Fall ausgetauscht zu haben. Außerdem wollte sie so schnell wie möglich ins Warme. Vom kalten Wind fühlte sich ihr Gesicht schon ganz taub an. Als sie begann, ihre Schultern zu reiben, trat Clemens hinter sie und nahm sie in die Arme. Sofort wurde ihr wärmer und sie kuschelte sich noch enger an ihn. Das wohlige Kribbeln unter ihrem Bauchnabel erinnerte sie an die vergangene Nacht … Wie sie diesen Mann liebte!
»Meint ihr, der Herr Hauptkommissar hat Dominik und mich inzwischen adoptiert?«, fragte sie lächelnd.
»Wäre jedenfalls eine Erklärung für seinen Sinneswandel«, antwortete Clemens dicht an ihrem Ohr und pustete sanft hinein. »Aber egal, weshalb er sich umentschieden hat. Die Hauptsache ist doch …« Lächelnd vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar. Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde sich Charlotte ihrer Situation bewusst, schob Clemens von sich und senkte den Blick.
Scheiße …!
Genau wie Dominik und Marlies vorhin, hatte sie gerade ihr Umfeld völlig vergessen. Denn dass Clemens und sie seit kurzem ein Liebespaar waren, hatten beide vor Marlies und Dominik noch geheim gehalten.
Obwohl geheim gehalten stimmte nicht ganz, weil es ja eigentlich keinen Grund zur Heimlichtuerei gab. Beide waren erwachsen und Single! Sie hatten es eben nur noch nicht an die große Glocke gehängt. Das war ein Unterschied! Aber warum fühlte es sich dann trotzdem so verräterisch an? Charlotte hob den Kopf. Sie schaute in zwei fragende Augenpaare und spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss.
»Was ist?«, fragte sie aggressiver als gewollt und schaffte unbewusst noch mehr Raum zwischen sich und Clemens.
»Nichts«, antwortete Marlies schnippisch und warf Dominik einen verschwörerischen Blick zu, was er jedoch nicht bemerkte, weil er Charlotte verdattert anstarrte.
Dominik musste unwillkürlich blinzeln und traute seinen Augen und Ohren nicht. Hatten Charlotte und Clemens etwa …? Hinter seinem Rücken? Unmöglich!
Die Zwei passten doch überhaupt nicht zueinander! Auf der einen Seite die ausgeflippt durchgestylte Charlotte mit ihrer blonden Lockenmähne und dem grell geschminkten Gesicht und auf der anderen Seite der unscheinbare Clemens, der zwar großen Wert auf einen sportlichen Körper legte, aber mit Styling überhaupt nichts am Hut hatte. Während Charly jeden Gang zum Friseur regelrecht zelebrierte, ging Clemens nur dahin, um seine Haare kurz zu halten. Und während sie ihr Outfit jeden Tag neu kreierte, zog er sich lediglich irgendwelche Klamotten über, um nicht zu frieren oder nackt zu sein. Ehrlich gesagt wäre es nicht verwunderlich, wenn unter dem Begriff Modemuffel im Onlinelexikon Wikipedia der Name des Polizisten auftauchen würde. Aber die Art, wie Charlotte mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf vor ihm stand und ihn mit ihren großen blauen Kulleraugen von unten anklimperte, ließ kaum einen anderen Schluss zu. Das Schuldbewusstsein schrie ihm förmlich aus jeder ihrer Poren entgegen. Und trotzdem weigerte sich sein Verstand, an einen Verrat zu glauben. Welchen Grund sollte sie haben, ihr Techtelmechtel mit Clemens vor ihm zu verheimlichen? Ausgerechnet vor ihm, der doch wie ein Bruder für sie war?
»Sag mal, spinnst du?«, fragte er Charlotte. »Was soll denn das?«
»Das erkläre ich dir später«, antwortete sie.
Clemens konnte die angespannte Situation, die zwischen Charlotte und Dominik herrschte, kaum ertragen. Mochte sein, dass es ein Fehler war, die Liaison mit Charlotte vor ihm geheim zu halten, aber deshalb den großen Zampano zu machen, stand ihm eigentlich nicht zu. Schließlich war Charly eine souveräne Person und nicht verpflichtet, einem Dritten Rede und Antwort zu stehen. Außerdem war es nun sowieso nicht mehr zu ändern.
Entschlossen trat er hinter Charlotte und schlang seine Arme um sie. Nicht, weil er Dominik ärgern wollte, sondern weil er das Gefühl hatte, diese Liebe zu beschädigen, sollte er sie weiterhin verleugnen. Zwar waren er und Charlotte sich einig gewesen, ihre Beziehung so lange wie möglich geheim zu halten, sie jedoch zu bestreiten, nachdem sie bereits ans Licht gekommen war, käme einem Verrat gleich, der sich für den jeweils anderen Partner wie ein Treuebruch anfühlen musste. Das sagte ihm zumindest sein gesunder Menschenverstand. Auch wenn der für den Alltagsgebrauch nicht immer taugte. Manchmal war es sogar sinnvoll, einfach seinen Instinkten zu folgen und einer Peinlichkeit, auch wenn sie sich nur so anfühlte, ohne es tatsächlich zu sein, durch Flucht zu entkommen.
»Apropos später …«, sagte er deshalb und schaute sich demonstrativ aufs Handgelenk. »Bitte entschuldigt uns jetzt! Wir sehen uns dann später wieder.«
Noch ehe Marlies und Dominik etwas erwidern konnten, nahm er Charlotte bei der Hand und lief mit ihr davon.
Dominik starrte ihnen verwirrt hinterher. »Und nun?«, fragte er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Wie kommen wir jetzt in die Bibliothek? Mit dem Bus?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Diese Egoisten! Fahren mit dem einzigen zur Verfügung stehenden Auto davon und lassen uns einfach in der Wildnis zurück. Wo ist da die Logik?«
»Liebe ist nicht logisch«, antwortete Marlies.
»Wieso Liebe?«, platzte es aus Dominik hervor. »Ich verstehe nicht … Du meinst …? Niemals! Die Beiden haben uns doch nur etwas vorgemacht.«
»Bist du dir da wirklich sicher?«
»Natürlich bin ich das. Charly würde sich niemals mit einem Typen wie Clemens einlassen. Nicht, dass ich ihn nicht mögen würde. Er ist ein super Kumpel und der beste Freund, den ich habe. Aber er und Charlotte …?« Er schüttelte so entschieden seinen Kopf, dass er seine Ohren flattern spürte. »Niemals!«
»Weil du selbst in sie verliebt bist?«, fragte Marlies vorsichtig.
»Wie bitte? Ich? Verliebt in Charly?« Dominik schnaubte verächtlich. »Genauso gut könntest du mir unterstellen, heimlich Frauenkleider zu tragen! In sie könnte ich mich nie verlieben!«
»Warum nicht?«, fragte Marlies mit einem neckischen Unterton in der Stimme, die Dominik hellhörig werden ließ.
»Warum was nicht? Willst du wissen, warum ich nicht heimlich Frauenkleider trage?«
»Witzbold«, grinste Marlies und versetzte ihm einen sanften Stoß. »Warum du dich nie in sie verlieben könntest?«
»Weil …« Dominik schüttelte amüsiert seinen Kopf. »Gegenfrage: Hast du Geschwister?«
»Ja, einen Bruder, warum?«
»Bist du verliebt in ihn?«
»In meinen Bruder?« Marlies lachte überrascht auf. »Ich liebe meinen Bruder über alles, aber ich könnte mich doch nie in ihn verlieben.«
»Na, also!«
Marlies wirkte verunsichert. »Aber Charly ist doch nicht deine Schwester!«
»Und trotzdem fühlt es sich für mich so an«, erklärte Dominik. »Wir sind wie Geschwister miteinander aufgewachsen, kennen uns bereits unser ganzes Leben.« Unvermittelt zogen sich seine Lippen in die Breite. »Ich liebe Charly wirklich über alles, aber ich könnte mich doch nie in sie verlieben.«
Marlies lächelte zufrieden. »Ihr hättet sowieso nicht besonders gut zusammengepasst«, sagte sie. »Charly, die taffe Weltverbesserin, und du, der unverbesserliche Macho.«
»Wegen der frauenfeindlichen Sprüche, meinst du?« Dominik winkte lachend ab. »Das ist doch nur Show, um Charly aufzuziehen. Seit wir Kinder waren, gab es immer diesen blödsinnigen Konkurrenzkampf zwischen uns. Wer kann besser zeichnen, schöner singen, ausdauernder laufen? Wer schreibt die besseren Noten, ist bei seinen Mitschülern beliebter, sieht besser aus? Solange ich die Nase vorn hatte, war die Welt in Ordnung. Fiel ich jedoch zurück …«
»… half nur der unfaire Griff in die Mottenkiste, um dein verletztes Ego wieder aufzupolieren.«
Dominik nickte. »Anfangs war es tatsächlich tröstlich, die Sichtweise unserer Vorväter zu übernehmen, wonach …«
»… Männer den Frauen allein deshalb überlegen sind, weil sie Männer sind«, fiel Marlies ihm ins Wort.
»Richtig! Vorurteile helfen ungemein, wenn man sich nicht mit der Realität auseinandersetzen möchte.« Er hob den Zeigefinger. »Da ich aber lediglich ehrgeizig bin und nicht blöd, habe ich längst begriffen, dass das mit der Überlegenheit der Männer alles nur Schwachfug ist.«
Marlies grinste.
»Was dich allerdings nicht davon abhält, ihn weiterhin zu vertreten, warum?«
Auch Dominik musste lachen.
»Weil sich Charly so herrlich darüber aufregen kann. Es ist einfach lustig, sie damit aufzuziehen.« Er schob seine Hände in die Manteltaschen und drückte die Ellenbogen durch. »Doch die Pointe zündet nur, wenn die im Witz beschriebene Situation weit genug von der Wirklichkeit entfernt ist«, fügte er nachdenklich hinzu. »Einer Gesellschaft, die noch immer von patriarchalischem Verhalten geprägt ist, steht es nicht zu, herabwürdigende Witze über Frauen zu machen. Solche Witze sind nicht lustig, eher lachhaft, um nicht zu sagen lächerlich. Und vor allem: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.«
»Glashaus …?«, wiederholte Marlies irritiert. Sie verstand nur Glashaus, auch wenn ihr wirklich gefiel, was Dominik sonst noch gesagt hatte. Herausfordernd sah sie ihn an und wartete, dass er ihr erklärte, was er meinte. Aber Dominik hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Glashaus …?«, fragte sie noch einmal. »Wieso Glashaus?«
»Na, dann schau dir doch mal die ewig gestrigen Typen von heute an«, antwortete Dominik. »Gustl, Schorsch, Helmut, Gerhard und Otto – oder wie sie sonst alle heißen - sind unorganisiert, können nicht mit Geld umgehen und ziehen die Klamotten an, die ihnen von Frau oder Mutter hingelegt werden. Sie essen schmatzend aus der Hand, furzen, pulen sich in den Zähnen herum und würden ohne fremde Hilfe im eigenen Dreck ersticken. Aber ausgerechnet diese Schmuckstücke fühlen sich den Frauen überlegen! Sie machen sich über resolute Frauen lustig, dabei sind sie die eigentlichen Deppen! Das meine ich mit Glashaus!«
Wo er Recht hat, hat er Recht …
»Zum Glück gilt das nicht mehr für unsere Generation«, erwiderte Marlies.
»Für die Generation unserer Eltern aber auch nur zum Teil«, entgegnete Dominik. »In der ehemaligen DDR zum Beispiel waren Frauen in Chefsesseln das Normalste der Welt. Die Gesellschaft hat funktioniert wie eine große Familie, weil sich Männer und Frauen die Verantwortung für alle Lebensbereiche geteilt haben.«
»Das klingt zu schön, um wahr zu sein«, seufzte Marlies. »Inzwischen liegen diese Zeiten mehrere Jahrzehnte zurück, doch die Gegenwart fühlt sich an wie das Mittelalter, kalt und rücksichtslos.«
»Wen wundert’s!« Dominik zuckte die Achseln. »Männer sind Krieger und immer im Kampf. Ihnen geht es weniger um das Gemeinwohl, als um den eigenen Arsch. Für sie definiert sich Erfolg fast ausschließlich aus dem Gewinn für sich selbst: Gewinn an Geld, Gewinn an Macht und Gewinn an Ansehen. Wie viele Menschen dabei auf der Strecke bleiben, ist ihnen dabei egal.«
»Solche Worte aus dem Mund eines Mannes?« Marlies stemmte ihre Fäuste in die Seiten und hob herausfordernd ihr Kinn. »Kann es sein, dass Männer wie du das Problem längst erkannt haben, aber zu feige sind, sich den herrschenden Dinosauriern zu widersetzen?«
»Mit Feigheit hat das nichts zu tun«, lachte Dominik. »Aber du hast Recht! Wir kennen das Problem! Doch was können wir schon ausrichten?«
»Coole Einstellung, wirklich! Und so bahnbrechend produktiv …!«
»Was willst du hören? Dass wir die Dinosaurier bekehren? Eher friert die Hölle zu.«
»Wir müssen niemanden bekehren, um etwas zu verändern! Fürs Erste würde es schon reichen, wenn wir Jüngeren damit anfingen, in einer Frau, die einen Rock und hohe Schuhe trägt, kein Spielzeug zu sehen, sondern lediglich einen Menschen, der es satt hat, sich als Mann zu verkleiden, um in den Chefetagen der Großkonzerne ernst genommen zu werden. Nachfolgende Generationen werden nachziehen und die Dinosaurier letztendlich aussterben.«
»Da brauchen wir aber einen langen Atem«, schmunzelte Dominik, erschrak jedoch, als er zufällig auf seine Uhr schaute. »Sorry, Marlies! Aber wenn wir uns nicht hoffnungslos verspäten wollen, müssen wir umgehend aufbrechen. Weißt du zufällig, wo sich die nächste Bushaltestelle befindet?«
Anstatt zu antworten, hakte sich Marlies bei Dominik unter und lief einfach los. Dominik stolperte widerstrebend hinter ihr her.
»Ruuuuhig, Brauner«, lachte Marlies und klopfte ihm mit der freien Hand auf den Oberarmmuskel. »Du wirst nicht zu spät kommen, vertrau mir!«
»Nur, wenn du hier irgendwo deinen Flieger geparkt hast.«
»Einen Flieger nicht, aber einen Mercedes. Und ein Mercedes hat, wie wir alle wissen, eine eingebaute Vorfahrt.«
»Einen Mercedes? Seit wann hast du denn einen …?« Er verstummte, als sie geradewegs auf einen dunkelblauen Mercedes zusteuerten.
»Das ist nicht dein Mercedes«, sagte Dominik und klang etwas enttäuscht. »Ich erinnere mich an diesen Mercedes, genauso, wie ich mich an den dazu gehörigen Typen erinnere, und an den Ärger, den du Alexander damals eingebrockt hattest.«
»Blödmann!«, lachte Marlies und kramte in ihrer Handtasche nach den Wagenschlüsseln. »Unsere Zusammenarbeit mit Alexander war zu diesem Zeitpunkt doch längst nicht mehr zu leugnen. Hätte ich nicht geredet, hätte einer von euch den Mund aufgemacht. Und dann? Dann wäre Alexander ebenfalls zum Hauptverdächtigen avanciert.«
»Aber im Gegensatz zu dir haben wir uns Gedanken darüber gemacht, wie wir Alexander da wieder raushelfen.«
Marlies fand die Schlüssel und drückte den Knopf für die die Zentralverriegelung.
»Weshalb glaubst du, ich hätte mir keine Gedanken gemacht?«
»Weil du danach eilig deinen Freund angerufen hast, um dich abholen zu lassen.«
»Meinen Freund?«, stellte sich Marlies dumm. Sie hatte schon damals geahnt, dass hinter der Bissigkeit von Dominik Eifersucht steckte, heute war es offensichtlich. Mit vor Freude klopfendem Herzen stieg sie in den Wagen.
Dominik öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben sie. »Der Kerl, dem dieser Mercedes gehört, hallo …?«, wollte er ihr auf die Sprünge helfen.
Marlies‘ Herz klopfte inzwischen so heftig, dass es wie Paukenschläge in den Ohren dröhnte. Es klopfte ihr bis in die Kehle. Unfähig, etwas zu erwidern, startete sie den Motor und fuhr los. »Das war nicht mein Freund«, sagte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, traute sich aber nicht, Dominik anzusehen. »Das war mein Bruder.«
»Dein Bruder …?« Dominik wandte seinen Oberkörper zu ihr. »Ach! Das war also dein … Bruder.«
Über diese Feststellung musste Marlies lachen.
»Bis heute wusste ich ja noch nicht einmal, dass du einen Bruder hast …«, stotterte Dominik.
»Er war gerade von einem Auslandseinsatz aus Afghanistan zurückgekommen«, antwortete Marlies belustigt. »Wir hatten uns seit Monaten nicht gesehen.«
»Dein Bruder also«, sagte Dominik mehr zu sich selbst und rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. »Ist er … Soldat?«
Marlies nickte. »Und wann immer er drüben ist, überlässt er mir seinen Mercedes.«
»Ein feiner Kerl.«
Wieder musste Marlies lächeln. Diesmal jedoch nicht vor Belustigung, sondern aus Zuneigung. »Ja, das ist er«, sagte sie weich.
»Du auch«, fügte Dominik mit krächzender Stimme hinzu und räusperte sich. »Du … bist … auch …ein feiner Kerl.«
»Danke.«
»Meinst du, man könnte sich nach Feierabend mal …?«
»… treffen, meinst du?«
Wieder spürte Marlies ihr Herz wie einen Presslufthammer schlagen. Im Gegensatz zu Dominik, hatte sie schon sehr früh gemerkt, dass sie mehr für ihn empfand, als nur Freundschaft. Sie konnte die schlaflosen Nächte nicht mehr zählen, in denen sie an ihn gedacht und sich genau diese Situation herbeigesehnt hatte. »Von mir aus sehr gern.«
»Heute Abend auf einen Schlummertrunk?«
Marlies riskierte einen kurzen Seitenblick und errötete, als sie das Funkeln in seinen Augen sah. »Ja, von Herzen gern.«
*
Während sich das Fallanalyseteam bereits auf den Weg in die Landesbibliothek befand, wartete Alexander Buschbeck im Büro der Profilerin auf das Ende ihrer Besprechung mit dem Polizeipräsidenten.
Schon verrückt, wie sich die Ereignisse seit gestern Nacht überschlagen hatten. Erst der Anruf aus Berlin, dass die gesuchte 15-fache Serienmörderin, die es speziell auf Geschäftsmänner abgesehen hatte, gefasst worden war, dann die unerwartete Einladung des Hauptkommissars zu einem gemeinsamen Frühstück, und schließlich die Übertragung eines ganz neuen Falls.
Wie sich Marlies, Charlotte, Dominik und Clemens gefreut hatten, wieder in die Ermittlungen mit einbezogen zu werden! Anstatt sich erst einmal von den Strapazen des Grauens zu erholen, die der letzte Fall mit sich gebracht hatte, stürzten die sich mit Heißhunger auf den nächsten. Sie waren jung, okay! Sie wollten die Welt aus den Angeln heben, auch klar! Aber waren ihre Seelen wirklich schon robust genug, die erneute Konfrontation mit den Abgründen der menschlichen Natur zu ertragen? Er würde wohl ein wachsames Auge auf sie haben müssen!
Genauso wie auf Gloria, die seit einigen Tagen sehr angespannt auf ihn wirkte. Bei aller Liebe zu ihrem Beruf, die er gut nachempfinden konnte, vergaß sie jedoch hin und wieder auch mal, durchzuatmen. Wie aktuell. Kaum war der eine Fall abgeschlossen, sagt sie auch schon ihre Mitarbeit beim nächsten Fall zu. Vielleicht sollten sie verreisen, wenn das hier vorbei war. Einfach weg! Irgendwohin, wo es noch Menschen gab, die nicht von Neid und Missgunst zerfressen waren, nach Spitzbergen vielleicht oder nach Norwegen …