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Grausame Todesfälle ereignen sich in Dresden. Die Opfer haben nur eine Gemeinsamkeit: Sie wurden regelrecht hingerichtet – und doch spricht alles für Selbstmord. Keine Spuren, keine Verdächtigen, keine Motive. Die Ermittlungen drohen ins Leere zu laufen, bis Hauptkommissar Karl Löwenberg die Profilerin Penny Lebowski auf die Fälle ansetzt. Eine bisher ungeahnte Verbindung zwischen den Todesopfern kommt ans Tageslicht und in Penny wächst ein furchtbarer Verdacht. Ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt, oder Dresden ist dem Untergang geweiht.
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Seitenzahl: 346
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HYBRID VERLAG
Ebookausgabe
02/2019
© by Symone Hengy
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © by Hygin Graphix
Lektorat: Diana Spitzer
Korrektorat: Petra Schütze
Buchsatz: Eva Töpelt
Autorenfoto: Michael Hengy
Coverbild ›Extrem‹
© by Hygin Graphix
ISBN 978-3-946-82059-8
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
Symone Hengy
Kantschu
- Wie du mir, so ich dir -
Mystery-Krimi
Zur Erinnerung an meine Mutter
und für alle, die sie gekannt
und geliebt haben
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
DIE AUTORIN
Weitere Bücher der Autorin
Leben – für uns Lebende ein Sumpf aus Selbstverständlichkeit, in den wir hinterrücks hineingestoßen werden. Aber wir kämpfen uns durch. Jeder in seinem Rhythmus, jeder auf seine Weise.
Erst die Konfrontation mit dem Tod einer uns nahestehenden Person verändert unseren Bezug zum Leben. Schlagartig wird uns bewusst, dass wir nur einen einzigen Versuch haben. Wir erkennen, dass alles, was bereits hinter uns liegt, für immer verloren ist.
Plötzlich ist unser Leben keine Selbstverständlichkeit mehr, die Angst vor dem Tod unser ständiger Begleiter.
Aber gerade diese Angst versetzt uns in die Lage, Mitgefühl für jene zu empfinden, die vorzeitig aus dem Leben gerissen werden. Besonders dann, wenn sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind.
Wir leiden mit den Betroffenen, immer mit der Furcht im Nacken, selbst einmal zu Opfern zu werden.
Zu Opfern von jemandem, der anders ist.
Jemand, der kein Mitleid empfindet, wenn er Menschen quält, Frauen häutet oder in den warmen Gedärmen eines vielleicht noch atmenden Lebewesens herumwühlt.
Jemand, der absolut Böses tut, dessen Verbrechen werden jedoch fasziniert verfolgt. Verbrechen, die in Dokumentationen, Büchern und Filmen nacherzählt werden.
Doch warum faszinieren uns gerade diese Geschichten so sehr?
Bewundern wir den Täter für seine Entschlossenheit, sich über generelle Regeln hinwegzusetzen, um das zu tun, was wir uns im Geheimen selbst manchmal vorstellen? Oder identifizieren wir uns mit den ermittelnden Beamten, die sich couragiert einer solchen Bestie an die Fersen heften, um das Töten zu beenden?
Gilt unsere Faszination der Art und Weise, wie ein Verbrechen ausgeübt wurde? Oder ist es die Raffinesse der Aufklärung?
Im Grunde egal, wenn Einigkeit darüber besteht, dass der Täter gefasst und bestraft werden muss.
Hart bestraft, sollte das Gesetz es verlangen.
Aber wie einig sind wir uns in Bezug auf die Frage nach der Todesstrafe?
Acta sunt hec Dresdene anno 1206.
Geschehen ist dies zu Dresden im Jahre 1206.
Mit diesen Worten, geschrieben auf einer Gerichtsurkunde aus Tierhaut, wurde eine kleine Siedlung im Elbtal am 31. März 1206 ins Weltgeschehen katapultiert. Eine der bedeutendsten Kunst- und Kulturmetropolen der Welt war geboren.
Diese erste Dresdner Urkunde schließt mit dem Siegel des Meißner Markgrafen Dietrich der Bedrängte und den Worten:
»Geschehen ist dies in Dresden im Jahr 1206 nach der Fleischwerdung des Herrn in der 9. Indikation an den 2. Kalenden des April im 8. Regierungsjahr des Herrn Philipp des erhabenen Königs. Heil und Segen. Amen.«
Dem Gerichtsverfahren vorangegangen war ein Streit zwischen dem Burggrafen Heinrich von Dohna und dem Meißner Bischof Dietrich.
Heute, mehr als achthundert Jahre später, gehörte Dresden zu den schönsten Städten Deutschlands. Auch wenn sie mancherorts in der Nacht ein ganz anderes, ein hässliches Gesicht offenbarte.
Es war die dem Licht abgewandte Seite einer glamourösen Kunst- und Kulturmetropole. Eine Schattenwelt aus vernachlässigten Gebäuden, verwilderten Flächen und vergessenen Existenzen. Unter ihnen auch verlorene Seelen, die gezwungen waren, sich mit aufgebrezelten Hüllen auf dem Straßenstrich zu verkaufen.
Helmut Funke, ein magerer Mittvierziger mit eingefallenen Wangen und schlechten Zähnen, blickte verstohlen auf die Beifahrerseite seines alten Opel Vectra. Vor wenigen Minuten hatte dort ein besonders hübsches Exemplar einer Bordsteinschwalbe, eine kleine Asiatin, Platz genommen.
Er war nicht zum ersten Mal an diesem Straßenstrich vorbeigefahren, hatte aber zum ersten Mal angehalten, um eine Nutte in sein Auto steigen zu lassen.
Mhm …, die Kleine duftete wie der Garten seiner Großeltern im Frühling. Wenn er die Augen schloss, konnte er die Fliederbüsche, Hyazinthen und Schneeglöckchen deutlich vor sich sehen.
Frühlingsgefühle am 31. Oktober.
Ein Hauch von Wehmut verengte seine Brust.
Damals war die Welt es noch wert gewesen, jeden Morgen aufs Neue erobert zu werden. Der Tag ein rasanter Galopp von Eindrücken und Erlebnissen, nur im Zaum gehalten von der Nacht, die diesen wunderbaren Wahnsinn in verlässlicher Regelmäßigkeit durchbrach. Mit einer Oase der Ruhe, in die er sich fallen lassen und aus der er Kraft schöpfen konnte.
Heute hingegen waren Tag und Nacht gleichsam in Trostlosigkeit gehüllt. Seit zwanzig Jahren arbeitslos, fesselte ihn die kleine Stütze, die er monatlich vom Amt bekam, an seine Stadtwohnung. Dadurch war er gezwungen, seine Abenteuerlust, Wünsche und Sehnsüchte virtuell am Computer zu befriedigen.
Sein Auto war das einzige, was er sich aus der realen Welt erhalten hatte. Selbst die Nutten hatte er in den letzten Jahren nur in seiner Fantasie vor dem Bildschirm gefickt.
Doch das sollte sich ab heute ändern!
Heute war endlich die Nacht der Nächte – seine Nacht!
Wieder schaute er verstohlen auf die Beifahrerseite, bevor er seinen Wagen neben dem Zaun eines verwaisten Fabrikgeländes zum Stehen brachte.
Auf den ersten Blick waren er und seine Begleiterin vollkommen allein. Auch beim zweiten Hinsehen deutete nichts auf die Anwesenheit einer dritten Person hin. Die Gegend rund um das Auto lag in völliger Dunkelheit und friedvoller Stille. Mal abgesehen von der gespenstischen Atmosphäre, die das silberne Licht des Mondes verbreitete.
Vollmond – nüchtern betrachtet der Zeitpunkt, in dem Sonne und Mond in Opposition zueinander stehen. Vom Gefühl her jedoch ein Mysterium, um das sich seit Menschengedenken unzählige Mythen und Legenden ranken.
Die kennt schließlich jeder, die Geschichten über Werwölfe, Vampire und Geistererscheinungen. Menschen, die sich bei Vollmond in blutrünstige Bestien verwandeln und arglosen Nachtschwärmern das Fleisch von den Knochen reißen; lichtscheue Gestalten, die sich tagsüber in der Dunkelheit irgendwelcher Gruften verbergen, jedoch nachts aus ihren Särgen steigen, um Blut aus den Kehlen wunderschöner Jungfrauen zu saugen; Verstorbene, die keine Ruhe finden und den Mondschein nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Funke grinste erregt. Genau diese Atmosphäre hatte er sich für sein erstes Mal gewünscht.
Die kleine Asiatin sah ihn frech von der Seite an.
»Na, Süßer, wie hättest du es denn gern?« Sie zog aus einer verdeckten Bauchtasche zwei kleine Schokoladentäfelchen hervor und hielt ihm eine hin, während sie sich selbst eine zwischen die Lippen schob.
Er nahm die Süßigkeit, entfernte das Papier und steckte sie sich in den Mund. Dann bleckte er die fauligen Zähne und schob seine dreckige Hand unter ihre Bluse. Die Brüste waren überraschend klein, aber sie waren fest und ihre Brustwarzen knackig wie zwei frische grüne Erbsen. Als würde er an der Krone einer Armbanduhr drehen, rieb er sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
Seine Erregung wuchs.
»Das wirst du gleich sehen«, grunzte er und fuhr sich mit der freien Hand in den Schritt.
»Ja, zeig ihn mir«, stöhnte die kleine Asiatin mit deutlichem Akzent. »Hole ihn heraus, damit ich mit ihm spielen kann.«
Er nickte, doch statt die Hose zu öffnen, zog er ein Messer zwischen seinen Beinen hervor und ließ die Klinge aufspringen.
Ein kurzer Aufschrei, dann ging alles blitzschnell. Hatte er soeben noch voller Lust in die vor Entsetzen weit aufgerissenen braunen Mandelaugen dieser Nutte geschaut, durchzuckte ihn plötzlich ein beißender Schmerz.
»Scheiße«, schrie er überrascht auf und hielt sich die Schläfe.
In diesem Moment fiel ein kleiner aber unglaublich hochhackiger Schuh auf seinen Schoß – der spitze Absatz des Schuhes besudelt mit seinem Blut.
Diese kleine Schlampe, dachte er wütend. Als er nach ihr greifen, sie sich vornehmen wollte, entwischte sie ihm nur um Haaresbreite durch die inzwischen geöffnete Wagentür und lief davon.
»Böser Fehler«, polterte seine Stimme. »Hast du gehört? Das war ein ganz böser Fehler!«
Er wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Wunde und sah ihr zähneknirschend nach. Ob er nun wollte oder nicht – er musste hinterher. Er musste dieses Luder einholen, bevor die Dunkelheit sie völlig verschluckt haben würde; durfte sie auf keinen Fall entwischen lassen!
Nicht auszudenken, wenn sie ihrem Zuhälter erzählte, was geschehen war, oder gar auf die Idee käme, die Polizei auf ihn anzusetzen.
»Komm zurück«, rief er mit einer ordentlichen Portion gespielten Bedauerns in der Stimme, bückte sich nach dem Messer, welches in den Fußraum gefallen war, und steckte es in die Hosentasche. »Ich wollte dir nichts tun, ehrlich! Ich wollte dich nur ein bisschen erschrecken! Heute ist Halloween – schon vergessen?«
Dabei musste er zugeben, dass sich ihm der tiefere Sinn dieses aus Amerika herübergeschwappten Blödsinns bis heute nicht erschloss.
»Halloween«, rief Funke hinter ihr her, während er sich anschickte, ebenfalls auszusteigen. »Kennst du nicht, oder? Erst macht man sich gegenseitig Angst, dann wird gefeiert.«
Als sie unverhofft stehenblieb, beeilte er sich, aus dem Wagen zu kommen. Ein böses Grinsen huschte über sein Gesicht.
Na, bitte! Wer sagt՚s denn?
Doch die junge Frau schaute nur kurz über ihre Schulter zurück, streifte sich dann den zweiten Schuh vom Fuß und rannte weiter.
Fluchend nahm er die Verfolgung auf.
»Lauf nur, Miststück«, brüllte er hinter ihr her. »Ich kriege dich sowieso! Du kannst mir nicht entwischen! Nicht hier!«
In der Tat kannte er das Terrain wie seine Westentasche, hatte lange Zeit auf diesem Fabrikgelände als Maurer gearbeitet. Mit seinem guten Schulabschluss an der Polytechnischen Oberschule hätte er auch eine Berufsausbildung mit Abitur machen können. Hat er aber nicht. Weil er nicht studieren, sondern Geld verdienen wollte. Und als Maurer hatte er gutes Geld verdient. Bis die Firma vor zwanzig Jahren Pleite gegangen war. Und er in gewisser Weise mit ihr.
Zwar hatte es anschließend den einen oder anderen Nachbesitzer gegeben, aber keiner von ihnen war lange genug geblieben, um tiefgreifende Veränderungen vorzunehmen.
Im Gegensatz zu ihr wusste er also genau, wo er sich verstecken würde, wenn er müsste. Nur musste er eben nicht.
Wieder grinste er, legte unwillkürlich einen Zahn zu, als er merkte, dass es urplötzlich stockfinster geworden war. Eben noch hatte er ihre mädchenhafte Silhouette vor sich im Mondlicht sehen können und schon im nächsten Moment war sie verschwunden.
Verdammte Scheiße!
Funke schaute verärgert in den Nachthimmel. Wo zum Kuckuck kamen auf einmal die vielen Wolken her? Fast schien es, als wären die Wolken nur aufgezogen, um die kleine Hure zu beschützen. Was natürlich Quatsch war, aber irgendwie auch amüsant, weil sinnlos.
Absolut sinnlos!
Die Kleine hatte doch schon längst verloren.
Nicht nur, dass sie sich auf unbekanntem Terrain bewegte, sie war auch barfuß. Barfuß auf kaltem, unwegsamem Grund, auf dem es vor Glasscherben und metallischen Kleinteilen nur so knirschte und klirrte.
Vor ihm, nur wenige Meter entfernt, ertönte ein spitzer Schrei. Im gleichen Augenblick sah er einen schmalen Schatten hüpfend davonspringen. Dieser Anblick erheiterte ihn so sehr, dass er von Herzen lachen musste. Wie bei den Stummfilmen über Dick und Doof, wo allein Mimik und Körpersprache ausreichten, um entsprechende Emotionen in ihm auszulösen.
Albern?
Vielleicht. Jedenfalls nicht zeitgemäß. Trotzdem stand er mit seiner Vorliebe für diese Art von Kino nicht allein. Auch wenn die Fangemeinde von Jahr zu Jahr kleiner wurde. Das schrieb er jedoch der allgemeinen Verrohung in der Gesellschaft zu, wo Emotionen wie Heiterkeit mit Schwäche gleichgesetzt wurden. Diese brachialen Züge machten selbst vor kulturellen Traditionen nicht Halt. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf das intellektuelle Niveau. Schließlich bedurfte es einer gewissen Grundintelligenz, diesen Humor überhaupt zu verstehen.
Für ihn gab es jedenfalls nichts Witzigeres, als die Körpersprache eines Menschen, dem ein anderer mit einem Hammer auf die Zehen schlägt. Oder seine drollige Mimik, während er, auf der Straße liegend, von einer Dampfwalze zerquetscht wurde. Noch ein paar rohe Eier auf die Ulknudel und alles schön mit Mehl bestäubt … Je rabiater, desto witziger!
Er stellte sich die kleine asiatische Bitch vor, die sich gewiss ihr kleines asiatisches Füßchen verletzt hatte. Vielleicht war sie in einen rostigen Nagel getreten; oder auf den spitzen Rand einer Glasscherbe. Zumindest hatte es schwer danach ausgesehen, als hätte sie sich tatsächlich verletzt.
Was für ein Spaß!
Er ging weiter, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Stieg, wie sie, über alte Ziegelhaufen und morsche Dachstuhlplanken hinweg, umrundete einen Stapel Holzpaletten, wich einem Gebüsch aus, sprang über einen Graben und schlüpfte schließlich durch die Lücke eines Bretterzaunes.
Als er sich umsah, brach er erneut in schallendes Gelächter aus.
Auf diesem betonierten und separat eingezäunten Stück Land von der Größe eines Handballfeldes, hatte die Firma zu seiner Zeit alle giftigen oder besonders teuren Baumaterialien gelagert. Vor neugierigen Blicken durch einen mannshohen, massiven Bretterzaun geschützt und mit einem schmiedeeisernen Tor gesichert.
Von der einen Lücke mal abgesehen, schien der Zaun völlig intakt zu sein. Genau wie das Tor, das wie damals zusätzlich durch eine schwere Kette gesichert wurde, auch wenn es heute nichts mehr zu sichern gab.
»Und nun?«, rief Funke amüsiert. »Was willst du jetzt tun? Dir eine Tarnkappe aufsetzen?«
Er sah sich um, konnte die Kleine jedoch nirgends entdecken. Zwar waren die Stellflächen leer, beinahe besenrein sauber, aber aus den Ritzen des gebrochenen Betons wucherte das Unkraut bis zu einem Meter in die Höhe. Für eine halbe Portion wie diese kleine Asiatin vollkommen ausreichend, um sich zu verbergen.
»Du steckst in der Falle, Süße«, höhnte er, während sich sein Blick angestrengt, Zentimeter für Zentimeter, durch die Dunkelheit tastete. »Komm schon raus, Püppi! Ich finde dich doch sowieso!«
Er selbst rührte sich nicht vom Fleck und versperrte so den einzigen Fluchtweg, den sie hatte.
»Wenn ich du wäre, würde ich mich nicht länger provozieren«, fuhr er bester Laune fort und dankte dem Schicksal für die unverhoffte Regieänderung. Die besten Drehbücher schreibt eben doch das Leben selbst. »Dein Tod kann kurz und schmerzlos sein, sich aber auch elend in die Länge ziehen.«
Er hielt inne und horchte.
Das leise Klappern – was war das? Etwa ihre Zähne, die vor Angst aufeinanderschlugen?
»Überleg es dir«, plauderte er munter weiter. »Soll es schnell gehen oder willst du unnötig lange leiden?«
In diesem Moment verzogen sich die Wolken wie von Geisterhand und der silberne Mond betrat in seiner brutalen Herrlichkeit die Bühne. Für Funke ein Wink des Schicksals.
Er entdeckte sie sofort, wie sie neben einem Gebüsch in der Nähe des kaputten Zaunes kauerte. Mit dem Kopf zwischen ihren kindlichen Knien hockte sie da und hielt sich mit den Händen die Ohren zu.
Nichts hören, nichts sehen … Einfach süß!
Als könnte sie seine Häme spüren, ließ sie ihre Arme sinken und sah langsam zu ihm auf, direkt in seine grinsende Visage.
Mit einem erregten ›Hallo‹ begrüßte er die Angst in ihren Augen und stürzte nach vorn. Aber kurz bevor er sie erreichen, sie packen konnte, rollte sich ihr schlanker Körper geschickt zur Seite und entglitt ihm erneut.
Sie rappelte sich auf und rannte los, immer am Zaun entlang, einmal rundherum. Am schmiedeeisernen Tor angekommen, rüttelte sie wie wild an der Kette. Da das nichts brachte, versuchte sie vergeblich, sich an den Streben hinaufzuziehen.
Erst als er dicht hinter ihr stand, schien sie ihre Niederlage zu akzeptieren. Erhobenen Hauptes drehte sie sich um und sah ihn an.
»Tapferes Mädchen«, raunte er. »Und so wunderschön! Ich bin wirklich beeindruckt.«
In der Tat hatte er noch nie einer attraktiveren Frau gegenübergestanden. Ihre leicht getönte Haut war ebenmäßig und rein, ihre zierliche Nase ein Wunder an Symmetrie. Das Oval ihres mädchenhaft anmutenden Gesichtes verjüngte sich zum kleinen Kinn und ließ ihre vollen Lippen noch verführerischer aussehen.
Lippen wie Rosenblüten.
Umrahmt wurde dieses kindlich anmutende Gesicht von den für Asiaten so typischen glatten schwarzen Haaren, die im Licht des Mondes bläulich schimmerten.
Am bemerkenswertesten waren jedoch ihre Mandelaugen, die durch eine schräg nach oben außen gebogene Lid-Achse und einer sichelförmigen Hautfalte am inneren Rand des Auges zustande kamen.
Früher hatte er sich nicht für schlitzäugige Frauen erwärmen können, obwohl Dresden schon immer voller Vietnamesinnen war. Aber früher gab es auch kein Internet. Deshalb hatte er damals nicht wissen können, was diese Frauen mit ihren kleinen Muschis imstande waren, anzustellen. Mit wieviel Enthusiasmus sie einem Mann die Seele aus dem Leib vögelten.
Hätte er damals nur eine Ahnung davon gehabt, dann wäre er heute vielleicht mit einer dieser Sexgöttinnen verheiratet.
Frauen mit Mandelaugen waren für Funke der Inbegriff von hemmungsloser Lust und sexueller Gefügigkeit. Standen sie doch im Ruf, selbst die perversesten Wünsche ihrer Liebhaber mit Hingabe zu erfüllen.
Ohne seinen Blick von ihrem Antlitz zu lösen, griff er nach dem Springmesser in seiner Hosentasche, dessen alleiniger Besitz schon eine erotisierende Wirkung auf ihn ausübte.
Verbotene Früchte schmecken so süß.
Richtig erregend wurde es aber erst, wenn die zehn Zentimeter lange Klinge bei Knopfdruck mit einem orgastischen Seufzer aus dem Griff schnellte.
Über die Unterstellungen manch böser Zunge, mit dem Besitz eines solchen Messers eine fehlende geschlechtliche Potenz zu kompensieren, konnte er nur müde lächeln. Sein Penis funktionierte ausgezeichnet – mit und ohne Messer. Wenngleich er zugeben musste, dass der Spaßfaktor mit Mackie entschieden größer war.
Diese beiden Kumpel standen zueinander, wie der Feierabend zu einem kühlen Bier, eine Sommernacht zu Barbecue oder ein bereits loderndes Feuer zu einem Brandbeschleuniger. Jedes Ereignis für sich ein kleines Fest, doch gemeinsam gefeiert eine unvergleichliche Orgie. Wenn auch bisher nur in seinem Kopf.
Funke konzentrierte sich auf das Feeling der gefährlichen Waffe in seiner Hand und spürte, wie die wachsende Erregung seine Genitalien mit Blut füllte.
Lustvoll aufstöhnend spreizte er die Beine, im Geiste das Bild eines hartgesottenen Cowboys vor Augen, der seine Hände mit wackelnden Fingern neben der Kanone in Stellung bringt, um möglichst als Erster zum Zug zu kommen. Nur dass seine Waffe nicht mehr gezogen, sondern nur noch entriegelt werden musste.
»Peng«, sagte er und ließ die Messerklinge metallisch zischend aufspringen.
Die kleine Asiatin starrte entsetzt auf den blanken Stahl, in dem sich das Licht des Mondes widerspiegelte.
»Bitte«, flehte sie. »Lassen Sie mich gehen! Ich habe Ihnen doch nichts getan!«
»Und was ist das?«, entgegnete Funke trocken, fuhr sich über die noch immer blutende Wunde an der Schläfe und hielt ihr den blutverschmierten Finger unter die Nase.
Die Kleine wich zurück.
»Bitte!«, versuchte sie es noch einmal. »Ich werde Ihnen auch ganz gewiss keine Schwierigkeiten machen.«
»Mit Sicherheit nicht«, erwiderte er kalt und war selbst überrascht, dass er nicht die leiseste Spur von Mitgefühl aufbrachte. »Wäre es anders, würden Männer wie ich wohl kaum auf Frauen wie dich abfahren, oder?«
Abschaum!
Höhnisch lachend sah er auf sie herab. Er war zwar kein Riese, aber im Vergleich zu ihm war sie geradezu winzig.
Unterentwickelter Abschaum!
»Ihr Nutten lebt von den sexuellen Fantasien eurer Freier, stimmt’s?«
Sie nickte schwach.
»Schnell verdientes Geld, für das ihr unüberschaubare Risiken in Kauf nehmt.«
Wieder nickte sie, während dicke Tränen zwischen den Wimpern ihrer wunderschönen Augen hervorquollen.
»Und manchmal müsst ihr eben dafür sterben«, legte er ungerührt nach. »So ist das Spiel! Deshalb verstehe ich nicht, warum du jetzt heulst –«
Er fing eine Träne an ihrer Wange auf und sah zu, wie sie sich mit dem Blut an seinem Finger vermischte.
»– oder warum du betest«, flüsterte er, als sein Blick auf ihre murmelnden Lippen fiel. »Dein Schicksal ist besiegelt – daran werden weder deine Tränen noch die Liebe zu Gott etwas ändern.«
Mit geschlossenen Augen legte er den Kopf in den Nacken und ließ ihn kreisen. Seine Nasenflügel blähten sich, als er den Geruch von vertrocknetem Gras einatmete, der sich mit den Ausdunstungen der alten Gemäuer zu einer ganz speziellen Duftnote vermischte. Einem Aroma, das hier zu Hause war, wie er selbst. Außerdem konnte er bereits den Regen riechen, der irgendwo im Umland von Dresden eingesetzt hatte und im Eiltempo auf dreckig grauen Wolkenfetzen hierher unterwegs war.
Der ohrenbetäubende Knall eines Donners, der dem Blitz, aus dem er geboren wurde, so dicht auf den Fersen war, als könnte er ihn, entgegen jeglicher Naturgesetze, überholen, ließ ihn zusammenzucken.
Wieder lachte er.
Diesmal jedoch über sich selbst.
»Schreckhaft wie ein kleines Kind«, feixte er. »Aber kein Wunder bei dem Gewitterchen, das da auf uns zukommt! Kaum zu glauben, aber heute scheint wirklich mein Glückstag zu sein!«
Das Gewitter kam wie gerufen, weil der Regen, der allem Anschein nach in Kürze einsetzen sollte, sämtliche DNA-Spuren vom leblosen Körper dieser Nutte waschen würde. Keine Spuren, keine Verbindung!
Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.
Funke zitierte in Gedanken irgendeinen griechischen Philosophen, dessen Namen ihm entfallen war, und betrachtete das aufziehende Unwetter als ein gutes Omen für sich.
Noch einmal ließ er seinen Blick genießerisch über den mädchenhaften Körper der kleinen Asiatin gleiten, über ihr Gesicht, ihren Hals, ihr Dekolleté, die Bluse hinab bis zum Rock …
Sein Atem stockte.
»Weg mit dem Ding«, befahl er, ohne den Blick zu lösen. »Mach schon!«
Kleine Hände mit langen roten Fingernägeln griffen zitternd unter den Saum des Minirocks aus schwarzem Stretch und hoben ihn über die rückwärtigen Rundungen bis zur Taille.
»Gut so?«, fragte sie ängstlich.
»Maul halten!«
Als ein winziger Tanga aus rotem Satin aufleuchtete, umfasste Funke den Griff seines Messers fester und atmete tief und tiefer.
Ein wohliges Kribbeln unterhalb seines Bauchnabels brachte seine Säfte in Wallung. Die Hand, in der er das Messer hielt, zuckte.
Rasiert oder unrasiert …?
Als sein Penis so hart war, dass er beim Pulsieren schwankte, schloss er seine Augen und stieß die Klinge aufstöhnend in ihren Schoß.
Abermals aufstöhnend zog er sie heraus, um sie wieder hineinzustoßen, wieder und wieder.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Die Geräusche waren so, wie er sich das immer vorgestellt hatte, die Gerüche ebenfalls, genau wie das Feeling.
Aber was war das für ein entsetzlicher Schmerz?
Beinahe widerwillig öffnete er seine Augen und begegnete einem Blick, der so gar nicht den Eindruck erweckte, als würde er einem verlorenen Leben nachweinen.
Wie unter Zwang schaute er an sich herab und erbleichte.
»Blut … Aber …! Was, zum Henker …?«
Den Kopf in der Schräge schaute er zuerst anklagend zum Himmel und dann auf sie.
»So war das nicht …«
Im nächsten Moment knickten seine Beine wie Streichhölzer und er fiel der Länge nach auf den rauen Beton.
»… gedacht!«
Funke spürte die warme Feuchtigkeit des Blutes unter sich und wusste, dass er starb. Doch bevor es endgültig dunkel um ihn wurde, sah er noch ein paar kleine nackte Füße über sich hinwegsteigen und davonlaufen.
Ein alter Mann hörte im Schlaf, wie der Regen gegen die Scheiben peitschte. Von weither rief ihm eine innere Stimme zu, aufzustehen und sich zu vergewissern, dass die Fenster auch wirklich geschlossen waren.
Aber eine Macht, die stärker war, als der Drang auf Nummer sicher zu gehen, hielt ihn im Schlaf gefangen und zog ihn immer tiefer in die Tiefen seines Unterbewusstseins.
»Der Burggraf war so unverschämt, auf dem Territorium der Meißner Kirche eine Burg errichten zu lassen«, wettert der Meißner Bischof. »Und als ob das nicht genug wäre, kassiert er von den Untertanen der Umgebung auch noch Steuern und Abgaben. Vermögen, das eigentlich der Kirche zusteht.«
Aber ich, Heinrich von Dohna, bin sicher, dass ich nicht deshalb auf der Anklagebank sitze, weil ich eine Burg gebaut habe, sondern weil ich aufgrund dieser Gegebenheit Einkünfte erziele. Einkünfte, die unsere verehrte Domkapelle mir nicht gönnt und deshalb für sich selbst beansprucht.
»Das ist nicht richtig«, versuche ich mich deshalb zu verteidigen. »Meine Burg befindet sich nicht auf dem Besitz der Kirche, sondern an seiner Grenze. Und als Burgherr ist es mir erlaubt, Steuern und Abgaben zu erheben.«
»Da scheint aber selbst Papst Innozenz III. anderer Meinung zu sein«, widerspricht der Meißner Markgraf Dietrich der Bedrängte, der als Vorsitzender Richter das Verfahren leitet. »Mir sind die Schriften bekannt, wonach er bereits seit 1201 versucht, Sie zur Vernunft zu bringen.«
Und mir sind die Urteile bekannt, wonach der Meißner Markgraf bei derartigen Streitigkeiten immer zugunsten der Kirche entscheidet. Das sage ich aber nicht. Im Grunde weiß ich längst, dass ich verloren habe.
»Weil der Papst falsch informiert wurde«, erkläre ich trotzdem. »Ich kann auf der Stelle einundfünfzig Bürgen nennen, die bezeugen werden, dass meine Burg auf dem Gebiet der Mark Meißen errichtet wurde und nicht auf Kirchenbesitz.«
»Und ich kann Ihnen mindestens ebenso viele Zeugen nennen, die unter dem Sakrament der Religion das Gegenteil versichern werden«, entgegnet der Richter ungerührt. »Deshalb verkünde ich folgendes Urteil: Wir haben nach dem Rat der Mehrzahl dort entschieden, dass die genannte Burg mit den anderen Besitzstücken innerhalb der genannten Grenzen der Meißner Kirche gehören. Außerdem befehlen wir, dass diese Burg zerstört und niemand das Wagnis unternehmen sollte, sie wieder aufzubauen, der Bischof bei Strafe der Exkommunikation und wir bei Gefahr für Gut und Person.«
Ein ohrenbetäubender Knall ließ das kleine Bauernhaus erzittern und erschütterte das Bett, in dem der alte Mann zusammen mit seiner Frau schlief.
Ruckartig richtete er sich auf und wusste instinktiv, dass der Knall mehr war als das krachende, mahlende oder rollende Geräusch, welches ein Blitz während eines Gewitters erzeugt. Diese stoßartige Ausdehnung verdichteter Luftmoleküle hatte weder etwas mit dem Wetter zu tun, noch war sie sonst irgendwie hausgemacht.
Eine Weile saß er angespannt da und starrte mit hellwachen Augen in die gähnende Dunkelheit seiner vier Wände. Eine unheilvolle Dunkelheit. Dunkelheit, die nichts mit dem gänzlichen Fehlen von Licht zu tun hatte.
Nicht heute.
Heute herrschte eine Dunkelheit, wie sie von einer finsteren Macht in die Häuser der Menschen geschickt wird, um die Gemüter einzuschüchtern und ihre Körper in lähmende Angst zu versetzen.
Nun erinnerte er sich auch an seinen Traum, der in dem Moment beendet war, als der Knall seine schmerzenden Hiebe kilometerweit unter die Gürtellinien der Schlafenden verteilt hatte.
Ein Traum, der mehr war als die übliche psychische Aktivität beim Schlafen. Der als Heimsuchung daherkam. Und damit als ein Kreuz, von dem er doch so lange Zeit verschont geblieben war. Mehr als zwanzig Jahre, um genau zu sein.
Es sind Träume, in denen er sich ungewollt in der Psyche eines anderen Menschen wiederfand. Eines Menschen, den er nicht kennen und von dem er noch nicht einmal gehört haben musste.
Mal ehrlich! Welcher durchschnittlich gebildete Dresdner kennt einen Heinrich von Dohna? Und wer wusste, dass eine Gerichtsverhandlung gegen ihn als Geburtsstunde von Dresden in die Geschichte eingegangen war?
Als es unerwartet plötzlich hell im Zimmer wurde, stand er auf und trat ans Fenster heran.
Von hier aus konnte er bei Nacht die Lichter der dreißig Kilometer entfernten Stadt sehen. Normalerweise, denn heute sah er keine. Dafür aber ein loderndes Feuer. Wahrscheinlich war der Blitz in eines der Umspannwerke geschlagen.
Wie hypnotisiert starrte er auf das weit entfernte Flackern, das den Wolkenhimmel noch gespenstischer aussehen ließ.
Dresden in Flammen!
Und auf einmal stand er inmitten einer brennenden Stadt. Barfuß. Nur mit einem Hemd bekleidet.
Es ist der 15. Juni 1491.
Schreie gellen durch die morgendlichen Gassen. Dichter Rauch quillt durch die Fluchten der gerade erwachenden Stadt.
»Feuer!« Ich erschrecke beim Klang meiner eigenen Stimme.
Weinende Frauen und Kinder verlassen ihre Häuser. Von einem Nachbarn erfahre ich, dass das Feuer in der Nacht in einer Bäckerei in der Webergasse ausgebrochen war. Jetzt ist es kaum Morgen und die ganze Stadt steht bereits in Flammen.
»Feuer!«, rufen die Menschen, die an mir vorbeilaufen.
»Feuer!«, rufe auch ich und schließe mich der flüchtenden Meute an. Wir laufen Richtung Elbe. Fraglich, ob wir dem Inferno dadurch wirklich entkommen können.
Eine ganze Stadt in Flammen.
Spontan erinnere ich mich an einen Erlass der Stadtväter von vor siebzehn Jahren, in dem all jenen Dresdnern eine Begünstigung versprochen wurde, die die Straßenseite ihres Hauses aus Stein bauen lassen. Heute ist klar, dass damals nur wenige dieser Aufforderung nachgekommen sein konnten.
Es ist sehr heiß und ein starker Wind treibt das Feuer weiter voran. Schnell lodern immer mehr Holzhäuser. Die Flammen fressen sich bis zum Marktplatz und greifen sogar auf die Kreuzkirche über. Beherzte Bürger versuchen mit Wassereimern, das Feuer zu löschen. Doch es ist aussichtslos.
Die halbe Stadt brennt nieder.
Hunderte Dresdner fliehen, dutzende sterben. Auch ich …
»Komm zurück ins Bett, Liebling!«
Feingliederige Arme umschlangen den alten Mann von hinten und ein zierlicher schlafwarmer Körper schmiegte sich zärtlich an seinen Rücken.
»Einen kleinen Moment noch«, erwiderte er sanft und blickte auf die Stadt, als sähe er sie zum ersten Mal. »Dresden brennt wieder.«
»Da ist nur irgendwo der Blitz eingeschlagen«, sagte sie, während sie sich von ihm löste und zurück unter die Decke schlüpfte.
»Nein, diesmal steckt mehr dahinter – viel mehr.«
Auch wenn sie nichts erwiderte, wusste er genau, dass seine Worte sie beunruhigt hatten. Das tat ihm leid. »Mach dir keine Sorgen«, fügte er schnell hinzu. »Ich werde der Sache auf den Grund gehen. Später. Bei Tageslicht.«
»Mein Chauffeur kommt um 8:00 Uhr«, sagte sie. »Ich könnte dich mit in die Stadt nehmen.«
»Gute Idee.« Er legte sich wieder zu ihr ins Bett. »Und gegen Mittag hole ich dich vom Präsidium ab und wir gehen gemeinsam zum Italiener.«
Als das Geschrei des Babys ihn gegen 6:00 Uhr weckte, verkroch sich Jonas Brinkmann unter seiner Bettdecke und wünschte sich nichts sehnlicher, als in seinen Traum zurückkehren zu dürfen.
Die Nacht konnte doch unmöglich schon vorbei sein!
Eben noch Südseefeeling mit Palmen, coolen Drinks und leichtbekleideten karibischen Schönheiten, nun in seinem ganz realen Alptraum: einer engen Zweizimmerwohnung in einer Dresdner Platte, tristem Grau vor dem Schlafzimmerfenster und einem schreienden Monster im Wohnzimmer nebenan.
Lieber Gott, mach, dass es endlich still ist!
Brinkmann ballte unwillkürlich seine Fäuste.
Der Kleine schrie mit einem Organ, dass ihm die Eingeweide dröhnten, und mit einer Ausdauer, die ihn wütend machte; ihn zu einem instinktgesteuerten Wesen mutieren ließ, das an Mord dachte.
Fehlende Vatergefühle hin oder her – Brinkmann war überzeugt davon, dass dieses kleine Scheusal selbst den sanftmütigsten Daddy auf die Palme bringen würde. Dieses andauernde Schreien, Schreien, Schreien – irgendetwas stimmte nicht mit diesem Balg!
Verärgert packte er sich das Kopfkissen auf die Ohren. Doch das Geschrei kämpfte sich nervtötend durch die Daunen wie Macheten schwingende Soldaten durch den Dschungel. Es ließ sich einfach nicht aufhalten.
Warum kann dieser elende Schreihals denn nicht endlich Ruhe geben?
Er hasste den Kleinen, den Sara besser rechtzeitig hätte abtreiben lassen sollen. Und er verfluchte sich selbst, weil er sich für Sara und das Kind entschieden hatte, statt seine Jugend so lange wie möglich in vollen Zügen auszukosten. Mit seinen einundzwanzig Jahren war er entschieden zu jung für diese ganze Vaterscheiße.
Neidvoll dachte er an seine Freunde, mit denen er den gestrigen Abend verbracht hatte, und die jetzt mit Sicherheit noch selig ihren Rausch ausschliefen, während er sich von einem Baby tyrannisieren lassen musste.
»Jonas!«, ertönte eine verschlafene Stimme neben ihm.
Korrigiere: Von einem Baby und seiner Mutter.
»Hörst du nicht, dass das Baby schreit?« Sara zog an seinem Kissen.
»Bin ja nicht taub«, antwortete Brinkmann träge.
»Und?«
»Was und?«
»Willst du nicht endlich aufstehen und ihm sein Fläschchen geben?«
»Warum ich?«
»Weil du dran bist!«, antwortete Sara mit belegter Stimme und wechselte ihre Schlafposition.
»Aber ich war doch schon gestern dran«, protestierte Brinkmann müde.
»Dann bist du eben heute wieder dran«, stellte Sara sachlich fest. »Was ist dein Problem?«
»Was mein Problem ist?« Brinkmann öffnete verärgert die Augen und sah auf die andere Seite des Doppelbettes. Als er Sara erblickte, wie sie mit entblößten Brüsten neben ihm auf dem Rücken lag, verebbte seine Wut.
Gerade mal siebzehn Jahre alt, aber ein paar Titten … der Wahnsinn!
In der Tat war Sara während ihrer Schwangerschaft regelrecht aufgeblüht – dem veränderten Hormonhaushalt sei Dank! Und auch jetzt, acht Monate nach der Entbindung waren ihre Brüste atemberaubend prall und rund und einladend.
Wäre er ein Poet, würde er von einer Oase der Lust sprechen. Von einem Garten Eden, dessen Zutritt sie ihm während ihrer Stillzeit jedoch vehement verweigert hatte. Angeblich aus Sorge vor einer Infektion des Babys. Was er natürlich nicht gelten gelassen hatte und weshalb es regelmäßig zu bitteren Auseinandersetzungen gekommen war.
Mutterliebe gut und schön, aber wenn sie auf Kosten des Mannes ging, dem die Mutter ihre Mutterschaft erst verdankte, dann empfand er das, gelinde ausgedrückt, einfach nur als Scheiße!
Männer haben schließlich auch Rechte!
Und er hatte auf sein Recht gepocht, ebenfalls an diesen herrlichen Brüsten saugen zu dürfen, sie zu streicheln, zu kneten und …
Brinkmann grinste.
… zwischen ihnen zu ejakulieren, wie er es vor und während ihrer Schwangerschaft getan hatte.
Aber Sara war nicht so leicht zu überzeugen gewesen. Dass sie nicht allein dem Baby, sondern auch ihm verpflichtet war, kapierte sie erst, als er gedroht hatte, sie und das Kind zu verlassen. Daraufhin hatte Sara das Baby abgestillt und stand ihm seit gut vier Wochen wieder vollwertig als Freundin zur Verfügung.
Brinkmann wagte erneut einen Blick auf Saras Brüste und empfand ein wohliges Kribbeln im Unterbauch, das seiner Erfahrung nach schon sehr bald zu einem brennenden Verlangen anwachsen würde.
Wieder grinste er und war mit einem Satz aus dem Bett. Wer die Hingabe einer Mami will, muss mit Hingabe ihre Brut versorgen. Oder wenigstens so tun!
Aber kaum in der Aufrechten stolperte sein Kreislauf über den immensen Restalkohol in seinem Blut, und er musste sich kurz am Türrahmen festhalten, um nicht zu fallen.
Dabei war sein Männerabend nicht anders verlaufen als sonst. Erst eine Kneipentour durch die Dresdner Neustadt und zum Schluss noch ein paar harmlose Absacker bei Luigi, dem Italiener um die Ecke.
Mein Leben ist im Arsch.
Denn im Gegensatz zu früher durfte er heute nicht mal mehr ausschlafen. Wen wundert՚s also, dass er sich fühlte wie ein Oldtimer?
Als sein Motor wieder in gewohnter Regelmäßigkeit schnurrte, betrat Brinkmann das Wohnzimmer, wo das kleine Ungetüm in einem Wäschekorb strampelte und aus Leibeskräften schrie.
»Maul halten«, brummte Brinkmann leise, aber gerade laut genug, damit das Kind ihn hörte. »Sonst werde ich ungemütlich!«
Sofort war der Kleine still, seufzte, dass sein Leib erbebte, und strahlte seinen Vater schließlich mit leuchtenden Augen an.
»Kleiner Blender«, lachte Brinkmann und steckte ihm seinen Nuckel in den Mund.
Das Baby saugte wie wild an dem Schnuller, blieb aber still. Als es erneut lächelte, stupste Brinkmann ihm leicht sein Näschen und verzog sich ins Schlafzimmer zurück.
Im Bett griff Saras Hand nach ihm und tätschelte seinen Arm.
»Das ging aber schnell«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Du bist so toll!«
»Ja, das bin ich«, erwiderte Brinkmann wollüstig und streichelte fordernd ihre Brüste. »Übrigens bin ich heute bei allem recht schnell! Und toll! Soll ich es dir beweisen?«
»Nein«, wehrte sie ab. »Dafür bin ich noch zu müde. Vielleicht später, ja?« Sie schob seine Hand weg und drehte ihm den Rücken zu. »Hast du den Kleinen gewindelt?«
»Selbstverständlich«, log er.
»Hast du ihm auch sein Fläschchen gegeben?«
»Noch nicht, aber im Augenblick scheint er ja ganz zufrieden zu sein.«
Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da meldete sich Babys Stimme lautstark zurück.
Brinkmann verließ fluchend das Bett. Seine Erektion wedelte bei jedem seiner Schritte hin und her. Aber was sich vor wenigen Sekunden noch geil angefühlt hatte, war nun ohne Bedeutung. Auch wenn die zum Bersten angeschwollenen Schwellkörper offensichtlich anderer Meinung waren.
Widerwillig wechselte er nun doch die klatschnassen Windeln, erwärmte das Fläschchen, das Sara bereits am Abend zuvor zubereitet hatte, und fütterte den Kleinen.
Die Flasche war im Nu ausgetrunken und die kleine Nervensäge eingeschlafen, bevor er sein Bäuerle gemacht hatte.
Brinkmann legte seinen Sohn behutsam in den Wäschekorb zurück. Noch ein schneller Blick über die Schulter, dann beeilte er sich, ins Schlafzimmer zurückzukommen, wo er sogleich zu Sara unter die Decke schlüpfte.
Von wegen später.
Wenn es für Sara einen Zeitpunkt gab, sich für seine Mühe erkenntlich zu zeigen, dann ja wohl jetzt!
Ohne lästiges Vorgeplänkel wälzte er sich auf ihren weichen Körper und ließ seine Hände derb über ihre Brüste, ihren Bauch und ihre Schenkel bis zu der stoppeligen Stelle zwischen ihren Beinen gleiten. Feucht und warm stemmte sie sich ihm entgegen.
Er keuchte erregt, konnte kaum noch geradeaus denken. Als er, zum Platzen groß, in sie eindringen wollte, fing das Baby erneut an zu schreien.
Scheiß drauf!
Er wollte weitermachen, aber Sara zierte sich plötzlich und schlug ihm, bildlich gesprochen, die Tür vor der Nase zu. Was mehr als unfair war, da er bereits mit einem Bein im Flur gestanden hatte.
»Jonas, nein«, sagte sie. »Ich kann so nicht.«
»Ich schon«, blaffte Brinkmann beleidigt, rollte sich aber trotzdem von ihr und verließ fluchtartig das Schlafzimmer, um die Situation zu klären.
»Bist ein Schatz«, rief Sara hinter ihm her. »Mach schnell! Ich warte!«
»Das will ich hoffen.« Doch als er sich noch einmal nach ihr umdrehte, zog sie sich gerade die Decke über den Kopf.
Keine Sorge, Süße! Ich ficke dich, ob du nun wach bist oder nicht.
Er stürmte ins Wohnzimmer.
»Blöder Bengel«, brüllte er, kaum, dass er vor dem Wäschekorb stand. »Denkst wohl, du bist allein auf der Welt, was? Kannst du dir nicht vorstellen, dass auch andere Menschen Bedürfnisse haben? Du egoistischer kleiner Zwerg!«
Doch statt sich zu erschrecken und vorsichtshalber still zu sein, schrie das Baby unbeeindruckt weiter; schrie sich schier die Seele aus dem Leib. Was Brinkmann nur noch mehr in Rage brachte. Wider jede Vernunft nahm er den Kleinen aus dem Korb und schüttelte ihn heftig. Als das nichts brachte, ging er mit ihm hinaus auf den Balkon, wo er ihn erneut durchschüttelte.
»Ich warne dich«, fauchte er spuckend und hielt ihn über die Brüstung des neunten Stocks. »Wenn du nicht augenblicklich dein Maul hältst, dann lasse ich dich fallen!«
Abrupt verstummte der Kleine und sah ihn mit blauen Babyaugen an. Aber nicht naiv wie sonst, sondern ungewöhnlich intensiv, beinahe durchdringend. Ein Eindruck, den das kleine Grübchen auf der winzigen Nasenwurzel noch verstärkte.
Brinkmann erschauerte.
Das war nicht der Blick eines acht Monate alten Säuglings, das war … gruselig.
Und ich bin ein Idiot, dem seine Müdigkeit ein Schnippchen schlägt.
Streng genommen war dieses kleine Bündel doch nichts weiter als eine filigran modellierte Nachbildung seiner Erzeuger, mit Gehirnleistungen, die sich lediglich darauf beschränkten, lautstark auf sich aufmerksam zu machen, um nicht zu verhungern. Wie jede andere niedere Lebensform auch. Ein Kaninchen zum Beispiel. Oder ein Goldhamster.
So jemandes Blick kann unmöglich Vorwurf oder gar Verwunderung ausdrücken. Aber genau das schienen diese Babyaugen gerade zu tun.
Brinkmann schwenkte den Säugling hin und her und lachte böse, als Babys Augen groß und größer wurden.
»Du hast zu Recht Angst«, sagte er belustigt und drehte das Würmchen bäuchlings. »Hui! Siehst du den gusseisernen Zaun schräg unter uns? Hui! Oder die steile Treppe davor, die zum Fahrradkeller führt? Wenn ich dich fallenlasse, wirst du entweder von den Stäben aufgespießt wie ein kleines Schaschlik oder auf den Stufen zerschmettert wie ein reifer Apfel, der aus luftiger Höhe auf die Straße plumpst. Mausetot, wie du dann bist, gehst du bestimmt niemandem mehr auf den Sack!«
Als sich das Baby aufstoßend erbrach, zog Brinkmann es schützend an seine Brust. Ein Reflex, der ihn wohl daran erinnern sollte, dass er der Vater dieses hilflosen Menschleins war und sich dementsprechend verhalten sollte. Aber er hatte keine Lust, sich von irgendjemandem an irgendetwas erinnern zu lassen! Nicht mal von seinem eigenen Gewissen, diesem Müllschlucker anerzogener spießbürgerlicher Moral!
Was hatte es ihm denn eingebracht, sich seiner Verantwortung als Erzeuger zu stellen? Bewunderung? Anerkennung? Dank?
Pustekuchen!
Seit dieses Kind auf der Welt war, fühlte er sich von allem ausgegrenzt, was das Leben für einen Mann seines Alters lebenswert machte. Er konnte weder kommen und gehen, wann er wollte, noch seine Zeit verbringen, wie er lustig war. Selbst das Geld, das er jeden Monat vom Amt bekam, durfte er nicht für sich selbst ausgeben.
Widerwillig sah er auf den Kleinen herab. Was war ihm nur eingefallen? Wie konnte er sich einen solchen Klotz ans Bein binden, kaum, dass er es geschafft hatte, sich aus den Zwängen seines Elternhauses zu befreien? Warum hatte er sich einfach so überrumpeln lassen? Sara war ein liebes Mädchen. Wenn auch nicht besonders intelligent. Aber anschmiegsam. Und willig! Aber mit so einem Mädchen gründet man doch keine Familie! Warum hatte er das nicht schon früher begriffen? Er war nicht bei Trost gewesen, sich einfach so zum Vater machen zu lassen! Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Und nun?
Die Idee sprang ihn an wie ein übermütig spielendes Kätzchen. Sofort war er Feuer und Flamme, weshalb es ihm umso leichter fiel, seine spitzen Krallen zu ignorieren.
Wie wäre es, wenn das Baby bei einem Unfall ums Leben käme? Wenn er es erneut über die Brüstung hielte und einfach fallen ließe? Aus Versehen fallen ließe? Aus Notwehrsozusagen. Um einen dummen Fehler zu korrigieren, der anders nicht mehr zu korrigieren war.
Im Augenblick passte ein Kind jedenfalls nicht in sein Konzept. Später vielleicht, wenn er sich ausgetobt und seinen Weg im Leben gefunden hatte. Mit einem beruflichen Background und ausreichend Kohle im Portemonnaie würde er mit Sicherheit ein guter Daddy sein, ein perfekter Vater.
Aber jetzt?
Brinkmann hielt das Baby erneut über die Brüstung, auch wenn ihm für einen Unfall noch eine glaubhafte Geschichte fehlte.
Mal überlegen.
In diesem Moment gab es einen markerschütternden Knall, als würde die gesamte Atmosphäre explodieren, und eine schmerzende Welle durchrollte seinen Körper.
Er erschrak so sehr, dass er den Griff seiner Hände löste und das Kind fallen ließ.
Im nächsten Augenblick bohrten sich harte Eisenstäbe durch seinen eigenen Körper. Die Kehle fühlte sich an, als wäre sie mit flüssigem Blei gefüllt.
Mit Aufbietung all seiner Kräfte hob er den Kopf und sah zwei Spitzen aus seiner nackten Brust spießen. Die Haut rundherum war zerfetzt.
Sein Körper erschlaffte, aber seine Sinne funktionierten noch.
Verwundert blickte er zum Plattenbau hinauf bis zu seinem Balkon, wo er eben noch gestanden hatte.
Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war, wusste nur, dass er sterben würde.