Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Hotelgast verstümmelt und angezündet!Auf Profilerin Dr. Gloria Siegel und ihr junges Team wartet ein neuer Fall. Am Werk ist eine Serienmörderin, die bereits fünfzehn Mal zugeschlagen hat ... und nicht aufhört. Ihre Opfer sind Anzugträger, Männer mit Macht und Einfluss. Was treibt die Täterin an? Ist sie eine verletzte Persönlichkeit oder tut sie es aus bestialischer Lust?Während das Jugendteam für ihren zweiten Fall eifrig Hypothesen aufstellt, geht der geheimnisvolle Alexander Buschbeck den Fall von ganz anderer Seite an und kommt der Täterin näher als jedes ihrer Opfer.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 272
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
HYBRID VERLAG
Ebook-Ausgabe
06/2019
© by Symone Hengy
© by Hybrid Verlag, Homburg
Umschlaggestaltung: © by Hygin Graphix
Lektorat: Diana Spitzer
Korrektorat: Monika Ruf
Buchsatz: Eva Töpelt
Autorenfoto: Lämmle, Foto Nova
Coverbilder ›Ekstase‹, ›Extrem‹ und ›Kantschu‹
© by Hygin Graphix
ISBN 978-3-946-82084-0
www.hybridverlag.de
www.hybridverlagshop.de
Symone Hengy
Explosion
- Heiß abserviert -
Kriminalroman
Für Lieblingsmensch
Mandy
Er saß zum Lenkrad gebeugt hinter dem Steuer seines Wagens und blickte mit seitlich geneigtem Kopf durch die Frontscheibe.
Der Nachthimmel war wolkenverhangen.
Der Wind trieb die dunklen Fetzen der verschiedenen Schichten kreuz und quer über das Firmament. Gespenstisch stoben sie am Mond vorbei wie Schattenwesen auf der Flucht – Unheil auf Flügeln.
Grinsend lehnte er sich zurück.
Wahrhaft poetisch.
Gewiss, es gab gemütlichere Abende, aber mit dem Wetter verhielt es sich wie mit dem Leben: Es war nun mal kein Wunschkonzert.
Na, wenigstens regnete es nicht. Dann hätte ihn das Warten in der nächtlichen Kälte in der Tat Überwindung gekostet.
Er schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk und seufzte. Jetzt stand er schon eine geschlagene Stunde auf der vom Licht abgewandten Seite des Hotels und wartete.
Dieses Hotel ist perfekt.
Wer vor Businesspartnern eine gute Figur machen wollte, für den war das Hotel Mercure am Johannisplatz mit Sicherheit eine der ersten Adressen in Leipzig. Seine elegant eingerichteten Zimmer, der ansprechende Wellnessbereich und die hochmodern ausgestatteten Tagungsräume genügten selbst gehobenen Ansprüchen.
Vor allem aber zeichnete dieses Hotel seine hervorragende Lage aus. Es lag nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt, wo sich den Managern, Maklern und Vertretern das aufregende Nachtleben einer aufstrebenden Metropole bot. Und das wussten keinesfalls nur die Jungen und Ungebundenen unter ihnen zu schätzen.
Wieder grinste er.
Eigentlich erstaunlich, welche Wirkung die Nacht selbst auf die reifere Spezies der Gattung Mann ausübte. Den ganzen Tag über waren sie kultivierte Persönlichkeiten, die sich für das Wohl von Firma und Familie aufopferten – im Silberschein des Mondes mutierten sie jedoch zu triebgesteuerten Kreaturen, denen gesellschaftliche Konventionen egal waren.
Scheinbar gewissenlos befreiten sie sich nach Lust und Laune von den Zwängen ihrer moralischen Korsetts, um sie am nächsten Morgen brav wieder anzulegen.
Scheinbar.
Denn hinter diesem Verhalten lag keine böse Absicht. Seit Jahrtausenden darauf programmiert, zu jagen, zu balzen und ihre Gene zu streuen, wurden sie lediglich hin und wieder Opfer ihrer Instinkte.
Bedauernswerte Opfer.
Inzwischen war es 22 Uhr, für gewöhnlich die magische Phase des Abends.
Deshalb ließ er, während seine Gedanken noch eine Weile um die bedauernswerte Rolle der Männer kreisten, den Taxistand nicht mehr aus den Augen. Dieser lag unmittelbar vor dem Haupteingang. Im Moment warteten drei freie Wagen auf Kundschaft – und ihre Chancen standen nicht schlecht.
Wer noch Lust verspürte, sich zu dieser späten Stunde ins Nachtleben zu stürzen, der wollte es auf direktem Weg tun. Und direkter, und vor allem bequemer, als mit einem Taxi waren Bars, Pubs und Kneipen nicht zu erreichen.
Selbstverständlich könnte Mann den Abend auch an der hoteleigenen Bar ausklingen lassen. Aber ganz im Vertrauen: Welcher treusorgende Ehegatte, Vater oder Chef würde sich gern von Freunden, Kollegen oder Untergebenen über die Schulter schauen lassen, während er von verbotenen Früchten naschte?
Spott kräuselte seine Lippen. Alles schon erlebt.
Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper und er richtete sich auf.
In eben diesem Augenblick verließen drei Männer mittleren Alters lachend das Hotel. Geschäftsleute, das sah er auf den ersten Blick. Sie hüpften, faxten und benahmen sich auch sonst wie pubertierende kleine Jungen, die einem großen Abenteuer entgegenfieberten.
Diese Draufgänger.
Ihm war, als könnte er ihr Aftershave durch die geschlossenen Fenster des Wagens riechen.
Sie sahen gut aus. Alle drei. Aus der Ferne jedenfalls.
Der edle Zwirn ihrer Anzüge kaschierte vorteilhaft alle körperlichen Makel, die bei einem Geschäftsmann mittleren Alters beinahe typisch waren: dicker Bauch, schmale Brust, dünne Waden. Das schüttere Haar war perfekt frisiert, die Wangen glattrasiert. Und wenn er sich nicht irrte, blitzten an ihren Handgelenken teure Uhren.
Diese Männer sind zweifellos Prachtexemplare ihrer Art …
Interessiert musterte er jeden Einzelnen von ihnen. Schließlich nickte er, wie um sich selbst zu motivieren, griff nach seinem Stadtplan, verließ den Wagen und strebte über die Straße. Ohne die drei gut angezogenen Herren, die gerade eifrig das Fahrziel diskutierten, weiter zu beachten, steuerte er das zweite Taxi an.
Der Fahrer, ein kleiner, untersetzter Endvierziger mit roter Baseballkappe, stieg aus und öffnete einladend die Tür hinter seinem Sitz. »Kalt heute«, versuchte er das Eis zu brechen und rieb sich die Hände. »Aber der Tiefpunkt für diese Nacht ist bestimmt noch nicht erreicht.« Weil sein Gegenüber jedoch nicht auf den Small Talk reagierte, fügte er geschäftsmäßig hinzu: »Und? Wohin wollen Sie?«
Der vermeintliche Fahrgast schüttelte den Kopf. »Ich habe selbst ein Auto«, antwortete er, faltete den Stadtplan auseinander und tippte auf irgendeine Stelle im Stadtgebiet. »Wie komme ich am bequemsten hierhin, ohne mich im Dschungel von Einbahnstraßen zu verfahren?«
Scheinbar den Erklärungen des Taxifahrers folgend, konzentrierte er sich in Wahrheit auf die Debatte im Rücken. Die drei Herren hatten sich inzwischen auf ein Ziel geeinigt.
»Zur Zebra-Bar«, riefen sie wie aus einem Munde. Die unverhohlene Vorfreude in ihren Stimmen zwang ihm ein Lächeln auf seine Lippen. Wenig später klappten drei Wagentüren auf und wieder zu.
»Ist ganz leicht zu finden«, mischte sich die Stimme des Taxifahrers wieder in sein Bewusstsein.
»Für jemanden, der sich auskennt«, entgegnete er vergnügt und faltete den Stadtplan zusammen.
»Einen schönen Abend noch«, wünschte der Taxifahrer.
»Werde ich haben, danke! Ihnen ebenso!«
Zufrieden schlenderte er zu seinem Wagen zurück. Der Wind hatte weiter aufgefrischt, trockenes Laub tanzte raschelnd eine Handbreit über dem Straßenpflaster.
Hinter sich hörte er das Taxi der Draufgänger davonfahren.
Wieder am Steuer, umfasste er das Lenkrad auf 12 Uhr mit beiden Händen und stützte das Gesicht darauf. Es dauerte nicht lange, da verließ ein älteres Ehepaar das Hotel. Der kleine Mann mit der roten Kappe hofierte sie zu seinem Taxi und fuhr alsbald davon.
Er verfolgte den Wagen mit den Augen. Als dessen Rücklichter von der gefräßigen Nacht verschluckt worden waren, stieg er wieder aus, überquerte erneut die Straße und betrat das Hotel.
Mark von der Rezeption grüßte ehrfürchtig.
*
Heiko Gerstäcker war gerade im Begriff gewesen, gemeinsam mit seinen Kollegen die Zebra-Bar zu verlassen, als er sie entdeckt hatte.
Diese Frau hatte ausgesehen, als wäre sie soeben einem Männermagazin entstiegen: unverschämt groß, unverschämt gut gebaut und unverschämt blond. Und als ob das allein nicht schon ausgereicht hätte, ihn bei den Eiern zu packen, schmachtete sie ihn an, als wäre er ein gottähnliches Wesen. Ihn, der sich bezüglich seines Aussehens längst keinen Illusionen mehr hingab.
Selbstkritisch betrachtet war er nämlich nichts weiter als ein leichenblasser unförmiger Fleischklumpen mit kantigem Kopf, eng stehenden, winzigen blauen Augen, spitzer Nase und einem fürchterlichen Pferdegebiss. Er war also nicht nur nicht schön, sondern hässlich.
Auffallend hässlich allerdings.
Sollte es also seine auffallende Hässlichkeit sein, die diese schöne Frau auf ihn aufmerksam werden ließ? Amüsanter Gedanke. Für einen Mann seines Alters und seines Einkommens spielte gutes Aussehen schließlich längst keine Rolle mehr. Gepflegtes Aussehen war Anspruch genug.
Während seiner Schulzeit war das noch anders gewesen, keine Frage. Da hatte es ihn verletzt, dass selbst die abstoßendsten Mädchen ihn wie einen Aussätzigen behandelt hatten. Besonders erinnerte er sich an eine Situation, als ihn das am wenigsten ansehnlichste Mädchen der Schule während der Tanzstunde mit den Worten abblitzen ließ: »Ich tanze doch nicht mit so einem hässlichen Vogel.«
Heute konnte er darüber nur müde lächeln. Seit er sechsstellig verdiente, gingen die schönsten Frauen mit ihm aus, tummelten sich die begehrenswertesten Sahneschnittchen auf seinen Laken.
Aber von seinem Geld konnte diese Frau hier nichts wissen, trotzdem hatte sie ihn mit der Andeutung eines Kopfnickens zum Bleiben veranlasst.
Warum?
Warum ihn und nicht einen seiner verheirateten Freunde, die doch so offensichtlich auf ein Abenteuer aus waren?
Er musste innerlich lachen.
Obwohl sie die ganze Zeit davon gesprochen hatten, was für tolle Aufreißer sie doch waren, hatten sie diese Frau und ihre Annäherungsversuche nicht einmal bemerkt. Und er hatte einen Teufel getan, sie darauf hinzuweisen.
Er grinste.
Während diese Pantoffelhelden also längst wieder brav in ihren Hotelbettchen lagen, erfüllte sich für ihn gerade der Traum von der Liebe seines Lebens. Jedenfalls fühlte sich in dieser Bar im Moment alles danach an.
Die begehrenswerteste Frau des Universums lag tanzend in seinen Armen und wiegte ihren makellosen Körper zum wehmütigen Klang des Saxofons. Wie in Trance vergrub er sein Gesicht in ihrem duftenden Haar und in ihm breitete sich eine Zuversicht aus, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte.
»Willst du mich heiraten?«, hörte er seine eigene Stimme plötzlich fragen.
Ihr Körper versteifte sich. Blitzschnell entglitt sie seinen Händen und auf ihre dunkelbraunen Augen legte sich ein undefinierbarer Schatten.
Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Hat meine Frage sie verletzt? Was habe ich falsch gemacht?
Er dachte gerade an eine Entschuldigung – quasi als ein Reset in die Ausgangsposition –, als sie unerwartet auflachte und neckisch mit dem Zeigefinger drohte.
»Vorsicht, mein Lieber«, sagte sie. »Du könntest leicht an jemanden geraten, der dich beim Wort nehmen will. Und dann?«
Dann wird geheiratet, wollte er antworten, doch sie verschloss ihm den Mund mit ihren Lippen.
Der Kuss war wunderbar, aber viel zu kurz. Denn nur einen Atemzug später wechselte der Rhythmus der Barmusik vom klagenden Blues zum lebensfrohen Mambo. Zwar hielt sie ihn immer noch bei den Händen, ging jedoch wieder auf Abstand und tanzte ausgelassen.
Dennoch hatte der kurze Kuss ausgereicht, um Bewegung in den Bewohner seiner Boxershorts zu bringen. Lustvoll richtete der sich auf und ließ den sowieso schon ungeschickten Tanzstil seines Trägers noch hölzerner erscheinen.
Heiko Gerstäcker war das im Moment egal. Er hatte nur Augen für seine Partnerin, die sich überirdisch gut bewegte. Beim geschmeidigen Schwung ihrer Hüften fiel es ihm nicht schwer, sich die lustvollen Freuden auszumalen, die sie ihm im Bett bereiten konnte. Und genau das schien sie mit ihrem Tanzstil auch zu bezwecken.
Übermütig drehte sie sich in seine Arme, schmiegte sich an ihn und ließ ihr Becken verheißungsvoll kreisen. Er spürte, wie sein Harter immer härter wurde, und konnte kaum noch klar denken. Verlangend presste er sich gegen ihre Weichheit.
»Zu mir oder zu dir?«, raunte er heiß an ihrem Ohr.
Wieder lachte sie und drehte sich wirbelnd aus seiner Umarmung.
Verärgert blieb er stehen. Auch wenn sie wunderschön war, so wollte er sich nicht länger zum Narren machen lassen. Er würde im Stillen bis zehn zählen und sich dann höflich von ihr verabschieden.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …
»Zu dir«, antwortete sie endlich, griff nach seiner Krawatte und zog ihn hinter sich her.
Er ging zum Tisch zurück und winkte der Bedienung.
Während sie schon vorging und die volle Bar verließ, beglich er seine Rechnung.
*
Das Badezimmer war eng, aber funktionell eingerichtet und sauber. Eine Weile stand sie regungslos vor dem großen Spiegel und betrachtete sich interessiert.
Was sie sah, gefiel ihr. Optisch vereinten sich alle Vorzüge, die eine wirklich schöne Frau ausmachten: volles langes Haar, ein anmutig geschnittenes Gesicht und ein straffer, wohlgeformter Body.
Selbst die Verpackung stimmte.
Weich wie ihre eigenen Hände umschmeichelte der BH aus schwarzer Spitze ihre kleinen runden Brüste. Die dazu passende Stringpanty betonte ihren flachen Bauch und den tadellos geformten Po.
Perfekt.
Zufrieden lächelnd öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und rief: »Bin gleich bei dir!« Sie entnahm ihrem kleinen Abendtäschchen einen Lippenstift und korrigierte nochmals ihr Aussehen. Dann verließ sie das Bad.
Mit lasziven Schritten trat sie an das Fußende des Bettes heran. Ihre Haut schimmerte im diffusen Schein der Stehlampe wie Seide. Sie spreizte leicht die Beine und wippte kokett ihre Hüften.
»Was für ein Abend«, sagte sie, während sie über das ganze Gesicht strahlte. »Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so amüsiert habe. Ist es nicht wunderbar, dass wir uns begegnet sind? Du und ich – das war Schicksal, stimmst du mir zu?«
Der Mann im Bett vor ihr antwortete nicht, sah sie nur an.
»Sei doch kein Spielverderber«, schmollte sie. »Vor einer Stunde wolltest du mich noch heiraten! Ich bin deine Traumfrau, hast du gesagt. Alles nur Worte? Ne, so geht das nicht. Wir sind zusammen und wir bleiben zusammen, bis dass der Tod uns scheidet.« Unvermittelt brach sie in Gelächter aus und hielt sich den Bauch. »Sorry, Darling, aber das ist doch dein Plan gewesen, oder?«
Er wollte den Kopf schütteln, konnte sich jedoch nicht rühren. In den kleinen blauen Augen, die in der Bar noch hoffnungsvoll gestrahlt hatten, stand Angst, blankes Entsetzen und die Gewissheit, ihr nackt und hilflos ausgeliefert zu sein.
Das Deckbett reichte ihm bis an die Brust. Unterhalb des Bauchnabels war es blutgetränkt.
Sie taxierte ihn eine Weile, dann lachte sie ihm lautlos ins Gesicht. »Warum hast du mich gefragt, ob ich dich heiraten will? Um mich ins Bett zu kriegen?« Ihre Stimme war jetzt eisig. »Dabei wäre ich auch mitgegangen, wenn du weniger dick aufgetragen hättest. Ist nämlich dein Glückstag, Heiko.«
Noch bevor der letzte Satz ausgesprochen war, holte sie einen Benzinkanister aus dem Wandschrank und leerte ihn fast vollständig auf dem Bett aus.
Sie sah die Verzweiflung in den Augen des Mannes, aber es berührte sie nicht. Ohne zu blinzeln, stakste sie steifbeinig zum Nachtschränkchen und griff nach einer bauchigen, blutverschmierten Vase aus Porzellan.
Voller Hohn schaute sie hinein, schüttelte spöttisch ihren Kopf und goss den Rest des Kanisters hinein.
Die Dämpfe des Benzins füllten inzwischen den gesamten Raum. Sie atmete hörbar ein und fächerte sich mit der Hand die explosive Luft zu. Ein schwindelndes Gefühl ergriff sie. Lag es an den Gasen oder am Alkohol, den sie in der Bar zu sich genommen hatte?
Egal, diese leichte Benommenheit fühlte sich gut an.
Mit einer beschwingten Bewegung griff sie sich in den Bund ihrer Panty und holte ein Streichholzbriefchen hervor.
»Zzzzsch«, machte sie, als das Hölzchen aufloderte, und warf es in die Vase.
Der Inhalt fing augenblicklich Feuer. Rauch stieg empor und sie verzog angewidert ihr Gesicht.
»Der gehört dir«, rief sie und warf die Vase aufs Bett. Sie schaute besorgt zum Rauchmelder, der jeden Augenblick losgehen konnte. Sie hatte ihn absichtlich nicht entfernt, schließlich sollte es nach einem Unfall aussehen.
»Sorry Liebling, aber ich muss gehen.« Wieder lachte sie ihr kaltes, kehliges Lachen und wandte sich ab.
Hinter ihr loderte das Bett. Es fühlte sich an, als würde der Atem des Feuers zärtlich über ihren Rücken hinweg streicheln.
Sie erschauerte.
Ohne sich noch einmal umzusehen, griff sie nach ihrer Habe, verließ das Hotelzimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Das Landeskriminalamt Sachsen befand sich am Stadtrand von Dresden in der Neuländerstraße. Es war dem Sächsischen Staatsministerium des Innern nachgeordnet und überwachte die Arbeit der regionalen Polizeidienststellen.
Neben bestimmten Ermittlungszuständigkeiten, wie zum Beispiel bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Hochverrats und der Wirtschaftskriminalität, nahm das Landeskriminalamt auch unterstützende Serviceaufgaben wahr. So halfen Beamte des Spezialeinsatzkommandos bei der Festnahme hochgefährlicher Straftäter und Mitarbeiter der Operativen Einsatztechnik bei der Überwachung Beschuldigter. Beamte des Zeugenschutzes sorgten für die Sicherheit gefährdeter aussagebereiter Personen, und Spezialisten des Mobilen Einsatzkommandos übernahmen die Observation von Tatverdächtigen.
Lagen dagegen Anhaltspunkte für außergewöhnlich brutale Seriengewaltstraftaten vor, kamen polizeiliche Fallanalytiker, sogenannte Profiler, zum Einsatz.
Profiler wie Doktor Gloria Siegel.
Die attraktive 34-Jährige hatte eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Sie hatte Psychologie studiert, im Anschluss promoviert und bereits zwei Jahre später erfolgreich am Auswahlverfahren der Operativen Fallanalyse des Bundeskriminalamtes teilgenommen. Damit hatte sie erreicht, wovon viele andere junge Menschen träumen: Sie arbeitete als Profilerin für das LKA Sachsen. Und in dieser Eigenschaft wurde sie immer dann zu den Ermittlungen hinzugezogen, wenn das Motiv für eine besonders grausame Tat völlig im Dunkeln lag – wenn den Täter mit seinem Opfer nichts weiter verband als die Tat selbst.
An einem stürmischen Tag im Herbst bat Doktor Gloria Siegel Oberstaatsanwalt Ralf Uebigau, Kriminalhauptkommissar Alfred Plauschke und Psychologieprofessor Johannes Simmering in ihr LKA-Büro.
Mit diesen drei Herren hatte sie in der Vergangenheit bereits wegen eines spektakulären Falles zusammengearbeitet. Mit dem Professor verband sie sogar seit ihrem Studium eine väterliche Freundschaft. Dementsprechend vertraut und herzlich fiel die Begrüßung aus.
Nachdem ihre Gäste Platz genommen hatten, kam Gloria ohne Umschweife zum Punkt. »Die Kollegen in Leipzig führen Ermittlungen zu einem Brand im Hotel Mercure, bei dem ein Geschäftsmann schwer verletzt wurde. Aufgrund der Schwere der Verletzungen ist das Opfer in ein künstliches Koma versetzt worden und kann bis auf weiteres nicht vernommen werden. Bisher steht nur fest, dass das Feuer im Bett ausgebrochen ist.«
Hauptkommissar Plauschke lehnte sich entspannt lächelnd zurück. Seine Freude über diese Einladung war nicht zu übersehen. Auch wenn er schon seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet war – meistens jedenfalls – so hegte er doch ganz besondere Gefühle für Gloria. »Betrunken geraucht, eingeschlafen«, meinte er schulterzuckend. »Das kommt immer wieder vor. Ist tragisch, aber seit wann sind derartige Unfälle für eine Fallanalytikerin von Interesse?«
»Seit die Kollegen in Leipzig herausfanden, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt hat«, antwortete Gloria. »Es war Brandstiftung. Der Mann sollte getötet werden.«
»Ein Mordversuch?«, fragte Plauschke. »Warum hält man sich nicht erst an die üblichen Verdächtigen, bevor man eine Profilerin zurate zieht? – Ehefrau, Geliebte, ein gehörnter Ehemann oder ein Konkurrent?«
»Weil man die üblichen Verdächtigen bereits ausgeschlossen hat und inzwischen Anhaltspunkte für eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Verbrechen vorliegen.«
»Fünfzehn, um genau zu sein«, fügte der Oberstaatsanwalt hinzu. »Ein befreundeter Kollege hat mir gerade davon erzählt.«
»In Sachsen?«, fragte Plauschke.
»Bundesweit«, entgegnete Uebigau.
»Auch in Dresden?«
»Nein.«
»Und warum sind wir dann hier?« Er wies auf sich und den Staatsanwalt. »Sie mögen ja landesweit für solche Fälle zuständig sein«, sagte er zu Gloria. »Aber wir bearbeiten nur Fälle in Dresden. Wissen Sie, was hier vor sich geht?«, fragte er an Uebigau gewandt.
Der Staatsanwalt zuckte die Achseln und gab diese Frage mit einer Geste an Gloria weiter.
Diese ließ sich lächelnd hinter ihrem Schreibtisch nieder.
»Das ein ganzes Team von Fallanalytikern nötig ist, um ein Verbrechen wirklich objektiv beurteilen zu können, darin sind wir uns doch einig, oder?«, fragte sie und holte sich von jedem der Anwesenden die Bestätigung in Form eines Kopfnickens.
Sie dachte an ihren letzten Fall zurück, den sie tatsächlich nur im Team hatten lösen können.
In einem kleinen, jungen, aber kreativen Team.
Sie ließ ihren letzten Satz noch einen Moment im Raum stehen, dann zog sie den Hals ein. »Nur leider steht mir kein Team zur Verfügung.«
»Wie, kein Team? Das soll wohl ein Witz sein?«, ereiferte sich Plauschke.
»Jedenfalls nicht kurzfristig«, entgegnete sie schnell. »In Hessen läuft seit Wochen ein Kinderschänder frei herum. Die Kollegen dort brauchen jeden, den sie kriegen können.«
»Auf unsere Kosten …«
»Zum Wohl der Kinder und ihrer Familien in Hessen.«
Plauschke schluckte hart. »Und nun?«
»Nun brauche ich dringend anderweitig Unterstützung.«
Einige Minuten lang sprach keiner ein Wort.
Schließlich runzelte der Oberstaatsanwalt die Stirn. »Von uns?«, fragte er irritiert.
Bevor Gloria antwortete, warf sie Professor Simmering einen verschwörerischen Blick zu. Er war zuvor in ihren Plan eingeweiht worden und hatte ihn für gut befunden.
Auch jetzt bestärkte er sie mit einem Augenaufschlag, worauf sie sich wieder an Plauschke und Uebigau wandte.
»Ja, von Ihnen«, antwortete sie mit einem breiten Lächeln. »Sie sollen mir so helfen, wie Sie mir schon einmal geholfen haben. Erinnern Sie sich an unseren letzten gemeinsamen Fall? An den Aufschlitzer?«
»Wer nicht?«, erwiderte Plauschke flapsig, biss sich aber sofort auf die Zunge und wedelte aufgeregt mit der Hand. »Sie denken doch nicht etwa, was ich denke, dass Sie das denken?«
Wieder runzelte der Staatsanwalt die Stirn und sah Plauschke schräg von der Seite an. »Woran denkt sie denn, Herr Hauptkommissar?«
Während seine Frage unbeachtet durch den Raum wehte, wurde das Lächeln auf Glorias Gesicht noch breiter.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«, protestierte Plauschke, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. »Im vergangenen Jahr, das war eine Ausnahmesituation.«
»Das ist es diesmal auch.«
»Aber damals handelte es sich um unseren Zuständigkeitsbereich. Ob die Kollegen in Leipzig einfach akzeptieren, dass …«
»Sie akzeptieren es«, unterbrach ihn Gloria, immer noch lächelnd.
»Was denn?«, fuhr Uebigau ungeduldig dazwischen. »Habe ich etwas verpasst? Worüber reden Sie beide? – Und Sie«, er sah Simmering vorwurfsvoll an, »Sie wissen offensichtlich auch längst Bescheid.«
Professor Simmering nickte. »Doktor Siegel hat mich bereits vor diesem Treffen um Rat gefragt.«
»Weshalb?«
»Weil sie sich wieder einmal zwei seiner Studenten ausborgen will«, platzte Plauschke dazwischen, während er Gloria weiterhin taxierte. »Und mich hat sie eingeladen, weil sie es auch auf zwei meiner jungen Kommissare abgesehen hat. Unterbrechen Sie mich, wenn ich falschliege.«
»Nein, nein«, winkte Gloria ab. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich denke tatsächlich daran, wieder mit den vier Leuten zusammenzuarbeiten.«
»Mit Amateuren …«
»Mit diesen vier Amateuren und Herrn Alexander Buschbeck.«
»Der sein Psychologiestudium inzwischen beendet hat«, fügte Simmering hinzu.
»Sechs Hirne denken besser als eins«, erklärte Gloria. »Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass wir mit Hilfe dieser Amateure eine brutale Mordserie aufklären konnten. Was spricht also gegen eine erneute Zusammenarbeit?«
Wieder breitete sich für einen Moment Schweigen aus.
Uebigau räusperte sich. »Sie wissen, wie ich zu diesem Thema stehe«, sagte er mit einem verzweifelten Seufzer. »Ihre fünf Amateure, so begabt sie auch sein mögen, können ein Team von speziell ausgebildeten Fallanalytikern nicht ersetzen.«
»Ein solches Team steht mir nur gerade nicht zur Verfügung«, entgegnete Gloria.
»Trotzdem …« Das Gesicht des Oberstaatsanwaltes verzog sich erneut, als hätte er Schmerzen.
»Was haben wir denn zu verlieren?«, drängte Simmering mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme in die Konfrontation.
Abermals wurde es still.
»Nichts«, antwortete Uebigau schließlich und lehnte sich überrumpelt zurück.
»Oder alles«, brummte Plauschke kampflustig. »Gegen den Einsatz meiner Polizisten habe ich ja nichts einzuwenden. Die Kommissare Bender und Fritzmann sind trotz ihrer Jugend hervorragende Ermittler. Aber die Psychoheinis, ganz besonders dieser Alexander Buschbeck, können uns nun nicht wirklich weiterhelfen.«
»Ach, hören Sie doch auf«, fuhr Simmering ihn an.
Er glaubte genau zu wissen, warum dieser alte Brummbär gerade Alexander Buschbeck so sehr ablehnte. Nicht wegen fehlender fallanalytischer Qualifikationen, sondern weil Alexander neben seiner Jugend und dem guten Aussehen ein Charisma besaß, dem sich selbst die so kühl und distanziert wirkende Gloria nicht entziehen konnte.
Sie war für Plauschke das Objekt der Begierde. Er verehrte sie, das wusste jeder in seinem Umfeld, auch wenn es ihm selbst vielleicht nicht bewusst war. Plauschke verehrte sie mehr, als es einem verheirateten Mann in seinem Alter moralisch zustand.
Trotzdem lag Simmering nichts ferner, als ihn deshalb zu verurteilen. In gewisser Weise konnte er ihn ja auch gut verstehen. Gloria war eine begehrenswerte Frau. Aber dass er ihretwegen seine Schützlinge madigmachte, wollte er nicht zulassen.
»Diese Psychoheinis, wie Sie Alexander Buschbeck und meine Studenten nennen, haben bereits eindrucksvoll bewiesen, was sie auf dem Kasten haben – gerade im Team mit Ihren Polizisten.«
»Eben«, entgegnete Plauschke.
Simmering verschlug es die Sprache. »Ihre jungen Kommissare mögen ja hervorragende Ermittler sein, aber ohne die Hilfe meiner Studenten und Alexander Buschbeck hätten sie die psychologischen Aspekte dieses Falls niemals einordnen können. Und das wissen Sie auch.«
»Papperlapapp«, winkte Plauschke ab. »Psychologische Aspekte hin oder her, früher ging es auch ohne diesen ganzen Firlefanz. Polizisten haben Tatorte rekonstruiert und sich in einen unbekannten Täter hineinversetzt, lange bevor es die Fuzzis von der Fallanalyse gab. Damals hat man noch dem kriminalistischen Hintergrundwissen eines erfahrenen Beamten vertraut.«
»Ein Hintergrundwissen, welches er sich im Laufe der Jahre aus persönlichen Erfahrungen angeeignet hat«, folgerte Simmering.
»So ist es.«
»Unsystematische Erfahrungen aus ein paar mickrigen Einzelfällen also.«
Plauschke zögerte. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Herr Professor?«
Simmering antwortete mit einem undurchschaubaren Lächeln.
»Das will er natürlich nicht«, sagte Gloria. »Es ist nur so, dass es bei der von Ihnen so vehement verteufelten Fallanalyse darum geht, wertvolle Einzelerfahrungen zusammenzutragen und zu systematisieren.«
»Um sie letztlich zu professionalisieren«, ergänzte Simmering, noch immer lächelnd.
Plauschke kniff die Lippen fest aufeinander. Doch bevor er etwas erwidern konnte, legte Gloria ihm beruhigend ihre Hand auf den Arm.
»Schauen Sie, Herr Kollege. Indem wir Fuzzis von der Fallanalyse eine Vielzahl von Fällen mit statistischen Methoden auswerten, können wir unseren Erfahrungshorizont künstlich erhöhen.«
»Künstlich erhöhter Erfahrungshorizont«, wiederholte Plauschke verächtlich.
»Ein Erfahrungshorizont, der weit über die berufliche Erfahrung hinausgeht, die ein einzelner Beamter je zu machen in der Lage ist«, erklärte Gloria ruhig. »Es ist ein Wissensschatz, aus dem selbst unerfahrene Kollegen schöpfen können.«
»Und dieses Wissen würde auch den Amateuren zur Verfügung stehen?«, fragte Uebigau.
»Auch den Amateuren«, bestätigte sie.
»In diesem Fall ziehe ich meine Bedenken natürlich zurück. Was haben wir denn zu verlieren?«
»Nichts.« Gloria strahlte. »Dann werden Sie mir also helfen?«
Uebigau lehnte sich zurück und öffnete die Hände.
»Was erwarten Sie von mir, Frau Doktor Siegel?«
»Dass Sie meinen Antrag beim Chef des LKA unterstützen.«
»Darauf haben Sie mein Wort.«
»Danke«, sagte sie und zwinkerte Plauschke neckisch zu. »Und Sie, verehrter Hauptkommissar? Werden Sie mir wieder Ihre Kommissare überlassen?«
Plauschke nickte widerwillig und brummte schließlich etwas, das sich wie ein Ja anhörte.
In der Mensa der Technischen Universität Dresden ging es um die Mittagszeit zu wie in einem Ameisenhaufen. Für die Studienanfänger mochte der Anblick chaotisch anmuten, für ältere Semester und Lehrkörper jedoch gehörte dieses Durcheinander zum ganz normalen Wahnsinn eines ganz normalen Tages.
Das Essen hier war nicht nur preiswert, sondern auch gut und abwechslungsreich. Jeden Tag standen wenigstens fünf Gerichte zur Auswahl. Seit Beginn des neuen Studienjahrs wurde sogar täglich ein vegetarisches Menü angeboten.
Das Drumherum war reine Gewöhnungssache.
Wer regelmäßig herkam, störte sich nicht an dem allgegenwärtigen Mief aus Schweiß und Deodorant oder daran, dass der mühsam ergatterte Stuhl noch warm vom Hinterteil des Vorgängers war. Hier ging es einzig darum, einen frei gewordenen Platz zu übernehmen, um ihn schon alsbald dem Nächsten zu überlassen.
Ebenfalls gewöhnungsbedürftig war der Geräuschpegel, auch wenn er einen nicht überrumpelte wie beispielsweise ein Güterzug, der ungebremst durch den Bahnhof donnerte. Aber selbst an das stetige Rauschen eines Wasserfalls musste man sich erst gewöhnen, bevor man imstande war, es geflissentlich zu überhören.
Was für ein Irrenhaus, dachte Charlotte Hiller, Psychologiestudentin im dritten Jahr, als sie den Speisesaal betrat. Vor ihr tummelten sich mehrere Hundert Kommilitonen auf engstem Raum. Alle sprachen auf einmal. Alle waren in Bewegung.
Trotzdem fiel es der jungen Frau nicht schwer, ihren Freund Dominik in der Menge auszumachen. Sie kannte ihn wie sich selbst. Durch die enge Freundschaft ihrer Eltern waren sie wie Geschwister miteinander aufgewachsen, hatten dieselben Schulen besucht und an der Uni zur selben Zeit denselben Studiengang belegt. Außerdem war Dominik an dieser Universität der einzige Student, der diese elend teuren Designeranzüge trug.
Niemand kleidete sich auch nur annähernd so auffällig, von ihr selbst mal abgesehen. Jedoch war ihr Stil ein ganz anderer. Während Dominik allergrößten Wert auf Eleganz legte, liebte sie es extravagant. Oder besser gesagt knallbunt und ausgefallen. Und während er alles tat, um dem weiblichen Geschlecht optisch zu gefallen, vermied sie jedwede ermunternde Signalwirkung, die auch nur entfernt als Paarungsbereitschaft ausgelegt werden könnte.
Sie drehte sich noch einmal um und betrachtete ihr Spiegelbild prüfend in der verglasten Eingangstür. Zufrieden stellte sie fest, dass der kurze blaue Jeansrock in Kombination mit den schwarz-rot-gelb geringelten wollenen Strumpfhosen alles andere als aufreizend wirkte. Komplettiert wurde diese kindliche Fröhlichkeit von einem schwarzen Feinstrickpullover, einer quietschgelben Lacklederjacke und flachen, schwarzen Lacklederstiefeln.
Perfekt!
Lächelnd zupfte sie sich ein paar pink gefärbte Locken aus der wilden blonden Mähne, die sie am Morgen lässig zu einem Knoten gedreht und am Hinterkopf festgesteckt hatte, und schürzte anschließend die Lippen. Das knallige Rot ihres Schmollmundes harmonierte erstaunlich gut mit dem violett-olivgrünen Lidschatten.
Wieder lächelte sie, denn ihr war durchaus bewusst, dass Otto Normal ihren Geschmack nicht teilte. Aber Otto Normal hatte noch nie zu ihren persönlichen Ratgebern gehört. Weder zu ihren noch zu Dominiks.
Rebellisch sah sie zu ihm hinüber.
Gemeinsam erzogen, gemeinsam verbogen.
Seine und ihre Eltern hatten in der Tat ganze Arbeit geleistet. Gute Arbeit.
Ihre Mundwinkel zuckten spitzbübisch. Beim Anblick ihres Kameraden rollte sie jedoch die Augen. Er konnte es einfach nicht lassen.
Dominik stand inmitten einer Traube hübscher Mädchen, offensichtlich Erstsemester, die sich von seiner gepflegten Erscheinung und dem prinzenhaften Gesicht angezogen fühlten. Er unterhielt sie mit irgendwelchen spannenden Geschichten und warf sich in Pose wie ein Popstar.
Warum auch nicht?, dachte Charlotte. Warum sollte er nicht die Gunst der Stunde nutzen, solange das Feuer der Bewunderung noch brannte. Es würde ja doch nur ein Strohfeuer sein. Leider.
Dominik war ein Lieber, ein Netter. Aber er war eben auch ein selbstverliebter Aufschneider, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, wann sie genervt das Weite suchten.
Was er wohl gerade an Hochinteressantem zum Besten gab? Charlotte näherte sich unauffällig bis auf Hörweite. Sie verbarg sich hinter der Säule, an der Mister Großspurig posierte.
»Für eure Entscheidung, Psychologie zu studieren, kann ich euch bloß beglückwünschen«, säuselte er, »auch wenn dieses Studium mit Sicherheit kein Honigschlecken wird, besonders am Anfang. Obwohl … als ich noch Anfänger war, habe ich schon als Profiler für das LKA Sachsen gearbeitet. Habt ihr vergangenes Frühjahr vom Aufschlitzer gehört?« Er tippte sich mit spitzem Finger an die Brust. »Ich bin dabei gewesen.«
»Wie dabei?«, wollte eines der Mädchen wissen.
»Mittendrin«, antwortete Dominik. »Ich habe mitgeholfen, einen brutalen Serienmörder zu fassen.«
»Ja, klar …«
»Mein Team hat den Kriminalfall analysiert und ein Täterprofil erstellt.«
»Dein Team …« Noch abfälliger konnten diese zwei Worte nicht ausgesprochen werden.
Dominik honorierte diese Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung und fuhr unbeirrt fort: »Und als er dann endlich geschnappt wurde, dieser potthässliche Spinner, waren mein Team und ich neben dem Sondereinsatzkommando vor Ort.«
Die Mädchen kicherten und auch Charlotte konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Zwar entsprach seine Geschichte der Wahrheit, im Wesentlichen jedenfalls, aber nicht jede Wahrheit taugte für jedes Ohr.
Die eine oder andere dieser Studienanfängerinnen träumte vielleicht selbst von einer Karriere als Profilerin und hatte sich nur deshalb um einen Psychologiestudienplatz beworben. Dank der Medien gehörte dieser Beruf immerhin zu den derzeit angesagtesten Jobs der Welt. Die Konkurrenz war groß, nur die Besten hatten eine Chance.
Und genau da lag der Hase im Pfeffer. Wer dieses Ziel vor Augen hatte, wusste, dass der Weg dorthin nicht nur extrem hart, sondern auch extrem weit war. Oftmals dauerte er ein halbes Berufsleben lang.
Und ausgerechnet da kam so eine Großklappe wie Dominik daher, die bereits erlebt haben wollte, wovon diese Mädchen träumten? Charlotte griff sich an den Kopf. Das konnte doch nur nach hinten losgehen.
»In deinen Träumen vielleicht«, kam auch prompt die Erwiderung.
Dominik runzelte die Stirn. »Glaubt ihr, ich spinne?«
Wieder kicherten die Mädchen.
»Wie würdest du es denn nennen?«, entgegnete eine sommersprossige Stupsnase. »Kreatives Denken?«
Dominik Gesichtsfarbe wechselte von zufriedenem Rosa zu frostigem Weiß. »Als ob ich es nötig hätte, mir so etwas auszudenken. Jedes Wort ist wahr!«
»So wahr wie das Märchen vom gestiefelten Kater?«
Nun brachen die Mädchen in schallendes Gelächter aus und Dominik schüttelte mit der Andeutung eines schiefen Lächelns seinen erhitzten Kopf.
»Warum so feindselig?«, presste er zwischen seinen strahlend weißen Zähnen hervor. »Ich lasse euch an meinen Erfahrungen teilhaben und ihr stempelt mich als Clown ab. Ist das vielleicht anständig? Dabei steht ihr erst ganz am Anfang. Wo ist eure Neugier? Wo euer Respekt gegenüber einem Mitstudenten? Ich bin bereits da, wo viele von euch nie hinkommen werden. Die eine genügt den Anforderungen nicht, die andere wirft freiwillig das Handtuch.«
Touché, dachte Charlotte beeindruckt. Der Punkt ging zweifellos an den kleinen Angeber.
Die Mädchen schienen das ähnlich zu sehen. Jedenfalls tauschten sie verunsicherte Blicke und sagten erst einmal gar nichts.
»Und wenn schon«, meldete sich die sommersprossige Stupsnase schließlich zu Wort. »Wir sind Neulinge, das stimmt, aber deshalb sind wir noch lange nicht blöd. Warum sollte die Polizei ausgerechnet dich in den Fall einbezogen haben?«
»Wir waren zu zweit.«
»Und wenn schon! Warum zwei Amateure von der Universität?«
»Weil es Menschen gibt, die uns diese Aufgabe zugetraut haben – allen voran die Profilerin vom LKA, Frau Doktor Gloria Siegel.«
»Einfach so?«, höhnte eine Stimme, deren Besitzerin Charlotte von ihrem Versteck aus nicht sehen konnte. »Weil du so gut aussiehst und dir die Begabung geradezu ins Gesicht geschrieben steht?«
Dominik zuckte die Schultern. »Nur kein Neid, meine Damen. Für meine Begabung sprechen meine überdurchschnittlichen Leistungen und für mein gutes Aussehen immerhin ihr. Oder würdet ihr mich wie die Motten umschwirren, wenn ich hässlich wäre?«
Touché, dachte Charlotte erneut, diesmal jedoch innerlich seufzend. Damit war der Sympathievorschuss, den er selbstverständlich nur seinem guten Aussehen zu verdanken hatte, also futsch. Welcher halbwegs coole Typ geht denn auch mit seinem Intellekt hausieren und kritisiert ausgerechnet die, die ihn gut finden?
In der Absicht, das Ansehen ihres Freundes ein wenig aufzupolieren und damit zu retten, was zu retten war, trat Charlotte aus dem Schatten der Säule.