Elfenmacht - Bernhard Hennen - E-Book

Elfenmacht E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Wer wird künftig über die verwunschene Albenmark herrschen? Sind es die grausamen Drachen oder die raubeinigen Zwerge? Oder die geheimnisvollen Elfen, deren Kräfte bisher im Verborgenen geschlummert haben? Als die beiden Geschwister Emerelle und Meliander sich auf die Suche nach ihrer verschwundenen Mutter machen, der legendären Drachenelfe Nandalee, ahnen sie nicht, dass ihre Reise das Schicksal aller Völker Albenmarks für immer verändern wird. Während Emerelle den Weg des Kampfes wählt, findet ihr stillerer Bruder eine junge, mysteriöse Elfe, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Doch es gibt Geheimnisse, an deren Wurzeln man nicht rühren sollte …

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Seitenzahl: 752

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Zum Buch

Ihr ganzes Leben lang musste sich die junge Elfe Emerelle gemeinsam mit ihrem Bruder Meliander vor der Rache der Drachen verstecken. Doch nun will sie der Obhut der mächtigen Alben entfliehen, um ihre verschwundene Mutter zu finden. Die Elfe, die einst die erste Dienerin der Drachen war und nun ihre größte Feindin ist: Nandalee.

Obwohl Meliander alles andere als begeistert von Emerelles Idee ist, schließt er sich ihr an. Was sie nicht ahnt: Er verfolgt eigene Pläne, will den Bruder suchen, von dessen Existenz selbst Nandalee nichts weiß.

Aber die magische Albenmark ist seit ihrer Kindheit ein dunkler Ort geworden, und die Drachen, die die Welt schützen sollten, sind seine tyrannischen Herrscher. Einzig eine Rebellengruppe mit Namen Fahrende Ritter wagt noch Angriffe. Für Emerelle ist klar, dass sie dort ihre Mutter finden wird.

Doch Meliander trennt sich von ihr. Auf der Suche nach seinem Bruder geht er in den Norden – und entdeckt an einem verwunschenen Ort die geheimnisvolle Elfe Mailyn. Zum ersten Mal in seinem Leben ist Meliander verliebt und glücklich. Doch in einer Welt, in der laut Prophezeiung Elfen ein neues Zeitalter einläuten werden, ist nichts, wie es zu sein scheint, und überall drohen für die Kinder Nandalees Gefahren ...

Zum Autor

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer und historischer Bücher widmete. Mit seiner Elfen-Saga stürmte er zunächst alle deutschen, dann auch international die Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der Fantasy. Nach der Drachenelfen-Saga legt der Autor in Elfenmacht das einzigartige Epos über die Schicksalsjahre seiner beliebtesten Helden, der Elfen, vor. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

www.bernhard-hennen.de

BERNHARD

HENNEN

ELFEN

MACHT

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2017 by Bernhard Hennen

Copyright © 2017 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Uta Dahnke

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung einer Illustration von Federico Musetti

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-18601-2 V003

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

Für die geheimnisvolle

Schöne

Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln.

Erstens durch Nachdenken: Das ist der edelste.

Zweitens durch Nachahmen: Das ist der leichteste.

Drittens durch Erfahrung: Das ist der bitterste.

KONFUZIUS

(vermutlich 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.)

DER LETZTE SCHRITT

Emerelle wich ein Stück zurück, und die Klinge verfehlte ihre Kehle nur um einige Fingerbreit. Grüne Augen funkelten sie aus dem Schatten des Helms an. Die Elfe gab vor zu straucheln, während sie vor der tanzenden Klinge weiter zurückwich. Es war nicht leicht, ihn zu reizen, aber wenn man es schaffte, ließ er alle Vorsicht fahren und wurde regelrecht zum Berserker. Nur dann war er ein respekteinflößender Gegner, und Emerelle liebte die Gefahr.

Aus dem Augenwinkel sah sie Satas angespanntes Gesicht. Die Koboldin war sich durchaus bewusst, dass dies hier keine Übungsstunde mehr war. Kreischend glitt Melianders Schwert über Emerelles Helm. Sie hatte sich nur um eine Winzigkeit zu spät geduckt. Der Stahl hatte ihren Helm kaum berührt und doch war ihr Kopf mit einem schmerzhaften Ruck nach hinten gerissen worden.

Emerelle packte die Klinge ihres Schwertes mit der behandschuhten Linken, riss die Waffe hoch, hakte die Parierstange hinter Melianders Klinge und drückte sie zur Seite. Dann versetzte sie ihm mit dem Knauf ihrer Waffe einen Stoß vor die Brust, der ihren Bruder von den Beinen riss. Sein Schwert fiel aufs Deck.

»Das reicht!« Sata schaffte es, sie erstaunlich laut anzuzischen, ohne auch nur ihre Meerschaumpfeife zwischen den schmalen Lippen hervorzuziehen. Mit ihren schwarzen Augen funkelte sie die beiden wütend an. Sata reichte ihnen kaum bis zum Knie, und dennoch hatte Emerelle einen gehörigen Respekt vor der Koboldin. Sie hatte das Sagen auf dem verwunschenen Himmelssegler, auf dem Emerelle und Meliander einen Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht hatten. Einem Schiff, das mit dem Wind über den weiten Himmel trieb, ohne jemals irgendwo vor Anker zu gehen.

Manchmal des Nachts hörte Emerelle eine getragene, traurige Stimme durch die leichten Holzwände, die Blicke aussperrten, aber keine Geräusche. Sie sang ein Lied, dessen Worte Emerelle nicht verstand und das sie dennoch zutiefst berührte. Es war voller Melancholie, und so war auch die Stimmung an Bord. Ganz gleich, ob Andur, der Kentaur, oder Abrax, der Troll, Gylla, die Dryade, oder Fillipos, der Faun – sie alle trugen an einer Last, die sie hinter einer aufgesetzten Fröhlichkeit verbargen. Was sie bedrückte, hatte Emerelle in all den Jahren an Bord nicht herausfinden können. Es musste irgendeine nicht greifbare Bedrohung geben … Aber wer konnte dem Blauen Stern gefährlich werden? Dem Schiff eines Gottes?

Meliander nahm seinen Helm ab. Er wirkte zerknirscht. Ihrem Bruder setzte es viel mehr zu, wenn die kleine Tyrannin Sata wütend oder, schlimmer noch, enttäuscht war. »Tut mir leid«, murmelte er, wobei er kaum die Zähne auseinanderbekam. »Du hättest mich aber wirklich nicht …«

»… einen Bücherwurm mit Knoten im Hirn nennen dürfen?«, fiel ihm Emerelle ins Wort. »Ich sage immer, was ich denke. Und du gewöhnst dich besser daran, mit der Wahrheit umzugehen.«

Sein reumütiger Blick ließ ihren Ärger vergehen wie Nebel im Sonnenschein. Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich wollte dich ärgern. Ich finde, wenn du aus dir herausgehst und nicht über jeden Hieb endlos nachdenkst, bist du ein wahrer Schwertmeister.«

Meliander lächelte verlegen, und seine schönen grünen Augen leuchteten auf. Natürlich war er kein Schwertmeister, jedenfalls nicht nach den überaus strengen Maßstäben, die Sata anlegte, aber das Lob tat ihm gut. Vielleicht, dachte Emerelle, konnte sie ihn so dazu bewegen, ein wenig mehr Zeit mit ihr auf dem Flugdeck zu verbringen, statt immer nur über seinen Büchern, Schriftrollen und Tontafeln zu hocken oder mit Fillipos halbe Nächte hindurch Flöte zu spielen.

»Wie schön, dass ihr beiden euch versteht, obwohl dein Bruder gerade eben erst versucht hat, dich zu enthaupten.« Sata deutete mit ihrem dürren Zeigefinger auf Meliander. »Du, junger Elf, wirst hier auf dem Flugdeck bleiben und schattenfechten, bis du kein Glied mehr zu regen vermagst.«

Meliander nickte zerknirscht.

»Und du, Emerelle …« Sata rammte ihr den Zeigefinger gegen das Knie. »Du musst endlich lernen, den Drachen in dir zu bändigen!«

Die Elfe seufzte. Sata sprach gern in solch übertriebenen Metaphern. Vielleicht fühlte sie sich ja größer, wenn sie große Worte machte.

»Zieh nicht so ein Gesicht, junge Dame!«, herrschte die Koboldin sie an, und in ihren schwarzen Augen lag eine Glut, die vermutlich selbst einen Troll erschreckt hätte. »Wenn du einen Gegner durch deine Reden zu unbedachten Taten verleitest, so ist das Unglück, das daraus erwachsen mag, aus deinem Geiste geboren, auch wenn ein anderer das Schwert führt. Hätte dich Meliander eben enthauptet, ich hätte nicht um dich geweint, sondern um ihn.«

»Du kannst weinen, Sata?« Seit vielen Monden schon war Emerelle der selbstgerechten Reden der Koboldin überdrüssig. Fast täglich gerieten sie beide in Streit. Ganz gleich, was Emerelle tat, Sata fand immer etwas daran auszusetzen. Also bemühte sie sich erst gar nicht mehr darum, der Alten zu gefallen. Wenn sie Streit wollte, den konnte sie bekommen!

»Ich werde dir helfen, deine innere Harmonie wiederzufinden, Emerelle. Nur wenn du mit dir selbst im Frieden lebst, kannst du das auch mit der Welt. Du musst lediglich …«

»Ja, ja …«

Zwei steile Falten bildeten sich über Satas Nasenwurzel. »Das genügt! Du gehst jetzt in die Bibliothek und wirst dort über folgenden Gedanken des Lehrmeisters Kong meditieren:

Jedem Albenkind stehen drei Wege offen, klug zu handeln.

Erstens durch Nachdenken: Das ist der edelste.

Zweitens durch Nachahmen: Das ist der leichteste.

Drittens durch Erfahrung: Das ist der bitterste.

Morgen werde ich mit dir erörtern, welchen Weg du für dich erwählen möchtest und warum.«

Emerelle bebte vor Zorn. »Ich lasse mir nichts mehr von dir sagen, du verdorrter kleiner Giftknochen.«

»Mir scheint, du benötigst mehr als nur den Rat weiser Schriften.« Die Koboldin hob Melianders Schwert auf. Die Waffe war ein ganzes Stück größer als sie und passte so gar nicht zu der zierlichen Gestalt der kleinen Koboldin. Sata trug ein hellgrünes, mit schreiend bunten Vögeln besticktes Kleid. Dazu eine rote Weste, auf die Hunderte von kleinen Muscheln genäht waren, die verschlungene Rankenmuster bildeten. Aus einer breiten scharlachroten Bauchbinde, die jedem Räuberhauptmann Ehre gemacht hätte, ragten drei der langstieligen Meerschaumpfeifen, in denen sie gern ihren nach Vanille duftenden Tabak rauchte. Ein weißer Schal, auf den goldene Schneeflocken gestickt waren, rundete ihre groteske Erscheinung ab. Obwohl ihre Kleidung weit geschnitten war, verbarg sie nicht, dass die Koboldin aus kaum mehr als Haut und Knochen bestand. Tiefe Falten rahmten ihren Mund und ihre Augen. Ihr dunkles, drahtiges Haar war zu einem Dutt gedreht, aus dem Knöchelchen von Vögeln ragten, die dummerweise geglaubt hatten, der Blaue Stern sei ein Ort, auf den man scheißen könnte.

Die dürren kleinen Finger der Koboldin vermochten den Schwertgriff kaum zu umspannen. Dennoch hob sie die Waffe zum Fechtergruß. »Bereit zu einer Lektion, Tochter der Nandalee?«

Emerelle presste trotzig die Lippen zusammen und nickte. Sie wusste, was kommen würde. Sie hatte einfach kein Talent zum Schwertkampf. Auch wenn sie nun schon Jahrzehnte übte und gelernt hatte, ihre Kampfeskunst mit Zaubern zu durchweben, vermochte sie nicht einmal diese knochige Koboldin zu besiegen. Sie wusste, wie das hier enden würde. Aber sie war zu stolz, um klein beizugeben.

»Sie hat es nicht so gemeint«, mischte sich Meliander ein. »Du weißt doch, wie sie ist. Manchmal geht ihr Temperament mit ihr durch. Du musst das nicht tun …«

Sata schüttelte wissend den Kopf. »Emerelle trägt ihr Herz auf der Zunge. Man kann sich immer darauf verlassen, dass sie meint, was sie sagt.« Die Koboldin sah sie mit ihren unheimlichen schwarzen Augen eindringlich an. »Tut es dir leid, mich einen verdorrten kleinen Giftknochen genannt zu haben? Möchtest du dich vielleicht entschuldigen?«

Emerelle berührte mit ihrer Klinge leicht das Schwert der Koboldin. »Man sollte sich niemals dafür entschuldigen, die Wahrheit gesagt zu haben.«

Satas schmale Lippen zuckten amüsiert. »Stimmt, man muss nur bereit sein, die Konsequenzen zu tragen.« Ohne Umschweife ging sie zum Angriff über.

Emerelle machte einen Satz zurück und parierte den ersten Hieb. Es war schwer, gegen eine so viel kleinere Kämpferin zu bestehen, wenn sie so schnell war wie Sata. Ihre Hiebe kamen in ungewohnter Höhe, und der Winkel, in dem die Elfe parierte, gab Sata die Möglichkeit, ihre erstaunliche Kraft noch effektiver einzusetzen. Mit Leichtigkeit stieß sie Emerelles Klinge beiseite, und es folgte ein wahrer Hagel von Hieben, die auf Emerelles Knie und ihre Fußknöchel zielten.

Die Elfe öffnete sich der Magie der Welt und sprach ein Wort der Macht, um einen Zauber zu weben, der bewirkte, dass sie sich widernatürlich bewegte. Wie stets, wenn sich ein Zauberweber gegen die Gesetze der Welt verging, reagierte das Goldene Netz. Es wandte sich gegen Emerelle, aber die junge Kriegerin ignorierte es. Schneller und schneller bewegte sie sich. Nun ging sie zum Angriff über. Doch Sata parierte die wütenden Streiche, die auf ihren Kopf und ihre Schultern zielten, mühelos.

Funken stoben von den Klingen, die zu fließenden silbernen Linien im Halbdunkel des Flugdecks verschwammen. Emerelle wurde sich dessen bewusst, dass sie zu schnell war. Sollte Sata einen Schlag nicht abwehren, würde Emerelle ihn nicht mehr abbremsen können.

Der Gedanke ließ sie langsamer werden. Da wich Sata ihrem Angriff aus und rammte ihren Schwertknauf seitlich gegen Emerelles Knie. Die Elfe knickte ein. Ihr Bein gehorchte ihr nicht mehr. Sie sank auf die Knie. Ein Hieb mit der Breitseite von Satas Klinge traf sie vor die Brust. Pfeifend entwich die Luft aus ihrer Lunge. Kühl berührte Satas Schwertspitze sie unter dem Kinn.

»Hochmut ist keine Tugend, die dir in deinem Leben weiterhelfen wird, junge Elfe. Nun geh in die Bibliothek und tu, was ich dir aufgetragen habe.«

Es lag eine Macht in diesen Worten, die keinen Widerstand duldete. Aller Zorn in Emerelle war erloschen. Sie würde sich dem Befehl fügen. So hatte bisher jede Rebellion ihrerseits geendet. Letztlich hatte sie der kleinen, herrischen Sata nichts entgegenzusetzen.

Die Koboldin verließ das Flugdeck, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.

Hätte sie wenigstens gegen Abrax, den stinkenden hünenhaften Troll, verloren oder gegen Andur, den Kentauren, der sie schon mehrfach damit überrascht hatte, dass er sich nicht zu schade war, in einem Kampf zu beißen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Auch Fillipos hätte sie eher einen Triumph zugebilligt; immerhin kannte der geckenhafte Faun wohl so ziemlich jeden schmutzigen Trick im Zweikampf und hatte ihr jahrelang immer wieder aufs Neue bewiesen, dass man auf dem Gebiet des unritterlichen Gefechts niemals auslernte. Aber es war stets Sata, die sie demütigte. Die Kleinste unter den wenigen Dienern, die das Schiff des Sängers hüteten. Es war sein Schiff, auf dem sie nun schon seit Jahrzehnten gefangen waren. Und nur ein einziges Mal hatte er sich ihnen gezeigt: Ein gleißendes Licht, das eine Schattengestalt umtoste, war alles, was Emerelle und Meliander gesehen hatten. Am Ende des Flugdecks hatte er gestanden und war dann in die Tiefe gesprungen.

Ihre Mutter Nandalee hatte sie einst in die Obhut des Gottes gegeben. Die Alben hatten jene Welt erschaffen, über welcher der Blaue Stern am Himmel schwebte, ohne jemals zu landen, als wäre undenkbar, dass sich das Göttliche und die Schöpfung noch einmal berührten.

»Komm!« Meliander streckte ihr die Hand entgegen.

Emerelle kam ohne Hilfe hoch. Ein dumpfer, pochender Schmerz nistete in ihrem Knie. Jeder Schritt war eine Qual, aber sie würde es allein schaffen. »Ist schon gut«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Du warst nicht schlecht …«, versuchte er sie aufzumuntern.

»Ich bin von einer alten Koboldin besiegt worden«, zischte sie. »Da gibt es nichts schönzureden.«

Meliander zuckte mit den Schultern. »Immerhin hat sie diesmal ein bisschen länger gebraucht als sonst.«

Das war Emerelle keine Antwort wert. »Sei brav, kämpf gegen Schatten«, grollte sie und hinkte davon.

Sie nahm die Treppe hinab zur Brauerei. Sie mochte den Hefegestank nicht, der dieses Deck niemals verließ, aber es war der kürzeste Weg zur Bibliothek. In großen Bottichen stand Bier angesetzt, das Abrax täglich in erschütternden Mengen durch seine Kehle fließen ließ. Heute war er nicht allein. Fillipos und Andur leisteten ihm Gesellschaft, obwohl Abrax Letzteren nur ungern in der Brauerei sah, hatte der Kentaur doch die Angewohnheit, hin und wieder ein paar Äpfel fallen zu lassen.

»He, Kleine!« Der tiefe Bass des Trolls hallte zwischen den langen Reihen der Bottiche. »Willst ’nen Schluck? Hilft!«

»Ganz sicher nicht«, brummte sie, doch der Troll schöpfte einen hölzernen Krug voll Bier und kam zu ihr herüber. Abrax war mehr als drei Schritt groß, und obwohl er geduckt ging, schrammten seine Schultern an den Stützbalken des über ihnen liegenden Flugdecks entlang. Die Bodenplanken vibrierten unter den schweren Schritten der massigen Gestalt. Als sie ihn zum ersten Mal sah, hatte Emerelle den wortkargen Troll für einen lebendig gewordenen Felsen gehalten. Seine Haut war unregelmäßig grau gefärbt wie ein Granitbrocken. Kein einziges Haar wuchs ihm auf dem Kopf oder anderswo.

»Das gut! Spült dunkle Gedanken fort!« Für seine Verhältnisse war das geradezu eine Rede. Abrax hielt ihr den Krug hin.

Emerelle nippte daran. Nie wieder würde sie den Fehler machen, von diesem goldenen Gebräu, aus dem kleine Blasen aufstiegen, einen ganzen Krug zu leeren. Oder gar zwei. Vor Jahren hatte sie sich einmal dazu überreden lassen und die halbe Nacht speiend über die Reling gebeugt verbracht.

»Gut«, log sie ihn mit einem Lächeln an.

Abrax tätschelte ihr übers Haar. Wenn seine schwere Hand auf ihrem Kopf lag, musste sie immer unwillkürlich an Kinder denken, die mit rohen Eiern spielten. »Morgen wieder gut. Sie meint’s nich so.«

Das wusste Emerelle besser. Sata meinte jedes Wort so, wie sie es gesagt hatte. Emerelle drückte dem Troll den Krug in die Hand. Das Bier hatte einen unangenehm pelzigen Belag auf ihrer Zunge zurückgelassen. »Werden sehen«, murmelte sie und hinkte weiter.

Sie verließ die Brauerei durch die Tür hinter den Regalen, in denen Abrax in großen Säcken Hopfen und Gerste lagerte, und folgte dem dahinterliegenden Gang, vorbei an der Segelkammer und diversen Vorratsräumen, unter deren Türen der Duft von Schinken, Salbei, Thymian und gesalzenem Fisch hindurchsickerte. Dann stieg sie die enge Wendeltreppe, die sich um den Hauptmast wand, hinab in die Bibliothek. Dieser Ort war eines der Mysterien des Blauen Sterns. Er war viel größer, als die Abmessungen des Schiffes es eigentlich erlaubt hätten, und er wuchs noch weiter; da war sich Emerelle ganz sicher. Die krummen und schiefen Regalbretter bestanden aus lebendigem Holz, das Ästen gleich aus dem Hauptmast wuchs. Manchmal trieben sie sogar Blätter aus, die sich als Lesezeichen zwischen die Seiten der Bücher drängten. Nicht der staubige Mief alter Folianten hing in der Luft, sondern ein Frühlingshauch frisch erblühten Grüns, ein kaum wahrnehmbarer Apfelblütenduft.

Ihr Bruder Meliander liebte diesen Ort. Emerelle nicht. Er hatte ihr endlose Stunden der Langeweile beschert. Je länger sie auf dem Blauen Stern weilte, desto unerträglicher wurde es ihr, von dem Leben auf der Welt zu lesen, über die das magiedurchwobene Schiff in endlosem Flug dahindriftete, ohne selbst an diesem Leben teilhaben zu können.

Gylla schlüpfte aus dem Mastbaum und trat unmittelbar hinter ihr auf die Wendeltreppe, sodass Emerelle zusammenzuckte. Die Dryade liebte diese dramatischen Auftritte und bedachte sie mit einem breiten Lächeln. Gylla war schlank, fast schon hager. Ihre Brüste hoben sich kaum von den Rippen ab. Das wogende lindgrüne Haar reichte ihr bis zu den Hüften. Gnadenlose Härte und zugleich eine Zartheit, die an Zerbrechlichkeit grenzte, spiegelten sich in ihren Zügen. Sie hatte Emerelle und Meliander die Kunst des Zauberwebens gelehrt, und Emerelle hatte die unberechenbaren Launen der Dryade fürchten gelernt. Sie wusste nie, was sie von ihr zu erwarten hatte, und so war sie auch jetzt auf der Hut, obwohl Gylla sie mit einem geheimnisvoll melancholischen Lächeln bedachte.

»Es ist schön, dich noch einmal zu sehen, Kleine.«

Emerelle erwiderte das Lächeln verwundert. Es war nur ein paar Stunden her, dass sie einander zuletzt begegnet waren.

»Ich weiß, wie sehr dir das Bücherwissen zuwider ist …«

Emerelle wartete darauf, dass die Dryade weitersprach. Was folgerte sie aus dieser Erkenntnis?

Das Schweigen zog sich in die Länge. Gyllas graugrüne Augen hielten sie gefangen. Es war lange her, dass ihre Lehrmeisterin sie so eindringlich angesehen hatte. Damals hatten sie sich dem Studium der Transformation gewidmet. Als Emerelle versucht hatte, ihren Elfenleib in den gedrungenen, haarigen Körper eines Zwergs zu verwandeln, war irgendetwas an diesem Zauber ganz und gar außer Kontrolle geraten. Teile der Bibliothek waren zerstört worden, und Emerelle hatte das Bewusstsein verloren.

Weder Gylla noch die anderen Bewohner des Blauen Sterns hatten ihr je erzählt, was genau vorgefallen war. Nicht einmal Meliander. Aber Gylla hatte sie, als sie in ihrer Koje aus ihrer Ohnmacht erwachte, genauso angesehen wie jetzt. Die Dryade war drei Tage lang nicht von ihrem Lager gewichen. Hatte sie über sie gewacht? Oder sie bewacht?

»Kongs Buch liegt dort vorn auf dem Tisch für dich.« Gylla machte eine vage Geste in Richtung einer der Lesenischen, die sich in die hohen Regalwände schmiegten.

Emerelles Bein schmerzte immer noch. Sie versuchte stolz, es zu verbergen. Hoch erhobenen Hauptes und ein wenig steif stieg sie die letzten Stufen hinab und ließ sich in der Lesenische auf einem hölzernen Stuhl mit hoher Rückenlehne nieder, dessen Armlehnen in Löwenköpfen endeten. Der Duft von Harz und Herbstlaub erfüllte die Nische. Hunderte von Büchern mit bunten Rücken umgaben sie. Alle zum Greifen nah. Letzte Tage, Ein unvollendetes Leben, Herbstreise, Aufzugehen in der Welt, Tod im Eis – Erinnerungen an Nangog … Emerelles Blick wanderte unstet über die wenigen Titel. Die meisten der Bücher trugen nur Schmuckornamente in ihre ledernen Rücken geprägt. Die Elfe hatte das Gefühl, dass Gylla die Auswahl der Titel in den Regalen um sie herum ihrer wehmütigen Stimmung angepasst hatte. Hier gab es ganz gewiss keine erfreuliche Ablenkung von dem dicken Band mit den Weisheiten Kongs. Sie schlug mürrisch das Buch auf.

Das Licht war trüb. Der nächste honigfarbene Barinstein war ein ganzes Stück entfernt in ein Regal eingelassen.

Emerelle spürte Gyllas Blick auf sich, obwohl sie die Dryade nicht mehr sehen konnte. Vielleicht hatte sie sich ja wieder in den Mastbaum zurückgezogen. Wie sie innerhalb desselben wohnen konnte, hatte nicht einmal der neunmalkluge Meliander erklären können.

Ein Lichtpunkt erweckte die Aufmerksamkeit der Elfe. Er schwebte, der Wendeltreppe folgend, in die Bibliothek hinab, schlug ausgelassene Kapriolen und vermehrte sich: Plötzlich war da ein zweites Licht, ein drittes … und schließlich ein ganzer Schwarm grünlich glühender Funken. Tanzend kamen sie näher. Glühwürmchen. Sie umschwärmten Emerelle und ließen die verschnörkelten Schriftzüge auf dem Pergament deutlich hervortreten.

Die Elfe ließ sich vom Ballett der leuchtenden Käfer verzaubern. Kongs Worten zollte sie kaum noch Beachtung. Lustlos blätterte sie weiter, lehnte sich zurück und betrachtete mit halb geschlossenen Lidern die tanzenden Lichter. Das hier war das wirkliche Leben. Es war viel besser als trockene Buchweisheiten. Und doch war sie von diesem Leben ausgeschlossen. So viele Jahre nun schon.

Mehr als sechs Jahrzehnte waren vergangen, seit ihre Mutter Nandalee sie Sata ausgeliefert hatte. Emerelle konnte sich kaum noch an ihr Gesicht erinnern. Aber das schöne weiße Kleid, das sie manchmal angelegt hatte, stand ihr noch ganz deutlich vor Augen. Sie hatte sich ein ähnliches genäht. In aller Heimlichkeit. Den Stoff dafür hatte sie von den Zwergen mitgebracht, bei denen sie drei Jahre lang gelebt hatten. Drei Jahre in der Gestalt von Zwergen! Damals war es ihr unerträglich vorgekommen. Der kratzende Bart, der unförmige Leib, in den Gylla sie gezwungen hatte, bevor sie nach Ishaven gekommen waren. Die stickigen Tunnel, in denen es stets nach Rauch, fettigem Essen und durchgeschwitzter Kleidung stank. Die ganze Zeit ihres Exils über hatte sie den Mief der Zwerge verflucht. Jetzt, drei Jahrzehnte später, sehnte Emerelle sich danach zurück. Das war das richtige Leben gewesen. Sie hatte es verlieren müssen, um zu begreifen, wie viel besser es war als ihre Gefangenschaft auf dem Blauen Stern.

Ihre Mutter hatte wohl geglaubt, die Alben würden sie und Meliander beschützen. In Wahrheit aber interessierten sich die Alben einen Dreck für sie. Sie zeigten sich nicht. Erklärten sich nicht. Dass sie manchmal nachts den Sänger hörte, jenen Alben, der dieses Himmelsschiff erschaffen hatte, machte alles nur noch schlimmer. Obwohl sie die Sprache seiner Lieder nicht verstand, berührte sein Gesang Emerelle in tiefstem Herzen. Sehnsucht, gepaart mit tiefer Melancholie, war das stärkste Gefühl, das in ihr erwuchs, wenn sie ihm lauschte, doch stets war da auch eine Bitterkeit, da sie dem Alben so nahe war und er dennoch unerreichbar für sie blieb.

Sie war sich sicher, dass er ihre Gefühle kannte. Warum ignorierte er sie? Warum bedeutete sie ihm nichts? Sie hatte versucht, die fremde Sprache der Weltenschöpfer zu ergründen, hatte ungezählte Monde damit zugebracht, die Bibliothek nach Hinweisen zu durchforsten. Aber es gab nichts über die Sprache der Götter. Sie hätte das Gezische der Echsenmänner aus dem Waldmeer erlernen können oder das kehlige Knurren, das Trolle eine Sprache nannten, doch was sie eigentlich suchte, blieb ein Rätsel wie alles, was mit den Alben zu tun hatte.

Sie versuchte, sich den Weisheiten Kongs zu öffnen, doch ihre Augen glitten über die Zeilen, ohne dass sich die Buchstaben zu Worten formen wollten. Sie dachte an die Lektion, die Sata ihr heute im Kampf erteilt hatte. Emerelles Knie schmerzte immer noch, doch mehr Pein bereitete ihr die Wunde, die ihre Seele davongetragen hatte. Sie war nutzlos! In aller Deutlichkeit erkannte sie das nun. Ihre Mutter hatte sie den Alben überlassen und war in all den Jahrzehnten, die seither verstrichen waren, nie zurückgekehrt, um nach ihr und Meliander zu sehen. Und die Alben, die sie beide hüten sollten, ließen sich auch nicht blicken.

Die vielen Jahrzehnte auf dem Blauen Stern hatten ihr nichts gebracht. Sie wurde verwahrt wie ein nutzloses Geschenk, das man nicht wirklich brauchte, aber auch nicht wegwerfen wollte.

Trotz aller Übung vermochte sie nicht einmal eine Koboldin im Schwertkampf zu besiegen, blieb sie als Zauberweberin eine Stümperin, verglichen mit der Leichtigkeit, mit der Gylla Magie wirkte, und auch das Wissen aus den Büchern wollte einfach nicht in ihrem Kopf verweilen. Einmal hatte sie den Troll Abrax auf einen Text über die Riesin Nangog angesprochen, und der Hüne, der sonst kaum seine Zähne auseinanderbekam, hatte seitenlang auswendig aus dem Aufsatz zitiert.

Sie war ein Nichts! Emerelle seufzte gequält und beobachtete erneut den Flug der Glühwürmchen. Selbst diese winzigen Kreaturen waren nützlicher. Sie brachten Licht ins Dunkel.

Leiser Gesang erhob sich aus der Tiefe des Schiffes. Ergriffen lauschte ihm die Elfe. Doch heute war ihre Verzweiflung darüber, dass sie die Worte des Liedes nicht verstand, noch größer als sonst, denn sie war sich sicher, dass das, was sie da hörte, mit ihr zu tun hatte. Es klang, als hätte eine verwandte Seele all ihren Schmerz zu dieser Melodie in Verse gefasst.

Tränen rannen Emerelle über die Wangen, und ein tiefer, süßer Schmerz tobte in ihrer Brust, als sie sich aus dem Lehnstuhl erhob und die steile Wendeltreppe erklomm. Sie schlüpfte in den schmalen Gang, an dessen Ende ihre winzige Kammer lag. In diesem Teil des Schiffes war alles besonders beengt. Ihre Anwesenheit an Bord war nicht vorgesehen gewesen. Man hatte zwei kleine Lagerräume aufgegeben, um sie und Meliander unterzubringen.

In ihrer Kammer angekommen, zog Emerelle die flache Kiste unter ihrer Koje hervor. Aus deren doppeltem Boden holte sie das Kleid, das sie hier im Verborgenen mühevoll genäht hatte. Nur Meliander hatte sie es gezeigt. Und er hatte es nicht gemocht. Er lehnte alles ab, was ihn an ihre Mutter erinnerte.

Traurig strich Emerelle über die schneeweiße Seide mit den kostbaren Goldstickereien am Saum. Es war ein langes, gerade geschnittenes Kleid mit Schlitzen, die fast bis zu den Hüften reichten. Ärmel hatte es keine. Dafür einen steifen Stehkragen. Ihre Mutter hatte wunderschön in diesem Ornat der Drachenelfen ausgesehen und zugleich furchteinflößend, wenn sie dazu ihr riesiges Schwert auf den Rücken geschnallt trug. Todbringer lautete dessen Name, und es hatte diesem Namen alle Ehre gemacht. Drei Mal hatte Emerelle sie mit dem Bidenhänder kämpfen sehen, als die Drachen sie verfolgten. Jedes Mal war es ein blutiges Gemetzel gewesen.

Emerelle streifte ihre schlichten Kleider ab. Nackt betrachtete sie ihre blasse Haut. Die ihrer Mutter war tätowiert. Sie erinnerte sich an die beiden Drachen, die fast den gesamten Rücken bedeckten. Ein Silberner und ein Schwarzer. Sie rangen miteinander. Hinter ihnen stand als Scheibe eine flache Silberschale, auf die man von oben blickte. Für Emerelle hatte sie immer wie der Mond ausgesehen. Und vor der Schale, mit der Spitze nach unten, schwebte das Schwert Todbringer.

Eines Tages würde auch sie sich einen Bilderstecher suchen, der ihre Haut schmückte, schwor sich Emerelle.

Sie schlüpfte in das enge Kleid. Die Seide schmiegte sich angenehm kühl an ihre Haut. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und wiegte sich sanft zu dem traurigen Gesang, der immer noch aus den Tiefen des Schiffes aufstieg. Was wertlos war, musste nicht länger andauern, dachte sie. Sie würde all dem hier ein Ende setzen. Heute Nacht würde sie ausbrechen, und dabei würde sie aussehen wie die Kriegerin, die zu sein sie sich immer erträumt hatte.

Emerelle nahm den roten Umhang aus feiner Wolle aus ihrer Kleiderkiste und warf ihn sich um die Schultern. Sie schloss ihn mit der Brosche, die einen goldenen Drachen zeigte, und legte den Schlangenarmreif an, den sie in Ishaven gestohlen hatte. Sie schob ihn hoch, bis er ihren Oberarm fest umschloss. Dann gürtete sie sich mit dem Schwert, das nie einen anderen Gegner als ihren Bruder bezwungen hatte.

Immer heftiger wurde der süße Schmerz in ihrer Brust. Sie sah sich ein letztes Mal um, erwog, ein paar Zeilen zu schreiben, verwarf den Gedanken. Das wäre die gerechte Strafe für die Alben: keine Erklärungen, keine letzten Worte. Die Schöpfer hatten sich nie um Emerelle geschert. Nun sollten sie mit der Leere weiterleben, die sie geschaffen hatten.

Die Elfe hörte, wie Regen gegen die Bordwand klatschte. Plötzlich fröstelte es sie. Wie würde es Meliander ohne sie ergehen? Sie beide waren immer beisammen gewesen und hatten einander Halt gegeben, wenn die Einsamkeit sie auf dem Blauen Stern zu erdrücken drohte. Sie lächelte melancholisch. Meist war er es gewesen, der sie getröstet hatte. Er ertrug das alles hier viel besser. Er war kein Rebell. Lange schon hatte er sich in seine inneren Welten zurückgezogen und ließ nichts mehr an sich heran. Er würde auch ohne sie auskommen.

Entschlossen trat sie aus ihrer Kammer und machte sich auf den Weg hinauf zum Flugdeck. Sie war froh, keinem der Besatzungsmitglieder zu begegnen. Ganz sicher hätten diese sie auf ihren ungewöhnlichen Aufzug angesprochen. Vielleicht hätten sie auch erkannt, was sie tun wollte, und versucht, sie aufzuhalten.

Meliander übte sich weiterhin im Schwertkampf. Focht mit Schatten, die es nur in seiner Vorstellung gab. Immer und immer wieder führte er dieselben ritualisierten Angriffe, Finten und Paraden aus. Er war allein im hinteren Drittel des Flugdecks, das wie ein weiter Tunnel ins Innere des Blauen Sterns reichte. Einige Herzschläge verweilte Emerelle bei der kleinen Tür in der Mitte des Flugdecks und sah ihrem Bruder zu. Er bewegte sich geschmeidig, doch glaubte sie zu sehen, dass er nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Er erledigte eine Pflicht, und das tat er – wie stets – gewissenhaft, doch ohne die Begeisterung eines wahren Kriegers. Seine Liebe galt der Bibliothek und den unzähligen Geheimnissen, die sie barg. Er würde Emerelle nicht verstehen. Sie beschloss, auch von ihm nicht Abschied zu nehmen.

Das Lied des Sängers schwoll an, als wäre sich der Albe bewusst, welches Drama an Bord seines Himmelsseglers seinen Lauf nahm.

Regen prasselte auf das äußerste Ende des Flugdecks, jenes klaffende Loch im Heck, durch das einst die stolzen Pegasi der Drachenelfen einflogen, die nun schon seit Jahrzehnten vom Himmel Albenmarks verschwunden waren. Emerelle atmete tief durch. Dann folgte sie entschlossen dem Landetunnel, ohne dass Meliander sie zu bemerken schien.

Als sie das Ende des Decks erreichte, prasselte ihr der Regen ins Gesicht, und sie zögerte kurz. Hier gab es keine Reling.

Der Wind zerrte an ihrem Umhang. Sie schwankte leicht. Ein letzter Schritt trennte sie vom Abgrund. Wolken verdeckten den Mond und die Sterne. Unter ihr lag nichts als Dunkelheit. Es war unmöglich zu schätzen, wie hoch der Blaue Stern flog.

Magisches Licht umspielte das fliegende Schiff und tauchte es in ein Blau, das Emerelle in dieser Nacht noch kälter erschien als sonst. Voll klang die Stimme des Sängers und übertönte die Böen, die den Regen über das Deck peitschten.

Jetzt schrie Meliander etwas, doch was er sagte, ging im Getöse des heraufziehenden Sturms unter.

Emerelle wusste, dass ihr Bruder kommen würde, um sie aufzuhalten. Sie rang um passende letzte Worte, in denen all ihre Wut und ihre Enttäuschung liegen sollten, doch es fiel ihr nichts ein.

Sie atmete aus, wappnete sich, und dann tat sie den letzten Schritt: hinein in die Dunkelheit, in der ihre Gefangenschaft enden sollte.

IN DIE NACHT

Meliander lief zum Ende des Flugdecks. Mit dem Schwert in der Hand stand er im strömenden Regen, starrte hinab ins Dunkel und versuchte zu begreifen, was er gesehen hatte. Sie war gesprungen! So oft hatte sie davon gesprochen, es eines Tages zu tun … Zu oft! Er hatte nicht mehr daran geglaubt.

Er schob die Klinge in die Scheide, atmete tief durch und tat, ohne über die möglichen Folgen nachzudenken, den Schritt in den Abgrund.

Zu fallen war ein schreckliches Gefühl. Er riss sich zusammen, kämpfte gegen die wachsende Panik an. Mit weit ausgestreckten Armen stürzte er, ohne den Boden sehen zu können. Wie weit mochte es noch sein? Hundert Schritt? Weniger? Etwas mehr?

Der Wind zerrte an seinen Kleidern, die durchnässt an seiner Haut klebten, und Meliander suchte nach dem Wort der Macht, das ihn davor bewahren würde, am Boden zerschmettert zu werden. Angsterfüllt schrie er es in den Sturm und öffnete sein verborgenes Auge. Nur wenige Kraftlinien verliefen durch den Himmel, doch über dem Boden spannten sich verschlungene Netze, in die alles, was lebte, verstrickt war. Und diese Netze waren tödlich nah.

Der Wind fuhr unter seine Brust. Meliander wurde herumgewirbelt wie ein fallendes Blatt im Herbst – das war es, woran er gedacht hatte, als er das Wort der Macht sprach. Er hatte seinem Leib die Schwere genommen, hatte sich vorgestellt, wie etwas zu sein, was in den Himmel gehörte, womit der Wind zu spielen liebte.

In trudelndem Flug kam er dem Boden langsam näher. Ein Stück vor ihm lag ein Wald. Goldene Auren kündeten von Harmonie. Die mächtigen Bäume wogten im Wind, gaben sich dem Toben der Elemente hin. Das kalte Blau der Angst erstrahlte, wo kleine Vögel im Geäst kauerten. Und dann sah er das Rot, das er so gut kannte. Den unverwechselbaren Farbton von Emerelles Zorn. Sie stand unter den Bäumen, ein Schemen, umgeben vom grellen Licht ihrer Aura.

Ein weiterer Windstoß ließ Meliander sich hilflos überschlagen. Die Lichtstränge über dem Boden wechselten sich in schwindelerregendem Tempo mit dem Dunkel des Himmels ab. Er verlor Emerelle aus dem Blick, ruderte mit den Armen und sah den Wald immer schneller näher kommen. Der Sturm würde ihn in das dichte Astwerk treiben. Meliander sah im Geiste schon, wie sein Leib von den langen Ästen durchbohrt wurde. Seine Fantasie quälte ihn mit grausamen Bildern. Er schrie auf und löste den Zauberbann.

Jetzt stürzte er senkrecht zu Boden. Er schlug im Fallen einen Salto, atmete dabei tief ein, versuchte, eins zu werden mit der Welt, und landete, weich in den Knien federnd, im Schlamm. Eiskaltes Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Er ließ ab vom magischen Blick auf die Schöpfung, blinzelte und versuchte, sich zu orientieren.

Er stand knöcheltief in einer großen Pfütze. Regen prasselte auf ihn nieder, und der Wind fuhr eisig durch seine durchnässte Kleidung. Weit über ihm am Himmel leuchtete das Wolkenschiff in ätherischem blauem Licht. Die Segel der beiden schrägstehenden Masten rechts und links des Hauptmasts und dazu der große, wie die Bauchflosse eines Fisches geformte Kiel ließen es aus dieser Entfernung tatsächlich wie einen stilisierten Stern aussehen.

Meliander strich sich fröstelnd über die Arme. Er wünschte, er wäre noch dort oben.

»Was machst du hier?« Seine Schwester klang alles andere als erfreut, ihn zu sehen.

Er drehte sich zu ihr um. Sie war aus dem Wald getreten. Der Regen berührte sie nicht, ganz als stünde sie unter einem unsichtbaren Dach. Nur der Saum ihres Kleides war mit Schlamm bespritzt. Ansonsten wirkte sie makellos.

»Ich …«, begann Meliander und kam sich albern vor. Er hatte sich Sorgen gemacht. Hatte sie retten wollen. Aber sie war ganz offensichtlich gut vorbereitet gesprungen. »Was machst du hier unten? Warum hast du das getan?«

Sie trat so nah zu ihm, dass ihr Zauber nun auch ihn vor dem Regen bewahrte, und sah ihn fest mit ihren rehbraunen Augen an. Ihre Pupillen waren ein wenig in die Länge gezogen – ein klares Anzeichen dafür, dass sie sehr aufgewühlt war. »Ich werde unsere Mutter suchen.«

Er schloss die Augen und rang um Fassung. »Warum?«

»Weil ich erfahren will, was mit ihr geschehen ist.« Eine Andeutung von Trotz schwang in ihrer Stimme mit. Es war nicht das erste Mal, dass sie über Nandalee sprachen, und Emerelle wusste genau, was er von ihrer Mutter hielt.

Nämlich nichts!

»Es muss einen Grund dafür geben, dass sie niemals zu uns zurückgekehrt ist.«

»Wir waren ihr lästig«, stellte Meliander nüchtern fest.

Emerelles Pupillen wurden noch länger. »Das weißt du nicht. Sie wurde von den Himmelsschlangen gejagt.«

»Weil sie den Dunklen getötet hat, den ältesten der Götterdrachen.« Er war es leid, diese Diskussion zu führen. Sie brachte nichts. Emerelle verschloss sich dem Offensichtlichen.

»Das kann nicht stimmen!«, entgegnete sie scharf. »So war sie nicht!«

Meliander erinnerte sich noch genau, wie sie gewesen war. Sie hatte den Dunklen nicht gemocht, obwohl er ihr Zuflucht gewährt hatte. »Hast du dich niemals gefragt, warum die Alben sich uns nie gezeigt haben?«

Er genoss es zu sehen, wie sie den Blick senkte. Er wusste genau, wie sehr seine Schwester darunter gelitten hatte, von den Weltenschöpfern ignoriert zu werden. Er hatte es irgendwann als gegeben hingenommen. Sie nicht. »Unsere Mutter hat das erste Wesen getötet, das die Alben erschaffen haben. Den Dunklen, den Erstgeschlüpften, den Prinzen, dem sie ihre Welt anvertrauen wollten. Für die Alben sind wir die Brut einer Mörderin. Was für Beweise brauchst du noch, dass stimmt, was man sich über Nandalee erzählt?«

»Das sind keine Beweise.« Sie sprach leise und gepresst. Dann hob sie den Kopf. »Ich will wissen, was unsere Mutter dazu zu sagen hat.«

»Und du glaubst, dass eine Mörderin keine Lügnerin sein wird?«

Emerelle trat einen Schritt von ihm zurück. Nun prasselte der Regen wieder auf ihn nieder. »Empfindest du denn gar nichts für unsere Mutter?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin ihr offenkundig gleichgültig. Was sollte ich noch für sie empfinden? Anfangs habe ich sie vermisst. Dann war ich verzweifelt. So viele Jahre habe ich auf ihre Rückkehr gewartet.«

Er dachte daran, wie oft er und seine Schwester beieinander Trost gesucht hatten. Obwohl ihnen Sata zwei kleine Kammern an Bord zur Verfügung gestellt hatte, war Meliander in den ersten Jahren jede Nacht zu Emerelle gegangen, weil seine Schwester sich allein im Dunkeln gefürchtet hatte. Sie hatten in ihrer Koje gesessen, einander in den Armen gehalten und sich ausgemalt, wie ihre Mutter gewiss am nächsten Tag schon zurückkehren würde. Oft hatten sie auch am Ende des Flugdecks gestanden, in den weiten Himmel geschaut und darauf gewartet, ihre Mutter auf dem Rücken eines Pegasus zu sehen oder auf einem der großen Adler.

Nach einigen Jahren hatte er es aufgegeben. Er war in die Bibliothek geflüchtet, hatte von der Welt gelesen und den Geschichten der seltsamen Besatzungsmitglieder des Blauen Sterns gelauscht. Emerelle dagegen war anders. Sie hatte nie aufgehört, mit ihren Blicken den Himmel nach Nandalee abzusuchen. Und als sie für drei Jahre in die Zwergenhöhlen von Ishaven hatten fliehen müssen, hatte seine Schwester unendlich gelitten. Emerelle war überzeugt gewesen, dass sie ihre Mutter verpassen würden. Sie hatte es den Alben nie verziehen, dass diese sie unter den Zwergen versteckt hatten.

»Irgendetwas muss Mutter aufgehalten haben!«

Damit fing sie immer wieder an, dachte Meliander verärgert. Aber diesen Zahn würde er ihr ziehen. Ein für alle Mal! »Das glaube ich auch …«

Emerelle schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln. »Endlich siehst du es ein. Wir müssen nach ihr suchen. Vielleicht wird sie gefangen gehalten?«

»Ich glaube, es ist ihr Mangel an Liebe, der sie aufgehalten hat. Wir bedeuten ihr nichts. Sie ist eine Kriegerin. Sie lebt nur für ihre blutige Fehde mit den Himmelsschlangen. Wir waren ihr im Weg, und deshalb hat sie uns fortgeschafft. Inzwischen hat sie uns wahrscheinlich ganz und gar vergessen. Und wenn nicht, dann redet sie sich, um ihr mütterliches Gewissen zu beruhigen, ein, es sei besser für uns, nicht in ihrer Nähe zu sein. Wobei ich starke Zweifel hege, dass sie so etwas überhaupt besitzt – das Gewissen einer Mutter …«

Eine schallende Ohrfeige beendete seinen Redefluss. »So ist sie nicht!«, zischte Emerelle. »Sie hat sich für uns aufgeopfert.«

Meliander lag eine zynische Frage auf der Zunge. Aber er verzichtete darauf, sie zu stellen. Dieser Streit führte zu nichts. Emerelle hatte sich immer schon ein Bild von ihrer Mutter gemacht, das mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hatte. Er würde ihr so nicht die Augen öffnen können, ganz gleich, was er sagte.

Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte gegen den Regen an. Der Wind hatte den Blauen Stern nach Westen getrieben. Bald würde das Himmelsschiff in den dichten Wolken verschwinden.

»Gehen wir dort entlang.« Emerelle deutete auf die schwarze Phalanx von Bäumen, die sich vor ihnen erhob. »Es gibt einen Weg, und jenseits des Waldes habe ich vorhin im freien Fall Lichter gesehen. Vielleicht ein kleines Dorf, in dem wir ein trockenes Nachtlager finden.«

Meliander zögerte. Kurz dachte er an seine warme Kammer auf dem Blauen Stern. Noch könnte er dorthin zurück. Er könnte sich in einen Vogel verwandeln und zu ihm hinauffliegen.

Andererseits hatte er schon lange einen heimlichen Traum. Nicht die Erinnerungen an seine Mutter trieben ihn um. Er wollte die dunkle Gestalt, die ihn so oft in seinen Träumen heimsuchte, finden. Ihn, dem er sich in seinen einsamsten Stunden so ähnlich fühlte. Er verhieß, etwas in ihm zu erwecken. Eine Stärke, von der Meliander nur zu gut wusste, dass sie ihm noch fehlte.

ABSCHIEDSSCHMERZ

»Werd se vermissen«, murmelte ihr Bruder leise.

Sata sah überrascht zu dem Troll auf. »Du musst nicht länger wie ein hirnloser Fleischberg vor dich hinstammeln. Sie sind weg. Wir können wieder unsere wahre Gestalt annehmen.«

Keiner antwortete ihr. Sie alle standen am Rand des Flugdecks und starrten in die Tiefe. Trotz des Regens und der Dunkelheit konnten sie Emerelle und Meliander noch deutlich sehen. Sie konnten alles auf der Welt deutlich sehen, wenn sie nur wollten. Doch die Jahrhunderte voller Enttäuschungen hatten sie müde werden lassen.

Andur, Gylla, Fillipos und Abrax – sie alle waren nicht, was sie zu sein schienen. Sie waren weder Kentaur noch Dryade, weder Faun noch Troll, sondern die Letzten ihrer Art am Himmel über Albenmark. Sie hatten einst diese Welt erschaffen. Sie waren Alben.

»Vielleicht sollte einer von uns ihnen folgen«, sagte Gylla vorsichtig.

»Wir mischen uns nicht ein«, fuhr Sata die falsche Dryade an. »Wir wollten eine Welt in Freiheit. Eine Welt, in der unsere Kinder selbst für ihre Taten einstehen und nicht zu Göttern flennen, die ihnen ein besseres Leben schenken sollen.«

»Du weißt, dass der Goldene ihnen nachstellen wird, sobald er erfährt, dass sie nicht mehr auf dem Blauen Stern sind.« Andur scharrte unruhig mit den Hufen. »Sie sind auf eine Begegnung mit ihm nicht angemessen vorbereitet. Wir hätten mehr …«

»Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. Ob wir sie noch einige Jahre hierbehalten hätten oder nicht, es hätte keinen Unterschied gemacht«, unterbrach ihn Fillipos. »Wir haben die Zukünfte erforscht. Wir wissen um all die möglichen Wege der beiden. Sie können Lichtgestalten werden oder ein Zeitalter der Dunkelheit heraufbeschwören. Es liegt nicht mehr in unserer Hand. Wir haben sie über Jahrzehnte geschmiedet … und doch habe ich immer noch das Gefühl, dass wir ihnen nicht die Form aufzwingen konnten, die uns vorschwebte.«

Sata musste über dieses Bild lächeln. Immerhin hatte Emerelle wenigstens an diesem Abend genau das getan, was sie von ihr erwartet hatte. Sie hatte die Elfe voller Absicht gereizt. Schon vor einer ganzen Weile war sie auf Emerelles inneren Aufruhr aufmerksam geworden. Sie hatte gespürt, wie die Sehnsucht nach einem Leben in ihr gewachsen war, das vielfältiger war als das auf dem Blauen Stern. Mit dem Schwertkampf und der anschließenden Lektüreverordnung hatte sie die junge Elfe bewusst provoziert. Ihr war klar gewesen, dass Emerelle nur noch einen kleinen Anstoß gebraucht hatte, um all das hier hinter sich zu lassen.

»Wird ruhig ohne sie«, murmelte Abrax schwermütig.

»Kannst du endlich wieder normal reden?«, fuhr Sata den grauen Koloss an. Der Troll war etwa sieben Mal so groß wie sie.

Abrax sah aus traurigen schwarzen Augen auf sie hinab. »Wenig Worte, viel Seele, das Troll.«

»Du bist also inzwischen gern ein stammelnder Idiot.« Sie sah die übrigen Alben an. »Und ihr? Wollt ihr auch bleiben, was ihr seid?«

Nur Fillipos wich ihrem Blick nicht aus. Die Jahre mit den beiden Elfen hatten sie verändert. Sie hatten eine Welt erschaffen, sich dann aber nicht mehr mit ihrer Schöpfung abgegeben. Sie hatten sich geschworen, nur zu beobachten. Absolute Freiheit bedeutete nun einmal auch die Freiheit, Fehler zu machen. Sogar, wenn diese Tod und Verderben über Unschuldige brachten. Nur so konnte Albenmark stark und unabhängig werden.

Mit Ausnahme der Himmelsschlangen, die sie als Garanten der Ordnung erschaffen hatten, hatten sie ihre Kinder gemieden, und selbst mit diesen fast göttergleichen Drachen hatten sie nur sehr selten Umgang gepflegt.

Indem sie Emerelle und Meliander an Bord duldeten, hatten sie ihren eigenen Schwur gebrochen. Sie hatten die Kinder umhegt. Hatten versucht, ihnen ihre Vorstellung von Moral zu vermitteln. Und dabei hatten sie die beiden jeden Tag belogen. Sata wusste, wie sehr es die zwei geschmerzt hatte, dass sich ihnen die Alben nie zeigten. Irgendwann hatten beide begonnen zu glauben, mit irgendeinem Makel behaftet zu sein.

Es war schwer gewesen, Zeuge ihrer Verzweiflung zu sein und sich ihnen dennoch nicht zu offenbaren. Und so hatten die beiden unwissentlich auch sie geprägt; hatten aus dem arroganten Abrax einen Troll werden lassen, der sich hinter kargen Worten versteckte, und aus Gylla eine Dryade, die ihre Traurigkeit stets mit markigen Sprüchen überspielte.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sie befürchtet, die Himmelsschlangen würden sich gegen sie wenden. Damals hatten sie die jungen Elfen in der Zwergenstadt Ishaven versteckt. Doch der Angriff der alten Drachen war nie erfolgt.

Sata war sich sicher, dass mindestens eine, wenn nicht gar mehrere der Himmelsschlangen für das überraschende Verschwinden so mancher ihrer Brüder und Schwestern verantwortlich waren. Sie war versucht gewesen, gegen den Kodex der Alben zu verstoßen und in den Erinnerungen ihrer Geschöpfe zu lesen, aber letztlich hatte sie widerstanden, sich auf diese niedere Stufe der Machtausübung hinabzubegeben. Manchmal bereute sie das.

Etliche ihrer Brüder und Schwestern waren ins Mondlicht gegangen. Sie hatten diese Welt aus freien Stücken aufgegeben, um anderswo eine neue, große Schöpfung zu beginnen und all die Fehler zu vermeiden, die Albenmark befleckten. Aber der Fleischschmied wäre niemals einfach gegangen. Er hatte es zu sehr geliebt, Albenmark mit seinen Chimären zu bevölkern. Mit Kentauren und Minotauren, mit Faunen und all den anderen Geschöpfen, die ihre Körper mit einem Tier teilten. Ihm musste etwas zugestoßen sein.

Je nach Tagesform aber fand sie ihre Erkenntnis im Hinblick auf die Himmelsschlangen auch eher atemberaubend als erschreckend. Ihre Kreaturen hatten sich gegen ihre Schöpfer gewandt. War das nicht die höchste Stufe der Freiheit, die ihre Kinder erreichen konnten?

»Die beiden wissen so gut wie nichts über das wirkliche Leben dort unten«, murmelte Andur betroffen. »Wenn sie an die Falschen geraten …«

»Dann werden sie merken, wie nett es hier oben war«, schnarrte Gylla. »Ich wette mit dir, es wird kein Tag vergehen, und schon wird es ihnen leidtun, sich von hier, ohne sich auch nur zu verabschieden, verdrückt zu haben. Aber bei mir brauchen sie nicht mehr anzukommen.« Die Dryade verschränkte die Arme vor der Brust und starrte finster in den Regen.

»Mir sind se immer willkommen«, knurrte Abrax.

»Dann pass auf, dass sie mir nicht unter die Augen kommen. Ich würde sie in zwei Rosenbüsche verwandeln …«

Sata zog ihre Lieblingsmeerschaumpfeife aus dem Gürtel, die mit dem Pfeifenkopf, der wie ein Löwenhaupt geschnitten war, und begann, sie mit Tabak zu stopfen.

Sie alle würden die beiden vermissen. Nie waren sie ihrer Schöpfung so nahe gewesen wie in den Jahren mit Meliander und Emerelle.

Ein Wort der Macht ließ den Tabak aufglühen. Sie nahm einen tiefen Zug und blies Rauchkringel in die Nacht.

Keiner von ihnen machte Anstalten zu gehen, obwohl ihre beiden Schützlinge inzwischen außer Sicht waren. Alle hingen sie ihren Gedanken nach. Den Erinnerungen an jene Jahre, die diese zwei Elfenkinder zu goldenen Jahren hatten werden lassen.

DIE KINDER DER ALBEN

»Ein Dorf ist das nicht …«

Meliander betrachtete die hufeisenförmige, zu ihrer Seite hin offene Anlage ineinander verschachtelter Häuser. Über der torgroßen Tür des in der Mitte gelegenen zweistöckigen Gebäudes hing eine Laterne, unter der ein hölzernes Schild mit einem Drachenkopf darauf im Wind schaukelte. Rechts davon lag ein offener Stall, in dem sich etliche Maultiere drängten. Einige weitere Anbauten, darunter eine geschlossene Stallung, die aussah, als wäre sie für Pferde bestimmt, befanden sich auf der anderen Seite des Haupthauses. »Das Schild … Das dürfte ein Gasthaus sein«, sagte er schließlich zögerlich.

»Dann seien wir mal Gäste.« Emerelle trat forsch aus dem Schutz des Waldes und strebte mit weit ausgreifenden Schritten der Laterne entgegen.

Meliander folgte ihr. Der Weg war zu zähem Schlamm zertrampelt, der bei jedem Schritt an den Stiefeln zerrte. Immer noch regnete es. Er war patschnass und bedauerte es heftig, seiner Schwester gefolgt zu sein.

Sie erreichte als Erste den seltsamen Eingang des Gasthauses. In den rechten Türflügel, den auch ein Troll, ohne sich zu ducken, hätte passieren können, war eine kleinere Tür eingelassen, die ganz gut zu ihren Abmessungen passte. Und darin wiederum gab es eine dritte, noch kleinere Tür, die wohl für Kobolde gedacht war.

Emerelle zog am Eisenring der elfenhohen Tür, und diese schwang auf. Warme Luft schlug ihnen entgegen. Es stank nach altem Bier, fettigem Essen, Kohlsuppe und nasser Wolle.

Seine Schwester zuckte leicht zurück.

»Kommt rein und macht die verdammte Tür zu«, keifte eine schrille Stimme. »Das zieht ja wie Hechtsuppe!«

»Los!« Meliander schob seine Schwester vor sich her. Für diese Nacht hatte er genug im Regen gestanden.

Neugierig sah er sich um. Er hatte hinreichend lange in rauchgeschwängerten Zwergenhöhlen gehaust, um sich von den fremden Gerüchen der Gaststube nicht abschrecken zu lassen. Inmitten des Schankraums erhob sich ein mächtiger Kamin, in dem glühende Scheite ein rötliches Licht verströmten. Nur wenige Öllampen erhellten den Raum zusätzlich. Stützpfosten trugen eine schwere Balkendecke, die von Ruß und Alter schwarz geworden war.

Die Sitzmöbel in der Schänke ließen auf Gäste der unterschiedlichsten Körpermaße schließen. Schwere Baumstümpfe waren wohl für Trolle, Minotauren und ähnlich hünenhafte Gäste gedacht. Auf einem Podest standen Tische und Stühle, die zu Kobolden passten, und nah bei der Theke war der ansonsten mit Binsen bestreute Boden stattdessen mit Stroh bedeckt. Pferdeäpfel zwischen den goldenen Halmen verrieten, dass dort wohl noch vor Kurzem Kentauren gezecht hatten.

Eine Gruppe von Zwergen saß nahe beim Feuer und würdigte sie, ganz und gar in ein Würfelspiel vertieft, keines Blickes. Einige der weniger ausdauernden Zecher lagen schon unter den Bänken. Aus einem dunklen Winkel erklang das Kichern von Kobolden.

»Womit kann ich euch dienen?« Hinter der Theke an der Rückwand trat ein Faun hervor. Mit einem schmutzigen Lappen polierte er ein Trinkhorn.

Der bocksbeinige Wirt hatte ein vernarbtes Gesicht. Sein linkes Auge war unter einer Filzklappe verborgen, auf die mit Silberfäden ein stilisiertes Auge gestickt war. In sich gedrehte Hörner ragten knapp unterhalb des Haaransatzes aus seiner Stirn. Er war ein wenig größer als Emerelle und einschüchternd breitschultrig, ganz anders als Fillipos. Ihr Gefährte auf dem Blauen Stern hatte sich gern in lange weiße Tuniken gewandet, und ihm hatte stets etwas angenehm Vergeistigtes angehaftet. Dieser Faun hier indes war mürrisch, und Meliander glaubte, auch eine gewisse Verschlagenheit in dem aufgesetzten Lächeln zu erkennen. Der Herr der Taverne trug eine speckige Lederschürze, die dank der Schmutzflecken vieler Jahre ein wenig an eine alte Landkarte erinnerte.

»Wir suchen die Drachenelfe Nandalee«, erklärte Emerelle.

Die Wirkung ihrer Worte war überraschend. Der Wirt schnitt eine ärgerliche Grimasse und tat einen Schritt zurück. Er wirkte wütend und zugleich eingeschüchtert. »Ihr seid …« Er starrte Emerelle an, musterte den Schwertgriff, der unter ihrem roten Umhang hervorlugte, und die goldene Borte ihres Kleides. »Du bist …«

Mit einem Ruck öffnete sich der Türflügel hinter ihnen, und ein riesenhafter Minotaur stapfte in die Stube. Sein Fell war mit silbernen Wasserperlen überzogen. Ein triefnasser Lendenschurz war sein einziges Kleidungsstück. In der Linken hielt er eine wuchtige, zweiköpfige Streitaxt. Er schob Meliander zur Seite und steuerte geradewegs die Theke an.

»Dein größtes Horn, Solon! Ein reißender Strom ist von mir gegangen, und meine Kehle ist trocken wie die Schurabad.«

Der Wirt beeilte sich, hinter seine Theke zurückzukommen.

»Solon?«, herrschte Emerelle ihn an. »Ist das eine Art, mit Gästen umzugehen?«

Der Minotaur drehte sich um. »Große Bedürfnisse sind nun mal wichtiger als die Anliegen kleiner Elflein.« Er legte den Kopf schräg. »Ich an deiner Stelle würde den Umhang in die Nähe des Feuers hängen, so nass, wie er ist. Du holst dir sonst noch den Tod. Es heißt, die Gesundheit der Elfen sei ebenso zart wie ihre dürren Glieder.«

»Dein Wein, Borros.« Der Wirt warf Emerelle einen flehenden Blick zu, den sie natürlich ignorierte.

Meliander griff nach ihrem Arm. »Komm, suchen wir uns einen guten Platz nah beim Feuer.«

»Dein Umhang, Elfe«, beharrte der Minotaur. »Offenbar ist mir an deiner Gesundheit mehr gelegen als dir.«

Die Gespräche in der Schenke waren inzwischen verstummt. Die würfelnden Zwerge sahen zu ihnen herüber, und im Schatten unter einem der Tische bemerkte Meliander einige Kobolde.

»Es ehrt Euch, werter Borros, dass Ihr so sehr um die Gesundheit meiner Schwester besorgt seid.« Meliander versuchte es mit seinem gewinnendsten Lächeln. »Vielleicht darf ich Euch auf einen weiteren Wein …«

»Das ist meine Sache«, unterbrach ihn Emerelle und warf ihren Umhang zurück.

Unter dem Tisch bei den Kobolden erklang ein spitzer Schrei. Solon starrte Emerelle an, als stünde ein Geist vor ihm.

»Eine Drachenelfe.« Der Minotaur ließ seine Rechte auf den Griff der Axt sinken, die er neben sich auf der Theke abgelegt hatte.

Meliander sah das Kleid, an dem seine Schwester so lange heimlich gearbeitet hatte. Obwohl Emerelle sich gegen den Regen geschützt hatte, musste ihr Umhang beim Sturz vom Blauen Stern nass geworden sein, denn die rot gefärbte Wolle hatte Spuren auf dem weißen Stoff hinterlassen.

»Das soll das Gewand einer Drachenelfe sein?« Meliander hob spöttisch die Brauen. »Glaubst du das wirklich, Stierkopf?« Wenn es freundlich nicht ging, dann musste er eben einen anderen Ton anschlagen. »Die Gewänder der alten Schwertmeister waren von Magie durchwoben. Kein Staubkorn vermochte an ihnen zu haften, kein Pfeil sie zu durchdringen. Wasser perlte einfach an ihnen ab. Dieses nasse Huhn hier hältst du für eine Drachenelfe? Du solltest …«

»Ich regele das ohne dich!«, fuhr Emerelle ihn an.

Borros nahm die Hand von der Axt und verzog das Maul. Meliander war sich nicht ganz sicher, ob das ein Lächeln sein sollte.

»Ich bin eine Drachenelfe!«, rief Emerelle herausfordernd.

»Und ich bin der Geisterkönig von Haiwanan.« Der Minotaur hob sein Trinkhorn, prostete ihnen zu und nahm einen tiefen Schluck.

»Lass es auf sich beruhen.« Meliander zog Emerelle mit sich zu einem Tisch bei der Feuerstelle. Grollend fügte sich seine Schwester. Sie breitete ihren Umhang über eine Stuhllehne und schob ihn nah an den Kamin. Unglücklich betrachtete sie ihr Kleid, das die gefärbte Wolle mit Dutzenden rosa Flecken verunstaltet hatte.

Solon brachte ihnen zwei Krüge mit einem Bier, das noch übler roch als Abrax’ Gebräu auf dem Blauen Stern. »Ich möchte euch bitten, hier nicht mehr von Drachenelfen zu reden, und, bei den Alben«, sagte er und senkte die Stimme, »fragt auch nicht mehr nach Nandalee. Ich weiß nicht, welcher Schalk euch zwei Heißsporne reitet, aber ihr redet euch um Kopf und Kragen. Mit Borros ist nicht zu spaßen. Er gehört zu einer Bande von Kopfjägern, die seit Wochen das Herzland durchstreift, um geflohene Drachlinge zu stellen.«

»Wir sind also im Herzland«, entfuhr es Meliander.

Solon sah ihn verwundert an. »Ihr seid wohl mehr als nur ein wenig vom Weg abgekommen.«

»Man könnte sagen, wir sind vom Himmel gefallen.«

Meliander seufzte leise. Emerelle konnte es einfach nicht lassen, Ärger anzuzetteln. »So fühlen wir uns in der Tat. Wir sind auf dem Weg nach Yaldemee. Dort gibt es doch Mauslinge … Wir wollten ein oder zwei überreden, uns an den Hof unseres Vaters in Tanthalia zu begleiten.« Meliander improvisierte mithilfe seines Buchwissens und hoffte, dass er nicht allzu großen Unsinn redete.

Solon gab ein Schnauben von sich und stellte die beiden Krüge vor ihnen auf den Tisch. »Das macht zwei Kupferstücke.«

»Was?« Emerelle war noch immer in streitlustiger Stimmung. »Das hier ist ein Gasthaus! Wir sind Gäste. Was für eine Gastfreundschaft ist das denn, wenn man für stinkendes Bier Kupferstücke verlangt?«

»Ihr müsst hier nicht bleiben.« Solon hob die Krüge vom Tisch. »Sucht euch einen gemütlichen Platz draußen im Regen, um zu übernachten.«

»Die Elfe hat doch recht!«, grölte einer der Zwerge. »Du solltest uns dafür bezahlen, dass wir diese Bullenpisse trinken.«

»Was hast du gegen Bullenpisse?«, ertönte der Bass des Minotauren.

»Ist doch nicht gerade bekömmlich …« Der Zwerg, schon sichtlich in fortgeschrittenem Alter, mit Stirnglatze und breiten weißen Strähnen in seinem roten Bart, versuchte offenbar einen Weg zwischen Herausforderung und Entgegenkommen zu finden, der ihn am Ende nicht als Duckmäuser dastehen lassen würde.

Borros griff erneut nach seiner Axt. »Ich zeig dir gleich, was nicht bekömmlich ist: in meiner Gegenwart Witze über Bullen zu machen.«

Solon stellte die Bierkrüge ab, drehte sich zu dem Stiermann um und erhob besänftigend die Hände. »Es war nur eine dumme Redewendung. Nur eine Redewendung …«

Der riesige Krieger brummte etwas Unverständliches. Er machte keine Anstalten, auf die Zwerge loszugehen, aber er nahm auch nicht die Hand von der Axt.

Solon wandte sich wieder ihnen beiden zu. »Ihr geht. Sofort!«, zischte er leise, und sein zornig funkelndes Auge ließ keine Zweifel aufkommen, wie ernst er es meinte.

»Aber …«, begann Emerelle.

»Still!«, fuhr er sie an. »Ich entziehe euch das Gastrecht. Macht euch davon! Und versucht erst gar nicht, in den Ställen zu schlafen. Raus hier!«

Meliander erhob sich halb, aber seine Schwester blieb sitzen. »Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen gehört zu den Grundpfeilern einer gesunden Moral …«

Meliander kannte den Ausspruch nicht, aber er war sich sicher, dass er nicht von Emerelle stammte. Ein wenig von dem, was sie gelesen hatte, schien hängen geblieben zu sein. Nur schade, dass sie den falschen Augenblick gewählt hatte, um ihr Wissen zu nutzen.

»Ich scheiß auf deine Moral, Elfe!« Solon gab sich keine Mühe mehr, zu flüstern. »Und jetzt raus, sonst bitte ich Borros, euch vor die Tür zu setzen.«

Emerelle maß den Stiermann mit einem abschätzenden Blick.

Ein kalter Schauder lief Meliander über den Rücken. Das war das Letzte, was sie brauchten. Gerade vor ein paar Stunden war Emerelle noch mühelos von einer Koboldin im Schwertkampf geschlagen worden. Was würde da erst solch ein Ungeheuer mit ihr anrichten? Vermutlich würde der Minotaur seine Schwester binnen Augenblicken in handliche Stücke zerlegen.

»Du kommst mit.« Meliander zog sie von ihrem Stuhl hoch.

Sie deutete auf ihren Armreif. »Reicht das für zwei gute Betten in einem beheizten Zimmer, ordentliches Essen und eine Schüssel mit heißem Wasser?«

Solon biss sich auf die Lippe. Er starrte den schweren goldenen Armreif an. »Ihr wollt mich auf die Probe stellen … Die Drachen haben euch geschickt, nicht wahr? Ich betreibe keinen Wucher! Ihr bekommt euer Zimmer. Aber nicht für den Armreif.«

Meliander begriff gar nichts mehr. Eben noch hatte der Wirt sie hinauswerfen wollen, und nun das …

»Los, los. Ihr seid Gift für die Gaststube. Kommt mit!« Solon führte sie zu einer Stiege neben der Theke.

»Schön, dass du doch noch zu Moral und Barmherzigkeit gefunden hast«, sagte Emerelle, kaum dass sie ein paar Stufen erklommen hatte, gut gelaunt. »Dann kannst du uns ja auch verraten, was du über Nandalee weißt.«

Solon warf einen ängstlichen Blick zurück in die Stube. Sowohl die Zwerge als auch der Minotaur blickten ihnen nach. Die Ohren des Stiermanns zuckten, als lauschte er angestrengt.

»Hoch mit euch!« Solon schob sie beide das letzte Stück der Treppe vor sich her. Die Stiege mündete in einen schmalen Flur, von dem zahlreiche Türen abgingen. Die vorletzte öffnete er. Dahinter lag ein kleines Zimmer mit zwei Betten. Ein Fenster ging auf den Hof. Im Kamin lag Feuerholz aufgeschichtet. Auf einem schmalen Tisch standen ein Wasserkrug und eine angeschlagene Waschschüssel; beide in schlichtem Grau mit ungelenk aufgemalten blauen Blumen.

»Ich schicke eine Magd mit Essen«, sagte der Faun kühl. »Sie wird auch das Feuer bereiten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ihr Drachlinge oder Fahrende Ritter seid. Ich habe gegen keines der Gesetze der geflügelten Herrscher verstoßen, bin ihnen aber auch nicht in den Arsch gekrochen. Es gibt keinen Grund, mir nachzustellen oder mich zu bedrängen.« Mit diesen Worten eilte er aus der Kammer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Sie sind ein wenig seltsam, die anderen Albenkinder.« Emerelle ließ sich der Länge nach auf das Bett am Fenster fallen. »Was meint er mit Drachlingen und Fahrenden Rittern?«

Meliander zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Darüber stand nichts in den Büchern der Bibliothek.« Und das beunruhigte ihn mehr, als er seiner Schwester sagen wollte.