Elisabeth, ein Hitlermädchen - Maria Leitner - E-Book

Elisabeth, ein Hitlermädchen E-Book

Maria Leitner

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Beschreibung

Die titelgebende junge Berlinerin Elisabeth Weber verliebt sich auf einer Mai-Kundgebung in den ebenso wie sie vom Nationalsozialismus geblendeten SA-Mann Erwin Dobbien. In ihrer Begeisterung verschließen beide die Augen vor dem Terror des Regimes. Nach einer von Erwin gewünschten Abtreibung landet Elisabeth schließlich mit anderen jungen Frauen in einem Arbeitslager. Die angespannte Versorgungslage verlangt nach billigen und willigen Arbeitskräften. Sie soll "zum Dienst am Vaterland im Geiste des Führers" erzogen werden. Erst da erkennt sie das Grauen der Nazis. Sie zettelt einen Aufstand an. "Elisabeth, ein Hitlermädchen" erschien von April bis Juni 1937 in der Exilzeitung Pariser Tagblatt als Fortsetzungsroman. Der Roman ist eine deutliche Replik auf den demagogischen Propaganda-Jugendroman "Ulla, ein Hitlermädel" (1933) der Autorin Helga Knöpke-Joest. In einer bewusst einfachen Sprache, eben der eines Berliner Mädchens, das sich zunächst nur um sich und ihr eigenes Glück sorgt, verfasste Maria Leitner ein stimmiges Sittengemälde der "einfachen" Mitläufer aus der NS-Zeit. Wenn man die Zeilen liest, die Blauäugigkeit und Begeisterung unter den jungen Menschen spürt, so kann man ein Stück besser verstehen, wie die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Null Papier Verlag

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Maria Leitner

Elisabeth, ein Hitlermädchen

Maria Leitner

Elisabeth, ein Hitlermädchen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Pariser Tageszeitung, 1937 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-80-6

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Zur Erst­ver­öf­fent­li­chung

Ers­tes Ka­pi­tel. – Be­geg­nung am 1. Mai

Zwei­tes Ka­pi­tel. – Wa­ren­haus Al­der­man, Schu­h­ab­tei­lung

Drit­tes Ka­pi­tel. – Mar­schmu­sik un­ter blü­hen­den Kas­ta­ni­en

Vier­tes Ka­pi­tel. – Jun­ge Lie­be im Ge­län­de

Fünf­tes Ka­pi­tel. – Ge­s­pens­ter­zug der Gas­mas­ken

Sechs­tes Ka­pi­tel. – Kos­ten­an­schlag des Fa­mi­li­en­glücks

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. – Der Stamm­baum

Ach­tes Ka­pi­tel. – Ju­gend, mach Platz!

Neun­tes Ka­pi­tel. – Das Reich der Un­ge­bo­re­nen

Zehn­tes Ka­pi­tel. – Muss i denn, muss i denn, zum Städ­te­le hin­aus

Elf­tes Ka­pi­tel. – Mäd­chen mit Papp­schach­teln

Zwölf­tes Ka­pi­tel. – »Du bist nichts!«

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel. – Hü­te­rin der Ras­se

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel. – Das Mäd­chen »Ichweiß­was«

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel. – Die Schieß­übung

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel. – Der Brief

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel. – Gil­da

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel. – Die Auf­rüh­re­ri­schen

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel. – Aus­ge­sto­ßen

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel. – Schat­ten preu­ßi­scher Kö­ni­ge und das Glück

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Zur Erstveröffentlichung

Das vor­lie­gen­de Werk er­schi­en ur­sprüng­lich 1937 über meh­re­re Aus­ga­ben der Pa­ri­ser Ta­ges­zei­tung ver­teilt.

Das Pa­ri­ser Ta­ge­blat­t und sei­ne Nach­fol­ge­rin die Pa­ri­ser Ta­ges­zei­tung war die ein­zi­ge bis 1940 er­schie­ne­ne deutsch­spra­chi­ge Ta­ges­zei­tung im Exil. Die Re­dak­teu­re und Mit­ar­bei­ter ver­such­ten von Frank­reich aus, den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus po­li­tisch be­kämp­fen.

Die Zei­tung war eine par­tei­u­n­ab­hän­gi­ge Grün­dung ver­schie­de­ner deut­scher li­be­ra­ler und links­ge­sinn­ter Jour­na­lis­ten. Mit­ar­bei­ter wa­ren größ­ten­teils pro­mi­nen­te Ber­li­ner Jour­na­lis­ten. Zu den Au­to­ren ge­hör­ten un­ter an­de­rem Hen­ri Bar­bus­se, der tsche­cho­slo­wa­ki­sche Au­ßen­mi­nis­ter Ed­vard Be­neš, Hell­mut von Ger­lach, Os­kar Ma­ria Graf, Hein­rich Mann und der ehe­ma­li­ge Na­tio­nal­so­zia­list Otto Stras­ser.

Erstes Kapitel.

Begegnung am 1. Mai

Sie glich ei­ner Schwim­me­rin. Mit has­ti­gen Arm­be­we­gun­gen zer­teil­te sie die Men­ge, die wie auf­sprit­zend zur Sei­te wich und eine schma­le Rin­ne frei ließ. Sie schlüpf­te durch sie hin­durch, wäh­rend schon im nächs­ten Au­gen­blick die Men­schen­wo­ge wie­der über ihr zu­sam­menschlug.

Die­se Men­ge schi­en wie das Meer ganz ohne Gren­zen. Zur Be­we­gungs­lo­sig­keit ge­bannt, hielt sie doch in­ne­rer Aufruhr in stän­di­gem Auf und Ab.

Das Mäd­chen er­reich­te eine klei­ne Er­hö­hung. Von hier ge­wann sie einen ganz neu­en Blick. Jetzt sah es aus, als wäre auf die­sem Feld die gan­ze Stadt, das We­sent­lichs­te der gan­zen Stadt zu­sam­men­ge­presst.

Un­zäh­li­ge Ta­feln schweb­ten über den Köp­fen der Men­ge: »Be­leg­schaft AEG«, »Ull­stein«, »Brot­fa­brik Witt­ler«, »Aschin­ger«, »Sie­mens u. Schu­ckert«, »Kauf­haus Wert­heim«, »In­dus­trie­wer­ke Karls­ru­he«, »Haus Va­ter­land«, »Tief­bau-Ge­sell­schaft«. Wie auf dem pri­mi­ti­ven Thea­ter be­schwo­ren sie stär­ker als Bil­der, die nur den schwa­chen Ab­klatsch der Wirk­lich­keit ge­ben, die Stät­ten, die sie nur mit ei­nem Wort an­deu­te­ten: Ma­schi­nen­hal­len, Kes­sel, auf­glü­hen­den Stahl, Ka­no­nen und Flug­zeu­ge, Wege und Bag­ger, kne­ten­de Ei­sen­fin­ger der Brot­ma­schi­nen, Hoch­häu­ser und Schäch­te.

In die­sem un­über­seh­ba­ren Ta­fel­wald such­te das Mäd­chen ih­ren Platz. Könn­te sie ihn doch end­lich wie­der­fin­den.

Die Grup­pen wa­ren kahl. Die Fah­nen mit den Ha­ken­kreu­zen, die so weit wa­ren, als woll­ten sie den Him­mel be­de­cken, um­flat­ter­ten das Feld, aber sie ge­hör­ten nicht zu den Grup­pen.

In den Au­gen des Mäd­chens sam­mel­te sich ge­spann­te Auf­merk­sam­keit. Erst flos­sen die Ge­sich­ter ge­sichts­los in­ein­an­der. Nur lang­sam be­gan­nen sich die ein­zel­nen zu un­ter­schei­den, so wie man sich an das Dun­kel lang­sam ge­wöh­nen muss, be­vor man all­mäh­lich die Um­ge­bung er­kennt.

Wie ver­schie­den wa­ren die Ge­sich­ter, die sich plötz­lich ge­gen den har­ten Hin­ter­grund der Mas­se ab­zeich­ne­ten! Sie zer­bra­chen die schein­ba­re Ein­heit. Es tauch­ten ent­schlos­se­ne, tri­um­phie­ren­de, ver­zwei­fel­te, auf­leuch­ten­de, müde, has­s­er­füll­te, auf­rüh­re­ri­sche, dump­fe, ent­schlos­se­ne, ver­ängs­tig­te, stol­ze, stump­fe, ver­gräm­te, kampf­be­rei­te Ant­lit­ze auf.

Manch­mal fühl­te das Mäd­chen, wie Hass auf ihre Per­son über­sprang. Sie wuss­te, er galt ih­rem Kleid. Ihrem Ehren­kleid, auf das sie stolz war. Dem blau­en Rock, der wei­ßen Blu­se, dem schwar­zen Tuch, das von ei­nem brau­nen ge­floch­te­nen Le­der­schlupf ge­hal­ten wur­de, der brau­nen Klet­ter­wes­te.

Ei­ni­ge­mal er­reich­te sie, zwi­schen zu­sam­men­ge­press­ten Zäh­nen ab­schät­zend ge­flüs­tert, das Wort: »Hit­le­ri­ka.«

Lass sie nur, dach­te das Mäd­chen, lass sie nur. Das wird schon an­ders wer­den. Es ist schon jetzt viel bes­ser. Frü­her wa­ren sie schlim­mer. Aber sie alle, auch die er­bit­terts­ten Fein­de, wer­den mer­ken, dass sie rich­tig, dass sie aus dem Elend ge­führt wer­den.

Doch es tat jetzt weh, in die­sem Men­schen­la­by­rinth al­lein her­um­zuir­ren. Lang­sam be­gann sie aus den dich­tes­ten Mas­sen her­aus­zu­fin­den. Die Men­ge wur­de dün­ner. Man konn­te jetzt an man­chen Stel­len das Feld se­hen mit schüt­terem, kran­kem Gras. Ros­tig hat­ten sich gelb­li­che Fle­cke in das arm­se­li­ge Grün ein­ge­fres­sen. Grup­pen la­gen ver­streut auf der ma­ge­ren Wie­se.

Die Stim­men der Ver­käu­fer, die laut ihre Ware an­prie­sen, konn­ten sich jetzt un­ge­hin­dert Ge­hör ver­schaf­fen.

»War­me Würst­chen ge­fäl­lig?« – »Sau­re Drops, die bes­te Er­fri­schung!« – »Die Rie­sen­salz­stan­gen, kauft die Rie­sen­salz­stan­gen!« – »Li­mo­na­de, wer kauft Li­mo­na­de?«

Es war wie auf ei­nem Jahr­markt.

»Hier ist’s rich­tig«, sag­te ein äl­te­rer Mann, der mit ei­ner grö­ße­ren Ge­sell­schaft auf der Wie­se la­ger­te. »Kei­ne Laut­spre­cher­an­la­gen, die­sen Win­kel ha­ben sie ver­ges­sen. Man braucht nicht zu­zu­hö­ren und wird doch vom Feu­er­werk et­was se­hen kön­nen.«

Das Mäd­chen hass­te ihn. Wa­rum muss­te sie ge­ra­de hier­her ge­ra­ten, fern von den Ka­me­ra­den? Vi­el­leicht sprach schon der Füh­rer, und sie war ge­zwun­gen, die­se Leu­te zu hö­ren, die un­gläu­big wa­ren, die im­mer nur das Schlech­te se­hen woll­ten.

Ihre Au­gen such­ten so ver­zwei­felt, so dring­lich, dass sie einen SA-Mann,1 einen jun­gen Men­schen, der schlen­dernd vor­bei­kam, zum Ste­hen brach­ten.

Der Jun­ge streck­te ihr den Arm ent­ge­gen und sag­te: »Heil Hit­ler!«

Auch sie hob den Arm und rief mit hel­ler, wie be­frei­ter Stim­me: »Heil Hit­ler!«

Der Jun­ge hat­te den Arm wie­der her­un­ter­ge­las­sen und frag­te sie: »Su­chen Sie et­was, Fräu­lein?«

Sie ant­wor­te­te ihm erst nicht; ihr Blick ver­lor sich an ihm. Jetzt such­te sie nicht mehr, oder doch, sie such­te nur noch die­ses Ge­sicht, die­se Ge­stalt, die­se Au­gen.

So möch­te ich aus­se­hen, wenn ich Jun­ge wäre, dach­te das Mäd­chen. Genau so, ein schar­fes, vor­sprin­gen­des Kinn möch­te ich ha­ben, eine so ge­ra­de Nase, sol­che blau­en Au­gen und zwei sol­che gol­de­nen Pfei­le im tief­brau­nen Ge­sicht, das brau­ner ist als sei­ne brau­ne Uni­form.

Dann sag­te sie ihm: »Ob ich et­was su­che? O ja, ich su­che das Wa­ren­haus Al­der­man.«

Bei­de lach­ten.

Das Mäd­chen sprach wei­ter: »So was Dum­mes, ich habe mei­ne Ko­lon­ne ver­lo­ren und kann sie nicht wie­der­fin­den. Schon seit ei­ner Stun­de irre ich hier her­um in der Men­ge. – Ist das nicht groß­ar­tig, so vie­le Men­schen? Aber ich hät­te zu gern un­ter mei­nen Kol­le­gin­nen ge­stan­den, ich hät­te ihre Ge­sich­ter wäh­rend der Rede des Füh­rers be­ob­ach­tet; und Sie? Ha­ben Sie auch Ihren Be­trieb ver­lo­ren?«

»Ich muss, of­fen ge­stan­den, sa­gen, ich bin ein­fach aus­ge­rückt. Wenn Sie die­se Bü­ro­men­schen aus dem Bank­haus Wal­len­berg se­hen wür­den, dort ar­bei­te ich näm­lich – un­ser Pro­ku­rist hat einen Re­gen­schirm mit; stel­len Sie sich das vor, mit ei­nem Re­gen­schirm vor dem Bauch mar­schiert er seit acht Stun­den.«

»Sie müss­ten die Par­fü­me­rie-Ab­tei­lungs­lei­te­rin von un­se­rem Wa­ren­haus se­hen, mit sooo ho­hen Ab­sät­zen, da kann sie na­tür­lich nicht ge­nug jam­mern: Sind wir ei­gent­lich Sol­da­ten, und so ähn­lich. Von un­se­ren Lehr­lin­gen und Ver­käu­fe­rin­nen sind ja ei­ni­ge ohn­mäch­tig ge­wor­den, das ist Un­ter­er­näh­rung. Aber das wird an­ders wer­den. Und Ihre Kol­le­gen, wie sind die sonst?«

»Ach, ich mag gar nicht ihre Re­dens­ar­ten hö­ren; wis­sen Sie, wie die­se äl­te­ren Leu­te spre­chen?«

»Ich kann es mir vor­stel­len.«

»Das ken­nen wir, sa­gen sie. Al­les ken­nen sie, al­les ha­ben sie schon er­lebt. Die­se Be­geis­te­rung, ken­nen sie, die Fah­nen, ken­nen sie, den Krieg, ken­nen sie. Man kann es ih­nen nicht klar­ma­chen, dass sie die­se Be­geis­te­rung, die­se Fah­ne nicht ken­nen, dass un­ser Krieg nicht sein wür­de, wie der ihre war.«

»Aber wir wer­den ja gar kei­nen Krieg ha­ben.«

»Ich mei­ne, wenn wir zu ei­nem ge­zwun­gen wer­den soll­ten. Se­hen Sie, mit Ih­nen ver­ste­he ich mich. Sie sind nicht wie die­se Ewig-Un­zu­frie­de­nen.«

»Den­ken Sie, bei uns gibt es auch sol­che. Ges­tern, als ich eine Schuh­schach­tel öff­ne­te – ich ar­bei­te näm­lich in der Schu­h­ab­tei­lung –, fand ich ein Flug­blatt dar­in.«

»Ha­ben Sie es gleich an­ge­zeigt?«

»Nein, das konn­te ich nicht tun, ich hat­te Angst, es hät­te ein Mä­del aus un­se­rer Ab­tei­lung sein kön­nen: Til­ly, Gil­da oder Anna. Wenn ich höre, dass ei­nem Kom­mu­nis­ten, den ich nicht ken­ne, dies oder je­nes ge­sche­hen ist, da freue ich mich. Wie­der so ein Het­zer un­schäd­lich ge­macht wor­den. Aber wenn ich je­man­den ken­ne, dann ist das doch an­ders, fin­den Sie nicht?«

»Ich weiß nicht, ob Sie da recht ha­ben. Was stand denn in dem Flug­blatt?«

»So ge­nau habe ich es nicht ge­le­sen, es war ein Auf­ruf zum Ro­ten Mai.«

»Es gibt kei­nen Ro­ten Mai mehr, es gibt nur einen deut­schen Mai, in dem alle ei­nig sind.«

»Ja, scha­de nur, dass so vie­le Men­schen nicht ver­ste­hen wol­len, dass wir jetzt ei­nig sind. Aber wir ste­hen hier und ha­ben gar nicht die Rede des Füh­rers ge­hört.«

»Das Feu­er­werk dür­fen wir nicht auch noch ver­säu­men. Wir wol­len ein­mal das Ge­län­de vom stra­te­gi­schen Stand­punkt be­trach­ten, wie un­ser Sturm­bann­füh­rer im­mer sagt. Wir müs­sen den rich­ti­gen Punkt fin­den, von dem man am bes­ten al­les über­se­hen kann. Ge­ben Sie mir die Hand, sonst könn­ten wir uns wie­der ver­lie­ren. Ich wäre dann so al­lein.«

»Al­lein un­ter so vie­len Men­schen?«

»Wenn wir uns wie­der ver­lie­ren wür­den, wäre ich sehr ein­sam. Und Sie?«

»Also, hier ist mei­ne Hand.«

»Ge­hen wir hier auf die­se Ter­ras­se.«

*

»Schau­en Sie, wie schön, wie bun­te Ster­ne für den Weih­nachts­baum.«

»Aber jetzt kommt noch et­was Schö­ne­res, der Nia­ga­ra­fall.«

»Ach, das ist herr­lich, die­ser un­end­li­che Lich­ter­fall, der den gan­zen Him­mel über­rie­selt.«

»Möch­ten Sie mit mir zu dem Nia­ga­ra­fall?«

»Sie dür­fen jetzt nicht spre­chen, sonst kann ich nichts se­hen.«

»Aber jetzt kommt was ganz Tol­les: Trom­mel­feu­er an der West­front.«

»Aber nein, das ist ja schreck­lich, mein Trom­mel­fell! Das hört ja gar nicht auf. Ist es nicht wie Ka­no­nen­don­ner?«

»Leh­nen Sie sich doch an mich, dann wer­den Sie kei­ne Angst ha­ben. Eine Frau ist eben dem Trom­mel­feu­er nicht ge­wach­sen, auch wenn sie ein Hit­ler­mä­del ist. Aber ei­nem Mann macht so was Spaß. Was mei­nen Sie, wenn es wirk­lich los­ge­hen wür­de; das hier ist ja ein Kin­der­spiel. Aber es ist gut, wenn sich die Leu­te lang­sam dar­an ge­wöh­nen.

Hät­ten Sie Angst um mich, wenn es Ernst wür­de? Wenn das Feu­er kein Feu­er­werk mehr wäre?«

»Das dür­fen Sie gar nicht sa­gen.«

»Wir müs­sen wei­ter­ge­hen, es ist zu Ende.«

Die Mas­sen über­flu­te­ten, wie Was­ser, das über die Ufer tritt, das Feld. Sie ver­si­cker­ten in tau­send Adern, die alle den Lich­tern der Stadt zu­ström­ten. Der gan­ze Raum war von Tö­nen er­füllt, aber es war wie das sinn­lo­se Rau­schen und Rau­nen des Was­sers.

Nur hier und da wur­den ein­zel­ne Sät­ze deut­lich:

»Nein, so was von Men­schen­men­gen!« – »Das Feu­er­werk war wirk­lich groß­ar­tig.« – »Viel Ge­re­de, we­nig Sinn.« – »Gro­ßer Rum­mel.«

Das Mäd­chen und der Jun­ge hiel­ten sich wie­der an den Hän­den.

»Ha­ben Sie das ge­hört?« sag­te der Jun­ge, und sei­ne Stim­me klirr­te vor Em­pö­rung. »Über­all lau­ern noch Fein­de, man muss wach sein.«

»Ja, das muss man, das glau­be ich auch.«

»Wie gut, dass Sie ein Hit­ler­mä­del sind, ich glau­be, ich hät­te Sie sonst gar nicht an­ge­spro­chen.«

»Und ich hät­te Ih­nen viel­leicht gar nicht geant­wor­tet, wenn Sie nicht ein SA-Mann wä­ren.«

»Wir müs­sen uns wie­der tref­fen, ja? Am Sonn­tagnach­mit­tag im Tier­gar­ten bei den Hir­schen, sa­gen Sie: ja.«

»Ja.«

»Aber ich habe mich noch gar nicht vor­ge­stellt. Ge­stat­ten Sie, mein Name ist Er­win Dob­bi­en.«

»Sind Sie aber förm­lich! Ich hei­ße Eli­sa­beth We­ber.«

»Eli­sa­beth.«

»Er­win.«

Die Stur­m­ab­tei­lung war die pa­ra­mi­li­tä­ri­sche Kamp­f­or­ga­ni­sa­ti­on der NSDAP wäh­rend der Wei­ma­rer Re­pu­blik und spiel­te als Ord­ner­trup­pe eine ent­schei­den­de Rol­le beim Auf­stieg der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten  <<<

Zweites Kapitel.

Warenhaus Alderman, Schuhabteilung

In der Kan­ti­ne schweb­te der ran­zi­ge Hauch von ab­ge­stan­de­nem Fett und zer­koch­tem Kohl. Auch nach sorg­fäl­tigs­ter Lüf­tung blie­ben Ge­ruchs­fet­zen in dem Raum hän­gen, die sich schnell mit den Dämp­fen der neu­en, sich im­mer glei­chen­den, freud­lo­sen Mahl­zei­ten ver­misch­ten.

Der Tisch der Schu­h­ab­tei­lung stand in der lin­ken Ecke des wei­ten Saa­l­es ge­gen­über ei­nem der wand­lan­gen Fens­ter, in die sich wie in Rah­men die Bil­der von Häu­ser­rie­sen, das Grün ver­krüp­pel­ter Bäu­me, dunkle Men­schen­knäu­el ein­häng­ten.

Ohne Un­ter­lass ström­te die Men­ge durch die ein­la­den­den, von gold­be­treß­ten Por­tiers be­hü­te­ten Tü­ren.

Das Ver­pön­te gab die­sem Palast aus sel­te­nen Höl­zern und teu­ren Stei­nen nur neue An­zie­hungs­kraft. Kein Ver­bot konn­te den Wunsch, in Sei­de, Spit­zen, Stof­fen zu wüh­len, er­sti­cken, den Wunsch, Neu­es, Viel­fäl­ti­ges zu se­hen.

Die Ro­sen­hol­zin­tar­si­en, die perl­mut­ter­far­ben schim­mern­den Por­phyr­säu­len, das Licht, das hell, doch ohne Grell­heit aus blit­zen­den Röh­ren strahl­te, gab dem bil­ligs­ten Schund be­geh­rens­wer­ten Schim­mer.

Mit glän­zen­den Au­gen rech­ne­ten die Frau­en er­spar­te Gro­schen zu­sam­men, um den ver­füh­re­ri­schen Kram er­ste­hen zu kön­nen.

Aber auch, wenn man nicht kauf­te, weil das Por­te­mon­naie sich schwind­süch­tig in der Ta­sche barg, oder auch, weil hö­he­re Wel­t­an­schau­ung es ver­bot, konn­te man dem Reiz des Su­chens und Wäh­lens nicht ent­ge­hen. Hier war im grau­en, nüch­ter­nen Häu­ser­meer der mär­chen­haf­te Ba­sar aus Tau­send­und­ei­ner Nacht.

Man moch­te we­ni­ger kau­fen, aber umso eif­ri­ger be­schäf­tig­te man die dienst­ba­ren Geis­ter des Hau­ses.

Sie stärk­ten sich jetzt in Etap­pen zu neu­em Dienst.

Die Schu­h­ab­tei­lung wirk­te im Saal wie ein großer lila Fleck. Die Mäd­chen tru­gen veil­chen­far­be­ne Klei­der­schür­zen. »Sie wir­ken de­ko­ra­tiv und schmut­zen nicht leicht«, hat­te der Zeich­ner, der ihre Tracht ent­wor­fen hat­te, dem De­ko­ra­ti­ons­chef er­klärt. Aus der Fer­ne gli­chen sich die Ver­käu­fe­rin­nen, als wä­ren sie stan­dar­di­sier­te Blu­men, die ein ehr­gei­zi­ger Gärt­ner nach neues­ten Metho­den züch­te­te.

Eli­sa­beth war nicht mehr braun, auch sie war veil­chen­far­ben. Jetzt war sie kein Hit­ler­mäd­chen, jetzt stand sie im Diens­te des Hau­ses Al­der­man, und das zwi­schen Mar­tha, Til­ly, Emi­lie und Anna. Sie saß ge­nau­so er­schöpft da wie alle. Sie tauch­ten ihre Löf­fel mit dem glei­chen Aus­druck der Mü­dig­keit in die trü­be Brü­he, die schon durch ihre graue Schlei­mig­keit jede Hoff­nung auf Freu­den des Gau­mens er­stick­te.

Nur ein Mäd­chen kam erst jetzt mit ih­rem Sup­pen­tel­ler, den sie auf der Hand­flä­che ba­lan­cier­te.

Sie mim­te eine Frau mit neu­en en­gen Schu­hen, die aber un­ge­heu­er stolz auf die­se Schu­he ist, das eit­le Ge­sicht schmerz­ge­plagt, und doch vor Stolz strah­lend.

»Gil­da, setz dich end­lich!«

Gil­da tän­zel­te mit dem Tel­ler zum Tisch, die brau­nen Lo­cken tän­zel­ten, die lan­gen Wim­pern tän­zel­ten.

»Ich ver­ste­he nicht, dass die­se Gil­da nicht müde ist.« Mar­tha hielt den Sup­pen­löf­fel in der Hand, als wäre sei­ne Last zu viel für sie. »Die Pau­se soll­te man we­nigs­tens aus­nüt­zen, um sich aus­zu­ru­hen.«

»Ich kann doch nichts da­für, ich muss doch im­mer­fort an mei­ne letz­te Kun­din den­ken.« Gil­da lach­te und mach­te große Au­gen. Die Mäd­chen sag­ten, dass sie Gildas we­gen lila Schür­zen tra­gen müss­ten, da­mit Gildas Au­gen noch veil­chen­far­be­ner wirk­ten. Der Zeich­ner hat­te sich in sie ver­guckt.

»Iss doch erst mal.«

»Ei­dech­sen­schu­he hat sie ge­kauft, ihre Hüh­ne­rau­gen tun mir ja so leid; ich habe ihr von den Ei­dech­sen er­zählt, was die für eine un­ver­wüst­li­che Haut ha­ben, weil sie ein so ge­fähr­li­ches Le­ben in den Ur­wäl­dern füh­ren. Ei­dech­sen­schu­he zer­rei­ßen nie. – Sind das auch ech­te Ei­dech­sen? hat sie mich ge­fragt; dar­auf habe ich ihr ge­sagt: Aber, gnä­di­ge Frau, un­ser Chef, Mis­ter El­der­man, war selbst mit ei­ner Ex­pe­di­ti­on in den süd­ame­ri­ka­ni­schen Ur­wäl­dern auf der Ei­dech­sen­jagd. Und ich habe dazu nicht ge­lacht! Sie hat’s mir ge­glaubt. Des­halb muss­te sie die Schu­he kau­fen, auch wenn sie ihr zu eng wa­ren.«

»Du wirst noch we­gen dei­ner Al­bern­hei­ten her­aus­flie­gen; denk dar­an, dass ich dir das pro­phe­zeit habe«, sag­te Emi­lie, die Gil­da nicht an­ders als miss­bil­li­gend an­bli­cken konn­te.

»Mis­ter El­der­man auf der Ei­dech­sen­jagd, das ist gut; ich möch­te nur wis­sen, wo­her er wirk­lich kommt.«

»Aus Ame­ri­ka je­den­falls.«

»Er ist Ame­ri­ka­ner, ein Mis­ter, da kannst du nichts ge­gen ma­chen; jetzt ge­hö­ren die meis­ten Ak­ti­en ei­nem Ame­ri­ka­ner.«

»Nichts ge­hört ihm, man tut nur so, man muss nur se­hen, wie er vor Herrn Di­rek­tor Lanz katz­bu­ckelt.«

Til­ly spür­te ge­gen die­sen neu­auf­ge­tauch­ten Chef Ab­nei­gung, weil er ein­mal miss­bil­li­gend sich über ihre Art, Schu­he zu prä­sen­tie­ren, ge­äu­ßert hat­te.

Die­ser Mis­ter El­der­man, der im Hau­se Al­der­man plötz­lich auf­ge­taucht war, hat­te vor vie­len Jah­ren als ein simp­ler, sich vor Gläu­bi­gern flüch­ten­der Herr mit ei­ner klei­nen Ab­fin­dung sei­nes rei­chen On­kels Eu­ro­pa ver­las­sen; er wur­de kein Mil­lio­när wie in den Mär­chen, das Schick­sal war ihm nicht hold. Er fris­te­te sein Le­ben aus jäm­mer­li­chen Pro­vi­sio­nen, die ihm aus klei­nen, bunt zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Ge­schäf­ten zu­flos­sen. Er hat­te sich schon da­mit ab­ge­fun­den, dass er als ver­brauch­ter Mann, zer­mürbt von klein­li­chen Sor­gen, im Exil ster­ben wür­de, als ihn ein No­tar im ein­ge­schrie­be­nen Brief zu sich bat. Er hat­te zwar kei­ne Erb­schaft ge­macht, wie er in der ers­ten freu­di­gen Über­ra­schung er­hofft hat­te; der No­tar woll­te von ihm wis­sen, ob er ame­ri­ka­ni­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger ge­wor­den sei, und prüf­te auf­merk­sam sei­ne Pa­pie­re. Als kein Zwei­fel mehr be­stand, dass er Bür­ger des mäch­tigs­ten Staa­tes sei, er­öff­ne­te ihm der No­tar, dass sei­ner eine be­deu­ten­de und aus­ge­zeich­net be­zahl­te Stel­lung im Hau­se Al­der­man harr­te. Er wür­de so­gar, al­ler­dings mit al­len nö­ti­gen Rück­ver­si­che­run­gen, pro for­ma Mit­be­sit­zer des Hau­ses. Mis­ter El­der­man konn­te sich erst kaum über die­se neue Wen­dung in sei­nem Schick­sal fas­sen, aber er nahm na­tür­lich die Be­ru­fung an. Wa­rum auch nicht? Wenn man ihn in Deutsch­land brauch­te! Er wür­de sei­ne Ver­wand­ten nicht im Stich las­sen.

So er­hielt das Haus Al­der­man eine ame­ri­ka­ni­sche Note, und Ver­ord­nun­gen des da­hin­stür­men­den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus wur­den von ihr be­sänf­tigt und ent­gif­tet.

»Na­tür­lich ist das Gan­ze nur eine Schie­bung«, sag­te Eli­sa­beth. »Die Ju­den ver­ste­hen es zu gut, sich zu dre­hen und zu wen­den.«

»Wa­rum nur die Ju­den?« frag­te Anna und sah da­bei Eli­sa­beth so prü­fend an, dass die­se sich ver­är­gert wie­der mit ih­rer Sup­pe zu be­schäf­ti­gen be­gann. »Hat sich bei den Groß­kon­zer­nen ir­gend­was ge­än­dert?«

»Hast du Sor­gen, Anna! Groß­kon­zer­ne! Das in­ter­es­siert mich nicht. Mich in­ter­es­siert nur, wie schlecht heu­te wie­der die Sup­pe ist, das ist auch ’ne Schie­bung.« Til­ly sah un­zu­frie­den um sich.

Auf die Anna muss man auf­pas­sen, ich hät­te das Flug­blatt doch an­zei­gen sol­len. Eli­sa­beths Ge­sicht wur­de ganz düs­ter.

»Ich ver­ste­he gar nicht, wie ihr euch er­lau­ben könnt, von Schie­bung zu spre­chen«, sag­te Emi­lie, die, ob­gleich sie in letz­ter Zeit glü­hen­de Na­tio­nal­so­zia­lis­tin ge­wor­den war, nie ver­gaß, dass sie das Brot des Hau­ses Al­der­man aß. »Man hat doch kei­nen Ame­ri­ka­ner nö­tig; Herr Di­rek­tor Lanz ist doch der ei­gent­li­che In­ha­ber, und er ist Ari­er.«

»Er ist Schwie­ger­sohn und nicht In­ha­ber.«

»Er hät­te’s nicht mal nö­tig, Ari­er zu sein, er ist doch Ös­ter­rei­cher.«

»Ich kann gar nicht ver­ste­hen, wie ihr so viel re­den könnt«, sag­te Mar­tha. Sie ist eine ge­schie­de­ne Frau, die noch für zwei Kin­der zu sor­gen hat. Ihr Mann hat sich ein­fach aus dem Stau­be ge­macht und ist jetzt ir­gend­wo im Aus­land. »Ich habe das Ge­fühl, ich schaf­fe es nim­mer; mein Rücken – als hät­te man ihn in Stücke ge­schla­gen.«

»Das ist auch kein Wun­der, wir müs­sen jetzt viel mehr schaf­fen. Rech­ne es dir aus: aus un­se­rer Ab­tei­lung sind zwei Mäd­chen ent­las­sen: die Hirsch, weil sie Jü­din ist, die Mer­tens we­gen mar­xis­ti­scher Um­trie­be.«

Anna sprach ru­hig, aber Eli­sa­beth be­trach­te­te sie vol­ler Miss­trau­en: War­te nur, du, ob du nicht auch we­gen mar­xis­ti­scher Um­trie­be ent­las­sen wirst. Wühl­maus! Im­mer mit die­sen hin­ter­häl­ti­gen, auf­rei­zen­den Be­mer­kun­gen. Sie ver­sucht, die Mäd­chen auf­zu­het­zen. Das ist un­recht. Man soll nicht das Auf­bau­werk stö­ren. Ich ken­ne die­se Stil­len, an die man nicht so leicht her­an kann. Aber ich wer­de auf­pas­sen!

Anna sieht gar nicht wie eine Maus aus. Sie hat große brau­ne Au­gen und ein so kla­res Ge­sicht. Sie ist die bes­te Ver­käu­fe­rin in der Ab­tei­lung, ru­hig und si­cher; die Kun­den las­sen sich gern von ihr be­ra­ten, und sie schwätzt ih­nen nie et­was aus Spaß auf wie Gil­da.

»Ach, ich habe es euch noch gar nicht er­zählt«, rief Til­ly, »ich habe vor ei­ni­gen Ta­gen die Hirsch, das arme Lu­der, ge­trof­fen. Wie die aus­sieht! Je­den Kno­chen an ihr kannst du zäh­len. Fünf­zehn Jah­re war sie hier an­ge­stellt; ge­schuf­tet hat sie wie kei­ne, und jetzt kann sie glatt ver­hun­gern.«

Die Til­ly soll schwei­gen, dach­te Eli­sa­beth. Jetzt be­dau­ern sie na­tür­lich alle die Hirsch, sie kann doch nichts da­für, dass sie Jü­din ist, den­ken sie, auch wenn sie es nicht sa­gen. Aber warum sol­len die Frem­den Brot ha­ben und die Deut­schen hun­gern. Wie viel Mil­lio­nen Ar­beits­lo­se ha­ben kaum zu es­sen. Sie über­leg­te das al­les schnell, um das Ge­fühl zu be­täu­ben: die arme Hirsch!

»Weißt du, das ist gar nicht so klug von dir, eine Jü­din zu be­dau­ern«, sag­te Emi­lie und sah kampf­be­reit auf Til­ly.

Eli­sa­beth, die ei­gent­lich auch aus­spre­chen woll­te, was Emi­lie sag­te, emp­fand doch Un­wil­len, viel­leicht nur, weil Emi­lie erst seit so kur­z­er Zeit in der Be­we­gung war.

Gil­da schnup­per­te in der Luft her­um und mach­te dann ein ganz be­geis­ter­tes Ge­sicht.

»Ich weiß nicht, hier riecht’s so stark nach März­veil­chen, spürt ih­r’s auch?«

Das all­ge­mei­ne La­chen er­bos­te nur Emi­lie:

»Ach, Gil­da«, sag­te sie ge­ring­schät­zig, »weißt du, dei­ne Mut­ter hat den rich­ti­gen Na­men für dich aus­ge­sucht, so aus­län­disch und ko­mö­di­an­tisch.«

Gil­da schluck­te, das war ge­mein von der Emi­lie, ihr ih­ren Na­men vor­zu­wer­fen. Kann sie etwa da­für, dass ihre Mut­ter eine Opern­schwär­me­rin ist? Eine Opern­sän­ge­rin, die ihre Stim­me ver­lo­ren hat­te und die jetzt ar­men Mäd­chen, die ge­nau­so hoff­nungs­los für Opern schwärm­ten wie sie, Stun­den gab?

Die Mäd­chen hat­ten ihre Tel­ler ge­wech­selt und sto­cher­ten jetzt un­lus­tig im Ge­mü­se und dem hauch­dün­nen Fleisch her­um.

»Ach, Kin­der«, sag­te Til­ly und schob ih­ren Tel­ler plötz­lich weit von sich, »ich hat­te heu­te einen Kun­den, der hat­te Schweiß­fü­ße, ihr könnt euch das nicht vor­stel­len.«

»Du Schwein­igel. Dich hat si­cher die Di­rek­ti­on ge­mie­tet, uns noch das biss­chen Ap­pe­tit zu ver­der­ben, das wir noch ha­ben«, rief Mar­tha.

»Na­tür­lich, wir sol­len nicht mer­ken, dass die Por­tio­nen im­mer klei­ner wer­den.«

»Kein Wun­der, wird ja al­les stän­dig teue­rer.« Das sag­te Anna.

Jetzt konn­te Eli­sa­beth nicht län­ger an sich hal­ten. Sie wuss­te, Anna mach­te nur ihre Be­mer­kun­gen, um Un­zu­frie­den­heit zu säen. Es war ihre Mund­pro­pa­gan­da. Sie woll­te nur das Schlech­te se­hen, nie das Gute.

»Wie kannst du im­mer nur so klein­lich sein.« Sie blick­te erst Anna an, als sich aber ihre Au­gen be­geg­ne­ten, wand­te sie sich ab und sah ge­ra­de­aus vor sich hin. »Du willst nicht das Gro­ße se­hen, je­der Kampf bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich, je­der Kampf ver­langt Op­fer. Wenn man eine neue Welt auf­bau­en will, muss man von je­dem Op­fer ver­lan­gen.«

»Op­fer von wem?« frag­te Anna. »Wer bringt die Op­fer, Eli­sa­beth? Wer soll die Op­fer brin­gen?«

Na­tür­lich, jetzt denkt sie an die Mar­ga­ri­ne und an das Fett; die Rei­chen kau­fen kei­ne Mar­ga­ri­ne, die Rei­chen ver­die­nen mehr und die Ar­men we­ni­ger, will sie mir sa­gen. Sie will es nicht se­hen, dass sich da­hin­ter noch et­was Gro­ßes ab­spielt. Es ist nur so schwer, das in Wor­te zu fas­sen, es zu er­klä­ren. Ich könn­te ja ein leich­tes Spiel mit der Anna ha­ben, aber ich will sie über­zeu­gen, nicht an­zei­gen.

»Man kann doch die Op­fer nicht auf die Waag­scha­le le­gen, wir wol­len eine neue Welt. –«

»Kuckuck, ich kann auf die neue Welt bli­cken.«

Til­ly hat­te das Fleisch auf die Ga­bel ge­spießt und hielt die dün­ne Schei­be, als wäre es durch­sich­ti­ges Pa­pier, vor ihre Au­gen.

»Lass doch die dum­men Spä­ße, jede Re­vo­lu­ti­on hat Schwie­rig­kei­ten mit sich ge­bracht.«

»Ach was, Re­vo­lu­ti­on, das ist doch gar kei­ne Re­vo­lu­ti­on.«

Emi­lie woll­te da­zwi­schen­fah­ren, aber Gil­da ließ sich nicht auf­hal­ten. »Es hat sich doch nichts ge­än­dert, es ist al­les beim al­ten ge­blie­ben. Wisst ihr, wie eine wirk­li­che Re­vo­lu­ti­on aus­se­hen wür­de? Da käme eine Kom­mis­si­on und such­te nach Ta­len­ten. Mich wür­den sie frei­lich gleich ent­de­cken. Wie, Fräu­lein Gil­da, Sie mit Ih­rer Be­ga­bung für Tanz und Schau­spie­le­rei Schuh­ver­käu­fe­rin? Das ist ja Wahn­sinn. Ver­geu­dung der edels­ten Men­schen­kräf­te. Sie müs­sen ler­nen, sich bil­den. Sie müs­sen eine große Künst­le­rin wer­den. – Aber ich habe kein Geld, wür­de ich sa­gen. – Kein Geld, was für eine Klei­nig­keit, ma­chen Sie sich kei­ne Sor­gen! Gibt es denn nicht ge­nug Geld in der Welt? Wie viel Geld brau­chen Sie, um sich aus­bil­den zu las­sen? Wie, nicht mehr? Hier ha­ben Sie es, bit­te sehr! – Aber mei­ne Mut­ter braucht auch Geld, um zu le­ben. – Na­tür­lich, ja, wie viel? Er­le­digt, bit­te sehr! – Aber, ach, mein Groß­va­ter braucht auch Geld! – Aber ja, na­tür­lich, bit­te sehr! – Das wäre eine Re­vo­lu­ti­on.«

Alle la­chen.

»Das könn­te dir so pas­sen«, sag­te Emi­lie.

Eli­sa­beth konn­te die Au­gen nicht von Gil­da wen­den, wäh­rend sie sprach. Was konn­te sich die­ses Mäd­chen al­les aus­den­ken? Wie, wenn eine Kom­mis­si­on zu ihr käme? Was wür­de sie sich wün­schen? Das Glück! – Das Glück? Das ist viel; was für ein Glück? – Nur das ein­fachs­te. – Lie­be? – Ja, Lie­be! – Wen lie­ben Sie? Wis­sen Sie es schon? – Ja, sie wuss­te es schon! – Was möch­ten Sie, ein Häu­schen, ein Gärt­chen? – Es ge­nüg­te mir ein Fleck­chen Erde, von dem ich sa­gen könn­te: Hier bin ich zu Hau­se. – Sie ver­lan­gen nicht viel, ja bit­te sehr. Sie möch­ten Kin­der? – Ja, Kin­der. – Bit­te sehr.

Til­ly schreit: »Ich wür­de der Kom­mis­si­on sa­gen … jetzt weiß ich gar nicht, was ich sa­gen wür­de, man hat so­viel zu wün­schen –«

Emi­lie schüt­telt miss­bil­li­gend den Kopf. »Gil­da, du bist doch das ver­rück­tes­te Lu­der hier im gan­zen Hau­se. Ach was, das ist ein Kom­pli­ment für dich. Es gibt kei­ne Ver­rück­tere in der gan­zen Stadt.«

»Wa­rum müsst ihr euch im­mer zan­ken?« frag­te Mar­tha.

»Du hast recht, man soll­te gar nicht hin­hö­ren auf die­sen Quatsch«, sag­te Emi­lie. »Ges­tern war ich im Kino, da habe ich ein wun­der­ba­res Stück ge­se­hen. ›Blut und Erde!‹ Was füh­ren die Bau­ern für ein schö­nes Le­ben! In ei­nem Bild­strei­fen konn­te man se­hen, wie Adolf zu den Bau­ern spricht und wie er um­ju­belt wird. Und wie das frem­de Blut den Bau­ern scha­det. – Herr­lich war es, sage ich euch!«

»Im Kino fin­de ich ja das Land­le­ben sehr lang­wei­lig«, er­klär­te Til­ly.

»Du ver­stehst eben nichts Hö­he­res.«

»Ges­tern war ich mit mei­nem Freund auch im Kino. Mein Freund hat ein klei­nes Licht­spiel­thea­ter ent­deckt, wo sie ganz alte Fil­me spie­len. Da kann man we­nigs­tens la­chen. Ei­nen Chap­lin habe ich ge­se­hen.«

»Gib mir die Adres­se.«

»Ach, du möch­test dir auch so was an­se­hen!«

»Be­ru­hi­ge dich, ich wür­de nie et­was se­hen wol­len, was ei­gent­lich gar nicht er­laubt ist.«

»Ach Gott, wir wis­sen schon längst, wie tu­gend­haft du bist, aber da gebe ich dir auch gar nicht die Adres­se.«

»Brau­che ich nicht, das wird ja so­wie­so ver­bo­ten wer­den.«

»Üb­ri­gens ha­ben sie noch einen ol­len Film ge­spielt, wo der Al­bers als Na­tio­nal­so­zia­list auf­trat.«

»Das ist doch un­mög­lich. Frü­her hat der doch mit ei­ner Jü­din ge­lebt. Da konn­te er doch gar kei­ne Na­zis spie­len!«

Til­ly be­gann zu träl­lern: »Das ist die Lie­be der Ma­trooo­sen!«

»Na, hör mal, so ur­al­te Kla­mot­ten singst du – und noch dazu ganz falsch.«

»Das ist doch aus dem Film ›Bom­ben auf Mon­te Car­lo‹.«

»Na, das ist doch noch lan­ge vor Adolf ge­we­sen, und den Film ha­ben Ju­den ge­macht, der wird doch auch ver­bo­ten wer­den.«

»Aber der Al­bers ist doch dar­in wie ein Na­tio­nal­so­zia­list. – Ele­gant, sag ich dir, ganz in Weiß und mit Gold. Du, er sieht wirk­lich dem ›Her­mann‹ ähn­lich. Ach, ist er schick. Er ver­liert sein Geld im Ka­si­no, aber das Geld ge­hört ihm gar nicht. Er ver­langt es von der Spiel­bank zu­rück, aber die tun, als hät­ten sie gar nichts ge­hört. Da bom­bar­diert er Mon­te Car­lo. Tol­le Sa­che, was? Er hat näm­lich ein Kriegs­schiff; na­tür­lich krie­gen die von der Spiel­bank Angst und rücken das Geld raus. – Wa­rum soll das ver­bo­ten wer­den?«

»Der Film ist doch von Ju­den ge­macht, das Lied darfst du gar nicht sin­gen: Das ist die Lie­be der Ma­tro­sen. Das hat ein Jude kom­po­niert. Mein Freund ist SS-Mann, der weiß das al­les.«

»Ach, ist dein Freund SS-Mann?« rief Gil­da. »Schwarz muss dir sehr gut zu Ge­sicht ste­hen. Erin­nert ihr euch noch, als Emi­li­ens Freund Reichs­ban­ner­mann war? Ein ho­her Reichs­ban­ner-Funk­tio­när.«

Die Schu­h­ab­tei­lung lach­te so schal­lend, dass sich die an­de­ren Ti­sche nach den Veil­chen­far­be­nen um­sa­hen, denn es war viel stil­ler ge­wor­den im Saal.

Frau March durch­schritt den Raum. Sie ist die Lei­te­rin der Per­so­nal­ab­tei­lung. Die Mäd­chen er­zit­tern, wenn sie sie mit den Bli­cken nur streift; sie möch­ten sich am liebs­ten un­sicht­bar ma­chen. Sie könn­te viel­leicht auf den Ein­fall kom­men, man sei über­flüs­sig. Frau March hat eine be­son­de­re Or­ga­ni­sa­ti­ons­be­ga­bung. Ihre Chefs er­ken­nen sie dank­bar an.

Sie hat die Fä­hig­keit, zu be­rech­nen, wie eine Ar­beit, die frü­her von zwei­en ge­macht wur­de, jetzt eine schaf­fen könn­te. Sie hät­te ihre Be­ga­bung wahr­schein­lich mit dem­sel­ben Ei­fer zur Gel­tung ge­bracht, wenn sie der All­ge­mein­heit Nut­zen ge­bracht hät­te. So aber er­freu­te sie nur die Chefs des Hau­ses Al­der­man. Wenn sie im Chef­zim­mer ver­schwand, zit­ter­ten die Mäd­chen: Jetzt macht sie Ab­bau-Vor­schlä­ge. Wer war über­flüs­sig?

Frau March trug ein schwar­zes Sei­den­kleid, das lei­se rausch­te. Ihren Bu­sen zier­te als ein­zi­ger Schmuck das Dop­pel­kreuz der na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Frau­en­schaft.1 Sie über­trieb aber nie die Ge­sin­nung, die sie leicht, ohne be­son­de­re Grü­belei­en, wech­sel­te.

Sie stand jetzt vor dem Tisch der Schu­h­ab­tei­lung und grüß­te mit »Heil Hit­ler«, aber nicht laut und auf­dring­lich, son­dern nur so, wie man gu­ten Tag sagt. Die Hand reck­te sie nicht hart in die Luft, son­dern hob sie nur, als ver­scheuch­te sie eine Flie­ge.

Der Veil­chen­tisch merk­te erst auf, als sie dicht da­vor stand und das »Heil Hit­ler« sich mit dem Mäd­chen­la­chen ver­misch­te.

Die Mäd­chen be­gan­nen er­schro­cken, sich mit ih­ren Tel­lern zu be­schäf­ti­gen. Ei­ni­ge mur­mel­ten lei­se, nur Emi­lie stand mit er­ho­be­nem Arm auf und schmet­ter­te laut den Gruß.

»So ist’s rich­tig«, sag­te Frau March huld­voll. »Zu der Ju­gend ge­hört Fröh­lich­keit. – Wor­über habt ihr euch un­ter­hal­ten?«

Emi­lie stand noch im­mer, ihr halb­of­fe­ner Mund run­de­te sich, als ver­such­te er, Wor­te zu for­men, die das Ge­hirn noch nicht klar vor­ge­zeich­net hat­te.

Aber Frau March wand­te sich an Eli­sa­beth:

»Nun er­zähl, wor­über habt ihr ge­spro­chen?«

Eli­sa­beth er­hob sich halb von ih­rem Ses­sel, ihre brau­nen Au­gen rich­te­ten sich in ih­rer kla­ren Of­fen­heit, die ihr die Zu­nei­gung ih­rer Vor­ge­setz­ten ge­wann, auf Frau March.

»Über Hans Al­bers«, sag­te sie und lä­chel­te et­was ver­schämt.

Die Ta­fel­run­de at­me­te be­freit auf.

»Na, ihr seid doch im­mer die glei­chen Dumm­chen. Wir le­ben in ei­ner großen Zeit, und ihr merkt nichts da­von.«

Frau March ging nach­sich­tig lä­chelnd wei­ter.

Das Rau­schen ih­res Klei­des brach­te lang­sam über­all das La­chen und Durchein­an­der im Saal zum Ver­stum­men.

Erst als sie schon längst fort war, rief Gil­da:

»Emi­lie hät­te an­ders geant­wor­tet.«

»Ach was, Eli­sa­beth ge­hört doch zu Frau March, die sich mit dem Di­rek­tor Lanz zu­sam­men nur dar­über den Kopf zer­bricht, wen sie von uns fort­schi­cken soll. Ich will über­haupt nichts mehr re­den, ich habe ja auch nie was ge­sagt. Ich habe be­merkt, wie prü­fend mich im­mer die March an­sieht, wenn ich müde bin. Sie lau­ert nur dar­auf, dass man ir­gend­ein Wort sagt, das ei­nem scha­den könn­te. Man weiß auch nicht, was die Eli­sa­beth spricht, wenn wir nicht da­bei sind.«

»Mar­tha, ich glau­be wirk­lich, du bist zu müde, als dass du noch wüss­test, was du da­her­re­dest. Das ist eine ganz große Ge­mein­heit, aber ich küm­me­re mich nicht mehr dar­um, was ihr zu­sam­men­me­ckert. Ich sage euch et­was: Über­mor­gen ist Sonn­tag.«

Plötz­lich lief über die wei­ten Flä­chen der Wan­gen, der schma­len Gracht zwi­schen den Au­gen ein leuch­ten­des Lä­cheln.

Noch ein­mal sag­te sie vor sich hin: »Über­mor­gen ist Sonn­tag.«

Til­ly starr­te sie auf­merk­sam an: »Eli­sa­beth, du bist ja ver­liebt – hört mal, Eli­sa­beth We­ber, das deut­sche Hel­den­mäd­chen, ist ver­liebt. Ich sage euch das, ich, Til­ly.«

Plötz­lich treibt ein lan­gan­hal­ten­des Klin­gel­zei­chen die Mäd­chen­schar wie ein Wir­bel­wind durch­ein­an­der. Eine neue Schicht kommt, die alte geht.

»Sechs Stun­den noch bis zum Ende«, flüs­ter­te Mar­tha.

»Ach ja, aber über­mor­gen ist Sonn­tag.«

»Sechs Stun­den noch, wann wer­den sie ein Ende neh­men?«

»Ach, Sonn­tag, bald ist wie­der Sonn­tag!«

Die NS-Frau­en­schaft war die dem Kreis­lei­ter un­ter­stell­te Frau­en­or­ga­ni­sa­ti­on der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ar­bei­ter­par­tei.  <<<

Drittes Kapitel.

Marschmusik unter blühenden Kastanien

Der Sonn­tag kam, ein Sonn­tag, ge­nau wie ihn sich Eli­sa­beth und Er­win er­sehnt und er­wünscht ha­ben.

Hof­fent­lich wird es nicht reg­nen, dach­te Er­win, wäh­rend er Kon­ten nach­schlug, Un­ter­schrif­ten ver­glich und Zah­len­rei­hen zu­sam­men­rech­ne­te. Hof­fent­lich wird es nicht reg­nen. Nicht als ob ihn selbst et­was stör­te, wenn es goss, das Un­wet­ter möch­te er se­hen, das ihn hin­dern könn­te, eine Verab­re­dung ein­zu­hal­ten. Aber die Mäd­chen, und selbst die bei Hit­ler, sind so zim­per­lich und ha­ben Angst um ihre Klei­der und Hüte. Und wenn es reg­net, den­ken sie gar nicht mehr an den Treff im Tier­gar­ten und ge­hen ein­fach ins Kino mit dem ers­ten bes­ten, der in der Nähe ist.

Der Pro­ku­rist Mel­chi­or brüll­te ihn an: »Was ist end­lich mit dem Kon­to Haus­wirt und Haas? Ich möch­te nur wis­sen, Herr Dob­bi­en, wo Sie ei­gent­lich im­mer Ihren Kopf ha­ben.«

Wenn das end­lich ein Ende neh­men wür­de, die Kon­ten und die Zah­len­rei­hen und der Herr Mel­chi­or mit sei­nem Ge­brüll! –

Wenn es nur nicht reg­net am Sonn­tag. Eli­sa­beth knie­te vor ei­ner Dame, der sie die Schu­he an­pass­te, als be­te­te sie. Auch ihr Ge­sicht drück­te in­brüns­ti­ges Fle­hen aus.

Vi­el­leicht hat er die Verab­re­dung schon längst ver­ges­sen. Man weiß doch, wie die Män­ner sind. Aus dem Auge, aus dem Sinn! Ich wür­de na­tür­lich auch hin­ge­hen, wenn es reg­ne­te. Aber im Re­gen ver­geb­lich zu war­ten, das ist scheuß­lich. Nicht, als ob ich Angst hät­te vor dem Re­gen, aber es wäre doch so trost­los.

Aber die Be­fürch­tun­gen wa­ren über­flüs­sig. Der Sonn­tag im Tier­gar­ten war schön. Blaus­ei­den fiel der Him­mel auf den grün­sam­te­nen Ra­sen. Das war ein ge­pfleg­ter Ra­sen, wie ge­duscht und ra­siert. Mit bun­ten Blu­men be­stickt. Wie schön ist der Tier­gar­ten, den­ken bei­de. Sie ha­ben ein biss­chen Angst, sie könn­ten sich nicht gleich wie­der­er­ken­nen.

Sie brau­chen die bron­ze­nen Hir­sche, die die Zeit mit grü­nen Fin­gern ganz sach­te be­rührt hat­te, nicht war­tend zu um­krei­sen. Bei­de sind vor der ver­ab­re­de­ten Zeit da.

Aber wie soll­ten sie sich nicht wie­der­er­ken­nen! Sie ken­nen sich nicht seit ei­ni­gen Ta­gen, sie ken­nen sich seit ewi­gen Zei­ten.

»Sie se­hen heu­te so mäd­chen­haft aus«, sag­te der Jun­ge und nahm die Hand Eli­sa­beths.

Sie trug ein ge­blüm­tes Or­gan­dy­kleid – der Stoff war aus dem Aus­ver­kauf, und beim Zuschnei­den hat­te ihr Gil­da ge­hol­fen. Bis jetzt hat­te sie sich nicht viel aus Klei­dern ge­macht, es war ihr gleich, wie sie aus­sah, aber jetzt war das an­ders. Doch sie war auch heu­te ohne Hut. Hüte wa­ren so spie­ßig! So bür­ger­lich!