Ellingham Academy (Band 2) - Die geheimnisvolle Treppe - Maureen Johnson - E-Book

Ellingham Academy (Band 2) - Die geheimnisvolle Treppe E-Book

Maureen Johnson

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Beschreibung

Willkommen zurück an der Ellingham Academy! Endlich hat Stevie einen entscheidenden Hinweis auf den Schreiber des Erpresserbriefes gefunden, der sich hinter dem Namen Wahrhaftiger Lügner verbirgt. Aber nach dem tragischen Unfall eines Mitschülers nehmen ihre Eltern sie von der Schule. Stevie würde alles dafür tun, zur Ellingham Academy zurückzukehren und den Entführer von Alice zu finden. Selbst einen Deal mit dem Teufel eingehen - oder Davids Vater Edward King ... Ein toter Star. Ein entführtes Mädchen. Eine verschwundene Mitschülerin. Bei dem Versuch, die berühmte Ellingham-Affäre zu lösen, stößt Stevie Bell auf mehr Fragen als Antworten. Doch zunächst muss sie das Verschwinden ihrer Freundin Ellie aufklären. Gemeinsam mit David macht sie sich auf die Suche nach ihr und stößt dabei auf einen versteckten Gang im Internat. Welche Geheimnisse sind noch hinter den Mauern der Ellingham Academy verborgen? Spannend und humorvoll taucht Maureen Johnson wieder in die atmosphärische Internatswelt der Ellingham Academy ein und liefert schaurigen Nervenkitzel im Stil von Agatha Christie. Ein Muss für alle Krimi-Fans ab 13 Jahren! Die geheimnisvolle Treppe ist der zweite Band der Mystery-TrilogieElligham Academy.

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Inhalt

13. April 1936, 21:00 Uhr

  1 – Wenn es bei …

  2 – In Geschichten kam …

14. April 1936, 2:00 Uhr

  3 – Etwa eine Stunde …

  4 – Manchmal, wenn sie …

  5 – Mitarbeiter des Hausmeisterteams …

14. April 1936, 3:00 Uhr

  6 – Die Villa würde …

  7 – Soweit Stevie wusste …

  8 – In der Detektivarbeit …

14. April 1936, 6:00 Uhr

  9 – Und wieder das …

10 – Wer wird zum …

11 – »Der Begriff ›Anatomie‹« …

12 – Langsam rückte Halloween …

13 – Um sechs, als …

14 – Stevie war schon …

15 – »David«, sagte Stevie …

16 – Als Larry und …

17 – Am nächsten Morgen …

18 – »Also«, fasste Nate …

19 – »Was ist deine …

30. Oktober 1938, 13:00 Uhr

20 – Da Larry seit …

21 – »Ach, hi«, sagte …

22 – Stevie träumte. Aber …

23 – »Okay.« Janelle schnallte …

30. Oktober 1938, 17:00 Uhr

24 – Stevie saß auf dem …

30. Oktober 1938, 18:00 Uhr

25 – »Warum schreibst du …

Für alle Murderinos. SSDGM.

Wo sucht man den, der nie wirklich ist da?Auf der Treppe, nicht Stufe, das ist doch klar!

Rätsel, gefunden auf Albert Ellinghams Schreibtischam 30. Oktober 1938 – seinem Todestag

13. April 1936, 21:00 Uhr

»Hat jemand Dottie gesehen?«

Miss Nelson, die Hauslehrerin von Minerva, blickte sich fragend um. Es war Frühling, aber immer noch kalt oben auf dem Berg, und sämtliche Hausbewohner hatten sich am Kamin im Gemeinschaftsraum versammelt.

»Vielleicht ist sie ja bei der Schulkrankenschwester«, sagte Gertie van Coevorden. »Damit sie was gegen dieses unsägliche Geschniefe unternimmt. Wenn das so weitergeht, steckt Dottie uns noch alle an. Widerlich. Ich bin demnächst bei den Astors eingeladen, da darf ich doch nicht krank werden.«

Gertie van Coevorden war die vermutlich reichste Schülerin der Ellingham Academy; sie zählte zwei Astors und einen Roosevelt zu ihren Vorfahren, was sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnte.

»Gertrude«, tadelte Miss Nelson.

»Wenn es doch stimmt?«, wehrte sich Gertie. »Es muss einfach mal gesagt werden, jetzt, wo sie nicht hier ist. Dieses Schniefen ist grauenhaft und dann wischt sie sich auch noch die Nase am Ärmel ab. Ich weiß ja, wir sollen diese Menschen wie unseresgleichen behandeln, aber …«

Diese Menschen waren die zehn oder elf cleveren jungen Leute aus bescheidenen Verhältnissen, die Albert Ellingham als Teil seines Spiels – Arm und Reich zusammenzubringen – an die Academy geholt hatte.

»Dann halte dich bitte auch daran«, entgegnete Miss Nelson.

»Na ja, natürlich ist sie nicht dumm …«

Eine maßlose Untertreibung. Dottie Epstein steckte jeden durchschnittlichen Professor mit Leichtigkeit in die Tasche.

»… aber es ist wirklich schrecklich. Ich meine ja nur …«

»Gertrude.« Miss Nelson schien am Ende ihrer Geduld. »Das reicht jetzt.«

Gertie rümpfte die Nase und wandte sich wieder ihrem Photoplay-Magazin zu. Auf der anderen Seite des Kamins hob Francis Josephine Crane, die zweitreichste Ellingham-Schülerin, den Kopf. In ihre Chinchilladecke gehüllt, las sie parallel in ihrem Chemiebuch und der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Wahre Verbrechen. Dennoch entging ihr nichts von dem Geschehen ringsum.

Francis stammte wie Gertie aus New York. Sie war sechzehn und die Tochter von Louis und Albertine Crane, den berühmten Mehlfabrikanten. (Amerikas beliebtestes Mehl! Mit Crane Mehl schlägt der Kuchen nie fehl!) Ihre Eltern waren gut mit Albert Ellingham befreundet, und als dieser sein Internat eröffnete und auf der Suche nach Schülern war, wurde Francis kurzerhand nach Vermont chauffiert, mitsamt einem Lieferwagen voller Schrankkoffer, die jegliche nur erdenklichen Luxusgüter enthielten. Hier oben in Vermont, mit seinen Schneestürmen und dem angenehmen Verhältnis zwischen geradezu obszön Reichen und hilfsbedürftigen Armen, fanden Francis’ Eltern, war ihre Tochter gut aufgehoben. Francis selbst sah das anders, aber ihre Meinung war nicht gefragt.

Francis, die sich nie für ein Schwätzchen mit dem Personal zu schade war, wusste, dass Gertie zwar dem Namen nach mit den Astors und Roosevelts verwandt, in Wahrheit jedoch die Tochter eines gut aussehenden Barkeepers aus dem Central Park Casino war. Dort vertrieben sich die gelangweilten Damen aus New Yorks feiner Gesellschaft gern die Nachmittage mit dem einen oder anderen Drink … und offenbar auch noch weiteren Vergnügungen. Weder Gertie noch ihr Vater wussten davon. Francis hob sich diese nützliche kleine Information sorgfältig für den richtigen Zeitpunkt auf. Denn der kam in derlei Angelegenheiten immer.

Francis war reich und klug genug, um sich nicht mehr um Besitztümer zu scheren. Ihr Interesse galt Geheimnissen. Die waren wirklich etwas wert.

»Also hat niemand Dottie gesehen?«, fragte Miss Nelson erneut und nestelte nervös an ihren Ohrsteckern. »Dann lasse ich wohl mal jemanden in der Bibliothek nachschauen. Wahrscheinlich ist sie dort und hat die Zeit vergessen.«

Francis wusste, dass Dottie Epstein nicht in der Bibliothek war, noch vor wenigen Stunden hatte sie sie nämlich in den Wald huschen sehen. Dottie war ein seltsames, scheues Wesen, das sich oft mit einem Buch an den entlegensten Orten verkroch. Aber Francis hielt den Mund, weil sie nun mal ungern mit Fragen gelöchert wurde und außerdem der Meinung war, dass Dottie jedes Recht hatte, allein zu sein, wenn ihr der Sinn danach stand.

In Miss Nelsons Wohnung klingelte das Telefon und die Lehrerin machte sich auf den Weg nach oben. Vielleicht lag es am schwermütig wabernden Nebel vor den Fenstern oder daran, dass Dottie selten so lange wegblieb – aber irgendetwas zupfte an Francis’ rastloser Fantasie. Sie legte die Zeitschrift in ihr Chemiebuch, klappte es zu und stand auf.

»Ach, wenn du in dein Zimmer gehst, gib mir doch deine Decke, ja?«, forderte Gertie sie auf. »Ich habe keine Lust, mir meine zu holen.«

Francis nahm mit einer Hand ihre Chinchilladecke und ließ sie im Vorbeischlendern in Gerties Schoß fallen. Durch den dunklen Flur ging sie Richtung Turmbadezimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und stieg vorsichtig auf den Toilettensitz, um von dort aufs Fensterbrett zu gelangen. Ein schwieriges Unterfangen – der kalte Marmor war kaum breit genug für ihren halben Fuß, und wenn sie das Gleichgewicht verlor, würde sie stürzen und sich womöglich an der Toilette oder am Boden den Kopf aufschlagen. Sie krallte die Finger um den Fensterrahmen und klammerte sich mit aller Kraft fest. So gelangte sie in die Nähe des kleinen Lüftungsschachts in der Decke und durch diesen Lüftungsschacht war, wenn auch nur gedämpft, das Telefonat über ihr zu hören.

Francis reckte ihr Ohr in Richtung Decke und versuchte zu verstehen, was Miss Nelson sagte. Sofort fiel ihr der schrille, erschrockene Unterton in ihrer Stimme auf.

»Mein Gott«, sagte Miss Nelson. »Mein Gott, wann …?«

Miss Nelson, die an der Smith University studiert hatte und Biologie unterrichtete, neigte keineswegs zur Dramatik. Sie war für gewöhnlich sehr beherrscht, eine gepflegte, attraktive Frau mit glänzendem kastanienbraunem Haar, die stets dieselben teuer aussehenden Diamantohrringe trug und dazu eine kleine Auswahl verschiedener Kleider kombinierte. Wie alle Angestellten der Ellingham Academy war sie überaus kompetent und klug.

Jetzt jedoch klang sie geradezu panisch.

»Aber die Polizei … ja, ich verstehe.«

Polizei?

»Ich komme, sobald die Mädchen schlafen. Ich schicke sie sofort ins Bett. Bis gleich.«

Mit einem Knall landete der Hörer auf der Gabel. Francis stieg von ihrem Lauschposten und war gerade rechtzeitig zu Miss Nelsons Rückkehr wieder im Gemeinschaftsraum. Die Lehrerin gab sich sichtlich Mühe, gefasst zu wirken, doch das aufgeregte Funkeln in ihrem Blick und ihre geröteten Wangen verrieten sie. Sie ging zur Tür und ihre Hand zitterte leicht, als sie den dicken Eisenriegel vorschob.

»Schlafenszeit, meine Damen«, verkündete sie.

»Wo ist Dottie denn nun?«, fragte Gertie.

»Du hattest recht. Sie wird die Nacht auf der Krankenstation verbringen. Und jetzt ab ins Bett.«

»Es ist doch erst fünf vor zehn«, protestierte Agnes Renfelt. »Ich wollte mir noch eine Radiosendung anhören.«

»Das kannst du genauso gut in deinem Zimmer«, erwiderte Miss Nelson.

Francis ging ebenfalls auf ihr Zimmer, die Nummer zwei. Dort tauschte sie ihr Kleid gegen eine schwarze Wollhose und einen grauen Skipullover. Aus der obersten Kommodenschublade nahm sie eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer und steckte sie in die Tasche. Dann setzte sie sich auf den Boden, legte das Ohr an die Tür und wartete.

Etwa zwei Stunden später hörte Francis Schritte. Sie öffnete vorsichtig die Tür und sah Miss Nelson auf der Wendeltreppe am Ende des Flurs. Nach einem Blick auf die Leuchtzeiger ihres Weckers beschloss Francis, ihrer Lehrerin zehn Minuten Vorsprung zu geben. Nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Als die zehn Minuten verstrichen waren, huschte sie aus ihrem Zimmer und schlüpfte hinter die holzverkleidete Treppe. Francis war eines Nachts, als sie Miss Nelson nachspioniert hatte, auf ein Geheimnis gestoßen. Es hatte Wochen gedauert, bis sie hinter den Trick gekommen war, aber schließlich hatte sie herausgefunden, dass, wenn man an einer bestimmten Stelle auf das Holz drückte, ein winziger Griff aus der Wand sprang. Zog man daran, öffnete sich ein Durchgang zu einer kleinen Kammer innerhalb der Treppe. Sie war leer, aber wenn man genau hinsah, konnte man die Umrisse einer Luke im Boden erkennen. Und heute stand diese Luke offen. Normalerweise achtete Miss Nelson sorgfältig darauf, sie hinter sich zu schließen.

Unter der Luke gähnte ein dunkles, schroffes Loch mit einer Leiter, die scheinbar ins Nichts führte. Francis hatte all ihren Mut aufbringen müssen, bevor sie sich das erste Mal hinabgetraut hatte. Mittlerweile jedoch wusste sie, dass sie sich Sprosse für Sprosse nach unten tasten musste, jedes Mal nur den Fußballen aufsetzen, erst dann auch die Ferse, wenn sie den Boden erreicht hatte.

Wie zuvor fand Francis sich in einem engen Gang aus grob behauenem Stein wieder, gerade hoch und breit genug für eine Person. Sie kam sich vor wie in einer Gruft – was für sie kein gänzlich unangenehmes Gefühl war. Mit etwas Mühe hob sie den Arm und zündete ihre Kerze an. Der Schwefelgestank des Streichholzes erfüllte den Tunnel.

Dann ging sie los.

EXKLUSIVER BATT-BERICHT

15. OKTOBER

Zweite Ellingham-Schülerin spurlos verschwunden. Zusammenhang mit Hayes Majors Tod nicht auszuschließen.

Im Fall des kürzlich verstorbenen Hayes Major gibt es neue Entwicklungen. Wie den meisten Lesern bekannt sein dürfte, ist Major, der Schöpfer der erfolgreichen YouTube-Serie Das Ende von allem, ums Leben gekommen, während er an einer Videoproduktion über die Entführung und die Morde arbeitete, die sich im Jahr 1936 an der Ellingham Academy ereignet haben. Der Star war bei Dreharbeiten in einem Tunnel einer tödlichen Konzentration von Kohlendioxid ausgesetzt.

Die Polizei hat den Tod des Schülers offiziell zum Unfall erklärt – es scheint, als habe Major eine erhebliche Menge Trockeneis einsetzen wollen, um einen Nebeleffekt für eine der Szenen zu erzielen –, aber ist der Fall damit wirklich abgeschlossen?

Die junge Detektivin und Ellingham-Schülerin Stephanie (genannt Stevie) Bell ist anderer Meinung und hat die Ermittlungen nun selbst in die Hand genommen. Bell hat ihren Platz an der Academy erhalten, weil sie als Expertin für den Entführungsfall von 1936 gilt. Sie ist überzeugt, dass Major das Trockeneis nicht selbst im Tunnel deponiert hat und somit durch Verschulden einer anderen Person – sei es versehentlich oder mit voller Absicht – zu Tode gekommen ist. Außerdem konnte sie in Erfahrung bringen, dass Major seine Erfolgsserie nicht selbst geschrieben hat, obwohl er dies vorgab.

Bell hatte sich zuvor mit der Bitte um Fotos, die an Majors Todestag aufgenommen wurden, an mich gewandt. Nach Auswertung der Bilder benannte Bell ihre Mitschülerin Element Walker als Urheberin von Das Ende von allem und bezichtigte sie, in Majors Tod verwickelt zu sein. Nachdem Bell Walker mit ihren Vorwürfen konfrontiert hatte, wurde schließlich die Schulverwaltung verständigt. Die beiden Mädchen, die, wie zuvor auch Major, im Haus Minerva wohnten, wurden zusammen mit den restlichen Bewohnern vorübergehend in der Ellingham-Villa untergebracht.

Dort nahmen die Ereignisse eine unerwartete und verwirrende Wendung.

Zeugen, die in jener Nacht in der Villa anwesend waren, bestätigten, dass Element Walker zunächst befragt wurde, bevor man beschloss, einen Anwalt und schließlich die Polizei einzuschalten. Walker wurde allein bei verschlossener Tür im ehemaligen Arbeitszimmer Albert Ellinghams zurückgelassen. Als die Tür wieder geöffnet wurde, war Walker verschwunden und wurde seither nicht mehr gesehen. Einige Zeugen berichteten, sie könne durch eine Geheimtür in der Wand geflüchtet sein.

Was die Frage aufwirft: Wohin kann Element Walker mitten in der Nacht verschwunden sein, völlig unvorbereitet, ohne Verpflegung oder Auto? Die Ellingham Academy liegt abgeschieden auf einem Berg. Wie ist Element entkommen? Hatte sie einen Komplizen auf dem Schulgelände? Woher wusste sie von dem Geheimgang? Ist sie überhaupt in Majors Tod verwickelt oder nur aus Angst geflohen?

Durch ihr Verschwinden wird dieser rätselhafte Fall nur noch mysteriöser.

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Wenn es bei ihr zu Hause in Pittsburgh etwas gab, was Stevie Bell an die Ellingham Academy erinnerte, dann das Café Funky Munkee. Es war ein Relikt aus den Neunzigern, mit einem Eingangsschild in einer total abgefahrenen Schriftart, wie sie damals gern für Festivalflyer verwendet worden war. Jede Wand war in einer anderen leuchtenden Primärfarbe gestrichen. Im Hintergrund lief immer derselbe unaufdringliche Gitarrensound. Es gab auf Leinwand aufgezogene Nahaufnahmen von Kaffeebohnen, Topfpflanzen, wackelige Bistrotischchen und übergroße Tassen. Nichts davon fand man an der Ellingham.

Was sie jedoch mochte und das Café so ellinghamig machte, war die Tatsache, dass es nicht das Haus ihrer Eltern war und niemand sie hier störte.

Allein in dieser Woche war sie jeden Tag hier gewesen und hatte jedes Mal den kleinsten, billigsten Kaffee bestellt, mit dem sie sich ins Hinterzimmer verzog. Der Raum mit den rot gestrichenen Wänden war duster und schmuddelig und die Tischplatten klebten. Niemand wollte dort sitzen, was genau der Grund war, warum er Stevie so gut gefiel. Das hier war jetzt ihr Büro. Wenn sie versuchte, zu Hause zu arbeiten, konnten jederzeit ihre Eltern hereinplatzen. Hier war sie zwar in der Öffentlichkeit, aber niemand beachtete sie oder interessierte sich für das, was sie machte.

Sie stöpselte ihre Ohrhörer ein, ließ aber keine Musik laufen – sie benutzte sie bloß als Schalldämpfer. Dann hob sie ihren Rucksack auf den Tisch und zog den Reißverschluss auf. Zunächst nahm sie ein paar Einweghandschuhe heraus, die sie noch am Tag ihrer Rückkehr in der Drogerie gekauft hatte. Möglicherweise eine etwas übertriebene Vorsichtsmaßnahme, aber schaden konnte es auch nicht. Mit einem lauten Schnalzen streifte sie sie über. Sie mochte das Geräusch. Dann griff sie mit beiden Händen tief in ihren Rucksack und förderte eine kleine, verbeulte Teedose zutage.

Die Dose war zu wertvoll, um sie zu Hause zu lassen. Wenn man etwas von historischer Bedeutung fand, ließ man es besser nicht aus den Augen. Also nahm Stevie das Kästchen überall mit hin – tagsüber schloss sie es in ihrem Spind ein und zu Hause blieb es im Rucksack. Auch wenn sie unterwegs war, griff sie hin und wieder hinter sich und tastete danach, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.

Die Dose war rot und rechteckig, hatte mehrere große Dellen und war etwas angerostet an den Kanten. »Old English Tea Bags« stand darauf. Vorsichtig ruckelte Stevie den klemmenden Deckel los, unter dem eine zerrupfte weiße Feder, ein perlenbestickter Stofffetzen, eine angelaufene, goldene Hülse mit dem mumifizierten Überrest eines roten Lippenstifts darin und ein Mini-Pillendöschen aus Emaille in Form eines Schuhs zum Vorschein kamen. Außerdem waren noch ein paar herausgerissene Notizbuchseiten, einige Schwarz-Weiß-Fotografien und ein unvollendeter Gedichtentwurf in der Dose.

Dieses wenig beeindruckende Sammelsurium lieferte die ersten echten Beweisstücke seit über achtzig Jahren im Fall der Ellingham-Entführung. Und als Stevie sie entdeckt hatte, waren im selben Moment alle ihre Träume zu Staub zerfallen.

Ellingham. Ihre alte Schule. Die Ellingham Academy, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Und an die sie es schließlich geschafft hatte, wenn auch nur für kurze Zeit. Ellingham, ein Kapitel, das nun hinter ihr lag.

Niemand in Pittsburgh hatte eine Ahnung davon, was genau Stevie an der Academy passiert war. Sie wussten lediglich, dass sie kurz an irgendeine berühmte Schule gewechselt hatte und ein paar Wochen später, nachdem dort dieser YouTuber bei einem Unfall gestorben war, wieder nach Hause gekommen war.

Tatsächlich war Hayes Majors Tod mehr oder weniger der Grund für Stevies Abschied gewesen. Aber die Person, die letztendlich dafür gesorgt hatte, dass Stevies Eltern sie wieder nach Hause geholt hatten, war Germaine Batt gewesen, auch wenn es nicht ihre Absicht gewesen war.

Jeder an der Ellingham hatte sein Spezialgebiet und Germaines war der Journalismus. Vor Hayes’ Tod hatte sie eine kleine Website und eine bescheidene Anhängerschaft gehabt. Aber Katastrophen waren in ihrem Metier nun mal hervorragend fürs Geschäft. »Ein Spritzer Blut ist immer gut«, wie man so schön sagte. (Wer jetzt genau »man« war … Stevie war sich nicht sicher. Die Leute eben. Grausame, düstere, schreckliche Geschichten zogen immer die meiste Aufmerksamkeit auf sich, weswegen immer nur über Schlimmes berichtet wurde. Wenn etwas glattlief, war es den Leuten egal. »Nachrichten« war gleichbedeutend mit »schlechte Nachrichten«.)

Der Artikel, der Stevie zum Verhängnis wurde, war noch am selben Tag erschienen, nachdem sie Element Walker vorgeworfen hatte, die wahre Autorin von Das Ende von allem zu sein. Stevie hatte gewusst, dass Ellie Hayes’ Laptop entwendet und unter der Badewanne in Haus Minerva versteckt hatte. Genau wie ihr klar gewesen war, dass Hayes nicht derjenige gewesen sein konnte, der mithilfe von Janelles Chipkarte das Trockeneis besorgt hatte, das ihn schließlich töten sollte. Und dass Hayes die Serie, die ihn berühmt gemacht und ihm ein Filmangebot eingebracht hatte, nicht selbst geschrieben hatte. Sondern Ellie.

Mehr hatte Stevie in der fraglichen Nacht gar nicht aufdecken wollen. Nachdem Stevie Ellie in Haus Minerva konfrontiert hatte, war diese in der Villa von Larry weiter befragt worden. Und dann war sie aus dem verschlossenen Raum verschwunden. Einfach so. Zack. Sie war durch die Wand in Albert Ellinghams Arbeitszimmer in einen geheimen Tunnel geflüchtet und von dort aus … nach draußen. Sie war weg. Wer weiß, wo.

Diese Informationen gab die Schule natürlich nicht an die Öffentlichkeit weiter. Offiziell wurde Ellie nichts vorgeworfen. Sie war bloß eine Schülerin, die aus dem Internat ausgerissen war. Aber Stevies Eltern hatten sich nach Hayes’ Tod einen Google-Alert für die Ellingham eingerichtet und so durch den Batt-Bericht von Stevies Nachforschungen und der möglichen Mörderin auf der Flucht erfahren. Zwei Stunden nachdem Germaines Artikel online gegangen war, hatte Stevies Handy geklingelt und zehn Stunden später kamen ihre Eltern die Auffahrt hochgerast, trotz des strikten Verbots für auswärtige Fahrzeuge auf dem Schulgelände. Nach einer bereits tränenreichen Nacht weinte Stevie den halben Weg bis nach Pittsburgh weiter, stumm und ohne Pause. Dann starrte sie aus dem Autofenster, bis sie einschlief. Am Montag darauf saß sie mit einem hastig zusammenwürfelten Stundenplan in ihrer alten Highschool.

Sie durfte einfach nicht zu oft an die Ellingham denken – die altehrwürdigen Gebäude, die frische Luft, die Freiheit, die Abenteuer, die Leute …

Bloß nicht an die Leute denken.

Klar konnte sie ihren Freunden Janelle und Nate schreiben. Hauptsächlich Janelle. Und hauptsächlich schrieb Janelle ihr, Dutzende Nachrichten am Tag, in denen sie sich erkundigte, wie es ihr ging. Stevie konnte sich nur bei jeder dritten oder vierten zu einer Antwort durchringen, denn wenn sie das tat, war die Sehnsucht zu groß. Danach, Janelle auf dem Flur zu begegnen, ihr im Gemeinschaftsraum oder am Esstisch gegenüberzusitzen. Danach, ihre Freundin stets auf der anderen Seite der Wand zu wissen, wenn sie im Bett lag. Janelle, die immer nach Zitrone oder Orange duftete, eins ihrer zahlreichen bunten Tücher um die Haare geschlungen, wenn sie in der Werkstatt arbeitete. Janelle war eine Bastlerin, sie stellte Miniroboter und andere Geräte her und baute gerade an einer Rube-Goldberg-Maschine für den Sendel-Waxman-Wettbewerb. Aus ihren Nachrichten klang heraus, dass sie seit Stevies Weggang wesentlich mehr Zeit an der Werkbank verbrachte und dass es zwischen ihr und Vi Harper-Tomo langsam ernst wurde. Janelle führte ein erfülltes Leben, an dem sie Stevie teilhaben lassen wollte, aber Stevie kam sich vor, als stünde sie draußen in der Kälte, und hier, in diesem Einkaufszentrum mit dem Subway und dem Bier- und Zigarettenladen und dem Funky Munkee, erschien das alles so unwirklich.

Wenigstens war ihr die Dose geblieben, und solange sie die hatte, hatte sie auch den Ellingham-Fall.

Stevie hatte sie kurz vor ihrem Weggang in Ellies Zimmer entdeckt und sie mithilfe von Bildern aus dem Netz zeitlich eingeordnet: Sie musste aus den Jahren zwischen 1925 und 1940 stammen. Die Teemarke war damals sehr beliebt und überall erhältlich gewesen. Die Feder maß etwa zehn Zentimeter und sah aus, als wäre sie mal an einem Kleidungsstück befestigt gewesen. Das Stoffstück war ungefähr fünf mal fünf Zentimeter groß und leuchtend blau, mit silbernen, blauen und schwarzen Perlen bestickt und wies ausgerissene Ränder auf. Noch so ein Überbleibsel. In die Hülse des Lippenstifts war das Wort »kussecht« geprägt. Er war benutzt, aber nicht ganz aufgebraucht. Das Pillendöschen war das Einzige, was möglicherweise von Wert war. Es war etwas über fünf Zentimeter lang und leer.

Die vier Objekte verband, dass es sich um mehr oder weniger persönliche Gegenstände handelte, die grob in die Kategorien Schönheitsaccessoires oder Kleidung fielen. Die Feder und das Stoffstück waren eigentlich Müll, was die Frage aufwarf, warum jemand sie überhaupt aufgehoben hatte. Alles hatte höchstwahrscheinlich einer Frau gehört. In jedem Fall mussten die Sachen der Person, die sie in der Dose aufbewahrt hatte, wichtig gewesen sein.

Vermutlich war jedoch der restliche Doseninhalt von größerer Bedeutung. Zunächst mal die Fotos von dem Paar, das als Bonnie und Clyde posierte. Stevie starrte die beiden an, bis sie ihr vor den Augen verschwammen. Das Mädchen hatte dunkles Haar, akkurat zum Pagenkopf geschnitten. Der Junge ähnelte Lord Byron, dem Dichter. Die zwei hatten ein Gedicht über sich selbst geschrieben, aber wer waren sie? Ärgerlicherweise waren die ersten Ellingham-Schüler nirgendwo online verzeichnet. Sie wurden damals nicht als relevant für den Fall angesehen, darum hatten ihre Namen keine Rolle gespielt. Stevie hatte das Internet durchkämmt, jeden Thread in jedem Onlineforum dazu gelesen. Zur Zeit der Verbrechen und auch in den Jahren danach hatten mehrere Schüler Aussagen gemacht oder sich an die Presse gewandt. Am häufigsten tauchte eine Gertrude van Coevorden in den Protokollen auf, eine New Yorker Debütantin, die behauptete, Dottie Epsteins beste Freundin gewesen zu sein, und die nach den Entführungen wochenlang tränenreiche Interviews gegeben hatte. Aber nichts davon half Stevie weiter, um den Jungen und das Mädchen auf den Fotos zu identifizieren.

Und dann war da das Gedicht. Es war kein besonders gutes. Nicht mal ein vollendetes.

Die Ballade von Frankie und Edward

2. April 1936

Frankie und Edward hatten das Silber

Frankie und Edward hatten das Gold

Doch sie sahen das Spiel als das, was es war

Hatten nichts als die Wahrheit gewollt.

Frankie und Edward dienten keinem König

Sie lebten für die Kunst und die Liebe

Sie stürzten den Mann, der regierte das Land

Sie nahmen

Der König lebte hoch oben auf dem Berg

Auch im Spiel wollt’ er herrschen, der Narr

Also verrichteten Frankie und Edward ihr Werk

Und danach blieb nichts, wie es war.

Stevie kannte sich zwar nicht sonderlich gut mit Lyrik aus, aber dafür allerdings umso besser mit Kriminalfällen. Auch Bonnie Parker, die berüchtigte Gesetzlose aus den Dreißigerjahren, an deren Vorbild sich die Frankie auf diesen Bildern offenbar orientierte, hatte Gedichte geschrieben. In einem davon, das den Titel Die Geschichte von Suicide Sal trug, ging es um ein Gangsterliebchen. Diesem Gedicht schien Die Ballade von Frankie und Edward nachempfunden zu sein.

Einiges darin – der Narrenkönig auf dem Berg, die Spiele – deutete auf Albert Ellingham hin. Und Frankie und Edward verrichteten irgendein Werk, auch wenn das Gedicht nicht verriet, worin es bestand.

Nur eines brachte ein wenig Licht in die Sache: Die Polizeiverhöre der diversen Verdächtigen. Stevie hatte die Protokolle unzählige Male gelesen; sie hatte sogar eine E-Book-Sammlung davon auf ihrem Handy. Eine Passage hatte sie sich besonders markiert. Es war die, in der Leonard Holmes Nair, der berühmte Maler, der zur Zeit der Entführung bei den Ellinghams zu Gast gewesen war, einige Schüler beschrieb:

LHN:Ach, wissen Sie, die schwirren doch alle hier herum. Albert hatte ja das Ziel, diese Schule mit lauter kleinen Genies zu füllen, aber in Wirklichkeit sind die Hälfte der Schüler bloß die Kinder seiner Freunde und nicht besonders helle. Die zweite Hälfte könnte zu etwas mehr taugen. Es gab noch ein, zwei andere, die ein bisschen was auf dem Kasten hatten. Besonders ein Junge und ein Mädchen, die Namen habe ich vergessen. Schien ein Pärchen zu sein. Das Mädchen hatte rabenschwarze Haare und der Junge sah ein bisschen aus wie Lord Byron. Interessierten sich für Lyrik. Die hatten beide so ein Lodern in den Augen. Das Mädchen hat mich einmal nach Dorothy Parker gefragt, was ich als sehr positiv aufgefasst habe. Dorothy ist eine liebe Freundin.

Stevie hegte keinerlei Zweifel daran, dass es sich bei den von Leonard Holmes Nair beschriebenen Schülern um die zwei auf den Fotos handelte.

Und diese Fotos waren es auch, die den entscheidenden Hinweis enthielten – ganz buchstäblich.

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von ihrer Mom: Wo bist du?

Stevie seufzte.

Auf dem Nachhauseweg.

Beeil dich, kam die Antwort.

Es war gerade mal vier Uhr. An der Ellingham hatte Stevie frei über ihre Zeit verfügen können. Wann und was sie aß, wann und wo sie lernte, was sie zwischen zwei Unterrichtsstunden machte … das alles war allein ihre Sache gewesen. Niemand hatte ihr dabei über die Schulter geguckt. Aber jetzt musste sie sich wieder ihren Eltern unterordnen.

Sie trank ihren Kaffee aus und legte die Sachen vorsichtig zurück in die Dose. Dann machte sie sich mit eingestöpselten Ohrhörern auf den Weg. Es ging auf Halloween zu und alle Geschäfte und Wohnhäuser waren mit Kürbissen oder sonstiger Herbstdeko zugemüllt. Aber in der Luft lag noch ein kleiner Rest spätsommerlicher Milde, bevor wieder die Kälte zuschlagen würde.

Die Winter hier waren unerträglich.

Ihr Handy klingelte. Die Einzigen, die Stevie je anriefen, waren ihre Eltern und Janelle, daher war sie erstaunt, jetzt Nates Nummer auf dem Display zu sehen. Nate war keiner, der ohne Not zum Telefon greifen würde.

»Lass mich raten«, meldete sich Stevie. »Du schreibst gerade.«

Nate Fisher war Schriftsteller. Zumindest theoretisch.

Mit vierzehn hatte er Die Mondhell-Chroniken geschrieben. Zuerst war es nur ein Hobby gewesen, aber nachdem er Teile davon online veröffentlicht hatte, wurde das Buch immer beliebter, bis er eine beachtliche Fanschar angesammelt hatte und bei einem richtigen Verlag unterkam. Er war sogar schon auf Lesereise gewesen und im Frühstücksfernsehen aufgetreten. Dieser Erfolg hatte ihm die Annahme an der Ellingham beschert. Stevie hatte den Eindruck, dass Nate die Schule aus ziemlich den gleichen Gründen zu schätzen wusste wie sie – die Ellingham war ein abgelegener Ort, an dem man ihn in Ruhe ließ. Zu Hause hatten ihn alle als diesen jungen Schriftstellertypen gekannt. Dabei hasste er es, in der Öffentlichkeit zu stehen. Seine soziale Phobie machte jede Veranstaltung zum Albtraum. Die Ellingham dagegen war wie ein Zufluchtsort – dort war er weitab von allem und von Menschen umgeben, die sich ebenfalls für seltsame Sachen interessierten. Das Problem war nur: Eigentlich hätte er schon längst an der Fortsetzung schreiben sollen, aber die dachte gar nicht daran, sich schreiben zu lassen. Und so war Nate vollauf damit beschäftigt, der Arbeit am zweiten Band der Mondhell-Chroniken aus dem Weg zu gehen.

Was vermutlich auch der Grund war, warum er Stevie jetzt anrief.

»Läuft’s nicht gut?«, fragte sie.

»Du hast ja keine Ahnung.«

»So schlimm?«

»Müssen Bücher eigentlich zwingend einen Mittelteil haben?«, jammerte er.

»Ich würde sagen, das, was in der Mitte passiert, ist der Mittelteil«, antwortete Stevie.

»Und wenn es nur einen Anfang gibt, in dem ich mit ein paar schriftstellerischen Tricks – verschollene und zufällig wieder aufgetauchte Pergamente, ein betrunkener Barde, der in der Taverne mit Reisenden quatscht, und so – einfach alles noch mal erzähle, was in Band eins passiert ist, dann kommen zweihundert Seiten Fragezeichen und am Ende verrate ich, wo der Drache steckt?«

»Gibt es Kussszenen?«

»Ich hasse dich.«

»Kriegst du wirklich gar nichts zu Papier?«

»Stell dir einfach vor, dass ganz Mondhell gegen irgendwas kämpfen muss, und das Einzige, was mir dafür in den Sinn gekommen ist, ist ein Ding namens Pulsierender Norpus. Eine Wand, die wobbelt. Das Beste, was mir die ganze Woche eingefallen ist, ist eine Wobbelwand, die Pulsierender Norpus heißt. Kannst du bitte einfach wiederkommen und mich von meinem Elend erlösen?«

»Ich wünschte, ich könnte«, brummte Stevie und drückte an der Kreuzung auf den Ampelknopf. »Ich würde gern mal einem Pulsierenden Norpus begegnen.«

»Wie ist es bei dir?«, erkundigte er sich.

»Wie immer. Eltern sind Eltern. Schule ist Schule. Mir war vorher gar nicht klar, wie übel es da nach Mensamief und abgestandenem Spülwasser riecht. Die Ellingham duftet so schön nach Wald.«

Bei der Erinnerung durchzuckte Stevie ein heftiger Schmerz. Wie nach einem Schlag in die Magengrube.

»Und, wie geht’s den anderen?«, fragte sie rasch.

»Janelle hat nur Liebe und Elektrokram im Kopf. Und David, ach …«

Und David, ach. Nate hielt so lange inne, bis Stevie klar wurde, dass da irgendwas im Busch war. Nur Janelle wusste halbwegs Bescheid – darüber, dass zwischen Stevie und David Eastman etwas gelaufen war. David war ein nerviger Typ. Er kam aus reichen Verhältnissen, trug aber mit Vorliebe besonders schäbige Klamotten. Der Umgang mit ihm war schwierig. Angeblich war er Programmierer, aber seine besondere Fähigkeit, die ihn an die Academy gebracht hatte, hielt er strikt vor allen verborgen. Was er mochte, waren Computerspiele, den Unterricht schwänzen, nicht über seine Vergangenheit reden …

Und Stevie.

Janelle wusste, dass David und Stevie sich mehrmals geküsst hatten, was sich offenbar auch Nate inzwischen zusammengereimt hatte; die Details schienen ihn nicht zu interessieren, aber die Tatsachen lagen auf der Hand. Allerdings gab es etwas, was weder Janelle noch Nate über David wussten. Etwas, was Stevie tunlichst geheim hielt. Etwas Unaussprechliches.

»Was ist mit David?«, fragte Stevie, ihrerseits bemüht, nicht zu interessiert zu klingen.

»Nichts. Ich sollte dann wohl mal wieder …«

Stevie hatte den Verdacht, dass Nate nicht etwa auflegen wollte, weil er vorhatte, an seinem Buch weiterzuschreiben, sondern weil dies wahrscheinlich das längste Telefonat war, das er je geführt hatte, zumindest freiwillig.

»Meine Eltern haben so ein Schild im Badezimmer hängen mit einem guten Ratschlag drauf«, sagte Stevie. »Da steht: ›Glaub fest an dich selbst.‹ Schon mal in Betracht gezogen, einfach ganz fest an dich selbst zu glauben? Ich könnte dir ein Foto davon schicken, komplett mit Sonnenuntergang im Hintergrund. Würde das helfen?«

»Und tschüss«, sagte Nate. »Du bist so was von doof.«

Stevie steckte grinsend ihr Handy in die Tasche. Der Schmerz war nicht weg, aber jetzt zumindest ein kleines bisschen weniger schlimm. Trotzig hob sie das Kinn und machte ein paar entschlossene Schritte. Sie hatte mal gelesen, dass die Art, wie man sich bewegte, den Gemütszustand beeinflussen konnte – man musste die Gestalt dessen annehmen, was man sein wollte. FBI-Agenten hatten einen entschlossenen Gang. Detektive hielten den Kopf erhoben und ließen den Blick schweifen. Sie umfasste ihre Rucksackgurte, um sich zu einer aufrechteren Haltung zu zwingen. So schnell würde sie sich nicht kleinkriegen lassen. Sie marschierte los, rannte förmlich über den bröckelnden Betonweg zur Haustür und wandte sich wie immer voller Verachtung von dem ausgeblichenen »KING – DER SENATOR FÜR SIE«-Schild ab, das ein Jahr nach der Wahl noch immer im Vorgarten ihres Elternhauses steckte.

»Hi«, sagte sie, während sie die Stöpsel aus ihren Ohren zog und aus dem Mantel schlüpfte. »Ich bin zu Fuß gegangen …«

Dann erst merkte sie, dass sie Besuch hatten.

2

In Geschichten kam manchmal der Teufel zu Besuch – ein unerwarteter Gast mit wohltönender Stimme. Wo er nichts zu suchen hatte, war im echten Leben. Wo er nichts zu suchen hatte, war auf einem grünen Sofa von Martins XXL-Möbeldiscounter, in einem von herbstlichem Zwielicht erfüllten Pittsburgher Wohnzimmer, wo alles wie magnetisch auf den Fernseher ausgerichtet war. Aber da war er, der Teufel.

Edward King war Mitte fünfzig, obwohl er etwas jünger aussah. Sein dunkles, naturkrauses Haar wirkte gewaltsam glatt geföhnt. Er trug einen makellosen grauen Anzug, einen von denen, die weder ausbeulten noch unschön glänzten. Sein faltenfreies Gesicht war eine Maske der Leutseligkeit und sein Lächeln schien ein sanft geschwungenes »Wer, ich?« zu formen. Er lehnte bequem in den Sofakissen, die Beine ausladend übereinandergeschlagen, als verbrächte er jeden Abend dort. Stevies Eltern hatten auf den passenden Sesseln links und rechts von ihm Platz genommen und blickten ihn bewundernd, aber auch ein bisschen verwirrt an.

»Hallo, Stevie«, begrüßte er sie.

Stevie klammerte sich an den Türrahmen wie eine Ertrinkende und spürte, wie eine eisige Lähmung von ihr Besitz ergriff.

Edward King war der böseste Mann von ganz Amerika.

Okay, darüber ließ sich wahrscheinlich streiten. Fest stand jedenfalls, dass Edward King mächtig war. Er war Senator des Staates Pennsylvania und hier in Pittsburgh ansässig. Er war der Mann, der das Land von »fremden und schädlichen Elementen« befreien wollte, womit er hauptsächlich Menschen meinte, die nicht weiß und nicht wohlhabend waren. Für Edward King stellte Reichtum eine Tugend dar. In seiner Welt gab es keinen Klimawandel – die Erde war dazu da, um immer mehr lebensbejahende Dollars hervorzubringen. Das hier war der Mann, der US-Präsident werden wollte.

»Stevie«, sagte ihr Vater mit einem warnenden Unterton. Ihr war klar, was das bedeutete: Wir wissen, wie du zu ihm stehst, aber der Mann ist Senator und er ist unser Held, und wenn du meinst, wir lassen zu, dass du jetzt türenknallend rausstürmst oder eine politische Schimpftirade hinlegst, hast du dich gründlich geschnitten.

Stevie spürte, wie sich das altbekannte Monster in ihrer Brust regte, den unregelmäßigen Herzschlag, der eine Panikattacke ankündigte. Ihre Finger krallten sich um den Türrahmen, als hinge ihr Leben davon ab. Ihre Eltern ahnten nichts davon, dass sie Edward King heute nicht zum ersten Mal von Nahem sah.

»Keine Sorge«, sagte er. Er war zu clever, um sie anzustrahlen, und lächelte nur leicht. »Mir ist klar, dass Stevie vermutlich nicht mein größter Fan ist. Aber wir können ruhig unterschiedlicher Meinung sein. Das ist ja das Großartige an Amerika. Jeder ist auf seine Art haargenau richtig.«

Oh nein. Nein, nein, nein. Das war der erste Schachzug. Er wollte spielen.

Okay, das konnte er haben.

Wenn sie doch nur Luft kriegen würde! Atmen, Stevie. Atmen. Nur einmal kräftig ein, dann würde alles wieder in Gang kommen. Aber sie hatte die Rechnung ohne ihr Zwerchfell gemacht.

»Stevie«, meldete sich jetzt wieder ihr Vater zu Wort, wenn auch nicht mehr ganz so streng. »Setz dich doch zu uns.«

Der Boden wölbte sich Stevie entgegen. Hallo, sagte der Boden. Komm mich doch mal besuchen. Kuschel dich an meine Brust und ruh dich aus.

»Kein Problem«, sagte Edward King. »Bleib ruhig stehen, Stevie, wenn dir das lieber ist. Ich bin nur hier, um mich bei dir und deiner Familie zu erkundigen, wie ihr euch so schlagt nach den Ereignissen an der Ellingham.«

Jetzt war sie am Zug. Vielleicht sollte sie sich setzen, nachdem er ihr so großzügig die Erlaubnis erteilt hatte, stehen zu bleiben. Oder würde sie damit genau das machen, was er wollte? Zu viele widersprüchliche Informationen. Das goldene Abendlicht begann zu verblassen und Schatten krochen über den Teppich. Oder spielten ihre Augen ihr einen Streich? Der Boden sah wirklich einladend aus …

STEVIE!, schrie sie sich innerlich an. KRIEG. ENDLICH. DEINEN. KÖRPER. IN. DEN. GRIFF.

»Ich möchte dir gern zu der bemerkenswerten Arbeit gratulieren, die du geleistet hast«, redete Edward King weiter. »Du hast wirklich eine außergewöhnliche detektivische Gabe.«

Ihre Eltern guckten sie an, als erwarteten sie, dass sie ein Tänzchen aufführte oder vielleicht ein paar Marionetten aus der Tasche zauberte. Doch ihre Stimme und ihr Körper verweigerten ihr noch immer den Dienst.

Okay, sagte sie sich. Du liegst nicht auf dem Boden, das gibt schon mal einen Pluspunkt. Aber du musst dich langsam echt bewegen. Los, das kannst du. Und sprechen kannst du auch. MACH WAS.

»Sie müssen entschuldigen …«, murmelte ihre Mutter.

»Ach was, wieso denn?« Edward King breitete so großzügig die Hände aus, als wäre dies hier sein Haus. »Auch wenn du das vielleicht nicht gern hören wirst, Stevie, aber du erinnerst mich ein bisschen an mich selbst in deinem Alter. Ich habe auch immer meinen Standpunkt vertreten. Ob das anderen gefallen hat oder nicht. Du hast Rückgrat. Und ich bin hier, weil ich eine Bitte habe … Ich hoffe, Sie empfinden das nicht als übergriffig. Ich möchte, dass Stevie an die Ellingham Academy zurückkehrt.«

Wenn der Boden sich aufgetan und eine Wolkenstadt unter sich enthüllt hätte, hätte der Effekt nicht stärker sein können.

»Äh … wie bitte?« Ihre Mutter war völlig perplex.

»Ich weiß, ich weiß«, entschuldigte sich Edward King. »Ich habe selbst ein Kind an dieser Schule. Bitte. Lassen Sie es mich kurz erklären. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er griff in die elegante Lederaktentasche, die an seinem Bein lehnte, und zog mehrere Hochglanzbroschüren heraus.

»Hier.« Er reichte ihrer Mutter und ihrem Vater je ein Exemplar und hielt auch Stevie eins hin, das er jedoch auf seinem Schoß ablegte, als sie keine Anstalten machte, es zu nehmen.

»Ein Sicherheitsdienst?«, fragte ihr Vater, während er die Broschüre durchblätterte.

»Der beste im ganzen Land. Sogar noch besser als der Secret Service, weil die Firma nämlich privat geführt wird. Ich bin selbst dort Kunde. Und jetzt habe ich die Jungs angeheuert, um die Ellingham zu verwanzen. Ich fand schon immer, die könnten da ein besseres Überwachungssystem gebrauchen, und nach den jüngsten Vorfällen konnte ich auch endlich die Verwaltung davon überzeugen.«

Verdutzt starrten Stevies Eltern in ihre Broschüren.

»Das war mir ’ne Herzensangelegenheit«, erklärte King, »weil die Ellingham Academy ein großartiger Ort ist, an dem individuelle Talente gefördert werden. ’ne tolle Sache für Leute wie Stevie und meinen Sohn … Ich stehe absolut hinter dem Konzept dieser Schule. Albert Ellingham war ein großartiger Mann, ein wahrer amerikanischer Erfindergeist. Und genau solche amerikanischen Erfinder wachsen gerade an der Ellingham nach. Darum möchte ich Sie bitten, Stevie zurückkehren zu lassen. Das Gelände ist jetzt topgesichert.«

»Aber dieses Mädchen«, wandte Stevies Mutter ein. »Was da alles passiert ist …«

»Element«, sagte Edward King kopfschüttelnd. »Wollen Sie wissen, was ich glaube?«

Und ob ihre Eltern das wollten, aber zum ersten Mal ging es Stevie genauso.

»Ich glaube, das war wirklich nur ein Unfall. Da haben sich zwei Schüler ein bisschen übernommen und einer ist dabei ums Leben gekommen. Und ich glaube, Ihre Tochter hat die Sache aufgedeckt. Daraufhin ist dieses Mädchen in Panik geraten und getürmt. Die wird schon wieder auftauchen.«

»Die Schule hat ihre Aufsichtspflicht verletzt«, befand Stevies Vater.

»Tja, da bin ich anderer Meinung«, entgegnete Edward King in lockerem Debattiertonfall und lehnte sich wieder auf dem Sofa zurück. »In dem Punkt sehe ich das Versäumnis nicht bei der Schule. Ich bin ein großer Verfechter von Eigenverantwortung. Die Schule hatte das Trockeneis schließlich weggeschlossen und man sollte meinen, dass Schülern in dem Alter klar sein müsste, dass man nicht in eine verschlossene Werkstatt einbricht und Chemikalien stiehlt. Die Verantwortung dafür liegt also bei den Kids.«

Das war eins von Edward Kings ganz großen Themen: RÜCKKEHR ZUR EIGENVERANTWORTUNG. Er selbst richtete sich natürlich kein bisschen danach, aber es war halt schön griffig. Stevie sah, wie ihre Eltern sich entspannten – das hier war vertrautes Terrain.

»Mein Sohn wird im Dezember achtzehn, am siebten – ich kann es selbst kaum fassen, aber der ist so gut wie erwachsen. Das Problem lag nicht bei der Schule. Selbst wenn das mein Sohn gewesen wäre – Gott bewahre, nicht dass mein Sohn oder Stevie jemals … aber angenommen, es wäre so gewesen –, dann würde das trotzdem nichts an meiner Meinung ändern.«

Seine Worte waren wie vergifteter Honig – so süß und verlockend und gleichzeitig grundfalsch. Alles war falsch, verzerrt. Die Realität brauchte einen Neustart.

Er ließ seine Worte in der Luft hängen und Stevie konnte beobachten, wie sie ihre Wirkung entfalteten, erkannte die Möglichkeit, die vor ihr Gestalt annahm.

»Wenn Sie einverstanden sind, nehme ich Stevie direkt mit«, fuhr Edward King nach einem Augenblick fort. »So überzeugt bin ich von der Sache. Draußen steht mein SUV, da gehen eine Menge Koffer rein, und am Flughafen wartet meine Privatmaschine. Bequemer geht’s nicht.«

Was tut man, wenn der Teufel bei einem im Wohnzimmer auftaucht und einem alles verspricht, was man sich wünscht?

»Warum?«, fragte Stevie mit trockenem Hals. Es war das erste Wort, das sie mit ihm redete.

»Weil es das Richtige ist«, antwortete Edward King.

Aus seinem Mund konnte das nur eine Lüge sein und Stevie hatte ihn dabei ertappt. In den Ohren ihrer Eltern jedoch klangen die Worte redlich und rein, denn sie glaubten daran, glaubten mit aller Kraft, dass Edward King der Wegbereiter einer glorreichen amerikanischen Wahrheit war, die man kaufen, in Händen halten und besitzen konnte. Edward King war hergekommen, um das RICHTIGE zu tun, und zwar mit Gottes Hilfe und seinem Privatjet.

»Und außerdem soll es ein kleines Dankeschön für zwei Menschen sein, die so viel für mich tun.« Er deutete auf ihre Eltern. »Sie zwei führen mein Wahlkreisbüro hier so hervorragend, da ist dies das Mindeste, was ich Ihnen schuldig bin. Also …« Er wandte sich Stevie zu. »Was sagst du?«

14. April 1936, 2:00 Uhr

Als Francis Crane acht Jahre alt war, nahm ihr Vater sie mit zu einer Mühle, die bei einer Explosion zerstört worden war. Sie schlenderten durch die Ruine und blickten durch die weggesprengte Decke zum Himmel hinauf. Alles war rußverschmiert, die Maschinen waren teilweise geschmolzen und überall baumelten Trümmer an losen Kabeln. Der Schriftzug »Crane Mehl« an der Wand war kaum noch zu erkennen.

»Das alles«, sagte ihr Vater, »ist nur durch Mehl passiert, Francis. Schlichtes, einfaches Mehl.«

An diesem Tag lernte Francis, dass Mehl hochentzündlich war. Diese alltäglichste aller Substanzen konnte ein Loch in eine Mauer reißen. So viel Energie aus etwas so Harmlosem.

Eine Erkenntnis, die ihr Leben verändern sollte. Es war das Wunderbarste, was sie je gehört hatte, und sie verliebte sich Hals über Kopf in Explosionen, in Feuer, in Krach und Bumm. Sie konnte die Gefahr förmlich auf der Zungenspitze schmecken. Dies war der Punkt, an dem Francis’ Reise auf die Schattenseite ihres bisherigen Lebens begann – zu den qualmenden Unglücksstellen, den Trümmerfeldern, den Hintertüren und Dienstbotenquartieren. Hinab, hinab, hinab, so weit sie auch gehen musste, um jenen verheißungsvollen Funken zu spüren. Hin und wieder gestattete sie sich ein paar harmlose Vergnügungen – kleine Zündeleien im Papierkorb, einmal stahl sie Edie Andersons Hut und verpasste ihm eine waschechte Wikingerbestattung auf dem See im Central Park und ein andermal ging sie mit einer Schachtel Feuerwerkskörper ein wenig zu weit. Sie war dafür berüchtigt, dass sie aus dem Haus schlüpfte oder sogar Partys sausen ließ und sich ein Taxi nahm, wenn irgendwo Feuerwehrsirenen heulten. In solchen Nächten saß sie stundenlang draußen und sah zu, wie die Flammen in den Himmel züngelten. Jetzt dagegen kroch sie tief unter der Ellingham Academy umher und zählte ihre Schritte.

Hundert, hunderteins, hundertzwei …

In der rechten Hand hielt sie die Kerze, die rasch herunterbrannte und sie mit heißen Wachstropfen vor der Flamme warnte, die sich ihrer Haut näherte. Mit der linken Hand tastete sie sich vor, um sich nicht zu stoßen. Der Tunnel war so eng, dass ihre Schulter die Wand berührte, sobald sie sich auch nur fünf Zentimeter zur Seite bewegte. Am Anfang, wo der Gang noch aus glatten Ziegeln bestand, war das kein Problem. Doch je tiefer sie vordrang, desto weniger Mühe hatten sich die Erbauer gegeben. Irgendwann schienen sie einfach Felsgestein verwendet zu haben – rau, manchmal sogar scharf gezackt –, das bei den Sprengungen übrig geblieben war.

Hier unten konnte man stecken bleiben, wenn man nicht aufpasste.

Hundertfünfzig, hunderteinundfünfzig …

Wenn hier etwas schiefging – wenn sie tatsächlich stecken blieb oder der Tunnel einstürzte und sie unter sich begrub … Sie liebte diesen Nervenkitzel.

Hundertsechzig.

Francis blieb stehen und streckte beide Hände nach vorn, um sicherzugehen, dass vor ihr nur noch Leere war – hier teilte sich der Tunnel. Sie nahm die linke Abzweigung und begann, wieder von vorne zu zählen. Dieser Teil des Tunnels erstreckte sich noch länger als der letzte. Irgendwann spürte sie, wie er sich weitete. Sie blies die Kerze aus und setzte Schritt für Schritt blind, bis sie die Sprossen einer Leiter erreichte. Wenig später drückte sie eine Luke hoch und kletterte in einem Wäldchen am anderen Ende des Schulgeländes aus dem Sockel einer Statue. Gierig sog sie die kalte, neblige Luft ein.

Das war das Beste von allem – im Dunkeln hinaus ins Gras zu kriechen wie ein neugeborenes Nachtwesen. Ihre Augen hatten sich an die leere Schwärze des Tunnels gewöhnt, sodass die Welt hier oben wie hell erleuchtet wirkte. Sie brauchte keine Kerze, um zwischen den Bäumen den Pfad zum Haus Apollo zu finden. Dort angekommen, hob sie einen Kiesel vom Boden auf und zielte damit sorgfältig auf eins der Fenster in der oberen Etage.

Kurz darauf hörte sie, wie es aufgeschoben wurde, und ein in regelmäßigen Abständen geknotetes Seil wurde heruntergelassen. Dann sah sie Eddies Füße mit den eintätowierten schwarzen Sternen unter den Sohlen. Er trug nichts als eine blauseidene Pyjamahose; die Kälte schien ihm nichts anzuhaben. Den letzten Meter ließ er sich fallen, landete elegant und schüttelte sich das blonde Haar aus der Stirn. Apollo war ein großes Haus. Es war ursprünglich als Unterrichtsgebäude gedacht gewesen, jetzt aber wohnten vier Schüler im ersten Stock. Eddie, der sich seine Hausseite mit nur einem anderen Jungen teilte, hätte genauso gut aus der Tür spazieren können, aber das machte natürlich längst nicht so viel Spaß.

Er folgte Francis zurück in das Wäldchen und drängte sie mit dem Rücken gegen den nächsten Baumstamm. Sie küsste ihn ungestüm und ließ die Hände über seinen nackten Rücken gleiten.

Edward Pierce Davenport war der erste und einzige Mensch, für den Francis aufrichtigen Respekt empfand. Er kam aus reichem Hause, genau wie sie, und stammte aus einer Bostoner Spediteursfamilie. Eddie hatte es zu seiner Lebensaufgabe erklärt, seine Eltern zu enttäuschen, und es darin zu außergewöhnlicher Meisterschaft gebracht. Gerüchten zufolge war er bei Festessen nackt durch den Speisesaal spaziert, hatte Dienstmädchen verführt und eine ganze Badewanne mit Champagner gefüllt. Er war bereits von vier der besten Schulen im ganzen Land verwiesen worden, als seine Eltern ihren Freund Albert Ellingham auf Knien anflehten, Eddie zu sich zu nehmen, damit er wenigstens für eine Weile keinen Ärger machte. Oder von dem Ärger zumindest nicht viel aus der Abgeschiedenheit der Berge nach außen drang. Mehr wollten sie gar nicht.

Eddie und Francis hatten einander gleich am ersten Schultag während des Picknicks auf der großen Rasenfläche schöne Augen gemacht, bei kaltem Hühnchen und Limonade. Er hatte die Ausgabe von Wahre Verbrechen in ihrer Handtasche entdeckt, ein unflätiges französisches Gedicht zitiert und damit war die Sache besiegelt gewesen. Der widerspenstige Eddie war gezähmt, oder zumindest machte es den Anschein. Francis, das sagten alle, übte einen guten Einfluss auf ihn aus.

Eddie führte Francis in die Welt der Lyrik ein – die tosenden Stürme der Romantiker, die mosaikhafte Realität der Vertreter von Moderne und Surrealismus. Er brachte ihr seine Maxime nahe, jedem Impuls bedingungslos zu folgen. Er zeigte Francis alles, was er in seinem bewegten Leben gelernt hatte, und Francis war eine gelehrige Schülerin.

Im Gegenzug erklärte Francis Eddie, wie man Bomben baute, und las ihm Geschichten über Bonnie und Clyde, John Dillinger und Ma Barker vor. Eddie war sofort Feuer und Flamme. Auch diese Leute waren für ihn Poeten – kompromisslose Poeten mit Maschinengewehren, die sich ihren Lebensweg nicht vorschreiben ließen und lachend in den Sonnenuntergang davonbrausten. Und so kam es, dass Francis und Eddie sich im Park, in der Bibliothek, in Ecken und Kellern trafen und schließlich unzertrennlich wurden.

In jenem Herbst und dem darauffolgenden bitterkalten Winter fingen sie an, die Kunst des Verbrechens zu studieren. Wenn die Zeit reif war, würden sie sich eins von Ellinghams Autos schnappen, es mit Dynamit vollpacken und damit verschwinden. An einem klaren Tag, sobald die Schneedecke auf dem Berg geschmolzen war, würden sie unbemerkt Richtung Westen aufbrechen und eine Bank nach der anderen ausrauben. Francis würde die Tresore sprengen. Eddie würde ihre Geschichte niederschreiben. Sie würden sich auf dem Boden in ihrem geheimen Unterschlupf lieben oder gleich auf der Straße, bis ihr Weg endete.

Jetzt löste sich Francis von ihm, um ihm zu erzählen, was passiert war – von Dotties Verschwinden und der Polizei –, doch er ließ sich auf den Rasen sacken und zog sie mit sich. Ihre Eile, ihm die interessanten Neuigkeiten zu berichten, wich einer anderen Art von Verlangen. Es gab nichts auf der Welt, das so schön war wie Eddie mit nacktem Oberkörper dort im Gras. Er war kein lieber Junge, er war wild und gefährlich, fast so wild und gefährlich wie Francis selbst. Sie war vor ihm schon mit anderen zusammen gewesen, aber die hatten bloß unbeholfen an ihr herumgefummelt. Eddie dagegen wusste, was er tat, und spielte mit der Geschwindigkeit. Er konnte sich langsam bewegen – quälend langsam. Auch jetzt schmiegte er sie an sich und ließ die Hand Zentimeter um Zentimeter über ihre Seite gleiten, bis sie glaubte, es nicht mehr auszuhalten.

»Ich muss dir was erzählen«, keuchte sie. »Es wird dir bestimmt gefallen.«

»Mir gefällt alles, was du erzählst.«

Ein Geräusch ganz in der Nähe ließ sie aufschrecken. Albert Ellingham eilte vorbei. Francis bedeutete Eddie stumm, Ellingham zu folgen. In sicherem Abstand schlichen sie ihm nach bis zur Turnhalle, die noch im Bau war.

Der Raum, den Albert Ellingham nun betrat, sollte einmal das Schwimmbad werden. Eine große Halle mit gewölbter Decke und weiß-blau gekachelten Wänden. Das Becken, in dem sich noch kein Wasser befand, war bloß eine glatte Betongrube. Die Halle war nicht geheizt und frostig wie ein Kühlhaus. Francis fror selbst in ihrem Mantel und mochte sich kaum vorstellen, wie es Eddie gehen musste. Doch das war ja das Verrückte an Eddie – er schien keinerlei Schmerz zu kennen.

Das einzige Licht rührte von einer Laterne am anderen Ende des Raums her und so konnten sich Francis und Eddie unbemerkt hinter einen großen Wagen voller Baumaterial gleich am Eingang kauern. Die hohe Decke, das leere Becken und die Kacheln an den Wänden sorgten für die perfekte Akustik: Sie konnten jedes Wort mithören, obwohl sie von ihrem Versteck aus kaum etwas sahen.

»Albert!«, sagte Miss Nelson. Francis hörte rasche Schritte, und als sie über den Wagen hinwegspähte, sah sie zwei Silhouetten, die sich umarmten. Im Geiste versetzte sie sich einen Klaps. Natürlich. Darum war Miss Nelson immer so sorgfältig frisiert. Darum trug sie Diamantohrringe, die, so klein und dezent sie auch waren, ihre Mittel weit übersteigen mussten.

»Marion«, sagte Albert Ellingham mit rauer Stimme. »Es ist etwas Schreckliches passiert. Alice und Iris sind entführt worden.«

Jetzt breitete sich auch in Francis’ Innerem Kälte aus – doch diese trug ein Knistern in sich, so wie manchmal der Himmel vor einem der heftigen Vermonter Schneestürme.

Entführt.

»Dieser Brief«, sagte er. »Der Wahrhaftige Lügner …«

Francis fühlte Brechreiz in sich aufsteigen. Eddie neben ihr gab ein aufgeregtes Zischen von sich.

»Hier, für alle Fälle«, sagte Albert Ellingham jetzt.

»Mein Gott, Albert, ich weiß doch nicht mal, wie man die abfeuert.«

Hatte Ellingham Miss Nelson eine Pistole gegeben?

»Nur entsichern und den Abzug betätigen. Und jetzt hör mir gut zu. Bei Tagesanbruch kommen Busse, mit denen werden die Schüler weggebracht, und du musst auch mit. Weck sie vor Sonnenaufgang. Sie sollen nur das Nötigste packen, alles Weitere lasse ich ihnen nachschicken.«

»Albert, eins der Kinder ist –«

»Für mehr bleibt uns keine Zeit. Nimm den Zug nach New York und warte in der Wohnung. Dort rufe ich dich an, sobald ich kann. Aber jetzt geh, du musst hier weg.«

»Albert, es tut mir leid. Ich –«

»Sofort, Marion.« Albert Ellingham – Amerikas Zeitungs- und Radiokönig – schien den Tränen nahe. Francis und Eddie duckten sich, als Miss Nelson an ihnen vorbei aus der Tür eilte. Ein paar Minuten lang hörten sie Ellingham noch unkontrolliert schluchzen, dann verschwand auch er.

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