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Kinder nötigen einen zur Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen des Daseins: Wer bin ich? Wer hat die Erde gemacht? Warum sind nur die eigenen Pupse lustig? In seinem Buch geht der Kabarettist und dreifache Vater Martin Zingsheim vielen wichtigen Themen mit Kindermaßstäben auf den Grund: von Sprache und Religion bis Pizza und Pauschalreisen. Ein satirisches Hohelied auf den chaotischen Zauber, den die Winzlinge ins Leben pseudokompetenter Erwachsener bringen.
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Das Buch
Gibt es ein Leben mit Kindern? Ja, sagt Martin Zingsheim – nur eben ein völlig anderes. Als dreifacher Vater weiß er, worauf man sich mit der Nachkommenschaft einlässt: auf wenig Ruhe und viel Kommunikation und auf eine völlig neue Sicht der Dinge. Denn die Welt mit den Augen der Kinder zu sehen bedeutet weder Naivität noch Schlichtheit, sondern bietet die Möglichkeit, unser absurdes Welttheater in mikrokosmischen Dimensionen zu studieren. Kinder sind von einer philosophischen Wirkung, da man als Elternteilchen unweigerlich beginnt, über sich und Gott und die Welt nachzudenken. In seinem Buch schreibt Zingsheim nacheinander über die wichtigsten Themen des Lebens – was insofern einer Beschönigung gleichkommt, da mit Kindern eigentlich immer alles gleichzeitig und entgegen unserer Ordnungsvorstellung vonstatten geht …
Der Autor
Martin Zingsheim studierte Musikwissenschaft, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Philosophie in Köln. Sein Studium schloss er mit der Promotion über Neue Musik ab. Seit 2011 tritt er mit diversen Kabarett-Programmen auf. Zuletzt erhielt er 2015 den Deutschen Kleinkunstpreis (Förderpreis) und 2016 den Salzburger Stier.
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MARTIN ZINGSHEIM
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1411-2
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagabbildung: © Tomas Rodriguez (Autorenfoto); © FinePic®, München
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Für meine drei Lausbuben
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Widmung
1. MenschenskinderOder: »Papa, kannst du gar nicht mit Stiften schreiben?«
Anmerkung zum Kapitel
2. »Komm, sag mal Pantoffel.« – »Poffel!«Kinder und Sprache
3. »Brings you the kinder ins bed?«Pseudoenglisch als Geheimwaffe
4. Ich will, du sollst, du musst, man kann nicht einfach, lass das bitte …Kinder und Erziehung
Anmerkungen zum Kapitel
5. KulturschockVon reichen Witwen, mittelalterlichen Traktaten und den Immobiliati
6. »Ich möchte aber mal ein Haus essenund die Fenster auch!«Kinder und Ernährung
7. Atemlos durch die NachtBeziehungsweise: Träum was Schönes!
8. »Dann schrei ich dich aber bestimmt gleich mal dolle an, Papa!«Kinder und Konflikte
9. »Ja, wie sieht’s hier denn aus?« – »Siehst du doch!«Terror, Zirkus und Theater
10. SauwetterWarum für Kinder Sonne und Regen gleich schön sind
11. »Wohnen die Engel oben in den Wolken drin?«Kinder und Spiritualität
12. »Jetzt sei mal schön brav.« – »Warum?«Jenseits von Gut und Böse
13. ScheißeEntscheidend ist, was hinten rauskommt
14. »Papa, warum sieht dieser Kindergarten aus wie ein Gefängnis?«Von wegen Namen tanzen
15. »Können in einem Orchester auch Frauen spielen?«Kinder und Geschlechtlichkeit
16. Alleine!Beziehungsweise: »Kannst du mir helfen, das selber zu machen?«
17. »… sonst fahren wir nach Hause!«Habemus feriam
18. »Was ist das für ein schwarzer Kasten da?«Fernseher
19. »Stehenbleiben! Hände hoch! Stillgestanden!«An die Hand nehmen
20. »Guck mal, Papa, wie die Schnecke innen drin aussieht …«Warum Kind und Wissenschaftler derselbe Beruf sind
21. »Hallooo, wo hast du denn heute mein Geschenk?«Ommas und Oppas
22. »Auf keinen Fall … unter keinen Umständen … meinetwegen mach halt.«Grenzen
23. »Wie soll dein kleiner Bruder denn heißen?« – »Blumentopf!«Kinder und Humor
24. »Papa, wie früh ist es?«Zeitumstellung
25. LalalaKinder und Musik
26. Kinder machen, Bücher lesenBücher machen, Kinder lesen
Epilog
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Menschenskinder
Oder: »Papa, kannst du gar nicht mit Stiften schreiben?«
Kinder gibt es viele. Bücher auch. Trotzdem machen irgendwelche Leute andauernd neue. Offensichtlich ist also beides nur recht schwer zu vermeiden. Zuversichtlicher bin ich persönlich im Hinblick auf Kinder, da sie sich im Gegensatz zu Büchern deutlich schlechter durch digitale Medien ersetzen lassen. Obwohl, wer weiß.
»Hallo, ich habe drei Kinder. Und Sie?«
»Glückwunsch, ich habe vier iPhones.«
»Toll!«
Ich selbst habe drei. Also Kinder. Bücher wahrscheinlich auch. Zumindest wirklich und wahrhaftig gelesene, durchstudierte, aufgesogene, liebgewonnene. Auch hier herrscht eine gewisse Verwandtschaft. Bücher wie auch Kinder kennt man in der Regel irgendwie haufenweise, ja massenhaft, aber eine tiefe Verbindung hat man lediglich zu einigen wenigen und auch erst dann, wenn es schon zu spät ist, also nachdem sie das eigene Leben komplett über den Haufen geworfen haben.«1 Was ja wohl auch der Sinn ist. Sowohl von großer Literatur als auch von kleinen Menschen.
Dieses Buch ist unterteilt in mehrere thematische Kapitel, was in jedem Fall einer Beschönigung gleichkommt, da im Zusammenhang mit Kindern immer alles gleichzeitig und entgegen erwachsenen Ordnungsvorstellungen vonstattengeht. Davon handelt dieses Buch: vom chaotischen Zauber, den die verrückten Winzlinge in das Leben pseudokompetenter Erwachsener bringen. Die fraglos viel zu steile These lautet daher: Die Welt mit den Augen der Kinder zu sehen bedeutet weder Naivität noch schlichte Einfachheit, sondern die Auseinandersetzung mit den existentiellen Fragen unseres Daseins: Wer bin ich? Was kann man alles essen? Wer hat die Erde gemacht? Und warum sind eigentlich immer nur die eigenen Pupse lustig?
Sämtliche von mir zitierte Experten sind im Übrigen ausnahmslos ehrlich. Ehrlich in dem Sinne, dass ich sie mir ganz ehrlich selbst ausgedacht habe. Fußnoten sind quasi die Sportwagen der Intellektuellen. Braucht niemand, machen aber ganz schön was her.
Ein Leben mit kleinen Kindern bietet die Möglichkeit, unser absurdes Welttheater in mikrokosmischen Dimensionen zu studieren. Wer sich dafür interessiert, ob und wenn ja, inwiefern Sprechen und Denken überhaupt miteinander zu tun haben, wer sich für Existenzkämpfe und emotionale Zusammenbrüche, für herzzerreißende Liebesgeschichten, für Ausgrenzung und Versöhnung, für unbändige Freude und fundamentale Zerstörung interessiert, der sollte mal einen Spielplatz aufsuchen. Dort ereignet sich das ganze Drama des Lebens. Nur in lustig. Bitte achten Sie insbesondere als Mann darauf, stets selbst ein Kind dabeizuhaben. Das kommt sonst sehr komisch. Leihen Sie sich zur Not eines aus.
Natürlich liegt es nahe zu denken, ich hätte im Hinblick auf dieses Buch meine Söhne intensiv beobachtet und eingehend über sie nachgedacht. Und das stimmt ja auch. Viel mehr aber noch habe ich aufgrund meiner Kinder über mich selbst, mein Denken, mein Sprechen und mein Handeln in der Welt nachdenken müssen. Das werde ich den dreien niemals vergessen. Meinen Kindern ist dieser Umstand im Zweifel ziemlich wurscht.
»Nichts ist so wichtig, als dass es einem Kind nicht im Zweifel mal komplett egal sein könnte.« Nikola Luhfrau: Individualisiert perspektivierte Weltwahrnehmung als Brennpunkt unumgänglicher Kontingenz. Frankfurt a. M. 1967, S. 4522
Kinder ermöglichen einem also vor allem eines: Freiheit. Freiheit von der eigenen, lediglich gefühlten Wichtigkeit. Insofern geht es im Folgenden gewissermaßen um den 27-Jährigen, der drei Kinder bekam und verschwand. Nicht als Mensch, aber als ein primär um sich selbst kreisendes Individuum.
Der ein »Überleben mit Nachwuchs« thematisierende Untertitel dieses Buches suggeriert wenig subtil, dass es sich bei Kindern nicht nur, aber auch um Probleme handelt. Und das ist korrekt so. Ich allerdings finde Probleme toll. Grundsätzlich sind mir Menschen mit Problemen auch weitaus sympathischer als Leute mit Lösungen. Die sind ja meistens das eigentliche Problem. Ein Problem zu haben ist die meines Erachtens sinnvollste Einstellung zur Welt, denn sie bedeutet, dass man Interesse an Lösungen hat. Insofern bin ich voll und ganz bei Tucholsky, wenn er sagt: »Meine Probleme möchte ich haben.« Möchte ich nämlich wirklich. Kinder haben ständig Probleme. Täglich. Und zwar mit fast allem. Deshalb kann man so viel von ihnen lernen.
Üblicherweise beginnen Bücher mit Vorworten, denn wir Menschen scheinen eine Phase des Übergangs zu benötigen, bevor wir mit etwas richtig loslegen. Mit Kindern ist es ganz ähnlich. Folgte die Geburt mit zum Beispiel nur neunminütigem Abstand auf den Geschlechtsverkehr, so wären sexuelle Höhepunkte und Panikattacken wohl zeitgleich einsetzende Phänomene. Stattdessen hat aber die Natur vor die Geburt, diesem eigentlichen Startschuss in ein neues Leben voll dauerhafter Liebe und permanentem Wahnsinn, eine Art vierzigwöchiges Vorwort geparkt. Dass dann doch alles völlig anders kommt, ist anscheinend gewollt und bei Büchern im Übrigen nicht viel anders.
Wie ich hörte, müssen sich Autorinnen und Autoren für die Herstellung von Büchern häufig in konzentrierte Abgeschiedenheit zurückziehen. So etwas macht mir Angst. Fünfzehn Jahre schottisches Kloster für einen Bestseller? Das ergibt kaum Sinn. Es sei denn, man schreibt ein Buch über schottische Klöster. Reichen stattdessen nicht auch vier Nächte im Etap-Hotel Dortmund-West? Reduktion aufs Wesentliche findet man schließlich überall.
Für mein Buch musste ich überhaupt nicht ausziehen. Das war schon mal von Vorteil. Statt in die Einsamkeit zu gehen hieß es, nahe dran zu sein beziehungsweise zu bleiben und alles aufzusaugen. Am besten steht man für solch ein Schreibprojekt permanent mit Laptop, Handy und Tablet bewaffnet an der Wiege oder neben dem Sandkasten. Das ist zumindest deutlich besser für den familiären Zusammenhalt als fünfzehn Jahre Schottland. Man braucht halt relativ strahlungsresistente Kinder. Oder man steigt auf Stift und Papier um.
In vorliegendem Buch wurde hier und da genderneutral formuliert. Wenn ich Eltern schreibe, so meine ich stets alles und jeden, der sich alleine, zu zweit, zu dritt, als Mama, als Papa, als Mama und Papa, als Papa und Papa, als Mama und Mama oder sonst wie um das Wohlergehen der ihm und/oder ihr anvertrauten Kinder kümmert. Die Geschichte von Eltern als ausschließlich Mamas und Papas ist neben zahllosen erfreulichen Erfahrungen auch eine von Gewalt und Missbrauch geprägte Geschichte. Wovor bitte haben also jene Menschen Angst, die beispielsweise gleichgeschlechtlichen Paaren Erziehungs- und damit Liebes-, Sorgfalts- und Reflexionskompetenz absprechen?
Es kann, nein, es wird passieren, dass ich mir im Verlauf dieses Buches selbst widerspreche. Aber das Leben ist eben voller Widersprüche. Hat man eigenen Nachwuchs, kennt man diese unauflöslichen Paradoxien nur zu gut. Man liebt die Kinder über alles, sie sind das Schönste und Beste überhaupt – und dennoch ist es so unendlich toll, wenn sie gerade mal weg sind. An ihnen haften tut man selbstredend trotzdem immer und unabänderlich. Hat man das Glück, als Eltern zu zweit zu sein, handelt es sich zumindest nicht um Einzelhaft. Übrigens wären meine Frau und ich, wie viele andere Eltern auch, sehr, sehr gerne alleinerziehend. Aber es mischt sich ständig jemand ein: Freunde, Bekannte, Stiftung Öko-Test und hoffentlich nicht bald auch noch das Jugendamt.
Ach ja, was außerdem wichtig ist: Dieses Buch ist kein Fachbuch. Nicht dass es schlecht recherchiert wäre. Es ist gar nicht recherchiert. Und es ist kein Ratgeber. Machen Sie also bitte nichts nach. Sonst fahren wir nach Hause!
1 Frederick Planlos: Nachkommenschaft. Eine humanitäre Katastrophe? Bielefeld 1998, S. 17
Meines Erachtens eine beeindruckende zeichnerische Reduktion aufs Wesentliche. Und übrigens eine Fledermaus.
»Komm, sag mal Pantoffel.« – »Poffel!«
Kinder und Sprache
Erstaunlicherweise sprechen Kinder. Zwar nicht sofort, dann aber ständig und eigentlich nie wieder nicht. Erwachsene sprechen selbstredend auch, was einem aber selten und wenn, dann lediglich negativ auffällt. Das Sprechen kleiner Kinder dagegen ist eine mittelschwere Sensation und wird daher völlig zu Recht vom parentalen wie auch sonstigen Umfeld durch Eruptionen der Verzückung flankiert.
Achtung: Auch bei plötzlich quatschenden Kindern kommt es ab und an zu einer Art Vorführeffekt. Dann erwidern schon Ein- bis Zweijährige auf die Aufforderung: »Komm, sag mal schön ›Hallo, Tante Gertrud!‹« in der Regel so etwas wie: »Hoho, tut, tut.« Reicht ja auch, Gertrud freut sich nämlich trotzdem. Erst nach und nach mischt sich in die elterliche Begeisterung infolge rätselhafter Dauerbeschallung das ein oder andere: »Kannst du bitte mal kurz leise sein?« Blöde Frage – natürlich kann er das. Aber eben nur kurz. Klar, bei drei kleinen Kindern daheim ist dann immer irgendeiner am Plärren oder Schreien. Aber man sollte das positiv sehen, denn nahezu nie schreien alle drei gleichzeitig.
Kaum etwas wird so gebannt und geradezu hysterisch begeistert von Eltern begleitet wie der kindliche Spracherwerb, auch wenn schon wenig später vor allem Ruhe und Stille zu herbeigesehnten Luxusgütern avancieren. Bevor Kinder zu sprechen beginnen, sind sie von gewissermaßen außerirdischer Rätselhaftigkeit, von fast extraterrestrischer Faszination. Wir vermeintlich großen Leute sind es ja gewohnt, die Welt mit den Werkzeugen halbwegs passender Begriffe zu bearbeiten, und verstehen praktisch nichts ohne verbale oder schriftlich eingereichte Erläuterungen. Angesichts von neugeborenen Erdenbürgern kann man da schon mal anerkennend denken: »Och, guck mal … geht ja auch ohne, ne!«
Auf der anderen Seite steht die sprachlos machende Sprachlosigkeit von Babys auch für deren existentielle Hilfs- und Schutzbedürftigkeit. Die endet meiner Meinung nach übrigens nicht mit dem Erwerb der Sprache, sondern hält in etwa an bis Mitte achtzig. Es sei denn, man lebt länger.
Die ehrfürchtige Sprachlosigkeit von Eltern hält dagegen zumeist nur sehr kurz an. Denn bald schon sitzen sie einzeln, zu zweit oder in beachtlichen Großgruppen vor den kleinen Fuzzis wie vor einer Kinoleinwand und lassen sich dazu hinreißen, jede Regung, jedes Glucksen, im Wortsinne jeden Pups zu kommentieren, zu reproduzieren und ausgiebig zu interpretieren. Ja, das macht großen Spaß, hat im Zweifel jedoch nichts – ich wiederhole: nichts! – mit dem tatsächlichen Innenleben, den wahrhaftigen Auffassungen, Meinungen und Ansichten von vier Tage alten Menschlein zu tun.
Zugegeben, lediglich Erstgeborene werden auf diese Weise angestarrt. Bei allen weiteren Nachkommen fehlt für so einen Quatsch schlichtweg die Zeit. Ein drittes Kind beispielsweise rutscht häufig erst nach mehrstündigem Gebrüll überhaupt in den peripheren Aufmerksamkeitsbereich der Eltern. Ist wahrscheinlich auch gesünder – für beide Seiten. Ein Kinderarzt sagte einmal zu mir: »Herr Zingsheim, erst die vierten Kinder sind normal.« Jetzt habe ich zwar bislang nur drei, muss aber sagen: Das kann ich so bestätigen.
Das Phänomen des Sprechenlernens ist vielleicht das Paradebeispiel für den grundsätzlichen Effekt, den Kinder auf das Leben bereits ordentlich gealterter Menschen haben: Vermeintlich Unbedeutendes, völlig Alltägliches, nie eigens Bedachtes wird mit einem Mal schier unglaublich und geradezu umwerfend. Insofern haben Kinder eine mitunter philosophisch zu nennende Wirkung, die man nicht verpuffen lassen muss. Durch Kinder nämlich wird diese Welt automatisch wieder rätselhaft, wundersam und erstaunlich. Wenn man selbst miterlebt, wie aus nicht zu deutendem Geschnorchel und obskurem Gefiepe nach und nach artikulierte Laute, dann halbwegs zuordenbare Wortfetzen, mehrsilbiges Gebrabbel und schließlich mehrstündige Laberflashs von fast nachvollziehbarer Verständlichkeit werden, kann man dies zum Anlass nehmen, auch mal über sein eigenes Gequatsche nachzudenken. Muss man aber nicht. Denn: »Och, guck mal … geht ja auch ohne, ne!«
Kann man denn überhaupt sagen, was man denkt? Wir gehen in der Regel so mir nichts, dir nichts davon aus, dass dem so ist. Aber müssen wir nicht, um zu verstehen, was wir denken, erst einmal hören, was wir sagen? Und oft genug denken wir hinterher genau das, was wir gerade gehört, also: gesagt haben, um im Zweifel jemandem, der das gar nicht hören will, sagen zu können, was wir gerade denken. Na bravo!
Dabei scheinen wir ständig in Sprache zu denken, automatisch. Du siehst ein Auto und denkst: »Auto!« Du siehst einen Ball und denkst: »Ball!« Du hörst Florian Silbereisen und denkst: »Das nervt doch total!«
Ehrlich gesagt aber verändern sich unsere Gedanken ganz gehörig auf ihrem mühsamen Weg durch die Sprache, so wie sich auch die Welt nicht mit Hilfe von Sprache abbilden lässt, sondern sich durch sie verwandelt, ja uns fast schon wieder zwischen unseren vielen, vielen schönen Wörtern entgleitet. Es macht schon einen Unterschied, ob man samt Sohnemann am Fenster steht und angesichts des strömenden Regens sagt: »Meine Fresse, was für ein Sauwetter!« Oder stattdessen feststellt: »Guck mal, mein Schatz, heute freuen sich aber alle Blümchen, weil sie so viel zu trinken kriegen.« Worte schaffen Wirklichkeiten.
Meine Kinder können klasse quatschen. Und sie haben fraglos ein reiches Innenleben. Jedenfalls vermute ich das. Und würde gern viel mehr davon erfahren. Oft aber sagen sie schlicht und ergreifend: »Weiß ich nicht«; »Hab ich vergessen«; »Keine Ahnung«, wenn ich mal etwas wissen will. Sie mühen sich also ordentlich mit dieser Barriere zwischen Denken und Sprechen, die Erwachsene selten überhaupt wahrnehmen.
Kinder sind darüber hinaus ehrlicher. »Weiß ich nicht«; »Hab ich vergessen«; »Keine Ahnung« – das sollte auch ich viel häufiger mal sagen, wenn das, was in mir vorgeht, sich sprachlich ohnehin nicht wirklich gut ausdrücken lässt. Allerdings haben Erwachsene ein Füllhorn gut sortierter, ständig frisch bestückter verbaler Floskeln zur Hand beziehungsweise auf der Zunge, mit dem sie ständig sagen, was sie angeblich denken. Da antwortet manch einer schon mal auf ein »Und? Wie geht es dir?« flott mit »Ach ja, alles okay so weit«, obwohl die mentalen Prozesse eher einem »Ich hasse dich und werde mich morgen scheiden lassen« entsprechen. Kinder würden fraglos sogleich die Scheidung einreichen – weshalb man sie ja auch auf gar keinen Fall verheiraten sollte.
Wenn Kinder tatsächlich einmal exakt das äußern, was sie denken, merkt man das übrigens sofort.
Vater: »Guck mal, mein Schatz, hier ist noch Lauchgemüse.«
Kind: »Bäh!«
Respekt! So etwas traue ich mich selten zu sagen, selbst wenn ich es gerade denke beziehungsweise schmecke.
Das große Glück, das man als Elternteilchen empfindet, wenn das eigene Kind vom putzigen akustischen Geblubber ins sogenannte vernünftige Sprechen gleitet, hat, glaube ich, zwei Seiten. Mindestens. Wenn nicht sogar vier.
Zunächst einmal ist da der bereits erwähnte Zauber, der dieses Phänomen umweht. Selbst hat man gar nicht viel mehr dazu beigetragen, als eben andauernd zu sprechen und im besten Falle liebevoll auf den jeweiligen Winzling einzureden. Ob er sich tatsächlich deswegen oder vielmehr trotzdem dazu entschlossen hat, selbst auch einmal ein bisschen Small Talk betreiben zu wollen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Irgendwie erscheint wohl selbst einem noch sehr, sehr kleinen Kind das Benutzen von Wörtern lohnenswert, was angesichts der verbalen Auswürfe einiger Eltern ebenfalls einem Wunder gleichkommt. Etwas wie »Ja, bissu mein feinifeiner Stinkibinki?« kam auch mir gelegentlich über die Lippen. Richtig peinlich wird es allerdings erst, wenn man damit beginnt, auch das erwachsene Umfeld auf solche Weise zu begrüßen. Cocktailabende mit alten Freunden können dann sehr schnell sehr früh und sehr unschön enden.
»Ja, hallololo, Stefanchen, mein liebilieber Schulifreundi!«
»Oh, Martin, Mensch, schon so spät geworden, ich muss dann auch los …«
Zweitens geht mit dem auf einmal sprechenden Mops noch ein weiteres, eher zwiespältiges Gefühl einher. Man kann noch so reflektiert an die Sache herangehen, unweigerlich denkt man angesichts der ersten korrekt hervorgebrachten Worte selbst unsinniges Zeug wie: »Oh, mein Gott, es ist normal!« – »Schatz, schau her, es funktioniert! Das Kind … es hat funktioniert!« Im Falle solch angstgesteuerten Unfugs gilt die alte Regel: Manchmal ist leise denken deutlich besser als laut sprechen. Natürlich weiß man als halbwegs zurechnungsfähiges Personal von Kindern, dass alle Kinder normal sind. Beziehungsweise kein Kind. Nur weil wir im alltäglichen Kommunizieren Wörter wie »normal« und »Normalität« andauernd benutzen, heißt es noch lange nicht, dass es so etwas tatsächlich gibt.
»Normalität ist vor allem ein schlecht zu definierender Kampfbegriff, der zum Kategorisieren, Pauschalisieren und Ausgrenzen von Humanmaterial dient, und insofern mit Vorsicht zu benutzen. Oder am besten gar nicht.« Petra Slot von Dijk: Total normal. Uniformität als Bedingung gesellschaftlicher Akzeptanz. Wien 2021, S. 4869
Aber wir leben schon weitgehend im Zustand einer gewissen Normalität. Das merkt man, wenn man sich bewusst ganz anders, im Sinne von unnormal verhält. Setzen Sie sich mal in einen ICE und legen vor sich auf Ihr Tischchen ein Klappmesser und ein paar Tabletten und murmeln vor sich hin: »Einer dieser Meinungsforscher wollte mich testen. Ich genoss seine Leber mit ein paar Fava-Bohnen, dazu einen fabelhaften Chianti.« Da haben Sie augenblicklich noch mehr Platz als die in der ersten Klasse. Wenn Sie ohnehin schon erster Klasse reisen, können Sie sich die ganze Aktion natürlich sparen, haben aber weitaus weniger Spaß.
Außerdem hält sich meines Erachtens notwendigerweise jeder für normal. Und wahrscheinlich zudem auch stets für den Mittelpunkt des Universums. Ich glaube nicht, dass wir jemals ein ptolemäisches oder kopernikanisches Weltbild hatten. Uns beherrschte in Wahrheit immer schon ein seehofereskes.
Ein solches seehofereskes Weltbild können Sie übrigens genauso als Nichtbayer oder Nichtbayerin ganz gut imitieren. Sie brauchen an einem freien Nachmittag nur mal eine Kiste Weizen ganz alleine wegzuzischen – und schon schauen auch Sie sich um und denken: »Och, guck mal, schön! Alles, alles, alles dreht sich um mich!«
Normalität gibt uns ein Gefühl von Sicherheit. Aber es ist eben nur ein Gefühl. Und häufig ist die Normalität, nach der sich viele scheinbar so sehr sehnen, die wahre Gefahr. Immer, wenn irgendwo jemand seinen Nachbarn angezündet oder seine Cousine zersägt und eingefroren hat, sagen hinterher alle im RTL-Interview bei Punkt 12: »Der? Och, der war eigentlich immer total normal, voll normal, ein bisschen ruhig vielleicht …« Ja genau: Normal und ruhig, das sind wahrscheinlich die richtig Gefährlichen. Sollten wir wohl mal im Auge behalten, solche Leute, die so schrecklich normal und korrekt daherkommen.
Ich ertappe mich von Zeit zu Zeit selbst bei einer seltsamen Freude über die vermeintliche Korrektheit meiner Kinder und bin umgekehrt manchmal deplatziert dünnhäutig, wenn sie ganz anders ticken, als ich dachte, dass sie jetzt gerade bitte schön ticken sollen. Vielleicht muss man sich in so einem Fall flott wieder bewusstmachen: Ruhig und normal wäre gefährlich! Und: Sie funktionieren nicht! Kinder sollen gar nicht funktionieren. Menschen ganz allgemein sollte man nicht abverlangen, zu funktionieren. Sonst läge schließlich eine Bedienungsanleitung bei. Liegt sie aber nicht. Kommt man auch nicht dran, selbst wenn man beim Hersteller nachhakt.
Udo Jürgens singt auf seiner letzten Platte: »Gebt den Kindern ihr Recht. Lasst sie wild sein und echt.« Das ist gar nicht so leicht, Udo. Denn in der albernen Sorge um die Pseudonormalität unserer Fuzzis wiederholt sich vor allem unsere eigene schissige Abhängigkeit von Fremdbewertungen, unser oftmals schlecht reflektiertes Sehnen nach Anerkennung, Lob und Dazugehörigkeit. Mittendrin statt nur dabei, und in der Mitte von was und wem ist dann ja häufig auch egal. Und selbstredend gehört positive Sanktionierung von Richtigkeiten zum Kern jeder wohlmeinenden Erziehung.
Ich persönlich mag übrigens den alten Trick, das Kind nicht mit einem energischen »Nein« sprachlich zu korrigieren, sondern, positiv reagierend, das Wort selbst noch einmal korrekt zu wiederholen.
Kind: »Tindanahten.«
Vater: »Genau, wir fahren gleich in den Kindergarten!«
Das sollte man eventuell auch im Umgang mit Erwachsenen mal versuchen.
»Fick dich, du Pisser!«
»Ja, genau. Unser Gespräch ist bereits jetzt beendet.«
Hilft vielleicht. Könnte jedoch genauso gut zu noch mehr Problemen führen.
Sprache ist immer ermöglichte Freiheit und Korsett zugleich. Folgende Unterhaltung zwischen meinem Sohn (vier Jahre alt, gerade in der Badewanne sitzend) und meiner Mutter (etwas älter, gerade nicht in der Badewanne sitzend) ist überliefert:
Kind, mit einem kleinen Trichter spielend: »Das ist ein Filter!«
Oma: »Also, eigentlich nennt man das Trichter.«
Kind: »Ich nenne es aber Filter … jeder ist sein eigener Mensch!«
Ach, wenn er nur recht hätte! Ich hoffe, er wird niemals versuchen, frisch gemahlenen Kaffee in eine Trichtertüte zu schütten oder an einer Trichterzigarette zu ziehen.
Drittens führt das Sprechenkönnen von Kindern nicht nur zu einer zunehmenden Vertrautheit miteinander, da man ja jetzt viel mehr und viel präziser kommunizieren kann, sondern gleichzeitig auch zu einer voranschreitenden Entfernung voneinander. Sicherlich, in den ersten Worten und holprig nachgesprochenen Sätzen erkennt man als Eltern mit etwas Wohlwollen noch den jeweils eigenen Input. Sprechen ist in Wahrheit lange Zeit erst einmal ein Nachsprechen der Eltern oder sonstiger emotional komplett ausgetickter Bezugspersonen wie Omas und Opas.
»Omelellaah!«
»Martin, er hat zum ersten Mal meinen Namen gesagt!« (O-Ton Oma Hella).
(Für die Ämter der Stadt Köln: Meine Mutter Helene Zingsheim hat einen weiteren Namen: Omelellaah. Wusste ich gar nicht. Sie wird einen neuen Perso brauchen.)
Mit der Zeit und spätestens im Kindergarten gewinnen zahlreiche, einem mitunter nicht sonderlich vertraute Menschen sprachlichen Einfluss auf das eigene Kind.
»Papa, der Franz hat aber auf der Toilette ›Scheiße‹ gesagt!«
Ja, toll. Vielen Dank auch, Franz. Wobei, ganz unrecht hat Franz natürlich nicht. Und bei Sätzen wie »Ja, ich verstehe, mein Schatz, wir hier zu Hause sagen aber lieber ›Häufchen‹ dazu« möchte ich persönlich lieber nicht belauscht werden. Da heißt es im Zweifel: Loslassen und sich verabschieden – also nicht gleich vom Kind, sondern davon, dass die eigenen Kinder nur durch einen selbst geprägt werden.
Wäre ja auch fatal, oder? Für Eltern wie auch für Kinder. Man stelle sich vor, man lebe in einer Welt voller Sozialklone. Und wenn man ganz tief in sich hineinhört, weiß man doch auch, dass man sich eigentlich selbst kaum aushält, und das schon in einfacher Ausführung. Was will man da noch eine zusätzliche Version in Miniaturausgabe? Doch die allgegenwärtige Selbstüberschätzung lässt auch diese vermeintliche Selbstverständlichkeit zu einem Abenteuer werden.
Reinhard Mey singt die wunderbaren Zeilen: »Kinder sind uns ja nur für eine kurze Zeit geliehen. Sie sind ja gekommen, um weiterzuziehen.« Stimmt wahrscheinlich. Wenn mein größter Sohn nach sechs Stunden aus dem Kindergarten kommt, ist er meistens fertig wie nach einem Managerarbeitstag, hat allerdings deutlich mehr Produktives geleistet. Wir haben auf dem Nachhauseweg ein festes Ritual. Ich frage ihn, was sie im Kindergarten alles so gemacht haben, und er sagt daraufhin: »Weiß ich noch nicht!« Witziger Typ. Dabei schaut er mich mit einem Blick an, der mir unmissverständlich sagen soll: »Alter, komm halt morgens mit, wenn’s dich so brennend interessiert!«
Würde ich ja. Ich darf aber nicht. Ich bin zu groß. Und wahrscheinlich auch zu doof. Außerdem bräuchte ich nach sechs Stunden auf diesen winzigen Stühlchen vier Wochen Rückbildungsgymnastik. Na ja, die könnte ich ohnehin gebrauchen. Das ständige Hochheben, Absetzen, Einfangen und Rumschleppen von kleinen Kindern fühlt sich zwar genauso anstrengend an wie Leistungssport, führt jedoch nicht einmal zu Gewichtsverlust im Milligrammbereich. Das Leben ist schon ungerecht: Die einen joggen eine Viertelstunde durch den Stadtwald und sehen athletisch aus wie sonst was, ich hingegen hebe stundenlang und Tag für Tag über Jahre hinweg fünfzehn Kilo schwere Kinder hoch und wieder runter und nehme Jahr für Jahr zu. Klar, das könnte auch am Frust-Camembert am späten Abend (19.57 Uhr) liegen.
Viertens merkt man, dass der für uns so fest etablierte Zusammenhang von Sprache und Welt in Wahrheit ziemlich zufällig ist, da Kinder ja auch mit ziemlich falsch hervorgebrachten Worten ganz gut verstanden werden.
»Laddat bittö. Pateta Lea. Lockel! Lockel!« aus dem Mund meines mittleren Sohnes bedeutete ohne jede Frage und zweifelsohne: »Lass das bitte, Patentante Lea. Schaukel! Schaukel!«
Ich weiß gar nicht, wo das Problem sein soll. Es gibt tatsächlich Leute, die den Knirps nicht verstehen. Wie sind die denn drauf?
Zugegeben: Dass ein Kind angeblich spreche, wird zunächst einmal von zutiefst euphemistischen Eltern als Behauptung in den Raum gestellt. Der Rest der Menschheit merkt es erst Monate später. Nämlich dann, wenn der Pupsi tatsächlich spricht. Ein gutes Beispiel dafür, dass man Kinder eigentlich nie richtig einschätzt und als Erwachsener dazu verdammt erscheint, die kleinen Racker entweder zu über- oder zu unterschätzen. Schätze ich mal.
Das Spiel, in dem wir so tun, als würden bestimmte Wörter wie die Faust aufs Auge zu bestimmten Dingen in der Welt passen, ist für kleine Kinder mehr als eine große Freude. Es ist der Hammer, der absolute Wahnsinn und wird von entsprechender Partylaune begleitet. Ein tatsächliches Lesen von Büchern, ein halbwegs narratives Durchschauen von Bilderbüchern findet gar nicht statt – nein, da werden stundenlange Tests durchgeführt und erworbenes Wissen beinhart abgeklopft.
»Und was ist das, mein Schatz?«
»Totodiiehl.«
»Jaaa, genau, ein Krokodil!«
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