Elternarbeit und Behinderung -  - E-Book

Elternarbeit und Behinderung E-Book

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Beschreibung

Mit einem behinderten Kind zu leben, stellt Eltern und Familien vor verschiedenste Herausforderungen. Fachlich einfühlsame und kompetente Angebote wie Beratung, Begleitung, Therapie und Assistenz vermögen Entwicklungschancen für alle Familienmitglieder zu unterstützen sowie lebensweltbezogene Empowermentprozesse zu fördern. Daraus können lebensbedeutsame Potentiale erwachsen, die zu einer nachhaltig gelingenden Lebensführung beitragen. Die Autorinnen und Autoren thematisieren aus verschiedenen Perspektiven (Wissenschaft, Praxis, eigene Betroffenheit) relevante Aspekte, die Lebenslauf und Lebenswelt in ihrer Diversität betreffen und auf Möglichkeiten der Partizipation, Kooperation und Inklusion zielen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Einführung

I Lebenslagen und Gestaltungsformen des Lebens von Familien mit behinderten Angehörigen und Familien in schwierigen Lebenssituationen

Familie und Familien in besonderen Lebenslagen im Kontext sozialen Wandels – soziologische Perspektiven

Familie und Familien im gesellschaftlichen Diskurs

Der Einzelne und seine Familie im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang

Eine kurze Skizze der Formierung der modernen Familie

Familie aus soziologischer Perspektive

Ausgewählte Befunde zur Situation der Familien in der Bundesrepublik

Generelle Entwicklungslinien

Lebenslagen und Familienwirklichkeiten

Familien mit beeinträchtigten und chronisch kranken Familienmitgliedern – zur Situation des Familienlebens unter erschwerten Bedingungen

Familien mit beeinträchtigten Familienmitgliedern in der Inklusionsdebatte

Literatur

Mütter, Väter und Großeltern von Kindern mit Behinderung. Herausforderungen – Ressourcen – Zukunftsplanung

Zur Situation von Müttern

Zur Situation von Vätern

Zur Rolle von Großeltern

Ressourcen

Erwachsenwerden des Kindes

Zukunft vorbereiten

Literatur

Die Situation der Geschwister – »Wir behandeln alle unsere Kinder gleich.« Von solchen und anderen Irrtümern in Familien mit behinderten oder chronisch kranken Kindern

Irrtum No. 1: Wir behandeln alle unsere Kinder gleich

Irrtum No. 2: Das Wichtigste im Leben unserer Kinder sind wir Eltern

Irrtum No. 3: Eine gute Mutter ist selbstlos

Irrtum No. 4: Väter halten sich gern raus

Irrtum No. 5: Rivalität ist gemein

Irrtum No. 6: Unsere Kinder nehmen die Behinderung ihres Geschwisters gar nicht so genau wahr und sie wollen auch nichts Näheres darüber wissen

Irrtum No. 7: Die gesunden Geschwister sind dankbar dafür, dass nicht sie krank oder behindert sind

Irrtum No. 8: Je schwerer die Behinderung oder Krankheit, um so größer die Belastung für die Familie

Irrtum No. 9: Wir schaffen das allein

Irrtum No. 10: Wenn wir mal nicht mehr leben, kümmert sich unsere Tochter um unseren behinderten Sohn

Irrtum No. 11: Experten wissen am besten, was zu tun ist

Literatur

Familien mit geistig behinderten Eltern. Lebenslagen – Herausforderungen – Handlungsempfehlungen

Häufigkeit von Elternschaft bei intellektueller Beeinträchtigung

Rahmenmodell für Elternschaft bei intellektueller Beeinträchtigung

Bewältigung elterlicher Anforderungen

Kindliche Entwicklung unter den Bedingungen von intellektueller Beeinträchtigung der Eltern

Handlungsempfehlungen für die (Familien-)‌Politik und für die sozialpädagogische Praxis

Gleiche Rechte – Gleiche Pflichten

Merkmale und Formen wirksamer Unterstützung

Empfehlungen für den strukturellen und inhaltlichen Auf- und Ausbau von Hilfesystemen

Literatur

Sich-Einlassen mit dem ›Fremden‹ im Anderen und im Eigenen: Eine Grundlage der Arbeit mit Familien in Armut und Benachteiligung

Problemaufriss

Die sozial-kulturell andere Welt im Erleben und Verhalten der Fachleute

Die sozial-kulturell andere Welt im Erleben und Verhalten von sozial benachteiligten Familien

Grundzüge der Kooperation mit sozial benachteiligten Familien

Zu Stellenwert und Wirksamkeit der Arbeit mit Familien in Armut und Benachteiligung

Handlungsorientierende Überlegungen zur Kooperation mit Familien in Armut und Benachteiligung

Schlussbemerkungen

Literatur

»Unter die Deutschen gefallen« – Aufmerksamkeiten von und auf Eltern von Kindern mit einer Behinderung in der Migrationsgesellschaft

Die wahren kulturellen Konfliktlinien: »Temperamente« in der Zusammenarbeit von Professionellen und Eltern/Familien

Allgemein differenzsensible Kommunikation im Hinblick auf Transkulturalität zur Vermeidung von Ethnisierung und Kulturalisierung von Differenzen

Differenzieren statt polarisieren

Entkategorisieren und entschematisieren

Historisieren statt essentialisieren

Kontextualisieren statt kulturalisieren

Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt in einem inklusionsorientierten Diversity Management

Literatur

II Lebenslaufbezogene Kooperationssituationen der Beratung und Begleitung von Familien

Ärztliche Aufgaben in der Beratung der Eltern

Einführung

Einflussfaktoren auf die Entwicklung

Chronische Erkrankungen, Gesundheits- und Entwicklungsstörungen

Kinder und Jugendliche als Menschen mit Behinderungen

Personen- und familienorientierte Diagnostik

Ärztliche und interdisziplinäre Diagnostik

Diagnosestellung

Diagnoseeröffnung

Hat mein Kind eine Behinderung? Die Situation der Eltern

Intrapsychische Verarbeitung und Coping Prozess

Angebote der weiteren Begleitung

Literatur und Quellen

Vertrauen und Zutrauen im Kontext von Entwicklungsdiagnostik in der Frühförderung

Vertrauen und Zutrauen

Vertrauen in der Frühförderung

Vertrauen und Zutrauen in der Entwicklungsdiagnostik

Entwicklungsdiagnostik ist alltagsorientiert

Entwicklungsdiagnostik ist ressourcen- und kompetenzorientiert

Entwicklungsdiagnostik und Entwicklungsbegleitung sind kooperativ und partizipativ

Ko-Konstruktion zur Vertrauensbildung

Literatur

Onlineberatung zur Entwicklung von Lern- und Verhaltensprogrammen bei Autismus Spektrum Störungen

Autismus Spektrum Störungen

Evidenzbasierte Therapien bei Frühkindlichem Autismus

Autismusspezifische Verhaltenstherapie (AVT) und Applied Behavior Analysis (ABA)

Empowering Eltern

Online-Beratung

Wie funktioniert Online-Beratung?

Wer kann von Online-Beratung profitieren?

Hier einige E-Mail-Kommentare nach entsprechenden Online-Beratungen (Die Namen wurden verändert)

Videoanalyse und Videotraining

Visuelle Stärken bei ASS

Was ist Videomodellierung?

Vorteile von Videomodellierung

Untersuchungen zur Videomodellierung

Käufliche und individualisierte Programme zur VM

Cartoon und Script Curriculum für Autismus

Ausblick

Literatur

Verständigung und Verstehen: Herausforderungen an Jugendliche in der Adoleszenz, ihre Eltern und Fachpersonen

Einleitung

Der Einzelfall: Jonathans Geschichte

Einordnungen: Zur Situation von Familien mit Jugendlichen mit Behinderung und zu Rahmenbedingungen von Schulen

Bausteine eines theoretischen Verständnisses von Verständigung

Verständigung als herausfordernde Aufgabe

Literatur

Der Übergang von der Schule in die Arbeitswelt

Berufsorientierung

Berufswahl

Berufsqualifizierung

Studium

Ausbildung

Berufsbildungswerke (BBW)

Berufsförderungswerke (BFW)

Berufsvorbereitende Einrichtung (BVE) und Kooperative berufliche Bildung und Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (KoBV)

Angemessene berufliche Bildung

Berufstätigkeit

Werkstatt für behinderte Menschen

Exkurs Recht auf Arbeit: UN-Deklaration der Menschenrechte, EU-Charta, UN-Behindertenrechtskonvention

Informationen im Internet

Literatur

Zu aktiver Freizeitgestaltung ermuntern

Eine »Freizeit-Kultur« aufbauen von Anfang an

Eigene Interessen umsetzen, Eigenmotivation stärken

Keine Motivation und wenig Eigeninitiative

Freizeitaktivitäten

Wer hilft dabei? Freizeitcoach

Angebote in der Gemeinde nutzen

Gemeinsam aktiv sein macht Spaß

Aktivitäten mit anderen Menschen mit Down-Syndrom

Angepasste Bildungsangebote

Ein strukturiertes Programm für die Freizeit

Soziale Kontakte

Aktive Freizeit – Mehr als bloß beschäftigt sein

Herausforderung für Familien und Assistent

Literatur

Auszug aus dem Elternhaus: Wohnformen mit Assistenz oder wohnbezogene Assistenz?

Einleitung

Entwicklungslinien der Unterstützung für Menschen mit Behinderungserfahrung

Bedarfsgerechte wohnbezogene Unterstützung – Ableitungen aus einem Praxisbeispiel

Konsequenzen für das Wohnen mit Assistenz

Literatur

Sexualerziehung, Partnerschaft und Kinderwunsch bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen

Sexualpädagogische Grundlagen

Pubertätsentwicklung und ihre erzieherischen Herausforderungen

Kinderwunsch bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen

Sexualpädagogik als lebensbegleitendes Angebot

Literatur

Mit Behinderung altern – Risiken der Exklusion und Chancen gesellschaftlicher Teilhabe

Einleitung – »Der demographische Wandel«

Begriff und Altersbilder – »ageism versus antiageing«

Teilhaberisiken im Alter

Übergang in den Ruhestand

Freizeit

Wohnen

Soziale Netzwerke

Bildung

Gesundheit

Teilhabechancen im Alter

Literatur

Begleitung in der letzten Lebensphase im Alter: Zur Rolle der Geschwister

Einleitung

Letzte Lebensphase: Einführende Informationen

Geschwister eines alternden Menschen mit einer Behinderung

Erfahrungen in der Begleitung eines Familienmitgliedes mit Behinderung in seiner letzten Lebensphase

Begleitung vom Leben in den Tod

Literatur

Anhang

Lebensgeschichte von Nick Gerber

III Lebenslaufbezogene Selbsthilfe, Elternbildung und soziale Schutzrechte

Eltern und Fachpersonen. Gedanken zu einer sensiblen Beziehung

Die besondere Situation von Eltern eines Kindes mit Behinderung

Eltern und Fachpersonen: Eine durch Spannungsfelder charakterisierte Beziehung

Haltungen zu Inklusion und Separation

Rollenverständnis der Begleitenden von Menschen mit einer geistigen Behinderung

Vorstellung über den Förderbedarf und die Erreichbarkeit von Zielen

Schlussbetrachtung

Literatur

Eltern stärken. Förderung von Empowermentprozessen durch Elternseminare

Entwicklung der Elternseminare

Seminare für Eltern mit Kleinkindern

Seminare für Eltern mit Kindergarten- und Schulkindern

Seminare für Eltern und für Jugendliche mit Down-Syndrom

»Wir sind nicht allein«. Empowerment und Selbsthilfe

Literatur

Rechtliche und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen für Familien von Kindern mit Behinderungen in den Ländern Österreich, der Schweiz und Deutschland

Einleitung

Zum Verständnis von Behinderung

Partizipation von Familien mit Kindern mit Behinderung

Zum Begriff Familie

Familie in den Verfassungen der deutschsprachigen Länder

Familien in Berichten der deutschsprachigen Länder

Familien mit Kindern mit Behinderung in den UN-Konventionen UN-KRK und UN-BRK

Zum Schluss: Rahmenbedingungen der Situation von Familien mit Kindern mit Behinderung

Literatur

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Die Herausgebenden

Prof. Dr. phil. Udo Wilken, Dipl.-Päd., Sonderschullehrer und Pastor a.D. Arbeits- und Forschungsbereiche in Verbindung mit der HAWK-Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim sind: Soziale Arbeit, Rehabilitation und Inklusion sowie Sozialethik.

Prof. tit. em. Dr. phil. Barbara Jeltsch-Schudel ist Sonderpädagogin und war Leiterin des Studienprogramms Klinische Heilpädagogik und Sozialpädagogik am Departement für Sonderpädagogik an der Universität Freiburg/Schweiz. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit (Forschung, Lehre, Weiterbildung) beschäftigt sie sich mit der Situation von Familien mit Angehörigen mit Behinderung, mit Identität unter den Bedingungen einer Behinderung bezogen auf die ganze Lebensspanne, mit der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom im Kontext sowie mit der Thematik der Rechte von Kindern mit Behinderungen.

Udo Wilken, Barbara Jeltsch-Schudel (Hrsg.)

Elternarbeit und Behinderung

Partizipation – Kooperation – Inklusion

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043006-8

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043007-5epub: ISBN 978-3-17-043008-2

Einführung

Eltern behinderter Kinder, Familien in schwierigen Lebenslagen und Angehörige von Menschen mit Behinderungen sind mit vielen, verschiedenartigen und sich im Laufe des Lebens verändernden Herausforderungen konfrontiert, für die sie Gestaltungsformen und Lösungen finden müssen. Ein für alle Familienmitglieder lebbares und entwicklungsförderliches Zusammenleben ist dabei ebenso anzustreben, wie gleichzeitig gesellschaftliche Anforderungen erfüllt werden müssen. Diese sind oft widersprüchlich; sie definieren einerseits Situation, Funktionen und Aufgaben dieser Familien normativ und bieten andererseits Unterstützungsmaßnahmen zu verbessertem Umgang mit belastenden Situationen an. Was genau unter Belastung zu verstehen ist und wie Entlastung aussehen kann bzw. soll, kann sich je nach Perspektive – Betroffenheit, Fachgebiet, institutionellen Rahmenbedingungen – unterscheiden.

Dennoch herrscht wohl Einigkeit darüber, dass sich Möglichkeiten angemessener Unterstützung finden lassen, gerade auch unter Beizug verschiedener Sichtweisen und Beteiligungen. So etwa kann sich die Aktivierung und Organisation von Ressourcen durch Unterstützung, Assistenz und Beratung sowie durch Bildung von Netzwerken in der lebenslauforientierten Elternarbeit und bei der Zusammenarbeit mit Familien von behinderten Kindern als hilfreich und resilienzförderlich erweisen. Dabei können eine einfühlsame und verständige fachliche Beratung und eine respektvolle Begleitung helfen, offene Möglichkeiten der individuellen Entwicklung zu erkennen und soziale Teilhabechancen trotz bestehender Behinderungen oder benachteiligender Lebenssituationen zielgerichteter wahrzunehmen – und sie kann dazu beitragen, mögliche Grenzen und Begrenzungen nicht zu verdrängen.

Zudem hat sich eine lebenslaufbegleitende Eltern- und Familienarbeit nicht auf medizinisch-therapeutische und heil- bzw. sonderpädagogische Aspekte zur beschränken, sondern sie muss auch psycho-dynamische, sozial-strukturelle, sozialrechtliche, gesellschaftspolitische und ökonomische Herausforderungen einbeziehen. Denn Familien können mit einer Vielzahl tendenziell überfordernder individueller und familialer Lebenserschwernisse konfrontiert sein, für die häufig weder persönliche Bewältigungsmuster noch intergenerationell tradierte Erfahrungen und Routinen bestehen, auf die zurückgegriffen werden könnte.

Damit einhergehende Irritationen erfordern von den Familien besonders in lebenslauftypischen Schwellensituationen Entscheidungen, um gegebene, behindernde Grenzen und gleichwohl vorhandene Optionen abwägen zu können. Auf Wunsch und nach Bedarf sollten Familien in solchen Situationen durch kompetente, interdisziplinär vernetzte und kooperierende Fachpersonen auf der Grundlage des Respekts vor der elterlichen Entscheidungsautonomie und mit zunehmendem Alter auch unter Berücksichtigung des kindlichen Willens begleitet werden.

Zusammenarbeit, Beratung, Begleitung, Therapie, Assistenz und Unterstützung – die alle Familienangehörigen, nicht nur Eltern und Kind im Blick haben – sind Angebote, welche die Entwicklung jener lebensweltbezogenen Empowermentprozesse fördern sollen, die zu einer gelingenden alltagsorientierten individuellen und familialen Lebensführung beitragen und welche geeignet erscheinen, Inklusion in die sozialen Lebensfelder von Betreuung, Erziehung und Bildung sowie von Arbeit, Wohnen, Freizeit und Partnerschaft sichern zu helfen. Letztlich beabsichtigt eine solchermaßen ressourcenorientierte Eltern-‍, Familien- und Angehörigenarbeit, das aktuelle individuelle Wohlbefinden der Betroffen und ihre Zugehörigkeit zu ihren gesellschaftlichen Kontexten zu fördern und unter dem Aspekt nachhaltiger Lebensqualität sowohl ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe zu stärken sowie sie auch darin zu unterstützen und zu ermutigen, ihre individuellen Ansprüche auf Partizipation und Inklusion kompetent wahrzunehmen.

Die verschiedenen Beiträge dieses Buches haben zweierlei im Blick: Beschreibung und Analyse belastender Situationen von betroffenen Familien als Basis für Darstellung und kritische Reflexion möglicher Angebote unter Einbezug mehrerer unterschiedlicher Perspektiven und Zugänge verschiedener Fachdisziplinen.

Entsprechend der Logik theoriegeleiteter professioneller Arbeit werden in einem ersten Teil Lebenslagen und Gestaltungsformen des Lebens von Familien entfaltet, deren Situation von Behinderungen, Beeinträchtigungen und Benachteiligungen gekennzeichnet ist. Geprägt vom gesellschaftlichen Kontext, dem sozialen Wandel und den daraus resultierenden Implikationen haben sich diese Familien mit der Behinderung ihres Kindes auseinanderzusetzen und müssen sich zum Teil mit Armut und Migrationshintergrund zurechtfinden. Das Erleben und Umgehen mit den daraus entstehenden Anforderungen sind je nach Familienmitglied – Eltern, Geschwister, Großeltern – unterschiedlich.

Der zweite Teil dieses Bandes thematisiert Lebensbezogene Kooperationssituationen der Beratung und Begleitung von Familien. Im Laufe der Entwicklung eines Kindes stellen sich Familien immer wieder Herausforderungen, oft im Zusammenhang mit Übergängen. Beginnend mit der Diagnosestellung über Frühförderung, Kindergarten und Schule bis hin zu Themen der Arbeitswelt, der Freizeitgestaltung und zum Altern werden verschiedene Möglichkeiten von Zusammenarbeit, Entlastung, Unterstützung und Begleitung von Familien mit behinderten Kindern in ihren individuellen sozialen Kontexten durch Fachpersonen verschiedener Disziplinen dargestellt. Nicht nur üblicherweise vorgesehene und seit längerem bewährte institutionelle und professionelle Angebote werden dabei berücksichtigt, sondern auch aktuelle Themen sowie innovative Aspekte aufgegriffen.

Mit Beiträgen zu Lebenslaufbezogener Selbsthilfe, Elternbildung und sozialen Schutzrechten schließt das Buch. In diesem dritten Teil werden die Sichtweisen der Eltern akzentiuert, in Bezug auf Selbsthilfe und Austausch in Elternseminaren und in reflektierter Darstellung ihrer eigenen Situation. Eine Skizzierung der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Familien mit Angehörigen mit Behinderung in den deutschsprachigen Ländern rundet das Buch ab.

In der vorliegenden überarbeiteten, aktualisierten und erweiterten 2. Auflage von »Elternarbeit und Behinderung« wurde versucht, formal und inhaltlich gebotene Sensibilität zu berücksichtigen. Der sprachliche Umgang mit Gender wurde den Autorinnen und Autoren überlassen, die Literaturangaben jedoch soweit wie möglich ergänzt über die üblichen Formalia hinaus. Inhaltlich wurden die Beiträge von 2014 aktualisiert und überarbeitet. Einige neue Artikel beschäftigen sich mit Themen, die die komplexe Thematik der »Elternarbeit« erweitern.

Gelingende Beziehungen zwischen Familien mit Angehörigen mit Behinderung und in schwierigen Lebenssituationen und Fachpersonen anzustreben und aufzubauen, ist als wesentliche Zielsetzung für professionelle Eltern- und Angehörigenarbeit zu verstehen. Basis sind gegenseitiger Respekt und ein sensibler Umgang mit Unterschiedlichkeiten, wie kulturellem Hintergrund, Geschlecht, Alter. Eine sorgsame und aufmerksame Beachtung der jeweiligen Wertvorstellungen kann hier zu Verbesserungen und Entlastungen der betroffenen Familienmitglieder beitragen und ihre Lebensqualität erhöhen. Dabei dürften sich Inklusion und Partizipation als wesentliche Elemente gelingender Kooperation erweisen.

Die verschiedenen Perspektiven und Thematiken der hier gesammelten Beiträge mögen dazu hilfreiche Anregungen geben.

Hildesheim & Freiburg (Schweiz)Udo Wilken & Barbara Jeltsch-Schudel

I Lebenslagen und Gestaltungsformen des Lebens von Familien mit behinderten Angehörigen und Familien in schwierigen Lebenssituationen

Familie und Familien in besonderen Lebenslagen im Kontext sozialen Wandels – soziologische Perspektiven

Ernst von Kardorff & Heike Ohlbrecht

Familie und Familien im gesellschaftlichen Diskurs

Diskurse über die Familie in der modernen Gesellschaft sind in ein schwer zu entwirrendes Geflecht alltagsweltlicher, politischer, normativer und ideologischer Dispositive verwoben. Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Familiengeschichte, kann von beglückenden, unterstützenden und bereichernden, aber auch von enttäuschenden, beengenden oder bedrückenden Erfahrungen mit der eigenen Familie und Verwandtschaft berichten, weiß intuitiv, was Familie »ist«, und besitzt in der Regel recht klare Vorstellungen darüber, wie eine »richtige« Familie beschaffen sein, das Aufwachsen in einer »guten« Familie aussehen und was sie leisten sollte und wie der Staat die Familie unterstützen und entlasten und dabei zugleich ihre Autonomie wahren sollte. Diese Überzeugungen werden von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt; das gilt auch für Alltagstheorien über Familie wie etwa die biologisierende Analogie, die Familie als universelle »Keimzelle« der Gesellschaft betrachtet und sie den höheren und »kalten« staatlichen Organisationsformen als ursprünglicheres, verlässliches und emotional schützendes Gebilde gegenüberstellt. Die hohe Wertschätzung der Familie1 seitens der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung weltweit findet ihre Entsprechung und Legitimation in religiösen Glaubenssystemen und in der staatlichen Familienpolitik – wenngleich nicht immer aus denselben Gründen und Motiven.

Ein Blick in die aktuelle Empirie der Familienwirklichkeit‍(en) liefert ein differenzierteres Bild und verweist auf starke Veränderungen in den Familienformen, der Familiengröße, dem Grad der verwandtschaftlichen Unterstützung, den Zeitpunkten der Eheschließung oder der Einstellung zur lebenslangen Ehe und Partnerschaft (Ecarius & Schierbaum 2022). Diese Veränderungen lassen sich als Reaktionen auf Prozesse sozialen Wandels auf makrosozialer Ebene verstehen: hierzu gehören u. a. die demografische Entwicklung als besondere Herausforderung für die Familien, etwa im Bereich der Pflege alt gewordener Familienangehöriger bei abnehmender Kinderzahl und gestiegener Lebenserwartung; hinzu kommen der säkulare Trend zu Individualisierung und Singularisierung mit Folgen für die familiale Geschlechterordnung und die Kindererziehung, die veränderten Bedingungen der Arbeitswelt mit Folgen für das Verhältnis von Arbeits- und Familienzeit, die gestiegenen Anforderungen an die (Aus-)‌Bildung der Kinder mit der Folge höherer Ausgaben und verlängerten Zeiten des Verbleibens der jungen Menschen in der Herkunftsfamilie. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der Medien auf familiale Lebensführung und Konsumpräferenzen; besonders bei Eltern aus den Mittelschichten wird eine »Bildungspanik« beobachtet (Bude 2011), die durch Staat und private Bildungsanbieter geschürt wird und mit Ängsten vor sozialem Abstieg und einem Verlust des Anschlusses an Aufstiegsperspektiven verbunden ist. Darauf reagieren Familien in Abhängigkeit von Bildungsstand, Milieuzugehörigkeit und ihren jeweiligen familialen Traditionen und Ressourcen mit unterschiedlichen und unterschiedlich erfolgreichen Anpassungsstrategien, flankiert von staatlichen Anreizsystemen, steuerlicher Entlastung und einem differenzierten Hilfesystem, das ein breites Spektrum von steuerlichen Anreizen von Kindergeld und der geplanten Kindergrundsicherung bis zu Familienberatungsstellen und familienentlastenden Angeboten umfasst.

Studien zu den Lebenslagen von Familien2 verweisen auf soziale und gesundheitliche Ungleichheiten, vielfältige Krisenphänomene und besondere Belastungen, etwa von Alleinerziehenden und von Familien in Armutslagen oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnsektor. Familien mit einem behinderten oder chronisch erkrankten Familienmitglied stellen hierbei eine besonders vulnerable Gruppe dar, die häufig Erfahrungen von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt ist (Nehring et al. 2015), oftmals im Gesundheits- und Versorgungssystem Benachteiligungen oder unzureichende Unterstützung erfährt, zusätzliche finanzielle Belastungen zu tragen hat, oft nur schwer an einschlägige Informationen gelangt und mit vielfältigen Barrieren zur gesellschaftlichen Teilhabe konfrontiert ist (bmas 2013; 2016; 2021). Dies wirkt sich belastend auf die Binnenstruktur des Familiensystems und die Beziehungen ihrer Mitglieder aus: zusätzlich zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Sorge um das betroffene Familienmitglied, der Suche nach einer sinnhaften Einordnung der neuen und besonderen Lebenssituation in die Lebens- und Zukunftsgestaltung der Familie, den erforderlichen Umstellungen des Familienalltags, der individuellen Bilanzierung von Verlust- und Verzichtserfahrungen usw. kommt die Auseinandersetzung mit dem Angewiesensein auf professionelle Hilfen und damit einhergehenden Abhängigkeiten und Bedrohungen der familiären Autonomie hinzu. Weil Familien mit einem behinderten oder chronisch erkrankten oder pflegebedürftigen Familienmitglied aber in erster Linie Familien sind, zeichnen wir zunächst die großen Entwicklungstrends der modernen Familie allgemein aus soziologischer Perspektive nach.

Der Einzelne und seine Familie im gesellschaftlichen Funktionszusammenhang

Jeder Mensch bleibt lebenslang Kind seiner Eltern und damit Mitglied einer unkündbaren Familie‍(nformation)3, in die sie/er zufällig hineingeboren wurde. Als »physiologische Frühgeburt« (Portmann 1969) bleibt das Neugeborene zunächst auf direkte Fürsorge angewiesen, als instinktoffenes »Mängelwesen« (Gehlen 1997) ist es auf Unterweisung, Schutz und Sorge im jeweils zuständigen Familien- oder Verwandtschaftsverband angewiesen; die Enkulturation, also das Vertrautgemachtwerden und das Einüben kultureller Traditionen, sozial geforderter Tugenden und der Üblichkeiten des gesellschaftlichen Alltags sowie die Aneignung komplexer Wissensbestände erfordern die Begleitung und Förderung seitens der Eltern, die dabei heute von einer Vielzahl von Ratgebern und dafür ausdifferenzierten Institutionen und Professionen unterstützt, aber auch gelenkt und ggf. unter Stress gesetzt werden. Zugleich bringen Kinder eine hohe Anpassungsfähigkeit, Lernpotentiale und die Anlage zur Bildsamkeit mit. Im Verlauf der »beiläufigen« familialen Sozialisationsprozesse und gezielter Erziehungsbemühungen werden dem Einzelnen die für das (Über-)‌Leben in der jeweiligen Gesellschaft wesentlichen Grundlagen vermittelt, die auch Optionen zur Entwicklung zu einer eigenständigen Person und die Voraussetzungen zur Ablösung und Neugründung einer eigenen Familie umfassen. Gleichwohl bleibt jeder Mensch seiner Herkunftsfamilie lebenslang emotional, etwa durch gesellschaftlich codierte Verpflichtungsgefühle und sozial sanktionierte Erwartungen zur Sorge und Solidarität verbunden und auch noch nach der Ablösung von der Herkunftsfamilie in Abgrenzung oder Ablehnung dauerhaft an sie gebunden. In seiner Identitätsfindung bleibt der/die Einzelne von familialen Traditionen und der darüber vermittelten gesellschaftlichen Werte-‍, Normen- und Wissensordnung sowie von ihren Gewohnheiten und Ritualen geprägt, die in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt individuell gestaltet und angeeignet werden müssen.

Eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Werteordnungen, Normen- und Regelsysteme und gesetzliche Rahmungen stellt die Familie nach wie vor die erste und zentrale gesellschaftliche Sozialisationsinstanz dar, die für ein gelingendes Hineinwachsen der Individuen in die durchschnittlichen Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft an normkonformes Verhalten, zentrale Wissensbestände und nicht zuletzt für die Ausbildung der »Gewohnheiten des Herzens« (Bellah et al. 1985), der emotional verankerten Wahrnehmungsformen und kulturellen Interpretationsmuster gesellschaftlicher Wirklichkeit‍(en) und ihrer Dynamiken verantwortlich ist. Die Entwicklung und die Chancen des Einzelnen in der Gesellschaft hängen vom emotionalen Klima in der Familie, dem milieuabhängig vermittelten sozialen und kulturellen Kapital, der finanziellen Ausstattung und der gesellschaftlichen Statusposition der Eltern sowie von ihrer Zugehörigkeit zu den gesellschaftlich bestimmenden oder eher marginal‍(isiert)‌en Gruppen oder zu den besonders auf Hilfen angewiesenen Familien ab.

Weil die Familie den ersten und nachhaltig prägenden sozioemotionalen Kontakt für jeden Menschen darstellt, Einstellungen und Verhaltensweisen nachhaltig prägt und der Ort für die Erfahrung von Gemeinschaft und für das Verhältnis zur sozialen Mitwelt ist, entzünden sich an säkularen Veränderungen der Familie immer wieder gesellschaftliche Kontroversen, die sich in der Auseinandersetzung um die »richtige« Familienpolitik niederschlagen. Dies verweist darauf, dass Prozesse des sozialen Wandels schnelleren und machtvolleren ökonomischen, technologischen und politischen Konjunkturen und Zeitperspektiven folgen als die widerständigeren und sich langsamer ändernden Formen des Familienlebens, das für sein Funktionieren auf Erwartungssicherheit in vertrauten Routinen angewiesen ist. Damit erweist sich Familie als strukturkonservative gesellschaftliche Institution, die sich gleichwohl mit den säkularen Veränderungen emotional wie auch strukturverändernd auseinandersetzen muss und dabei Transformationsprozessen unterliegt, sie aber auch selbst vermittels der Aneignung veränderter gesellschaftlicher Bedingungen aktiv gestaltet.

Aus der Perspektive der Gesellschaft und ihrer politischen Organisationsformen erfüllt Familie zentrale Funktionen bei der Reproduktion der jeweiligen normativen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ordnung. Von daher werden das starke Interesse der Politik an der Familie – dokumentiert in neun Familienberichten der Bundesregierung seit 1965 – und die Heftigkeit familienpolitischer Kontroversen verständlich; dort wird grundsätzlich über ihren gesellschaftlichen Stellenwert, etwa für die Erziehung der Jugend, die demografische Entwicklung oder ihre Rolle für die Reproduktion der Arbeitskraft, für die Gewährleistung von Bildungsprozessen und eine gesunde Lebensweise im Prozess des sozialen Wandels verhandelt. Besonders in den Blick geraten dabei die »unbotmäßigen« Unterschichtfamilien, deren Erziehungspraxen und Wertorientierungen entlang der idealisierten Norm der erfolgreichen »Normalfamilie« kritisiert und mit regulierenden Interventionen (z. B. Bildungsgutscheine) und dem System der Familien- und Jugendhilfe »auf den rechten Weg« gebracht oder durch »nudging« und staatliche Programme und Kampagnen zu einer gesunden Lebensführung (Schönberger 2022) motiviert werden sollen. In allen staatlich organisierten Gesellschaften werden das Verhältnis zwischen Zielen und Umfang der Förderung von Familien, staatlicher Einflussnahme auf und Kontrolle der Familie sowie die Erwartungen und Ansprüchen an sie auf der einen und die Sicherung ihrer Autonomie auf der anderen Seite beständig neu justiert. Das gilt besonders für die Rolle der Geschlechter, die Erziehungsziele und -praktiken und die Förderung von Bildungsaspirationen und beruflicher Qualifizierung der Kinder, das Gesundheitsverhalten oder das Verhältnis von Arbeits-‍, (Aus-)‌Bildungs- und Familienzeit, aber auch für Erwartungen an Eigeninitiative und die Übernahme von Aufgaben in der Familie (wie z. B. Pflege) und der Zivilgesellschaft.

Eine kurze Skizze der Formierung der modernen Familie

Bis etwa zum 18. Jahrhundert war Familie in Europa zunächst vor allem eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft unter einem religiösen Baldachin; sie war überwiegend eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft und unterlag der Kontrolle durch die lokale Gemeinschaft, die Kirche und den zuständigen Lehnsherrn oder Fürsten. Eheschließungen z. B. bedurften der Zustimmung durch weltliche Autoritäten und setzten ausreichende materielle Güter voraus. Auch der gefühlsbetonten Mutterliebe kam keine zentrale Rolle zu: eine lange, emotional beschützte Kindheit oder Adoleszenz sind ebenso erst ein Ergebnis der Moderne wie gezielte Bildungsanstrengungen, die vorher nur bei Adel und Klerus eine Rolle spielten. Die Familienform war vielfach das »Haus« (Familie als Produktions- und Lebensort), zu dem neben der Kernfamilie auch Verwandte, Mündel, Gesinde etc. gehörten, was zum Mythos der »Großfamilie« beigetragen hat; die Regel waren kleinere Familiengrößen mit drei bis vier Kindern; aufgrund der Säuglingssterblichkeit lag jedoch die Geburtenrate deutlich höher, und wegen der geringeren Lebenserwartung waren auch Mehrgenerationenfamilien eher die Ausnahme. Große Familien mit zehn und mehr Kindern sind ein Übergangsphänomen des entstehenden städtischen Proletariats. Erst das Bürgertum konnte die Familie als Gemeinschaft, Zufluchtsstätte und Erholungsraum idealisieren, vor allem aufgrund einer verbesserten ökonomischen Lage. Das Familienleben zog sich schrittweise aus der Öffentlichkeit und ihrer Kontrolle zurück, schloss sich gegen Familienfremde ab und bildete ein privatisiertes Familiendasein mit hohen Gefühlsbindungen. Im Zuge der Industrialisierung, der politischen Auflösung der Feudalgesellschaft, des Wachstums der Städte und veränderter Produktionsweisen kommt es zu folgenreichen Veränderungen der Familienformen, in deren Verlauf die bürgerliche patriarchal geprägte Familie immer mehr zum Modell für Familie wird, das schrittweise auch vom entstehenden Proletariat übernommen und ab Mitte des 20. Jahrhunderts zum allgemeinen normativen Leitbild und auch weitgehend zur tatsächlich gelebten Praxis wird, die dann im »Golden Age of Marriage« (Meyer 2002) nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht. Parallel dazu liberalisiert sich die Partnerwahl und die Konstruktion von Ehe und Familie wird zu einem gemeinsamen »Projekt«, das über die sich seit dem späten 17. Jahrhundert entwickelnde Liebessemantik und die romantische Liebesehe zur Intimisierung der Familienbeziehungen beigetragen hat. Hinzu kommt seit Ende des 19. Jahrhunderts eine gezielte Familienpolitik, die das Ideal der bürgerlichen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, etwa mit Hilfe der Fürsorge (z. B. Familienbesuche; Sozialarbeit aus dem Geist bürgerlicher Mütterlichkeit und einem Bündnis zwischen Mutter und Arzt, Donzelot 1980), in den armen und bildungsfernen Schichten zu verankern sucht – eine Programmatik, die bis heute mit veränderter Terminologie, neuen Inhalten (v. a. Bildung und Gesundheit) Institutionen und Methoden der Familienpolitik sowie die sozialpädagogische Familienarbeit bestimmt.

Die gegenwärtig zu beobachtende Differenzierung und Dynamik der modernen (Klein-)‌Familie bezieht ihr Wandlungspotential wie ihre Strukturkonflikte noch aus drei weiteren Entwicklungen: (1) Aus der säkularen Tendenz einer zunehmenden Individualisierung, die mit steigenden individuellen Ansprüchen und gesellschaftlichen Erwartungen an Selbstgestaltung und Handlungsautonomie verbunden ist. Dies hat zu einer stärkeren Bedeutung der familialen Beziehungsarbeit und einer Psychologisierung der Familie beigetragen. (2) Die Emanzipation der Frauen sowie die feministischen Bewegungen seit Ende der 1960er Jahre haben die Rechte der Frauen auf politische Beteiligung, Bildung und Erwerbstätigkeit durchgesetzt, das patriarchale Familienmodell und traditionelle Rollenbilder delegitimiert und die »natürliche« Geschlechterordnung als herrschaftslegitimierende Genderkonstruktion ansatzweise dekonstruiert. Auch wenn Kindererziehung, Gestaltung sozialer Kontakte, Gesundheitssorge und Pflege nach wie vor überwiegend von Frauen geleistet werden (vgl. Hobler et al. 2020), gilt dies nicht mehr als selbstverständlich und bildet ein beständiges, im Alltag oft aus pragmatischen Gründen latent gehaltenes Feld potentieller Konflikte, die allen Familienmitgliedern hohe Ambiguitätstoleranz und aufwändige und ggf. schmerzhafte Aushandlungsprozesse abverlangt. (3) Schließlich hat die Ausweitung der modernen Arbeitsgesellschaft die Balance zwischen Arbeits- und Familienzeit in Richtung einer einseitigen Belastung der Familien verschoben.

Familie aus soziologischer Perspektive

Aus soziologischer Perspektive ist Familie das Ergebnis einer gemeinsam von den Familienmitgliedern gestalteten beständigen Herstellungsleistung von Partner- und Sorgebeziehungen, Erziehungs- und Bildungsprozessen und sozialen Kontakten, mit der sie sich materiell, sozial, kulturell und generativ reproduziert, ein individuelles Familienklima erzeugt und Traditionen bildet; dabei greift sie auf ihre milieuspezifischen und von ihrer sozialen Lage abhängigen Ressourcen im Kontext des jeweils fördernden und begrenzenden gesellschaftlichen Bedingungszusammenhangs und ihrer rechtlichen Rahmung (Ehe- und Familienrecht; Kinder- und Jugendhilferecht) zurück. Als historisch und kulturell wandelbarer, privater Lebenszusammenhang und Lernort von Generationen und Geschlechtern bildet sie ein zentrales Strukturelement von Gesellschaft und gilt daher als strukturierte und strukturierende4Institution. So spielt die Familie neben dem Bildungssystem nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Produktion und Verteilung sozialer Chancen: die PISA-Studien haben belegt, dass in Deutschland bildungsbedingter sozialer Aufstieg entscheidend von der Herkunft‍(sfamilie) abhängt (Jungkamp & John-Ohnesorg 2016; Maschmann 2021). Insgesamt spielt die Familienherkunft aber nicht nur in Bezug auf Bildung und den Zugang zu sozialen Beziehungen (Sozialkapital) eine wesentliche Rolle; sie vermittelt darüber hinaus einen milieutypischen Habitus, der mit den darin verkörperten Formen der Selbstdarstellung aufstiegsbegünstigende oder -hemmende Codes erzeugt, die in der Gesellschaft als »feine Unterschiede« gelesen und, etwa bei Bewerbungen, folgenreich bewertet werden.

Aus sozialpsychologischer Perspektive wird Familie auch als System von gewachsenen Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen betrachtet, dessen Dynamik emotionale Bindungen und die kognitive Weltaneignung prägt und sich durch mehr oder weniger durchlässige Grenzziehungen von der Umwelt abgrenzt und mit ihr in Austausch tritt. Der Öffnung der Familie gegenüber äußeren Einflüssen stehen Versuche des Staates gegenüber, die die Autonomie der Familie durch Überschreiten der Familiengrenzen etwa durch rechtliche Vorgaben (z. B. Jugendhilfe, Kinderschutz) einschränken oder regulieren, wie bei Pflegefamilien (Gehres & Hildenbrand 2022) und durch sozialpädagogische, psychologische, ärztliche und pflegerische Hilfsangebote in die Binnenstruktur der Familien intervenieren. Daraus ergeben sich komplexe Beziehungsdynamiken, die besonders Familien mit behinderten, chronisch kranken und pflegebedürftigen Familienmitgliedern zu anstrengenden Aushandlungsprozessen zur Wahrung ihrer Selbstbestimmung zwingen.

Ausgewählte Befunde zur Situation der Familien in der Bundesrepublik

Generelle Entwicklungslinien

Demographische Entwicklung, Wertewandel, Bildungsexpansion, das neue Selbstverständnis und -bewusstsein der Frauen im Zuge der Emanzipationsbewegungen und die zunehmende Individualisierung haben zu einer Pluralisierung der Lebens- und Familienformen seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts geführt, eine Entwicklung, die bis heute andauert. Der Wandel der Haushalts- und Familienstrukturen zeigt sich unter anderem in der Anzahl von Alleinerziehenden, der Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften und von Patchwork- und Fortsetzungsfamilien und in jüngster Zeit von gleichgeschlechtlichen Paar- und Familienformen, kurz: von »Regenbogenfamilien« (2018: 130.00 Paare, Quelle: bmfsfj 2020, S. 51). Nach wie vor aber besitzt Familie mit oder ohne Trauschein eine hohe Wertigkeit und ist fester Bestandteil in den Lebensplänen vieler junger Menschen (Familienreport 2012); dabei folgt sie jedoch immer seltener dem Ideal der bürgerlichen Familie. Dies zeigt sich u. a. in der Schrumpfung der Haushaltsgröße, einem Rückgang der Eheschließungen (nicht notwendig aber der Paarbindungen), einer Zunahme von Scheidungen, einem Rückgang der Geburtenrate, einer Zunahme der Frauen- und Müttererwerbsarbeit, einer verkürzten Dauer partnerschaftlicher Bindung, oft in mehreren Intervallen (serielle Monogamie) sowie der Zunahme der Kinderlosigkeit. Bei aller Pluralisierung und Ausdifferenzierung der Lebens- und Familienformen zeigt sich gleichwohl, dass die Stabilität der Familie als Institution (nicht notwendigerweise die der einzelnen Familien) weit größer ist als gemeinhin angenommen wird.

Jurczyk und Klinkhardt (2014) haben die aktuell empirisch beobachtbaren Entwicklungstrends von Familien in acht Punkten zusammengefasst:

Im Jahr 2019 wuchsen deutschlandweit 74 % der Kinder und Jugendlichen bei verheirateten Eltern auf, 11 % in einer Lebensgemeinschaft und 19 % bei einem alleinerziehenden Elternteil (Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020). Der Anteil von Stief- und Fortsetzungsfamilien lässt sich aus der amtlichen Statistik nicht eindeutig ermitteln. Nach Schätzungen leben etwa 14 % aller Kinder in Stieffamilien (Steinbach 2017). Trotz der zunehmenden Bedeutung alternativer Lebensformen macht die klassische Kleinfamilie (Ehepaare mit Kindern) immer noch ca. drei Viertel der Familien in Deutschland aus. Allerdings variiert der Anteil der so genannten Normal- bzw. Kleinfamilie auf Länderebene zwischen 51,3 % in Mecklenburg-Vorpommern und 77,3 % in Baden-Württemberg (Bundeszentrale für politische Bildung 2021).

Vereinfacht lassen sich die empirischen Trends dahingehend zusammenfassen, dass Familien biografisch immer später gegründet werden (das Durchschnittsalter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes liegt inzwischen bei 30 Jahren), sie werden häufiger wieder aufgelöst (mehr als jede dritte Ehe wird geschieden) und sie sind kleiner geworden (die durchschnittliche Kinderzahl beträgt 1,57 (bmfsfj 2020); aufgrund des gestiegenen Lebensalters zeigt sich zugleich ein erweiterter Generationenzusammenhang (»Bohnenstangenfamilie«, vgl. Burkart 2008).

Diese Entwicklungen sind das Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung der Familie mit den Prozessen sozialen Wandels, die die innere Verfasstheit der modernen Familie beeinflussen: als »Verhandlungsfamilie« muss sie eine komplexe Vermittlungsleistung im Spannungsfeld zwischen veränderten gesellschaftlichen Anforderungen, Ansprüchen an individuelle Selbstverwirklichung und Sicherung des »Systems« Familie und ihrer eigensinnigen Lebenswelt erbringen mit der sie zugleich neue Familienwirklichkeiten erzeugt und definiert.

Lebenslagen und Familienwirklichkeiten

Familienwirklichkeiten erschließen sich erst vollständig, wenn man sie im Kontext schicht- und milieuspezifischer Lebenslagen verortet, die ihre Ressourcenausstattung mit materiellem, kulturellem und sozialem Kapital (Bourdieu 1982) charakterisieren und damit die Handlungsspielräume der Familie‍(nmitglieder) umreißen. Es sind vor allem vier große Komplexe, die die Familienwirklichkeiten bestimmen und aus denen sich zugleich Hinweise auf Teilhabebeeinträchtigungen und darauf bezogene Unterstützungs-‍, Kompensations- und Entlastungsbedarfe ergeben. Es sind dies erstens die von Armutslagen bedrohten oder betroffenen Familien‍(-konstellationen): z. B. Familien, in denen eine oder mehrere Personen längerfristig erwerbslos sind oder sich in prekärer Niedriglohnbeschäftigung befinden, Alleinerziehende oder Familien mit einem chronisch kranken oder behinderten Familienmitglied (bmas 2013; 2016; 2021). Der zweite Bereich betrifft den Zugang zu und die Ausstattung mit Bildung und Qualifikation und die familialen Bildungstraditionen, die die Teilhabe an gesellschaftlichem Aufstieg eröffnen oder verschließen. Drittens handelt es sich um die gesundheitliche Lebenslage von Familien, die von Arbeitsbedingungen, Wohnort und Umweltbelastungen und ihrer materiellen Lage, aber auch von ihrem Bildungsstatus und ihrer Lebensweise bestimmt wird: sozialepidemiologische Befunde zeigen, dass Menschen mit einem hohen sozialen Status über eine längere Lebenserwartung, bessere Gesundheit, höhere Lebenszufriedenheit und größere soziale Unterstützungsnetze verfügen. Dies bedeutet, dass Familien in ihrer wichtigen Rolle als Träger wie als Produzenten von Gesundheit (von der Kinderziehung bis zur Pflege) als Chancen- und/oder Risikostruktur begriffen werden müssen (Ohlbrecht 2010, 2022). Viertens werden die Familienwirklichkeiten zunehmend von der Arbeitswelt und ihren Zeitstrukturen bestimmt, was sich wiederum auf die Familienorganisation und die gemeinsam gestaltbare Zeit auswirkt (vgl. bmfsfj 2012).

Familien mit beeinträchtigten und chronisch kranken Familienmitgliedern – zur Situation des Familienlebens unter erschwerten Bedingungen

Familien mit einem behinderten oder chronisch kranken Familienmitglied unterscheiden sich nicht grundsätzlich von anderen Familien; bei pflegebedürftigen älteren Menschen ergeben sich aufgrund der Berufsmobilität und der oft getrennten Wohnorte von Eltern und Kindern besondere Konstellationen (Jacobs et al. 2020). Die Sorge für oder die Pflege von Familienangehörigen, seien es behinderte oder kranke Kinder, Partner oder die eigenen Eltern liegt im gesellschaftlichen Erwartungshorizont, der auch von den Familien im Rahmen intra- und intergenerationeller Solidarität überwiegend geteilt und auch faktisch wahrgenommen wird (Szydlik 2001). Trotz aller Gemeinsamkeiten ergeben sich für die betroffenen Familien jedoch abhängig von der jeweiligen Konstellation (z. B. Zeitpunkt des Eintretens der Behinderung/chronischen Erkrankung/Pflegebedürftigkeit, der familialen Ressourcen, der Art der Behinderung/Krankheit, der Wohnsituation, etc.) besondere Herausforderungen, Aufgaben und Erschwernisse.

Während für die Pflege im Alter eine Vielzahl individueller Vorbilder und gesellschaftlicher Modelle existieren, fehlen für die Auseinandersetzung und Bearbeitung des Lebens mit einem behinderten Kind oder einem beeinträchtigten Partner häufig Vorbilder in der eigenen Familie. Kritischer als in der Altenpflege stellt sich für Eltern behinderter Kinder die notwendige Öffnung der Familie für Fachkräfte dar, weil deren Interventionen die Binnenstruktur der Familie oft stark kontrollieren und verändern (Engelbert 1999); dies gilt selbst dann, wenn in der Fachdiskussion Eltern und behinderte oder kranke Familienmitglieder zunehmend als »Experten/innen in eigener Sache« in Rehabilitations- und Förderprozesse einbezogen und ihre Selbstbestimmung respektiert werden. Innovative Formen der Selbsthilfe, Internetforen und virtuelle Selbsthilfegruppen, Peer-Counseling sowie spezialisierte Beratungsformen, können diese Situation durch Informationsaustausch, wechselseitige Ermutigung und die Gewinnung neuer sozialer Kontakte zwar teilweise kompensieren, führen aber auch zu Sonderwelten.

Die Geburt eines behinderten Kindes oder die plötzliche Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung stellt ein unerwartetes, als »Schicksal« gerahmtes, ggf. aber auch mit Schuldzuweisungen und Stigmatisierung an Eltern oder an die Lebensweise des Erkrankten verbundenes Ereignis dar, das anders als die Pflege der Eltern oft auf mangelndes Verständnis der Umwelt und sogar des Freundeskreises trifft. Hinzu kommt, dass die Mütter in der Regel ihre Berufstätigkeit aufgeben (müssen) und damit auf ihre traditionelle Rolle zurückgeworfen werden und die Rolle der Väter neu definiert werden muss.

Im Unterschied zu Familien mit einem behinderten Kind liegen für Sterben und Tod alter Menschen kulturelle Bewältigungsmuster und -rituale vor. Und während Pflegebedürftigkeit im Alter den unwiderruflich letzten Lebensabschnitt ankündigt, sind Erwartungen und Projektionen auf das Kind schon während der Schwangerschaft und über die ganze Kindheit und Jugend hinweg positiv und zukunftsgerichtet und zudem mit einer mehrheitlich von den Partnern gemeinsam geplanten familialen Kontinuierung verbunden. Dies erhöht den Druck auf werdende Mütter und auf Familien mit behinderten Kindern, besonders durch die in den positiven Zukunftssemantiken kodierten normativen und mehr noch normalistischen Erwartungen an die Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen. Zwar ist heute die Toleranz gegenüber verschiedenen selbst gewählten Lebensformen und -entwürfen gestiegen, gegenüber einer Nichterfüllung von Leistungsnormen zugleich aber deutlich geringer geworden: angesichts des Bildungsdiskurses, des Individualisierungsdrucks und der Ängste um Statuserhalt steigen die Erwartungen an das »perfekte« Kind – jenseits aller kritischen Diskussionen in der Sonderpädagogik und einer positiven Semantik inklusiver Heterogenität. Im Kontext der Individualisierung sind die Vorstellungen von einem »perfekten« Kind auch als narzisstische Projektion der Eltern im Zuge der Singularisierung zu interpretieren. Während die an die Kinder intergenerational weitergebenen »Aufträge« (nach sozialem Aufstieg: unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir selbst) wohl noch immer eine Rolle spielen, geht es in Zeiten größerer Statusunsicherheit einerseits um die Bewahrung des Erreichten, andererseits aber auch um die Konkurrenz im (medialen) Selbstdarstellungswettbewerb.

In einem erweiterten Verständnis von Inklusion beschränken wir uns nicht auf die Situation von Eltern behinderter Kinder und wählen in Übereinstimmung mit dem SGB IX und dem BTHG sowie dem Teilhabebericht der Bundesregierung (2013) den an der ICF orientierten Begriff der Beeinträchtigung5. Damit wird ein weiteres Spektrum betroffener Familienkonstellationen sichtbar, die mit jeweils unterschiedlichen Folgen und Aufgaben eines nachhaltigen Neuarrangements ihrer bisherigen Lebenssituation konfrontiert sind:

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Familien mit behinderten/beeinträchtigten (ca. 3 % nach Thimm & Wachtel 2002, ca. 6 % nach Cloerkes 2007) und chronisch kranken Kindern (ca. 10 % vgl. Warschburger & Petermann 2000).

Jedes fünfte beeinträchtigte Kind im Alter von 14 bis 17 Jahren lebt mit nur einem Elternteil zusammen. Kinder mit Beeinträchtigungen sind seltener als Kinder ohne Beeinträchtigungen der Meinung, »dass in ihrer Familie alle gut miteinander auskommen« (bmas 2013, S. 74).

Menschen mit Beeinträchtigungen können sich deutlich seltener auf Unterstützung durch Freunde und Bekannte verlassen als Menschen ohne Beeinträchtigungen; sie haben weniger Menschen, denen sie vertrauen, erfahren weniger Interesse und Anteilnahme und erhalten weniger Hilfe durch die Nachbarschaft (bmas 2013, S. 75, bmas 2021, Kap. 3). Weiter geben Menschen mit Beeinträchtigungen in allen Altersgruppen eine geringere durchschnittliche Zufriedenheit mit dem eigenen Familienleben an (für Eltern behinderter Kinder finden sich in der Kindernetzwerkstudie von Kofahl und Lüdecke 2014 subjektive Belastungsprofile der Eltern). Im Kontakt mit dem professionellen System und mehr noch mit den Kostenträgern berichten viele betroffene Familien von Hindernissen beim Zugang zu Leistungen, wobei darüber hinaus unzureichende Informationen eine große Rolle spielen.

Materielle Benachteiligungen treffen Familien mit behinderten Kindern in besonderer Schärfe. Zum einen sind arme Familien stärker von Behinderungen betroffen. Zum anderen sind die Möglichkeiten, Erwerbseinkommen zu erzielen, stärker eingeschränkt, weil die Mütter auf eine Berufstätigkeit verzichten (müssen); hinzu kommen zusätzliche Kosten aufgrund von Aufwendungen für besondere Fördermaßnahmen, Hilfsmittel, Wohnungsanpassung, etc.

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Kinder mit behinderten oder chronisch kranken Eltern

Auch wenn hierzu keine verlässlichen Statistiken vorliegen, verweisen eine Reihe von Einzelstudien etwa zu Kindern psychisch kranker Eltern (Lenz & Wiegand 2017) auf die großen Belastungen und auf erhöhte Risiken für die seelische Entwicklung dieser Kinder, die in unterschiedlicher Ausprägung auch bei anderen Indikationen der Eltern bestehen (Kofahl & Lüdecke 2014). Aus den Praxiserfahrungen haben sich hier inzwischen professionelle und informelle Unterstützungsnetze und Modellvorhaben gebildet, wie z. B. die Bundesarbeitsgemeinschaft »Kinder psychisch erkrankter Eltern«.

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Familien, in denen ein (oder beide) erwachsenes Familienmitglied behindert oder chronisch erkrankt ist (vgl. Schönberger & v. Kardorff 2004).

Angesicht von ca. 17 Mio. Menschen über 18 Jahren, die an dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen und chronischen Krankheiten leiden (vgl. bmas 2013), ist das Thema chronisch kranker Familienangehöriger keineswegs ein gesellschaftliches Randthema.

So unterschiedlich und letztlich ganz individuell die Aufgaben und Anforderungen sind, mit denen sich die Familien in den beschriebenen Konstellationen auseinandersetzen müssen, und dies u. a. von Art und Schwere der Behinderung/Krankheit, ihren Verlaufskurven und vom Grad ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung abhängen, gibt es einige allgemeine Aufgaben, die bei allen Konstellationen zu bearbeiten sind. Corbin & Strauss (2010) gehen in ihrer inzwischen klassischen Studie an Familien mit chronisch erkrankten Menschen von drei großen Arbeitslinien aus:

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Alltagsarbeit: sie betrifft alle pragmatischen Umstellungen der bisherigen Familienroutinen und zwingt zur Neudefinition von Aufgaben innerhalb der Familie und zur Ausbildung von neuen Routinen;

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Krankheitsarbeit: sie umfasst alle auf die Behinderung/Krankheit bezogenen Aktivitäten, wie Wahrnehmung von Therapien, Fördermaßnahmen, Medikationsregimes und die Kontakte mit Fachkräften, und wirkt sich vor allem auf die Neuverteilung von innerfamiliären Zeitbudgets aus und fokussiert die Aufmerksamkeit und Sorge auf das kranke/behinderte Familienmitglied;

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Biografiearbeit: sie erfordert die Neukonstruktion von Lebensplänen, Zukunftsorientierungen, Sinnfindung und Einordnung der neuen Situation in die Familienwirklichkeit sowie eine Neudefinition der individuellen biografischen Entwürfe vor dem Hintergrund der bisherigen individuellen Biografien der Partner und der gemeinsamen Familiengeschichte.

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Balancearbeit: diese ergänzende übergreifende Arbeitslinie erfordert das beständige situationsgerechte Austarieren von Prioritäten zwischen Arbeitswelt, Familien- und Krankheitsarbeit und die Reaktion auf Krisen im Prozess der Care-Arbeit und auf Vorkehrungen um Dominoeffekte aufgrund von Überlastungen zu verhindern.

Eine besondere Herausforderung für Familien‍(angehörige) ergibt sich aus dem Management von normativen Übergängen im Lebenslauf, von denen insbesondere Eltern behinderter Kinder besonders stark betroffen sind (Schuleintritt der Kinder, Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung, Ablösung vom Elternhaus und Umzug in eine betreute Wohnform etc.).

Alle diese Herausforderungen sind mit erheblichen Belastungen und gesundheitlichen Folgen für die Familienangehörigen und insbesondere die Frauen verbunden, die nach wie vor den Löwenanteil der Care-Arbeit leisten. Büker und Pietsch (2019) verweisen in ihrer Studie zu Müttern behinderter Kinder auf folgende Aspekte: »erhebliche körperliche Anstrengungen; der jederzeitige und andauernde Hilfebedarf des Kindes, auch während der Nacht; psychische Belastungen; fehlende Auszeiten für die eigene Regeneration; Auseinandersetzungen mit Kostenträgern und Behörden sowie Einschränkungen in der gesellschaftlichen Teilhabe. Als langfristige gesundheitliche Folgen wurden Verschleißerscheinungen des Bewegungsapparats, chronische Schmerzen, chronische Schlafstörungen, chronische Erschöpfung, depressive Verstimmungen, Zukunftsängste, abnehmende physische und psychische Belastbarkeit sowie soziale Isolation festgestellt« (S. 2).

Als weitere eigenständige Dimension stellt sich das Thema der sozialen Einbindung und der sozialen Unterstützungsnetze dar (vgl. Teilhabebericht 2021): bei vielen betroffenen Familien zeigt sich ein Rückzug von oft auch engen Freunden, besonders bei einer schweren Behinderung des Kindes oder etwa bei einer psychischen Krankheit eines Familienmitglieds.

Gegenüber ihrer Umwelt stehen die Familien darüber hinaus oft unter Erklärungs- und Rechtfertigungszwängen – letzteres trifft besonders auf Eltern behinderter Kinder zu, die sich angesichts der Möglichkeiten pränataler Diagnostik einem besonderen Druck ausgesetzt sehen. Als Reaktion darauf lässt sich bei vielen betroffenen Familien ein sozialer Rückzug bzw. eine soziale Neuorientierung beobachten, die teils als Reaktion auf die Stigmatisierung seitens der Umwelt verständlich werden, teils aus Themenverschiebungen, veränderten Prioritäten, neuen Fragen und Erfahrungen resultieren, die mit nicht betroffenen Familien und Freunden nur begrenzt geteilt werden können.

Familien mit beeinträchtigten Familienmitgliedern in der Inklusionsdebatte

Artikel 23 der UN-BRK bekräftigt, dass der Schutz von Partnerschaft, Ehe, Familie und Elternschaft Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in gleichem Maße zusteht (bmas 2013, S. 66). Zusätzlich sind Inklusion und Anerkennung von Heterogenität Bestandteil der ratifizierten UN-BRK und werden programmatisch im Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012 – 2020 als behindertenpolitische Zielsetzung formuliert. Für die Familienwirklichkeit der betroffenen Familien bedeutet dies zunächst die Sicherung gleicher Teilhabechancen in den Bereichen Bildung, soziale Sicherung, Förderung, Arbeitswelt und Freizeit. Die betroffenen Familien wünschen sich Normalität und Dazugehören, andererseits finden sie wirkliches Verständnis nur bei Gleichbetroffenen und oft nur in Sonderwelten. Darin drückt sich eine Paradoxie des Inklusionsgedankens aus. Auch wenn es vielen betroffenen Familien gelingt, zu einem routineförmigen und zufriedenstellenden Alltag mit einem beeinträchtigten Familienmitglied zu finden, lässt sich das Problem der sozialen Isolierung nicht durch Inklusionsrhetorik »heilen«. Selbst wenn, wovon wir noch weit entfernt sind, alle Barrieren in den Bereichen Hilfsmittelversorgung, inklusive Beschulung usw. beseitigt wären, befinden sich die Familien mit einem beeinträchtigten Familienmitglied in einer besonderen Situation, weil sie gerade auf den spezifischen Austausch mit Anderen angewiesen sind, deren Familienangehörige dieselbe Beeinträchtigung oder Krankheit haben. Eltern mit einem gehörlosen Kind haben andere Sorgen als die Eltern mit einem Kind mit apallischem Syndrom oder die Eltern eines autistischen oder blinden Kindes, Angehörige mit einem psychisch erkrankten Partner haben andere Probleme als die mit einem an Krebs erkrankten Familienmitglied. Dies verdeutlicht, dass der Sammelbegriff Beeinträchtigung vor dem Hintergrund des Diversitätspostulats die Anerkennung von Verschiedenheit in den Mittelpunkt stellt und damit Stigmatisierung vermeidet, zugleich aber für das Familienleben entscheidende Unterschiede und die besonderen Bedürfnisse der jeweiligen Familienkonstellationen eher verdeckt. Diese Paradoxien können nicht aufgelöst, aber durch neue und gezielte Hilfeformen umgangen werden. Case-Management, Sicherung der Autonomie der Familien durch Partizipation im Prozess der Hilfegestaltung seien hier als Schlagwörter einer Hilfe aus einer Hand genannt.

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Warschburger, Petra & Petermann, Franz (2000). Belastungen bei chronisch kranken Kindern und deren Familien. In Petermann, Franz (Hg.). Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie. Göttingen, Hogrefe, 479 – 511.

Mütter, Väter und Großeltern von Kindern mit Behinderung. Herausforderungen – Ressourcen – Zukunftsplanung

Monika Seifert

Familien mit Kindern mit Behinderung sind genauso vielfältig wie Familien ohne behinderte Angehörige. Ihre Lebenslagen und Lebensentwürfe repräsentieren die gesamte Bevölkerung. Was sie von anderen Familien unterscheidet, ist die Vielzahl zusätzlicher Aufgaben und spezifischer Anforderungen im Zusammenleben mit einem behinderten Kind und die größere Abhängigkeit der Lebenschancen dieser Kinder und der Lebensbedingungen der Familien von Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung. Individuelle Ansprüche der Eltern an ihr eigenes Leben wie die Realisierung persönlicher Interessen, Achtsamkeit gegenüber der eigenen Gesundheit und der psychischen Befindlichkeit und Erwartungen an die eigene Lebensplanung, privat und beruflich, treten in den Hintergrund. Erfahrungen des Ausgeschlossenseins sind keine Seltenheit (Kofahl & Lüdecke 2014; Burtscher et al. 2015; Rahab 2018).

Trotz gravierender Veränderungen in ihrem Alltag gelingt es einem großen Teil der Familien, sich mit der neuen Situation zu arrangieren und das familiale Gleichgewicht wiederherzustellen (vgl. Heckmann 2004; Engelbert 2012). Unterschiedliche Entwicklungsverläufe sind bedingt durch die Lebenslagen der Familien, die Qualität der binnenfamilialen Beziehungen, die subjektive Wahrnehmung der Behinderung und der veränderten Lebenssituation sowie durch kulturell und milieubedingte Werte (vgl. Seifert 2002). Von besonderer Bedeutung für ein gelingendes Zusammenleben ist die soziale, materielle und professionelle Unterstützung, die der Familie zuteilwird. Zur Bewältigung der alltäglichen Herausforderungen mit dem behinderten Kind entwickeln die Beteiligten vielfältige Kompetenzen (vgl. Ziemen 2002). Häufig werden die Erfahrungen als Gewinn für die eigene Entwicklung erlebt, auch bei schweren Beeinträchtigungen des Kindes (vgl. Eckert 2014; Praschak 2003; Seifert 1990 und 1997). Sie setzen Empowermentprozesse in Gang, die im Engagement für die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihren Familien ihren Niederschlag finden (vgl. Seifert 2011).

Wissenschaftliche Studien zur Situation betroffener Familien befassen sich überwiegend mit innerfamilialen und sozialen Aspekten (vgl. Seifert 2022), z. B. mit der Wahrnehmung der Behinderung, mit Herausforderungen im Alltag, mit Bedürfnissen und Belastungen von Müttern und Vätern sowie der Geschwister, mit der Bedeutung sozialer Netzwerke, mit Bewältigungsstrategien und Ablöseprozessen, mit der Kooperation mit Fachkräften und der Vereinbarkeit von Familienalltag und Erwerbstätigkeit. Vereinzelt werden spezifische Problemlagen thematisiert, z. B. in Familien in Armut und Benachteiligung und Familien mit Migrationshintergrund sowie in Einelternfamilien und Familien mit Kindern mit komplexem Unterstützungs- und/oder Pflegebedarf. Auch Familien, deren Söhne und Töchter im Erwachsenenalter noch in ihrer Herkunftsfamilie leben, erfahren erst seit wenigen Jahren stärkere Beachtung. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag ein Einblick in die Situation von Müttern, Vätern und Großeltern von Kindern mit Behinderung gegeben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Zur Situation von Müttern

Während früher die Betreuung eines behinderten Kindes oft zum Lebensinhalt der Mütter wurde, haben die meisten Mütter heute ein anderes Rollenverständnis und entwickeln andere Lebensperspektiven. Ihre Vorstellungen sind eingebunden in gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die Müttern generell mehr Chancen für eine selbstbestimmte Lebensplanung eröffnen, aber zugleich den Erwartungsdruck und die Belastungen erhöhen (vgl. Wachtel & Weiß 2002). Die von den meisten Frauen angestrebte Verknüpfung von Familienarbeit und Erwerbsarbeit und die gestiegene gesellschaftliche Erwartung einer optimalen Förderung des Kindes konfrontieren die Mütter mit widersprüchlichen Anforderungen – vor allem wenn die Männerrolle tradierten Vorstellungen verhaftet bleibt und veränderte verwandtschaftliche Strukturen immer weniger Unterstützung bieten können.

Im Fall der Behinderung eines Kindes gelten die Probleme verstärkt. Die Bedürfnisse des Kindes bestimmen den Alltag der Mütter in noch stärkerem Maß und weit über die Kleinkindphase hinaus. Die bedingungslose Übernahme der kindbezogenen Verpflichtungen entspricht den gesellschaftlichen Erwartungen und führt in der Konsequenz zu einer Zementierung der traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung.